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Nr. 69 - Soziale Welt

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Unabhängige Frankfurter Straßenzeitung <strong>Nr</strong>. <strong>69</strong> Euro 1,80<br />

Sozialleistungen für alle Europäer<br />

M i tg l i e d i m<br />

“ I n te r n a t i o n a l N et w o r k o f S t re et Pa p e rs”


2 EDITORIAL / INHALT<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />

zunächst einmal die besten Grüße zum neuen Jahr. Mögen Ihre Wünsche wahr werden und bleiben Sie gesund!<br />

Sie halten die SOZIALE WELT in einem neuen Format in Händen. Wir hatten schon länger über diesen Wechsel nach gedacht, waren<br />

aber am Ende dazu gezwungen. Unsere langjährige Druckerei, CARO, hat am Jahresende die Produktion eingestellt. Der großformatige<br />

Zeitungsdruck von der Rolle ist in Frankfurt nicht mehr erhältlich, also haben wir uns nach einem neuen Partner umgesehen und waren<br />

auch erfolgreich.<br />

Die letzte Ausgabe wurde mit 6.000 Exemplaren überdurchschnittlich gut verkauft, wir konnten damit die Auflage im Jahr 2012<br />

verdoppeln. Vielen Dank an Sie, und nicht zuletzt, an unsere fleißigen Verkäuferinnen un d Verkäufer!<br />

Wir werden weiterhin bemüht bleiben, Ihnen eine informative und abwechslungsreiche Straßenzeitung anzubieten.<br />

Mit besten Grüßen<br />

Hans-Jürgen Schöpf<br />

AKTUELL IN DIESER AUSGABE:<br />

S.2 Ein Blick auf diese Seite und die folgenden, und Sie wissen besser Bescheid über Sozialbeschiss<br />

S.7 Unsere fleiSSigen StraSSenverkäufer - Treffen Sie die inspirierendsten Arbeitskräfte der <strong>Welt</strong><br />

S.9 DIE TAFELN - Gnadenbrot im reichen Land<br />

S.10 DER KOMMENTAR - „Wer die Noten liebt, der mache Musik,doch wer die Banknoten liebt, der mache Politik.“<br />

S.13 Kaufen wir eigentlich Schrott? - Elektrogeräte - Finaler Error<br />

S.15 <strong>Soziale</strong>s Projekt in Frankfurt - Stolze Preungesheimer stellen ein Familienbuch vor<br />

S.17 Aus der Geschichte des europäischen Fortschritts - Zigaretten mit Löschzonen<br />

S.18 DemograFische Entwicklung - Die Menschen in Deutschland werden immer älter und auch aktiver<br />

S.19-S.20 Filmbesprechungen: „I, Anna“ und „Die Wand“<br />

S.21 buchbesprechung: „Die Sonne der Sterbenden“<br />

S.22 historisch persönlickeit: Heinrich Hoffmann - Der Vater des „Struwwelpeter“ und noch viel mehr<br />

S.24 vereinsnachrichten / impressum<br />

s.25 wichtige anlaufstellen und adressen<br />

s.26 soziale projekte international: Interview mit einer freiwilligen Deutschen in Nicaragua<br />

S.30 unser reisetipp: Ibiza<br />

S.32 jagwa music: Bongo Hotheads


<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

SOZIALPOLITIK 3<br />

Sozialleistungen für alle Europäer<br />

Ein aktueller Fall<br />

Die folgende Geschichte hat sich unlängst in einem Jobcenter unserer Stadt zugetragen: Eine<br />

junge Frau – nennen wir sie einmal „Maria“, die als Kind in einem europäischen Nachbarland<br />

geboren wurde und mit Ihren Eltern alsbald nach Deutschland gezogen war, wollte beim Jobcenter<br />

in Frankfurt Sozialleistungen gemäß SGB II – also „Harz IV“ beantragen, da sie hilfebedürftig<br />

geworden war.<br />

„Maria“ hatte hier in Deutschland<br />

die Schule besucht und<br />

die mittlere Reife erlangt. Dann<br />

hatte sie eine Ausbildung erfolgreich<br />

abgeschlossen. In<br />

Deutschland arbeitete sie Jahrelang<br />

in dem von ihr erlernten<br />

Beruf. Als ein Familienmitglied<br />

nun sehr schwer erkrankte, ging<br />

sie für eine Weile in ihr Geburtsland,<br />

um die Pflege zu übernehmen.<br />

Nach dem Tod des<br />

Angehörigen im vergangenen<br />

Jahr, kehrte Sie in ihre Heimat<br />

nach Deutschland zurück. In<br />

das Land, dass ihr seit frühester<br />

Kindheit Heimat geworden war<br />

und immer Ihr eigentlicher Lebensmittelpunkt<br />

geblieben ist.<br />

Da sie nun nicht direkt wieder<br />

eine Arbeitsstelle fand, meldetet<br />

sie sich Arbeitsuchend und<br />

beantragte beim zuständigen<br />

Jobcenter Hilfen zum Lebensunterhalt,<br />

gemäß den Bestimmungen<br />

des Zweiten Sozialgesetzbuches.<br />

Das Jobcenter lehnte aber<br />

die Anträge „Marias“, unter Berufung<br />

auf den § 7 Abs. 1 Satz<br />

2 <strong>Nr</strong>. 2 SGB II, rundheraus ab.<br />

In der Zwischenzeit erkrankte<br />

„Maria“ und bedarf daher auch<br />

ärztlicher Betreuung. Wegen<br />

der abgelehnten Hilfe durch die<br />

Behörde ist sie nicht krankenversichert.<br />

Nur durch die Hilfe<br />

von Verwandten konnten die<br />

inzwischen notwendigen Operationen<br />

und Behandlungen mit Mühe<br />

bezahlt werden.<br />

Ablehnung ohne jede Hilfestellung<br />

Im Paragraph sieben des zweiten Sozialgesetzbuches<br />

werden die Anspruchsvoraussetzungen,<br />

bzw. die Ausschlusskriterien<br />

geregelt, die einzuhalten sind wenn es<br />

um Leistungen nach SGB II / Harz IV geht.<br />

Die „Justitia“ auf dem Frankfurter Römerberg –<br />

ein Symbol der Unabhängigkeit des Rechtswesens<br />

In diesem Falle teilte das Jobcenter<br />

mit, dass „Maria“ eine Ausländerin sei,<br />

deren Aufenthaltsrecht sich alleine aus<br />

dem Zwecke der Arbeitssuche ergäbe (so<br />

steht es sehr oft in den einschlägigen<br />

Ablehnungsbescheiden der Jobcenter).<br />

Aus diesem Grunde habe sie keinen Anspruch<br />

auf Leistungen.<br />

Mittellos, krank und ohne Krankenversicherung<br />

ließ das Jobcenter,<br />

als zuständige Sozialbehörde,<br />

die junge Frau abblitzen,<br />

die immer wieder um Hilfe<br />

ersucht hatte. Einen Hinweis<br />

auf die Möglichkeit der Beantragung<br />

von Sozialhilfe nach<br />

SGB XII gab es nicht. Und dies,<br />

obwohl die Not der Bürgerin inzwischen<br />

erdrückend geworden<br />

war und sie wegen ihrer Erkrankung<br />

dringend Hilfsbedürftig<br />

ist.<br />

Der von „Maria“ in der Zwischenzeit<br />

bevollmächtigte Anwalt,<br />

dem dieser Sachverhalt zu<br />

Ohren gekommen war und der<br />

sich um Menschen bemüht, die<br />

sich sonst keinen Anwalt leisten<br />

können, kümmerte sich sofort<br />

um die Sache.<br />

Er stellte Antrag auf einstweilige<br />

Anordnung beim Sozialgericht.<br />

Hierin beantragte er das<br />

Jobcenter anzuweisen umgehend<br />

die – sehr wohl zustehenden<br />

– Leistungen, rückwirkend<br />

an die junge Frau auszuzahlen<br />

und damit auch für Krankenversicherungsschutz<br />

zu sorgen.<br />

Der Anwalt erläuterte in seinem<br />

Antrag, die Antragstellerin<br />

sei keine „Ausländerin“, sondern<br />

eine Inländerin mit ausländischem<br />

Pass. Eine Entscheidung<br />

des Eilantrags ist bisher<br />

nicht bekannt.<br />

Kein Einzelfall<br />

Vielen Menschen, die in Deutschland<br />

angemeldet sind und aus europäischen<br />

Ländern stammen, ergeht es ähnlich.<br />

Sie leben in unserer Mitte und befinden<br />

sich in echter Not. Sie hungern,<br />

werden krank und leben von einem Tag


4 SOZIALPOLITIK<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

Bundessozialgericht in Kassel<br />

zum anderen in der Angst darum, was<br />

aus ihnen werden soll. Dabei sind die<br />

allermeisten Nachbarn nicht nur nach<br />

Deutschland gekommen um hier von<br />

Sozialleistungen zu leben. Sie sind guten<br />

Willens und wollen gerne integriert<br />

sein, arbeiten und in der Gemeinschaft<br />

mitmachen.<br />

Allzu oft erleben sie aber, wenn sie<br />

hilfsbedürftig sind die Behörden nicht<br />

als Ihre Helfer zur Selbsthilfe, sondern<br />

als Ihren Feind, der blockend, taktierend,<br />

abweisend und oft auch unfreundlich<br />

ablehnt, was im Grunde oft doch zuzugestehen<br />

wäre.<br />

Verwaltungspraxis gegen<br />

Rechtsprechung<br />

Immer wieder berichteten Menschen,<br />

die sich in großen sozialen Schwierigkeiten<br />

befinden, auch im Büro der Frankfurter<br />

Armutsaktie e.V. von ähnlichen<br />

Problemen. Dieser beispielhafte Fall<br />

soll daher der Anlass sein dieses Thema<br />

einmal etwas näher „unter die Lupe“ zu<br />

nehmen.<br />

Es könnte einen nämlich der Eindruck<br />

beschleichen, dass die Jobcenter sehr<br />

häufig sogenannte „Ausländer“ zunächst<br />

einmal abblitzen lassen, um die<br />

Hürden für die Erlangung von Sozialleistungen<br />

hoch zu legen.<br />

Das ist aber ein falscher Eindruck<br />

und nicht der eigentliche Grund für die<br />

häufig Ausgesprochene Ablehnung von<br />

Leistungen. Oft werden diese Ablehnungsentscheidungen<br />

auch vor Gericht<br />

revidiert. Die zunächst Abgewiesenen<br />

bekommen relativ häufig vor dem Sozialgericht<br />

recht. Meist bleibt es aber nicht<br />

bei der ersten Instanz. Häufig gehen die<br />

Leistungsträger den langen und für die<br />

Betroffenen kaum aushaltbaren Gang<br />

durch die Instanzen, was mit erheblichen<br />

Kosten und zwar letztlich meist<br />

für die Staatskasse verbunden ist. Dies<br />

liegt wohl auch daran, dass die Gesetzgebung<br />

in diesem Bereich weder einfach<br />

noch unproblematisch ist.<br />

Mit dem Zusammenschluß der Europäischen<br />

Länder und den damit verbundenen<br />

Europäischen Übereinkommen<br />

einerseits und den landesspezifischen<br />

Sozialgesetzen andererseits sind offenbar<br />

Widersprüche verbunden, die zu den<br />

oben beschriebenen Problemen führen<br />

und den eigentlichen Grund der Misere<br />

darstellen. Auch sind die Mitarbeiter der<br />

Jobcenter dadurch sehr belastet. Immer<br />

wieder stellt sich ihnen die Frage, ob der<br />

nächste Bescheid nicht wieder einen<br />

Rechtsstreit heraufführt.<br />

Freizügigkeit innerhalb Europas<br />

Wenn es um die Frage des Anspruches<br />

auf Sozialleistungen im „deutschen<br />

Sozialnetz“ geht, ist nämlich zunächst<br />

einmal die grundsätzliche Berechtigung<br />

des Antragstellers in Hinsicht auf seine<br />

Zugehörigkeit zu diesem „Sozialnetz“ zu<br />

klären.<br />

Wenn es dabei um die Ansprüche von<br />

Europäern geht, die keinen deutschen<br />

Pass besitzen, spielt der Begriff der sogenannten<br />

„Freizügigkeit“ eine große<br />

Rolle. Hinter diesem Begriff verbirgt sich<br />

das Recht, innerhalb der Europäischen<br />

Union seinen Wohnsitz frei zu wählen<br />

und am Ort des gewählten Wohnsitzes<br />

auch arbeiten und Arbeit suchen zu dürfen<br />

(Arbeitnehmerfreizügigkeit – Art. 45<br />

ff. AEUV).<br />

Einschränkungen der Freizügigkeit<br />

Hierbei ist festzuhalten, dass nicht alle<br />

Europäer diese sogenannte „Freizügigkeit“<br />

in gleichem, uneingeschränktem<br />

Maße für sich in Anspruch nehmen<br />

können. So ist den Unionsbürgern der<br />

jüngsten Beitrittsstaaten (diese sind seit<br />

dem 01.Mai 2011 nur noch Bulgarien<br />

und Rumänien, weil für die am 01.Mai<br />

2004 beigetretenen Staaten die Übergangsregelungen<br />

zum 30. April 2011<br />

erloschen sind) die volle Freizügigkeit,<br />

insbesondere die Arbeitnehmerfreizügigkeit,<br />

nach dem Beschluß der Bundesregierung<br />

vom Dezember 2011, noch<br />

nicht gegeben. Die Beschränkungen für<br />

Unionsbürger aus Bulgarien und Rumänien<br />

gelten demnach noch bis Ende<br />

2013. Alle anderen EU Bürger besitzen<br />

die volle Freizügigkeit und benötigen<br />

keine Arbeitserlaubnis. Bei der Anmeldung<br />

am deutschen Wohnsitz erhalten<br />

Sie die Freizügigkeitsbescheinigung<br />

durch die zuständige Behörde, dies ist<br />

ein reiner Verwaltungsakt. Es steht damit<br />

fest, dass sie sich erlaubt und rechtmäßig<br />

hier aufhalten.<br />

Der Wohnsitz –<br />

Zugehörigkeit zum Sozialsystem<br />

In Deutschland ist der Erhalt von Sozialhilfe<br />

an den Aufenthalt geknüpft. Besitzt<br />

nun ein eingereister Ausländer einen<br />

offiziellen Aufenthaltsstatus, der ihm<br />

aufgrund des Freizügigkeitsabkommens<br />

nicht – oder nur im Ausnahmefall, wenn<br />

er beispielsweise ein Risiko für die Sicherheit<br />

der Bundesrepublik darstellen<br />

würde, aberkannt werden kann, gehört<br />

er zu den Personen, die das Europäische<br />

Fürsorgeabkommen einbezieht. Wird


<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

SOZIALPOLITIK 5<br />

er bedürftig, so hat er automatisch laut<br />

Sozialhilfegesetz Anspruch auf ein Existenzminimum.<br />

Daran hat sich auch, wie<br />

„Die <strong>Welt</strong> online“ schreibt nach den neuen<br />

Regelungen von Harz IV nichts geändert.<br />

Entscheidung des obersten<br />

Sozialgerichts<br />

So entschied der oberste Senat des Bundessozialgerichts<br />

in Kassel, in seinem<br />

Urteil (AZ.: B14 AS 23/10R) bereits 2010,<br />

dass selbst arbeitslose Zuwanderer aus<br />

den Europäischen Ländern, die das Fürsorgeabkommen<br />

unterzeichnet haben,<br />

einen unbefristeten Anspruch auf Leistungen<br />

nach dem zweiten Sozialgesetzbuch<br />

haben.<br />

Das Bundessozialgericht stellte somit,<br />

als letzte Instanz der Sozialgerichtsbarkeit<br />

in Deutschland, fest, dass diejenigen<br />

Ausländer, die sich auf dieses<br />

Abkommen berufen können, nicht von<br />

Leistungen gem. SGB II ausgeschlossen<br />

werden können, da dieses Fürsorgeabkommen<br />

(vom 11.12.1953 / EFA) unmittelbar<br />

geltendes Bundesrecht sei.<br />

Zu dieser Entscheidung kam es, da<br />

der deutsche Rechtsanwalt Joachim<br />

Genge einen Mandanten vertrat, der wegen<br />

der Ausschlussregelung des §7 Abs. 1<br />

Satz 2 <strong>Nr</strong>. 2 SGB II keine Leistungen mehr<br />

erhalten sollte. Dagegen hatte er durch<br />

alle Instanzen geklagt und Recht bekommen.<br />

Das Bundessozialgericht hatte hiermit<br />

eine umstrittene Frage in der Rechtsprechung<br />

zu Gunsten der Hilfebedürftigen<br />

entschieden. Gleichzeitig hatte es die<br />

Klärung der Frage, ob die Ausschlusskriterien<br />

des §7 Abs. 1 Satz 2 <strong>Nr</strong>. 2 SGB II mit<br />

der Europäischen Gesetzgebung vereinbar<br />

sind, geschickt umgangen, da dieses<br />

Problem einer Klärung beim Europäischen<br />

Gerichtshof notwendig gemacht<br />

hätte.<br />

Das Europäische<br />

Fürsorgeabkommen<br />

Im sogenannten Europäischen Fürsorgeabkommen<br />

verpflichten sich die<br />

Mitgliedsstaaten (Belgien, Dänemark,<br />

Deutschland, Estland, Frankreich, Griechenland,<br />

Irland, Island, Italien, Luxemburg,<br />

Malta, Niederlande, Norwegen,<br />

Portugal, Schweden, Spanien, Türkei,<br />

Großbritannien) alle Staatsangehörigen<br />

der anderen Länder, die sich in irgendeinem<br />

Teil seines Gebietes, auf das dieses<br />

Abkommen Anwendung findet, erlaubt<br />

aufhalten und nicht über ausreichende<br />

Mittel verfügen, in gleicher Weise<br />

wie seinen eigenen Staatsangehörigen<br />

und unter den gleichen Bedingungen<br />

die Leistungen der sozialen und der Gesundheitsfürsorge<br />

zu gewähren, die in<br />

der in diesem Teil seines Gebietes geltenden<br />

Gesetzgebung vorgesehen sind.<br />

Kurz gesagt – alle Staaten müssen die<br />

Bürger der Mitgliedsländer im Bezug auf<br />

die Fürsorge, wie ihre eigenen behandeln.<br />

So steht es in Artikel 1 der Übereinkunft,<br />

welche die Bundesrepublik Deutschland<br />

bereits 1953 unterzeichnet hatte. Das<br />

oben benannte Urteil dürfte daher auch<br />

im Hinblick auf die Leistungen nach SGB<br />

XII, nämlich der Sozialhilfe für nicht arbeitsfähige<br />

Ausländer, Auswirkungen<br />

haben, da nach dem EFA der Begriff der<br />

Fürsorge auch die Grundsicherungsleistungen<br />

nach dem zwölften Gesetzbuch<br />

umfasst.<br />

Vorbehalt der Bundesregierung<br />

gegen das Fürsorgeabkommen<br />

Wahrscheinlich nur aufgrund der Befürchtungen<br />

bezüglich erheblicher,<br />

finanzieller Auswirkungen dieses Urteils<br />

des BSG, hatte dann aber die Bundesregierung<br />

im Dezember 2011 einen<br />

sogenannten „Vorbehalt“ gegen das<br />

Europäische Fürsorgeabkommen (EFA)<br />

eingelegt, um zu verhindern, dass Zuwanderer<br />

aus den anderen 17 Mitgliedstaaten<br />

des Abkommens bereits in den<br />

ersten drei Monaten ihres Aufenthalts in<br />

Deutschland Hartz IV bekommen.“<br />

Dies führte sodann zu der Geschäftsanweisung<br />

vom 08.02.2012, welche die<br />

Bundesagentur für Arbeit an die Jobcenter<br />

ausgab (AZ.: SP II 21 / SP II 23 – II-<br />

1101.1).<br />

In dieser Geschäftsanweisung werden<br />

die Verwaltungen angewiesen, die<br />

Entscheidung des BSG zugunsten des<br />

ministerialen Vorbehalts – wenn man so<br />

will – faktisch zu ignorieren und die Hilfesuchenden,<br />

sofern sie sich nicht damit<br />

Europäischer Gerichtshof in Den Haag


6 SOZIALPOLITIK<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

abfinden wollen, bei den Sozialgerichten<br />

auflaufen zu lassen. In der Geschäftsanweisung<br />

(GA <strong>Nr</strong>. 09/2012) heißt es sodann:<br />

„Die Bundesrepublik Deutschland hat<br />

für Leistungen, die nach dem SGB II<br />

zustehen, einen Vorbehalt gegen das<br />

Europäische Fürsorgeabkommen (EFA)<br />

erklärt. Dieser ist mit Wirkung zum<br />

19.12.2011 in Kraft getreten. Damit finden<br />

die Leistungsausschlussgründe<br />

nach § 7 Abs. 1 S. 2 <strong>Nr</strong>. 1 und 2 SGB II ab<br />

dem 19.12.2011 auf Angehörige der EFA-<br />

Staaten wieder Anwendung.“<br />

Bedenklichkeit des Vorbehaltes<br />

Durch die Erhebung des Vorbehalts versucht<br />

die Regierung die Entscheidung<br />

des Bundessozialgerichts auszuhebeln.<br />

Dabei hatte sie, bei dieser europarechtlich<br />

so wichtigen Entscheidung, das Parlament<br />

außen vor gelassen und quasi<br />

erst im Nachhinein dazu informiert.<br />

Der Vorbehalt selbst und die Begründung<br />

des Ministeriums: „wir wollen die<br />

Zuwanderung von Fachkräften, aber keine<br />

Zuwanderung in die Sozialsysteme“,<br />

so war es seinerzeit in der Presse („Die<br />

<strong>Welt</strong>“) zu lesen, wurde von allen Oppositionsparteien<br />

scharf kritisiert, als europafeindlich<br />

und als ein eklatanter Verstoß<br />

gegen den Kern des Europäischen<br />

Fürsorgeabkommens angesehen.<br />

Der Deutsche Anwaltsverein, dem<br />

etwa 67.000 Mitglieder angehören,<br />

schrieb in seiner Stellungnahme vom<br />

Juni 2012, dass die Erhebung des Vorbehaltes<br />

im Bezug auf das SGB II rechtswidrig<br />

sei und gegen Völkerrecht verstoße.<br />

Der Verein appellierte daher an die<br />

Bundesregierung, diesen Vorbehalt zurückzunehmen.<br />

Dass in dem Vorbehalt die Möglichkeit<br />

der Beantragung von Sozialhilfe (außer<br />

diejenige Hilfe zur Überwindung besonderer<br />

sozialer Schwierigkeiten – Kapitel<br />

8 SGB XII, die schon bei der Unterzeichnung<br />

des EFA ausgeschlossen war) nicht<br />

ausgeschlossen wurde, zeigt, dass die<br />

rechtlichen Voraussetzungen dieses Vorbehalts<br />

nur auf die Fürsorgeleistungen<br />

gemäß SGB II beschränkt wurden. Was<br />

wiederum bedeutet, dass die Fürsorgepflicht<br />

grundsätzlich anerkannt wird. Da<br />

aber dieselbe Grundsicherung sowohl<br />

im Bereich des SGB II, als auch im Bereich<br />

des SGB XII, der eigentliche Kern<br />

der Fürsorgeverpflichtung ist, kann das<br />

eine vom andern nicht getrennt werden.<br />

So ist der ganze Vorbehalt bereits ein Widerspruch<br />

in sich selbst.<br />

Wenn nämlich das Ministerium in der<br />

Unterrichtung an den Ausschuss für<br />

Arbeit und <strong>Soziale</strong>s schreibt, dass sich<br />

der sogenannte Vorbehalt nur auf die<br />

Anwendung des zweiten Sozialgesetzbuches<br />

bezieht, der Anspruch auf Leistungen<br />

nach dem zwölften Sozialgesetzbuch<br />

aber gegeben sein könnte, dann<br />

ist darin der Widerspruch zu erkennen,<br />

der auch den Verfassern des Vorbehaltes<br />

nicht entgangen sein kann. Wie nämlich<br />

bereits oben erwähnt, sind doch beide<br />

Teile Sozialleistungen, die unter dem<br />

Begriff der Fürsorge zusammengefasst<br />

werden müssen (vergl. Auch Urteil des<br />

BSG).<br />

Die Opposition hatte mit 19 Abgeordneten<br />

und der Fraktion „Bündnis 90<br />

/ Die Grünen“ in dem Antrag vom 20.<br />

März 2012 die Rücknahme des Vorbehalts,<br />

in dem Sie eine Teilrücknahme<br />

des Europäischen Fürsorge Abkommens<br />

sieht, zur Abstimmung im Parlament<br />

gebracht. Dieser Antrag wurde mit der<br />

Mehrheit von CDU/CSU mit der FDP abgewiesen.<br />

Fazit<br />

Bei der Auseinandersetzung mit der<br />

konkreten Notsituation einer EU-Bürgerin,<br />

die in diesem Artikel beschrieben<br />

wurde, ist zutage gekommen, dass die<br />

Jobcenter einer Geschäftsanweisung<br />

der Bundesregierung folgen, wenn Sie<br />

Leistungen auf der Grundlage der Bestimmungen<br />

des SGB II ablehnen, die<br />

von zugereisten EU-Bürgern beantragt<br />

werden.<br />

Es ist weiter klar geworden, dass<br />

es zwar eine höchst sozialgerichtliche<br />

Rechtsprechung gibt, die für Recht erkannt<br />

hat, dass alle EU-Bürger der Länder,<br />

die dem Fürsorgeabkommen beigetreten<br />

sind, sozialrechtlich wie Inländer<br />

zu behandeln sind, wogegen aber ein<br />

Vorbehalt geltend gemacht wurde.<br />

Der von der Bundesregierung gegen<br />

dieses Urteil ins Feld geführte Vorbehalt<br />

ist rechtlich bedenklich.<br />

Bürgern der Europäischen Union,<br />

die wegen des §7 Abs.1Satz 2 <strong>Nr</strong>. 2 des<br />

SGB II eine Verweigerung der Leistungen<br />

erfahren, bleibt der Rechtsweg offen.<br />

Denjenigen, die in Not geraten sind<br />

bleibt außerdem der Weg zum Sozialamt.<br />

Traurig ist der Umstand in unserem Beispielfall,<br />

dass keinerlei Hilfeleistung erbracht<br />

wurde, obwohl eine konkrete Not<br />

erkennbar war.<br />

Ist es nicht so, dass die Sozialbehörde,<br />

der die Hilfsbedürftigkeit eines Hilfeersuchenden<br />

zuerst bekannt wird, im<br />

Grunde auch dazu verpflichtet ist, diesen<br />

an die zuständige Behörde zu verweisen,<br />

wenn sie selber sich als nicht<br />

zuständig erkennt? Dies wäre zumindest<br />

schon rein menschlich zu erwarten.<br />

Ist es nicht mehr als traurig, wenn die<br />

Hilfen, die im Sozialgesetzbuch festgelegt<br />

sind, erst nur auf Klage hin gewährt<br />

werden? Letztlich sind die Sozialgesetze<br />

gesicherte Rechte, um die Generationen<br />

hart gerungen haben und für die in der<br />

Geschichte ein hoher Preis bezahlt worden<br />

ist.<br />

So wie Europa ein Unterfangen ist,<br />

für das alle einen hohen Preis bezahlen<br />

müssen – ohne das es aber keine<br />

friedvolle und glückliche Zukunft geben<br />

kann. Je mehr wir von dieser Europäischen<br />

Gemeinschaft abkommen und je<br />

mehr wir von schon geschlossenen Vereinbarungen<br />

zurücknehmen umso höher<br />

wird der Preis sein, den Alle irgendwann<br />

bezahlen müssen.<br />

GP)<br />

(Fotos: Justitia GP, wikimedia/commons)<br />

Quellen: Drucksachen des dt. Bundestages<br />

17/9036, 17/9474, 17/8<strong>69</strong>9 (Antwort auf die schriftl.<br />

Frage <strong>Nr</strong>.60 / Abgeordneter Kurth), Zeitung „Die<br />

<strong>Welt</strong>“, „Die <strong>Welt</strong> Online“, Geschäftsanweisung der<br />

Bundesagentur für Arbeit (SP II 21 / SP II 23 – II-<br />

1101.1), Stellungnahme des dt. Anwaltvereins<br />

60/12, Urteil des BSG: AZ.: B14 AS 23/10R, u.a.


<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

INSP / SNS<br />

Treffen Sie die inspirierendsten Arbeitskräfte der <strong>Welt</strong><br />

7<br />

Da die Finanzkrise sich weiterhin verheerend auf die<br />

<strong>Welt</strong>wirtschaft und die Arbeitsmärkte auswirkt, wird die<br />

Tatsache, dass jeder obdachlos werden könnte – unabhängig<br />

von Alter, Nationalität oder gesellschaftlichem Status<br />

– so offensichtlich wie nie zuvor, ebenso wie die absolute<br />

Notwendigkeit von Straßenzeitungen.Für viele Menschen,<br />

die in Armut leben oder obdachlos sind, kann der Verkauf von<br />

Straßenzeitungen ein Rettungsanker und ein Sprungbrett<br />

darstellen, um Größeres zu erreichen. Unabhängig davon, ob<br />

sie auf den Straßen von Glasgow, Kapstadt, Melbourne oder<br />

Mailand sind: jeder einzelne Straßenzeitungsverkäufer ist Teil<br />

einer globalen Familie, die den Wunsch teilt, der Armut zu<br />

entkommen.<br />

Mehr als 280000 Verkäufer arbeiten jedes Jahr auf dieses<br />

Ziel hin, indem sie ihre örtliche Straßenzeitung verkaufen. Das<br />

International Network of Street Papers (INSP) vereinigt mehr<br />

als 120 dieser Publikationen in über 600 Groß- und Kleinstädten<br />

auf der ganzen <strong>Welt</strong>.<br />

Von seinem Hauptsitz in Schottland aus hilft INSP seinen<br />

Mitgliedern, indem es sie bei der Gründung und mit dem Editieren,<br />

im Personal- und Verkaufstraining, bei der Finanzierung<br />

und mit Netzwerken und Kampagnen unterstützt, um<br />

auf deren Arbeit aufmerksam zu machen.<br />

Die Geschichten unserer Verkäufer zeugen von der Stärke<br />

und Effektivität des Straßenzeitungsmodels, das sich in 40<br />

Ländern auf sechs Kontinenten etabliert hat und den Verkäufern<br />

mehr als 30 Millionen Euro pro Jahr einbringt.<br />

„Ich habe viel Schlimmes auf den Straßen gesehen, aber<br />

ich habe auch Leute getroffen, die, so wie ich, ihr Leben ändern<br />

wollten“, sagt der brasilianische Verkäufer Nelson Carvalho,<br />

dessen Drogenabhängigkeit zu seiner Obdachlosigkeit<br />

geführt hat.<br />

Für Nelson bedeutete der Verkauf von Aurora du Rua auf<br />

den Straßen Salvadors mehr, als sich ein Einkommen zu verdienen:<br />

„Ich habe die Möglichkeit, meine Erfahrungen mit anderen<br />

zu teilen und ihnen zu zeigen, dass Menschen, die auf<br />

der Straße leben, Menschen sind wie du und ich.“<br />

Verkäufer wie Nelson sind stolz darauf, die Publikationen<br />

zu verkaufen und haben eine vereinigte Leserschaft von 6 Millionen<br />

pro Ausgabe erzielt. Er erklärt: „Straßenzeitungen portraitieren<br />

Menschen, die auf der Straße leben, mit Würde und<br />

Menschlichkeit und ändern die Ansichten der Gesellschaft<br />

über sie.“<br />

Seine südafrikanische Kollegin Erica Phillips glaubt auch,<br />

dass Straßenzeitungen die Ansichten der Menschen zur


INSP / SNS<br />

8 <strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

Obdachlosigkeit ändern. Sie verkauft seit sieben Jahren The<br />

Big Issue South Africa, nachdem sie gezwungen war, ihre Arbeit<br />

aufzugeben, als sich ihr Sehvermögen verschlechterte.<br />

„Ich habe so viel erreicht und Menschen gefunden, die mich<br />

wirklich unterstützt haben. Sie merken, dass ich willenstark<br />

bin und eine kontaktfreudige Persönlichkeit habe. Ich habe<br />

das Glück, viele Kunden zu haben, die mich nicht nur als Verkäuferin,<br />

sondern als Freundin sehen.“<br />

Erica sagt, dass sie ohne die Straßenzeitung niemals ihr eigenes<br />

Unternehmen hätte finanzieren können, das sie kürzlich<br />

eröffnet hat. „Ich denke sehr ungern darüber nach, wo ich<br />

ohne diese Arbeit wäre. Ich hätte wahrscheinlich aufgegeben,<br />

aber die Arbeit hat mir dabei geholfen, zu sehen, dass es Hoffnung<br />

gibt.“<br />

Der Verkauf von Street Roots hat Charles Yost, einem Verkäufer<br />

in Portland, USA, geholfen, seine Alkoholsucht zu<br />

überwinden, die ihn sein ganzes Leben lang begleitet hatte:<br />

„Es kam zu dem Punkt, wo ich mich entweder betrunken oder<br />

Straßenzeitungen verkauft hätte. Es ist etwas, worauf ich<br />

mich freuen kann. Ich spreche mit vielen Menschen. Es bewahrt<br />

mich vor der Isolation.“<br />

Der Verkauf der norwegischen Straßenzeitung Megafon hat<br />

das Leben von Jonny Larssen komplett verändert, der die Alltagsrealität<br />

von Drogen und Gewalt gegen einen würdevollen<br />

Beruf eingetauscht hat. „Wenn man als Straßenzeitungsverkäufer<br />

arbeitet, muss man Menschen in die Augen sehen, mit<br />

ihnen lachen und sich um andere kümmern. Hätten Sie mich<br />

vor ein paar Jahren kennen gelernt, dann hätten Sie niemals<br />

geglaubt, dass ich das tun könnte.“<br />

Für Tapiwa Chemhere, Verkäufer von The Big Issue Australia,<br />

der einem Leben in Gewalt und politischer Unterdrückung<br />

in Zimbabwe entflohen ist, sind es die Kunden, die ihn inspirieren:<br />

„Wenn sie lächeln und mit mir reden, versüßt mir das<br />

den Tag. Ich fühle mich sehr ermutigt. Ich danke all meinen<br />

Kunden für ihre Unterstützung.“<br />

Auf der ganzen <strong>Welt</strong> haben Straßenzeitungen dabei geholfen,<br />

mehr als 250000 Leben zum Besseren zu verändern. Da<br />

das INSP-Netzwerk sich weiterhin ausdehnt, hoffen wir, dass<br />

die Geschichten der Verkäufer andere inspirieren werden,<br />

sich der Bewegung anzuschließen.<br />

Für alle Verkäufer, die von Straßenzeitungen unterstützt<br />

werden, sind es die Leser, die dabei helfen, etwas zu bewirken.<br />

Daher, wohin Sie auch gehen auf der <strong>Welt</strong>: Kaufen Sie<br />

Ihre örtliche Straßenzeitung.<br />

Die Veränderung liegt ganz in Ihren Händen.<br />

Laura Smith www.street-papers.org


<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

Suppe wird dort nicht ausgeschenkt.<br />

„Die Tafel“ ist keine<br />

Suppenküche im klassischen<br />

Sinn. Auf den Tafeln liegen Sachen, die<br />

man gut mitnehmen kann: Brot, Obst,<br />

Gemüse, Wurst - Verderbliches oft, kurz<br />

vor dem Ablaufdatum gespendet. Marmelade,<br />

Schokolade, Tütensuppe. Die<br />

Tafeln sind Einkaufsorte, nein Ausgabestellen<br />

für Leute, die sich ein normales<br />

Einkaufen nicht leisten können.<br />

Dort finden sie Lebensmittel und oft<br />

auch Kleidung. Wie nennt man Leute,<br />

die dort hingehen? „Kunden „ klingt<br />

besser als „Arme“. Es gibt immer mehr<br />

Kunden an immer mehr Tafeln. An<br />

manchen Tafeln zahlt man einen Euro<br />

am Eingang, an anderen fünf. So einen<br />

Obolus finden fast alle gerecht, die da<br />

anstehen. Das hilft gegen das Gefühl,<br />

es würde einem alles geschenkt. Man<br />

nimmt, was man kriegt. Viele sagen, sie<br />

hätten nie gedacht, einmal „so was“ in<br />

Anspruch nehmen zu müssen.<br />

Ein Staat, der tausend Tafeln braucht,<br />

ist kein guter Sozialstaat Tafeln gehören<br />

zu den erfolgreichsten Einrichtungen in<br />

Deutschland. Sie expandieren wie sonst<br />

nichts. Sie expandieren, weil Not und Bedürftigkeit<br />

in Deutschland expandieren.<br />

Mehr als 900 Tafeln gibt es in Deutschland,<br />

dort versorgen eineinhalb Millionen<br />

Kunden sich und ihre Familienangehörigen.<br />

Soeben hat der Fiskus dafür<br />

gesorgt, dass das so weitergehen kann:<br />

Die Finanzämter verzichten darauf, dass<br />

die Spender auf ihre gespendeten Waren<br />

Mehrwertsteuer zahlen müssen. Der<br />

Staat hätte sich selbst geschadet, wenn<br />

er auf diese Weise den Tafeln geschadet<br />

hätte. Die nämlich bewirken, dass die<br />

Not in Deutschland nicht so laut schreit,<br />

wie sie das sonst täte. Die Tafeln breiten<br />

ein deutschlandgroßes Tischtuch über<br />

die Armut.<br />

Es wäre eine Katastrophe, wenn es<br />

diese gemeinnützige Einrichtung nicht<br />

mehr gäbe. Es ist aber auch eine Katastrophe,<br />

dass es sie gebenmuss, Die vielen<br />

Tafeln zeigen, dass die Not zurückgekehrt<br />

ist in ein reiches Land. Natürlich<br />

ist diese Not eine andere Not als die in<br />

Kalkutta. Die Armen in Deutschland<br />

SOZIALE PROJEKTE 9<br />

DIE TAFELN<br />

Gnadenbrot im reichen Land<br />

Von Heribert Prantl<br />

sind relativ arm<br />

- sie sind -arm<br />

dran. Armut in<br />

Deutschland hat<br />

viele Gesichter:<br />

Da ist der wegra<br />

t i o n a l i s i e r te<br />

Facharbeiter, da<br />

ist die alleinerziehende<br />

Mutter,<br />

die den Sprung<br />

ins Berufsleben<br />

nicht mehr<br />

schafft; da sind<br />

Familien mit Kindern,<br />

Migranten,<br />

Niedriglöhner, Langzeitarbeitslose, Ein-<br />

Euro-Jobber und Rentner. All diese relativ<br />

Armen haben wenig gemeinsam,<br />

es verbindet sie nur Hartz IV. Die Hartz-<br />

Gesetze sind der große Hobel der deutschen<br />

Gesellschaft. All die relativ Armen,<br />

ob sie arbeiten oder nicht, verbindet<br />

das Faktum, dass ihnen das Geld zum<br />

Leben nicht reicht. Sie stehen für billige,<br />

ansonsten unverkäufliche Lebensmittel<br />

an.<br />

Das „Gesetz über die Grundsicherung<br />

von Arbeitssuchenden“ (so heißt<br />

das Hartz-IV-Gesetz im Wortlaut) hat der<br />

deutschen Gesellschaft die Grundsicherheit<br />

genommen, die Sicherheit darüber,<br />

dass es in Deutschland eine ausreichende<br />

soziale Basis-Sicherung gibt. Hartz<br />

IV ist die Chiffre dafür, dass das Sichere<br />

nicht sicher ist. Und die Tafeln sind der<br />

Beleg: Ihre Zahl hat sich seit Einführung<br />

der Hartz-Gesetze vervielfacht. Wenn<br />

man von den Erfolgen dieser Gesetze<br />

redet - das gehört auch dazu. An den<br />

Tafeln kann man studieren, wie sich die<br />

Ungleichheit der Gesellschaft verändert,<br />

Nicht nur Arbeitslose kommen dahin,<br />

sondern auch Leute, die von ihrer Arbeit<br />

nicht leben können. Die Spaltungslinien<br />

der Gesellschaft verlaufen nicht mehr<br />

nur zwischen arbeitenden und arbeitslosen<br />

Menschen. Sie verlaufen kreuz<br />

und quer. Auf diesem Kreuz-und-Quer<br />

stehen die Tafeln.<br />

Die Tafelbewegung ist wohl die derzeit<br />

größte Bürgerbewegung der Bundesrepublik.<br />

Mehr als vierzigtausend<br />

MitarbeiterInnen bei der Tafel Frankfurt Nordwest -<br />

kurz vor der Lebensmittelausgabe<br />

Menschen arbeiten ehrenamtlich dafür,<br />

dass Bedürftige ihr täglich Brot bekommen.<br />

Sie sammeln die Lebensmittel,<br />

die sonst als Biomüll entsorgt werden<br />

müssten. Davon profitieren die Bedürftigen<br />

und die Spender. Erstere haben was<br />

zu essen, Letztere ersparen sich Entsorgungskosten.<br />

Und der Staat erspart sich<br />

ein Sozialsystem, das den Bedürftigen<br />

wirklich das gibt, was sie brauchen. Tafeln<br />

sind etwas Wunderbares, weil sie<br />

Pragmatismus mit Wohltätigkeit verbinden,<br />

weil die Idee, die hinter den Tafeln<br />

steckt, so verblüffend einfach ist. Aber:<br />

Soll man wirklich als Großtat der Bürgergesellschaft<br />

feiern, was eigentlich ein<br />

Armutszeugnis ist?<br />

Tafeln sind ein Notbehelf, sie bieten<br />

Almosen, sie liefern die Krümel vom<br />

Überfluss, sie sind Gnadenbrot. Aber sie<br />

sind keine geeignete Antwort auf Not<br />

und Armut in einer reichen Gesellschaft<br />

- sondern Anklage. Wenn der Staat sich<br />

auf die Tafeln verlässt, verstößt er gegen<br />

seine soziale Fürsorgepflicht. Vielleicht<br />

sollten die Wohlfahrtsverbände, welche<br />

die Tafeln organisieren, einmal streiken.<br />

Armutsbekämpfung verlangt mehr als<br />

Barmherzigkeit. Ein Staat, der tausend<br />

Tafeln braucht, ist kein guter Sozialstaat.<br />

SZ vom 12.10.2012<br />

Wir bedanken uns bei der Süddeutschen<br />

Zeitung für die Nachdruckgenehmigung<br />

Redaktion SW


10 KOMMENTAR<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

„Wer die Noten liebt, der mache Musik,<br />

doch wer die Banknoten liebt, der mache Politik.“<br />

(Reinhard Mai)<br />

So lautete eine Textzeile eines<br />

Liedes, dass Reinhard Mai 1974<br />

in seinem Album „Vor Jahr und<br />

Tag“ veröffentlichte. Dieser Song-Text<br />

scheint eine zeitlose Aktualität zu haben,<br />

die uns unlängst in der Berichterstattung<br />

um den Kanzlerkandidaten<br />

Peer Steinbrück vor Augen gehalten<br />

wird.<br />

Da ist ein Abgeordneter, der kürzlich<br />

immer wieder in die Schlagzeilen geriet.<br />

Nicht weil er, als möglicher, zukünftiger<br />

Kanzler, gute, politische Inhalte und<br />

Ziele erklärt oder weil er konstruktive<br />

Kritik an der Bundesregierung übt<br />

und vorschlägt wie es besser gemacht<br />

werden kann – nein es geht in diesen<br />

Schlagzeilen ums Geldverdienen oder<br />

ums Geld bekommen.<br />

Ging es zunächst um die sogenannten<br />

Nebenverdienste durch seine zahlreichen,<br />

kostenpflichtigen Vorträge und<br />

die damit verbundene mutmaßliche<br />

Vernachlässigung seiner Abgeordnetenpflichten,<br />

die ihm bei abgeordnetenwatch.de<br />

vorgerechnet wird, kam<br />

er neuerlich auf den Gedanken, dass<br />

wohl das Gehalt des Bundeskanzlers<br />

erheblich zu niedrig sei. Kürzlich berichtet<br />

dann der Spiegel auch von seinem<br />

„besonderen Engagement“ bei Thyssen<br />

Grupp, was Ihn als tüchtigen Geschäftsamann<br />

auszuweisen vermag, als einen,<br />

der der Wirtschaft gerne einen Dienst erweist.<br />

Schließlich ist man das dem Amt<br />

schuldig – jedenfalls dem Amt des Aufsichtsrats<br />

von Thyssen Grupp.<br />

Natürlich stürzen sich die Medien auf<br />

den besonders, der im Staat besondere<br />

Verantwortung übernehmen will. Und<br />

für einen, der kein Blatt vor den Mund<br />

nimmt, ist das manchmal nicht ungefährlich.<br />

Aber so ist das mit den Worten,<br />

die man spricht: Einmal gesagt, sind sie<br />

wie ein Schuss aus einer Pistole – zurückholen<br />

ist unmöglich. Die Presse und<br />

die Kritiker, die sich immer begierig auf<br />

Dinge stürzen, die dazu geeignet sind einem<br />

„an den Wagen zu fahren“, kosten<br />

jede Spitze aus. Nun, Langweiliges und<br />

Unspektakuläres gibt es ja auch genug<br />

in der politischen Presse.<br />

“Oh Lord, Won‘t You Buy Me a<br />

Mercedes Benz” (Janis Joplin)<br />

„Dass jeder Sparkassendirektor mehr<br />

verdient als die Bundeskanzlerin“, soll<br />

er gesagt haben. Das halte ich für eine<br />

grundfalsche Aussage. Wenn er gesagt<br />

hätte: „die Bundeskanzlerin verdient<br />

mehr, als jeder Sparkassendirektor bekommt“,<br />

dann wäre daraus „ein Schuh“<br />

geworden.<br />

Dieser Unterschied von „Verdienen“<br />

und „Bekommen“ scheint mir eine nähere<br />

Betrachtung wert zu sein: Denn<br />

längst schon geht es bei den Apanagen,<br />

die einzelnen Aufsichtsrats- und Vorstandsmitgliedern,<br />

Direktoren und „Supereinstreichern“<br />

zufließen, nicht mehr<br />

ums Verdienen.<br />

Ein Immobilienmagnat etwa, der aufgrund<br />

des Kredit- und Mietzinswesens,<br />

seinen Besitz nahezu unbegrenzt vermehren<br />

darf, bekommt ein Millioneneinkommen<br />

– aber er hat er es verdient?<br />

Dieses Einkommen wird ihm nämlich<br />

von der Verwaltung monatlich aus den<br />

Mietkonten überwiesen. Einen echten,<br />

täglichen und vollzeitlichen Arbeitsaufwand<br />

dafür kann man bei diesem Großgrundbesitzer<br />

kaum mit diesen Einnahmen<br />

unmittelbar in Verbindung bringen.


<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

Sein Job ist hauptsächlich „Besitzen“.<br />

Vielleicht hat er vorher dafür gearbeitet.<br />

Die Mieter in seinen Häusern arbeiten<br />

zum größten Teil. Sie arbeiten jeden Tag<br />

und verdienen das Geld, wofür sie dann<br />

die Wohnungen leihweise überlassen<br />

bekommen. – Die einen arbeiten, die anderen<br />

besitzen. – So sieht das aus und<br />

so funktioniert das.<br />

Auch in den Banken, Kaufhäusern,<br />

Versicherungen und in der Industrie arbeiten<br />

die Menschen und verdienen das<br />

Geld, wofür sie natürlich meistens weniger<br />

bekommen als sie mit ihrer Arbeit<br />

verdient haben. Das heißt – Viele haben<br />

gearbeitet und Geld verdient und Wenige<br />

haben sehr viel von dem bekommen,<br />

was andere verdient haben. Wie sollte<br />

man sonst die Manager, Aktionäre und<br />

Eigentümer der Konzerne bezahlen, die<br />

ganz schön viel mehr bekommen als<br />

sie arbeiten – im Verhältnis zum durchschnittlichen<br />

Arbeitsaufkommen bei<br />

den Arbeitern, Angestellten und freien<br />

Mitarbeitern etc. Wenn das auch ziemlich<br />

spitz gesagt ist und nicht ohne Humor<br />

gelesen werden darf, so würde ich<br />

sagen:<br />

So unterschiedlich sieht das also mit<br />

dem „Verdienen“ und dem „Bekommen“<br />

aus. In allen<br />

Fällen also, wo sehr<br />

viel mehr Geld gezahlt<br />

wird, als gearbeitet<br />

wird, würde<br />

ich lieber vom „Bekommen“<br />

sprechen<br />

als vom „Verdienen“.<br />

Denn Viele verdienen<br />

eigentlich<br />

mehr als sie bekommen.<br />

Ob das immer<br />

anständig ist, ist<br />

fraglich. Übrigens –<br />

Vorstand, habe ich<br />

einmal gehört, bedeutet<br />

Vorbild für<br />

Anstand; deshalb<br />

bekommen Vorstände<br />

natürlich auch anständig viel für das,<br />

wofür sie oft ganz was Anderes verdient<br />

hätten!<br />

Herr Steinbrück hatte das ja schon oft<br />

gesagt, dass er der Auffassung sei, dass<br />

Gehalt des Regierungschefs sei zu niedrig<br />

– nicht erst als Kanzlerkandidat. Im<br />

KOMMENTAR<br />

Verhältnis zu den Gegebenheiten in der<br />

Wirtschaft, die ich oben etwas humorvoll<br />

versucht habe zu beleuchten, mag<br />

er da recht haben. Aber genau da liegt ja<br />

das Problem!<br />

Welche Entwicklung zukünftig erwünscht<br />

ist, darum geht es nämlich. Soll<br />

es so weiter gehen, ist alles in Ordnung?<br />

Augen zu und durch – trotz Bankenkriese<br />

und raffgieriger Rücksichtslosigkeit<br />

des immer aggressiver werdenden Kapitalismus?<br />

Dafür steht doch Peer Steinbrück,<br />

der Sozialdemokrat nicht!?<br />

Das würde ich ihm wirklich nicht unterstellen!<br />

“Didn’t we almost have it all?”<br />

(Whitney Houston)<br />

Da sich die Bundeskanzlerin bisher<br />

nicht über Ihr Gehalt beschwert hatte,<br />

habe ich einmal versucht herauszufinden,<br />

was sie denn so verdient – oder bekommt<br />

– je nachdem. Es ist gar nicht so<br />

wenig;<br />

Es sind etwa 21.750 EUR im Monat,<br />

wenn man der Unternehmensberatung<br />

Hay-Group glauben will. Soviel verdienen<br />

die meisten Menschen in unserem<br />

Land nicht in einem Jahr.<br />

Und liege ich falsch, wenn ich sage,<br />

dass man mit so viel Geld ohne Weiteres<br />

seine Familie ernähren kann und gut<br />

und froh zu leben vermag? Sicher nicht<br />

– und das weiß auch Herr Steinbrück<br />

und alle anderen Politiker, die so wie er<br />

ganz genau wissen, was im Staat passiert<br />

und wie die Finanzen verteilt sind<br />

– schließlich war er Finanzminister.<br />

11<br />

Vorstand bedeutet Vorbild für Anstand<br />

– das sollte in jeder Hinsicht für<br />

den Chef einer Regierung gelten. Vorbild<br />

sein und hinter sein Amt zurücktreten,<br />

das ist sicher eine nicht zu unterschätzende<br />

Herausforderung. Diese Herausforderung<br />

anzunehmen,<br />

sollte<br />

aber jeder bereit<br />

sein, der ein<br />

Ministerium im<br />

Staat übernimmt,<br />

denn schon in<br />

dem Wort „Minister“<br />

steckt der<br />

wesentliche Begriff:<br />

Dienen. Ich<br />

glaube ein „alter<br />

Hase“ wie der<br />

Peer ist sich dessen<br />

bewusst.<br />

Das Gehalt des<br />

Regierungschefs<br />

oder der Regierungschefin<br />

ist<br />

nicht zu niedrig,<br />

gut kann man davon leben – sehr gut!<br />

Aber was manch einer in der <strong>Welt</strong> der<br />

großen Finanzen bekommt ist vielleicht<br />

mehr als genug und oft zu viel. Es geht<br />

um die Verhältnismäßigkeit. Was ist genug?<br />

Diese Frage ist in der Tat eine Frage<br />

nach den Verhältnissen.


12 KOMMENTAR<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

“Knock-knock-knockin‘ on<br />

heaven‘s door” (Guns ‘N Roses)<br />

Wer viel bekommt, gibt auch viel. Diejenigen,<br />

die am meisten Bekommen sind<br />

im Staat meist auch diejenigen, welche<br />

die meisten Steuern bezahlen. Das ist<br />

doch klar – oder? Von diesen Steuern<br />

bekommen dann auch die, die nicht<br />

oder nicht mehr arbeiten können – also<br />

im Grunde nichts verdienen. Wir sind<br />

ein sozialer Staat, dessen höchster Wert<br />

die Menschenwürde ist. Wir müssen ein<br />

soziales Europa werden, eine Gemeinschaft<br />

in der dieser höchste Wert der<br />

Maßstab zur Gestaltung der Verhältnisse<br />

des Zusammenlebens wird.<br />

Mancher bekommt mehr als genug<br />

und viele weniger als anständig ist. Wer<br />

von sehr viel, viel abgibt, hat am Ende<br />

immer noch mehr als genug. Aber er ist<br />

anständig und das sind nicht ganz wenige.<br />

Wer aber zu wenig hat, der hat nie<br />

genug und das sind sehr viele.<br />

Wenn also die, die so viel mehr für<br />

das bekommen, für was sie eigentlich<br />

weniger verdienten,<br />

an die abgeben, die<br />

weniger bekommen<br />

als anständig ist,<br />

dann kommen wir<br />

auf den richtigen<br />

Weg. Auf einen Weg,<br />

der sich an Werten<br />

und nicht allein am<br />

Wert orientiert. Es<br />

muss im Leben mehr<br />

als alles geben! Mehr<br />

als alles zu haben ist<br />

zu viel. Genug ist genug!<br />

Und es gibt genug<br />

für alle.<br />

„Wenn jeder gibt<br />

was er hat,<br />

dann werden alle<br />

satt“<br />

(WilhelmWillms /<br />

Peter Janssens)<br />

Wenn jetzt nach all<br />

den Tiraden über<br />

Steinbrücks Reden<br />

und Bemerkungen,<br />

die in der Presse breit<br />

getreten wurden,<br />

endlich auf sinnvolle<br />

Inhalte zurückgekommen<br />

wird, dann ist es<br />

auch höchste Zeit.<br />

Die Idee z.B., eine stärkere Begrenzung<br />

der Mietpreise für Wohnimmobilien<br />

in Innenstadtlagen zu fordern, ist<br />

ein wichtiger Schritt hin zu einer Neubesinnung<br />

auf die alte Mahnung: „Eigentum<br />

verpflichtet.“ Auch in diesen Zeiten<br />

gibt es noch seriöse Eigentümer, die<br />

nicht den letzen Cent aus Ihren Mietern<br />

quetschen. Auch weniger vermögende<br />

Menschen habe ein Recht darauf in der<br />

Stadt zu leben. Börsenumsatzsteuer,<br />

Bankenrechtsreform, Besteuerung der<br />

Wertschöpfungen, Erhöhung der Spitzensteuersätze<br />

für besonders Reiche,<br />

Vermögenssteuer, Senkung der Steuersätze<br />

für Geringverdiener, stärkere<br />

Förderung im Bildungswesen, klare Positionierung<br />

für Europa, Anhebung der<br />

Regelsätze in der Grundsicherung auf<br />

ein gerechtes Maß, Einführung eines flächendeckenden<br />

Mindestlohns zur Verhinderung<br />

von Arbeiterarmut, Klärung<br />

der Wiedersprüche zwischen Europarecht<br />

und Verwaltungspraxis im Sozialbereich<br />

und vieles Mehr. All das wird<br />

nicht nur von den Sozialdemokraten<br />

erwogen. Die Frage ist, wer wird es umsetzen?<br />

Die Menschen erwarten Ansätze<br />

die wirklich etwas zu ändern vermögen.<br />

Nur echte und einschneidende Änderungen<br />

können eine Lösung für die Probleme<br />

unserer Zeit werden.<br />

Vielleicht werden wir alle zurückschalten<br />

müssen, einige mehr andere weniger.<br />

Einigen wird es dann vielleicht<br />

besser gehen als je zuvor – eben nicht<br />

nur in Deutschland, sondern in Europa,<br />

das unser aller Zukunft ist. Wenn die,<br />

die wirklich mehr als genug haben, von<br />

ihrem Überfluss herreichen – dann werden<br />

alle davon profitieren – auch die Geber<br />

selbst. Nur durch größere Solidarität<br />

und ein näheres Zusammenrücken wird<br />

die Schere von Arm und Reich nicht weiter<br />

und weiter auseinandergehen.<br />

Dabei ist es nicht erforderlich, dass<br />

jemand mit utopischen Steuern, wie in<br />

Frankreich geplant, enteignet wird. –<br />

Auch das ist ungerecht! Vielmehr gilt es,<br />

verhältnismäßig Prozente da abzuholen,<br />

wo es den Betroffenen nicht wirklich<br />

wehtut, allen aber geholfen ist.<br />

Viele geben schon von sich aus viel –<br />

verzichten auf Erhöhungen ihrer Bezüge,<br />

vermieten ihre Häuser nicht zu Wucherzinsen<br />

und treten sogar öffentlich dafür<br />

ein, Teile ihres Vermögens hergeben zu<br />

wollen. Das sind diejenigen, welche die<br />

Zeichen der Zeit erkannt haben.<br />

Sie haben weitblickend erkannt, dass<br />

die freiheitlich-demokratische Gemeinschaft<br />

aller Menschen in Deutschland<br />

und in ganz Europa nur dann Bestand<br />

haben kann, wenn die Potentialunterschiede<br />

zwischen Arm und Reich nicht<br />

zu groß werden. Wer also die Freiheit<br />

liebt, der mache die richtige Politik!<br />

G. Pfeifer (Text + Fotos)


<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

TECHNIK UND UMWELT<br />

Elektrogeräte - Finaler Error<br />

13<br />

Waschmaschinen, TV-Geräte und<br />

Drucker geben heute in der Regel<br />

schon nach wenigen Jahren<br />

den Geist auf. Der Verdacht drängt<br />

sich auf: Werden elektronische Geräte<br />

bewusst kurzlebig konstruiert, um uns<br />

das Geld aus der Tasche zu ziehen?<br />

Plötzlich bleibt der Bildschirm schwarz,<br />

das Handy stumm und der Drucker<br />

spuckt keine Seiten mehr aus. Reparieren<br />

kostet fast so viel wie neu kaufen,<br />

manchmal sogar mehr. Also ersetzt man<br />

und entsorgt das Alte. Die Lebenserwartung<br />

der praktischen Apparate scheint<br />

immer kürzer zu werden. Für viele steht<br />

fest: Die Industrie konstruiert die Geräte<br />

absichtlich so, dass sie nach wenigen<br />

Jahren den finalen Error produzieren<br />

und sich die Kunden etwas Neues kaufen<br />

müssen. „Geplante Obsoleszenz“ nennt<br />

sich das; zu Deutsch: Veraltung. Ist das<br />

Todesdatum nicht schon einprogrammiert,<br />

so der Verdacht, dann wird so gebaut,<br />

dass das Gerät unmöglich länger<br />

als drei oder vier Jahre funktionieren<br />

kann. „Für uns ist klar, dass vieles getimed<br />

ist”, sagt Sara Stalder, Geschäftsleiterin<br />

der Stiftung für Konsumentenschutz.<br />

„Zu viele Menschen melden sich<br />

bei uns, deren Geräte zwei Monate nach<br />

Ende der Garantie kaputtgehen oder die<br />

im Bekanntenkreis festgestellt haben,<br />

dass gleichartige Maschinen bei allen<br />

ungefähr gleich lang funktionieren.“<br />

Schwache Heizstäbe<br />

und lotternde Leiterplatten<br />

Diverse Medienbeiträge liefern Beispiele,<br />

so die Arte-Dokumentation „Kaufen<br />

für die Müllhalde“ von Cosima Dannowitz.<br />

Der Beweis für die Arglist freilich ist<br />

schwer zu erbringen, denn die Hersteller<br />

können stets auf die Kosten verweisen.<br />

Dauerhaft ist teurer. Das Angebot in den<br />

Discount-Märkten legt tatsächlich nahe,<br />

dass es für einen wesentlichen Teil der<br />

Kundschaft gar nicht billig genug sein<br />

kann.<br />

Ein paar Beispiele kurzlebiger Technik:<br />

In modernen Waschmaschinen<br />

werden schwächere Heizstäbe verwendet<br />

als früher, diese brennen durch,<br />

die Maschine ist nach einer Handvoll<br />

Jahren hin. In Netzteile von Computern<br />

und Fernsehern werden Kondensatoren<br />

eingebaut, die der darin auftretenden<br />

Temperatur nicht gewachsen sind. Hitzeresistente<br />

Bauteile würden nur ein<br />

paar Rappen mehr kosten und die Lebensdauer<br />

um Jahre verlängern. In<br />

Spielkonsolen werden die Leiterplatten<br />

so schlecht befestigt, dass sie sich nach<br />

wenigen Jahren ablösen, Wackelkontakte<br />

entwickeln oder den Start des Geräts<br />

komplett verhindern.<br />

Soweit so schlecht. Aber werden<br />

Elektro- und Elektronikgeräte tatsächlich<br />

immer defektanfälliger? Peter Jacob<br />

von der Empa (Eidgenössische<br />

Materialprüfungs- und Forschungsanstalt)<br />

widerspricht: „Mir scheint, dass die<br />

Geräte sogar langlebiger werden, hingegen<br />

ist die Reparierbarkeit drastisch<br />

reduziert.“ Jacob kennt sich mit Material-<br />

und Konstruktionsfehlern aus: Er untersucht<br />

sie nicht nur wissenschaftlich,<br />

auch privat flickt er gerne alte Radiogeräte.<br />

Ein Radio aus den Fünfzigerjahren<br />

lässt sich problemlos reparieren. Bei<br />

einem fünfjährigen DABRadio geht das<br />

heute vielleicht gerade noch. In 20 Jahren<br />

ist es sicher nicht mehr reparierbar.<br />

Hauptgrund dafür sei, dass kaum mehr<br />

Standardbauteile verwendet werden,<br />

sondern speziell für das Gerät entwickelte<br />

integrierte Schaltungen, die nach wenigen<br />

Jahren als Ersatzteile nicht mehr<br />

erhältlich sind. Es gibt aber auch ganz<br />

andere Gründe: Gehäuse, die sich nicht<br />

öffnen, sondern nur knacken lassen<br />

oder fest eingebaute Akkus, die, wenn<br />

überhaupt, nur der Spezialist wechseln<br />

kann, wenn ihre Kapazität nachlässt.<br />

Es geht auch anders - vorausgesetzt,<br />

man ist beim Kauf bereit, etwas tiefer in<br />

die Tasche zu greifen. Qualitätsprodukte<br />

sind robuster und lassen sich im Falle<br />

eines Falles vom Fachmann reparieren.<br />

Andere, die das frühe Ende ihres Geräts<br />

nicht akzeptieren wollen, finden im Internet<br />

Hilfe. Seiten wie ifixit.com oder<br />

insidemylaptop.com bieten detaillierte<br />

Anleitungen, wie sich die geliebten<br />

Gadgets auseinandernehmen und reparieren<br />

lassen. Voraussetzung sind handwerkliches<br />

Geschick, Spezialwerkzeug<br />

und je nach Schaden Ersatzteile.<br />

Ein Gerätefehler, der dem programmierten<br />

Tod schon sehr nahekommt,<br />

tritt bei verschiedenen Tintenstrahldruckern<br />

auf: Ein sogenannter Waste<br />

Counter („Abfallzähler“) registriert jede<br />

gedruckte Seite. Nach einer bestimmten<br />

Anzahl (beispielsweise 5000) gibt er<br />

an, der Schwamm sei voll, welcher die<br />

Tinte auffängt, die beim Reinigen der<br />

Düsen austritt - ob dies wirklich der Fall<br />

ist oder nicht. Der Schwamm lässt sich<br />

austauschen, jedoch nützt dies nichts,<br />

wenn der Zähler nicht auf Null gesetzt<br />

wird. Im Arte-Film wird dem Probanden<br />

geraten, einen neuen Drucker zu kaufen.<br />

Nach langer Suche in Web-Foren und


TECHNIK UND UMWELT<br />

14 <strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

sie sowieso nicht länger benutzt werden?<br />

Es gibt auch gute Gründe, einen alten<br />

Computer oder sonst ein Gerät<br />

nicht mehr weiter zu verwenden: dann<br />

nämlich, wenn sein Stromverbrauch so<br />

hoch ist, dass ein neues Gerät innerhalb<br />

nützlicher Frist inklusive Herstellung<br />

und Transport zum Endkunden weniger<br />

Energie verbraucht. Teresa Medaglia<br />

von der Stiftung Entsorgung Schweiz<br />

(SENS) verweist auf eine Broschüre von<br />

Energie Schweiz: Darin wird für verschiedene<br />

Haushaltsgeräte sowie Bildschirme<br />

angegeben, ob es sinnvoller ist,<br />

das defekte Gerät reparieren zu lassen<br />

oder ein neues zu kaufen. Grundsätzlich<br />

gilt: Je älter das Gerät, desto weniger<br />

Reparaturkosten lohnen sich, denn das<br />

neue schont die Umwelt und entlastet<br />

die Stromrechnung.<br />

Hilfeseiten entdeckt der Mann auf einer<br />

russischen Website ein Programm, das<br />

den Zähler seines Druckers zurücksetzt.<br />

Er riskiert das Leben seines Computers,<br />

lädt das Programm herunter, lässt es<br />

laufen und siehe da: Der Drucker druckt<br />

wieder.<br />

Inzwischen sind sogenannte Waste-<br />

Counter-Reset-Programme relativ leicht<br />

zu finden, einige Drucker können den<br />

Zähler sogar selber zurücksetzen, wenn<br />

man die richtige Tastenkombination<br />

kennt. Natürlich sollte man sich vergewissern,<br />

ob der Schwamm nicht doch<br />

ersetzt werden muss. Auch dafür gibt es<br />

Anleitungen im Netz.<br />

Zurück zum Vorwurf der geplanten<br />

Obsoleszenz. Im Internet findet sich<br />

nach kurzer Suche eine Handvoll Fachleute,<br />

die überzeugt sind und dafür<br />

hinstehen, dass Hersteller ihre Geräte<br />

absichtlich auf eine kurze Lebensdauer<br />

auslegen, um möglichst viele neue<br />

Geräte verkaufen zu können. Empa-<br />

Forscher Peter Jacob sieht einen anderen<br />

Grund, weshalb Geräte immer weniger<br />

lange benutzt werden: „Die tatsächliche<br />

Lebensdauer ist nicht entscheidend, sondern<br />

technische Standards und Features:<br />

Kaum begann sich das Digitalradio DAB<br />

durchzusetzen, stellte man auf DAB plus<br />

um und viele nur wenige Jahre alten<br />

Radios blieben stumm. Videorecorder<br />

wurden durch DVD-Rekorder ersetzt und<br />

diese nun durch Video-on-Demand und<br />

Festplattenrekorder. Ein Handy würde<br />

ohne Weiteres zehn bis 15 Jahre funktionieren,<br />

aber niemand verwendet es so<br />

lang, weil die neueste Generation wieder<br />

einiges mehr kann.“<br />

Immer nur das Neueste<br />

Kaum vorstellbar, dass ein modernes<br />

Smartphone in 15 Jahren noch funktioniert.<br />

Aber wer verwendet nur schon ein<br />

fünfjähriges? Die durchschnittliche Nutzungsdauer<br />

von Handys in Deutschland<br />

beträgt 18 bis 24 Monate. In der Schweiz<br />

dürfte es ähnlich aussehen, denn entscheidend<br />

ist, wann der Provider ein<br />

neues Gerät anbietet. Hand aufs Herz:<br />

Wie viele der Telefone, die Sie ausgemustert<br />

haben, funktionierten wirklich nicht<br />

mehr? Am Computer verlangen immer<br />

neue System- und Programmversionen<br />

nach immer höherer Rechenleistung.<br />

Wer nicht mitmacht, muss entweder ein<br />

Soft- und Hardware-Tüftler sein oder er<br />

landet auf dem digitalen Abstellgleis.<br />

Viele sind ohnehin magisch angezogen<br />

von Geräten der neuesten Generation.<br />

Schließlich wird ihnen mindestens einmal<br />

pro Jahr ein neues technologisches<br />

Zeitalter versprochen. Umso angenehmer,<br />

wenn das alte Teil ohnehin schwächelt.<br />

Wieso also sollen die Apparate<br />

länger halten, als sie benutzt werden?<br />

Es bleibt die Frage nach dem Huhn und<br />

dem Ei: Ersetzen die Leute ihre Geräte so<br />

häufig, weil sie so schnell kaputtgehen,<br />

oder gehen diese so schnell kaputt, weil<br />

Werden Elektroapparate schneller ersetzt,<br />

verbreiten sich umweltfreundliche<br />

Technologien schneller. Das räumt auch<br />

Sara Stalder ein, meint aber: „Es macht<br />

natürlich keinen Sinn, alle zwei Jahre einen<br />

energieeffizienteren Kühlschrank zu<br />

kaufen und den Alten zu entsorgen.“ Für<br />

die Konsumentenschützerin überwiegt<br />

das Interesse der Menschen, die nicht<br />

binnen drei bis fünf Jahren ihren gesamten<br />

Haushaltsmaschinenpark ersetzen<br />

wollen.<br />

„Es ist ein Kampf David gegen Goliath“,<br />

beschreibt Stalder die Situation<br />

der Konsumenten, „nur mit vereinten<br />

Kräften - einer internationalen Initiative<br />

- könnten die großen Hersteller dazu<br />

bewegt werden, langlebigere Produkte<br />

zu entwickeln.“ Auf die Leute, die für das<br />

neuste iPhone stundenlang Schlange<br />

stehen oder regelmäßig auf Schnäppchenjagd<br />

gehen, kann sie in diesem<br />

Kampf wohl nicht zählen.<br />

Von Stefan Michel<br />

www.street-papers.org/Surprise-Schweiz<br />

(Fotos: wikimedia/commons)


<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

Stadtteilbotschafter Kenza und<br />

Hamad Khan verfassten ein „Familienbuch<br />

für Preungesheim“<br />

- Förderung durch die Polytechnische<br />

Gesellschaft<br />

SOZIALE PROJEKTE IN FRANKFURT<br />

Stolze Preungesheimer<br />

15<br />

Integration einmal anders – Ein Geschwisterpaar<br />

mit pakistanischen Wurzeln<br />

engagiert sich als Stadteilbotschafter<br />

in Preungesheim. Kenza und Hamad<br />

Khan gingen auf die Menschen in ihrer<br />

Nachbarschaft zu und sammelten deren<br />

Geschichten. Anfang Januar präsentierten<br />

sie ihr „Familienbuch für Preungesheim“.<br />

Kenza (19 Jahre) und Hamad Khan<br />

(18 Jahre) sind ungewöhnlich offene<br />

und tatkräftige junge Menschen. 2005<br />

siedelten sie mit ihrer Familie von Pakistan<br />

nach Frankfurt, genauer nach<br />

Preungesheim, über. Sie waren Kinder<br />

und sprachen kein Wort Deutsch. Doch<br />

sie gaben sich nicht damit zufrieden,<br />

in einem unbekannten Land angekommen<br />

und Fremde zu sein. Sie machten<br />

sich auf, Preungesheim zu erobern. So<br />

könnte das Integrationsmärchen der<br />

von Kenza und ihrem Bruder Hamad beginnen.<br />

Dass es keines ist, dafür sorgten<br />

Engagiertes Trio: Kenza (rechts) und Hamad Khan (Mitte) bei der Buchpräsentation.<br />

Die große Schwester der Beiden moderierte die gutbesuchte Veranstaltung<br />

Kenza und Hamad selbst. Sie lernten<br />

Deutsch, engagierten sich in der Schule<br />

und fassten in einem rasanten Tempo<br />

auch in ihrem Stadtteil Fuß.<br />

Im Herbst 2010 erfuhren sie von der<br />

Möglichkeit Stadtteilbotschafter zu<br />

werden. Klaus Dorenkamp, Leiter des<br />

Projektes, das von der Stiftung Polytechnische<br />

Gesellschaft initiiert und gefördert<br />

wird, besuchte die Schule. Kenza<br />

und Hamad bewarben sich und wurden<br />

genommen. In Workshops, mit Reisen<br />

und Trainings bereiteten sie sich mit<br />

anderen engagierten Jugendlichen auf<br />

ihre Rolle vor. Das ehrenamtliche Engagement<br />

der Stadteilbotschafter wird<br />

auch finanziell von der Stiftung unterstützt.<br />

Geschult in Rhetorik und Kommunikation<br />

erforschten Enza und Hamad ihren<br />

Stadtteil ganz gezielt. Mittlerweile kennen<br />

sie Preungesheim so gut, dass sie<br />

seine Geschichten erzählen können. Sie<br />

dokumentierten diese in einem Buch.<br />

Anfang Januar präsentierten die Beiden<br />

das „Familienbuch für Preungesheim“.<br />

„Preungesheim hat viel mehr zu bieten<br />

als nur das Frauengefängnis, an das jeder<br />

sofort denkt“, sagt Kenza Khan. „Wir<br />

wollten die Geschichten sammeln und<br />

damit den Zusammenhalt stärken.“<br />

Auftrittsstark: Kenza Khan stellt das Familienbuch für Preungesheim vor<br />

Über 100 Menschen, darunter der<br />

Frankfurter Bürgermeister Olaf Cunitz,<br />

Ortsvorsteher Robert Lange und viele<br />

interessierte Frankfurter waren in das<br />

IB-Hotel an der Friedberger Warte gekommen,<br />

um sich von den Ergebnissen<br />

der Recherchen der Khan-Geschwister<br />

zu überzeugen. „Die Suche nach Identität,<br />

Heimat und Zusammenhalt ist<br />

wichtig“, sagte Olaf Cunitz und dankte<br />

Kenza und Hamad für ihre Spurensuche


SOZIALE PROJEKTE IN FRANKFURT<br />

16 <strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

Herr Martell erzählte Kenza und Hamad,<br />

dass er und seine Rock-Band „Memphis“<br />

jahrelang im Keller der Festeburgkirche<br />

übten und er sich deshalb heute für den<br />

Erhalt der Kirche an der Wolfsweide einsetzt.<br />

Dieses und vieles andere rund um<br />

das 1910 eingemeindete Dorf erfährt<br />

der Leser des Familienbuchs. Es ist ein<br />

Appell an jeden Menschen, sich einzumischen,<br />

und zwar dort wo man lebt.<br />

Neben den Texten enthält das Buch<br />

auch Fotos aus dem Stadtteil. Nicht alle<br />

Interviewten kommen im Buch zu Wort.<br />

Das Budget, das Kenza und Hamad zur<br />

Verfügung stand, war begrenzt.<br />

Gut gelaunt: Olaf Cunitz, Frankfurter Bürgermeister, freut sich mit Kenza (Mitte)<br />

und Hamad Khan über den Erfolg ihres Projektes<br />

in dem Frankfurter Stadtteil, der im 8.<br />

Jahrhundert erstmalig erwähnt wurde.<br />

Ortsvorsteher Lange bescheinigt Kenza<br />

und Hamad eine schnellstmögliche Integration:<br />

„Ihr seid nach sieben Jahren<br />

so integriert, wie es mancher Deutsche<br />

nicht ist“, so der Kommunalpolitiker.<br />

„Schön, dass es euch gibt.“<br />

Monatelang waren die Beiden im<br />

vergangenen Jahr in Preungesheim unterwegs,<br />

führten Straßeninterviews mit<br />

jungen, älteren, alteingesessenen und<br />

neuen Bürgern, mit Politikern sowie Geschäftsleuten<br />

des Stadtteils. Sie wollten<br />

von ihnen etwas über das Zusammenleben<br />

der Menschen erfahren, über die Integration<br />

der vielen Nationalitäten und<br />

darüber, was sie an Preungesheim gut<br />

oder schlecht finden.<br />

berufsbedingten Wechsel nach Hannover<br />

habe sich sein Netz von Beziehungen<br />

nach Preungesheim, dem „ewigen<br />

Dorf“, als tragfähig erwiesen.<br />

„Preungesheim ist das, was Menschen<br />

daraus machen“, sagte Herr Breitkreuz<br />

im Interview. Er ist im Präventionsrat<br />

des Stadtteils tätig und hat folglich viel<br />

Kontakt mit Jugendeinrichtungen, der<br />

Kirche aber auch der Polizei. Auch wenn<br />

sein Name deutsch klingt, stammt Herr<br />

Breitkreuz wie die Khans aus einer Migrantenfamilie.<br />

Seine siedelte aus Polen<br />

über.<br />

„Wir hatten viele Glücksmomente<br />

bei dem Projekt“, sagt Kenza Khan.<br />

„Wenn wir jetzt durch die Straßen gehen,<br />

sehen wir die Geschichten hinter<br />

den Gebäuden, an den Ecken und Plätzen.“<br />

Ihr Bruder Hamad ergänzt: „Ich<br />

sehe Preungesheim als große Familie.“<br />

Hamad appellierte zum Abschluss der<br />

Veranstaltung an die Zuhörer: „Wenn<br />

euch etwas nicht gefällt, müsst ihr das<br />

ändern.“ Auch dafür erntete er nicht nur<br />

von eingefleischten Preungesheimern<br />

viel Applaus.<br />

liz<br />

(Fotos: A. Pöppel und N. Hussain)<br />

Wer das Buch lesen möchte, kann es<br />

per E-Mail kostenlos bestellen, bei:<br />

kenza.khan@stadteilbotschafter.de<br />

Im Gespräch mit Frau Lange erfuhren<br />

sie beispielsweise, dass es früher viele<br />

Felder und mehrere Bauern in Preungesheim<br />

gab, bei denen man Milch, Eier<br />

und Gemüse kaufen konnte. Und, dass<br />

Frau Lange Kaugummiflecken auf dem<br />

Bürgersteig derart stören, dass sie diese<br />

manchmal sogar selbst von der „Gass“<br />

kratzt.<br />

Der ehemalige Pfarrer Pausch erzählte,<br />

dass er beim Einzug in die Jasperstraße<br />

vor Gewalt und Asozialität gewarnt<br />

wurde. „Uns ist in all den Jahren<br />

nie etwas Schlimmes passiert, obwohl<br />

wir im Stadtteil sehr präsent waren und<br />

ich dort Offene Jugendarbeit machte“,<br />

zieht der Pfarrer Bilanz. Auch nach dem<br />

Aufmerksam: Viele Frankfurter, darunter Bürgermeister Olaf Cunitz (rechts),<br />

interessieren sich für das Projekt der Geschwister Khan


ABTLG. SELTSAME GESETZE<br />

Aus der Geschichte des europäischen Fortschritts:<br />

Zigaretten-Löschzonen<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

17<br />

Seit dem 17. November letzten<br />

Jahres hat durch EU-Beschluss<br />

jede Zigarette zwei sogenannte<br />

Löschzonen eingebaut. In einer kleinen,<br />

zehnzeiligen Zeitungsmeldung<br />

wurde Anfang Januar lobend darüber<br />

berichtet. (Wir nennen das Blatt lieber<br />

nicht: Der Verfasser hat kaum länger als<br />

30 Sekunden über das nachgedacht,<br />

was er da lobt.)<br />

Zunächst fragt man sich ja, warum<br />

wird so eine Bestimmung eingeführt?<br />

Falls der Zeitungsschreiber ein offizielles<br />

Argument wiedergibt, dann weil<br />

„die Zigarette, die endlos qualmend im<br />

Aschenbecher liegen konnte, stinkend,<br />

bis der Filter ankokelte“ nun der Vergangenheit<br />

angehört.<br />

Gut und schön, aber da fallen einem<br />

doch noch Fragen ein. Zum Beispiel:<br />

Wo gibt es denn heute überhaupt<br />

noch Aschenbecher, in denen qualmende<br />

Zigaretten Unbeteiligte stören könnten?<br />

In Wirtschaften und Restaurants,<br />

Büros und Behörden, Bahnen und Flugzeugen,<br />

Taxis und Mietwagen ist das<br />

Rauchen ja sowieso verboten. Dort kann<br />

diese Neuerung also keinen Vorteil bringen.<br />

Und Leute, die bei sich zu Hause<br />

rauchen?<br />

Diese sind jetzt gezwungen, entweder<br />

an ihren Zigaretten hektischer und häufiger<br />

zu ziehen, damit sie nicht mittendrin<br />

von alleine ausgehen - oder, wenn<br />

sie langsam rauchen, sie mehrmals erneut<br />

anzuzünden. Dazu ist jedes Mal ein<br />

wenig vom Rohstoff Holz, bei Streichhölzern,<br />

oder vom Rohstoff Gas, bei Feuerzeugen,<br />

zu verschwenden.<br />

Schneller zu rauchen dürfte kaum<br />

gesünder sein als gelegentlich mal eine<br />

halbe Kippe verqualmen zu lassen; und<br />

die zwei- bis dreifache Menge Gas zu verwenden,<br />

um die mehrmals erlöschende<br />

Kippe wieder anzustecken, wird auch<br />

kaum jemand als besonders umweltfreundlich<br />

einstufen.<br />

Dabei gibt es ein viel einfacheres und<br />

natürlicheres Mittel, Zigaretten zum gelegentlichen<br />

Ausgehen zu bringen, wenn<br />

eine Weile nicht daran gezogen wird,<br />

falls man das von Seiten der EU unbedingt<br />

so haben will: Die Älteren unter<br />

uns erinnern sich vielleicht noch an frühere<br />

Ausflüge nach Frankreich, wo man<br />

nicht selten Menschen mit nicht qualmenden<br />

Zigarettenkippen, halb- oder<br />

dreiviertelgerauchten, im Mundwinkel<br />

sehen konnten. Manche der älteren<br />

Franzosen schienen ihr ganzes Leben<br />

lang eine erloschene Zigarettenkippe im<br />

Mundwinkel zu haben und sie nur gelegentlich<br />

für zwei, drei Züge wieder anzuzünden.<br />

Das funktionierte vor allem mit<br />

den altmodischen, früher sehr starken<br />

Zigarettenmarken wie Boyards, Parisiennes,<br />

Gitanes und Gauloises sehr gut.<br />

Wieso? Enthielten diese auch schon<br />

Löschzonen? Keineswegs, sie enthielten<br />

aber noch keine künstlichen, chemischen<br />

Brandverstärker, wie sie sonst nur<br />

von<br />

Brandstiftern geschätzt werden und<br />

die zusammen mit anderen, zweifelhaften<br />

Zusätzen, ausgehend von Amerika,<br />

während der letzten Jahrzehnte die ganze<br />

<strong>Welt</strong> des Rauchens eroberten.<br />

Die erwähnten französischen Zigaretten<br />

gingen bei Nichtgebrauch einfach<br />

deswegen nach einer Weile von selbst<br />

aus, weil sie nichts als Tabak enthielten.<br />

Früher stand auf manchen Zigarettenpäckchen<br />

der geradezu stolze Hinweis<br />

auf den Inhalt des Produkts: Tabak, Papier.<br />

Nichts weiter.<br />

Noch heute, im Jahre 1212, steht auf<br />

den französischen Gauloises-Päckchen:<br />

„Tabac: 94,0 %, Papier ä cigarette: 6<br />

%. Agents de saveur et de texture: 0,0<br />

%“ Die Anteile von Tabak und Papier<br />

sind wohl verständlich. Wovon es 0,0<br />

% gibt, ist schwer zu übersetzen, grob<br />

oder wörtlich gesagt so etwas wie: Wirkstoffe<br />

rettender oder struktureller Art?<br />

Jedenfalls enthalten diese Zigaretten<br />

wie angegeben nichts Als Tabak und Papier.<br />

Keine Brandverlängerer und keine<br />

Brandunterbrecher.<br />

Auch Zigarren, die aus >100 % Tabak<<br />

bestehen, gehen nach einer Weile<br />

sich selbst überlassener, qualmender<br />

Vernachlässigung von selbst aus. Dieses<br />

Weiterquahnen findet allerdings bei<br />

noblen Produkten aus Kuba für ein paar<br />

Minuten ebenso statt wie bei den neuen<br />

Zigaretten mit Löschzonen.<br />

Aber, so mag man sich weiterfragen,<br />

wäre es nicht viel einfacher gewesen,<br />

denselben Effekt zu erzielen, nämlich<br />

den, dass Zigaretten nach einer Weile<br />

von selbst ausgehen, wenn man alle Zusatzstoffe<br />

außer Tabak (und Papier) verboten<br />

hätte? Aber die Industrie...<br />

Man kann sich auch fragen, wieso Zigaretten<br />

zu den ganz wenigen Produkten<br />

gehören, jedenfalls in Deutschland,<br />

auf deren Verpackungen keine Inhaltsstoffe<br />

angegeben werden müssen. Nur<br />

Teer, Nikotin und Kohlenmonoxid werden<br />

in ,mg‘ genannt. Das sind aber die<br />

Inhalte des Rauchs der Produkte, nicht<br />

die Inhalte der Produkte selbst, die bei<br />

ihrer Herstellung neben Tabak und Papier<br />

in sie hineinpraktiziert werden. Wer<br />

weiß schon genau, was der Tabak noch<br />

alles enthält, was der Filter?<br />

Es fallen einem immer mehr Fragen<br />

bei einem so scheinbar ganz nebensächlichen<br />

Thema ein. Wer hat das eigentlich<br />

beschlossen? Wo wurde darüber je diskutiert?<br />

Welche Argumente dafür oder<br />

dagegen wurden vorgebracht und von<br />

wem bestätigt oder widerlegt?<br />

Und: Woraus bestehen diese sogenannten<br />

Löschzonen? Welche chemischen<br />

Substanzen - denn was sollte es<br />

anderes sein? - kommen zum Einsatz?<br />

Sind diese nachweislich gesünder als<br />

der Tabak selbst? Warum müssen sie so<br />

wenig wie andere Zusatzstoffe bei uns<br />

nicht auf der Packung deklariert werden?<br />

Aber ehe wir uns noch mehr wiederholen,<br />

der oben ohne Quellenangabe<br />

erwähnte Mini-Artikel schließt ahnungslos:<br />

„...und hat es uns geschadet? Nein,<br />

der Raucher nimmt es hin. Auch in<br />

Frankfurt. Danke, EU.“ (Kein Ausrufungszeichen!)<br />

Man nimmt es hin. Die EU.<br />

Wir wollen den gedankenlosen,<br />

dummen Verfasser nicht noch durch<br />

die Nennung seines Namens ehren.


18 DemograFische entwicklung<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

Die Menschen in Deutschland werden immer älter<br />

und auch aktiver<br />

Otto Rudeski 68, Margarete Schultz<br />

71, und Erwin Richards 73, sind<br />

nur drei von vielen Rentnern die<br />

noch täglich zur Arbeit gehen. Lange haben<br />

sie in die Rentenkasse eingezahlt.<br />

Und doch liegt ihre Rente nur knapp<br />

über den Sozialhilfeniveau. Weil es einfach<br />

nicht zum Leben reicht, müssen<br />

sie auch im hohen Alter noch jobben.<br />

Zurzeit sind es ca. 600 000 Menschen in<br />

Deutschland deren Rente nicht reicht.<br />

Die Armutsgrenze liegt bei derzeit 940 €.<br />

Zurzeit gibt es hier zu Lande 10 000 Hundertjährige<br />

und älter. Alle fünf Jahre verdoppelt<br />

sich das. Jedes zweite Kind, das<br />

heute auf die <strong>Welt</strong> kommt, wird einmal<br />

die Chance haben100 oder noch älter zu<br />

werden. Im Gegensatz zu denen die eine<br />

recht gute Rente bekommen, wird den<br />

weniger betuchten Menschen im Alter<br />

wenig Aufmerksam geschenkt.Wer arm<br />

ist und vielleicht auch noch krank, landet<br />

gegeben falls im Betreuten Wohnen<br />

oder einem Pflegeheim. Auch das Thema<br />

Alt und Arm wird uns in der nächsten<br />

Zeit beschäftigen.<br />

Mein Blick in ein Gemeindebrief einer<br />

Evangelischen Kirchengemeinde meines<br />

Bezirkes, brachte mich in Staunen.<br />

Unter der Rubrik „Gratulanten“ waren<br />

31 Menschen aufgelistet die im Monat<br />

September 85-93 Jahre alt wurden. Im<br />

Oktober feierten 34 Menschen zwischen<br />

85 bis 104 Jahren ihren Geburtstag. Im<br />

November wurden 28 Leute zwischen 85<br />

und 100 Jahre alt.<br />

Anfang der 50ger Jahre lag die durchschnittliche<br />

Lebenserwartung bei Frauen<br />

68,5 Jahren, bei Männern 64,5 Jahren.<br />

Anfang der 80ger wurden von 100<br />

Frauen die Hälfte achtzig, bei den Männer<br />

waren es 29 von100, die ein Alter von<br />

80 Jahren erreichten. Wir haben 2012<br />

und jeder vierte ist in Deutschland über<br />

60 Jahre alt. Die Lebensform älterer<br />

Menschen hat sich in den letzten Jahren<br />

stark verändert.Da sich die Gruppe älterer<br />

Menschen in unserer Gesellschaft<br />

immer mehr vergrößert, haben etliche<br />

Brachen, wie zum Beispiel Reiseveranstalter,<br />

für die die es sich leisten können,<br />

darauf reagiert. In den Universitäten<br />

konzentriert man sich auf die „aktiven<br />

Alten“, die spezielle Studienfächer belegen.<br />

Ein großer Anteil alter Menschen<br />

leben selbständig<br />

in eigenen<br />

Wohnungen. Die<br />

meisten sind fit<br />

und und in der<br />

Lage ein selbständiges<br />

Leben<br />

zu führen, die<br />

auch ihren Lebensabend<br />

aktiv<br />

gestalten können.<br />

Auch in Ehrenamt<br />

engagieren<br />

sich immer<br />

mehr Rentner.<br />

Als ich im Frühjahr<br />

auf der Berliner<br />

Ehrenamts<br />

Börse im Roten<br />

Rathaus war, geriet ich ins staunen über<br />

die zahlreichen Rentner die diese Messe<br />

besuchten. Eine ältere Dame erzählte<br />

mir, die Kinder wären längst erwachen,<br />

die Enkel aus dem größten raus. Jetzt<br />

ergreift sie die Initiative, um sich bei einen<br />

großen Träger nützlich zu machen.<br />

Bewerben wolle sie sich um eine Stelle,<br />

wo sie Kindern bei den Schularbeiten<br />

hilft, wo Eltern aus beruflichen Gründen<br />

nicht so die Zeit hätten. Und zugleich<br />

wäre sie auch ein bisschen Ersatz Oma.<br />

Ich traute mich nicht zu fragen wie alt sie<br />

ist, aber in unseren Gespräch erwähnte<br />

sie, sie sei 72.<br />

In der sich immer schnelleren entwickelnden<br />

Zeit, möchten auch immer mehr<br />

ältere Menschen Schritt halten. Ein Handy<br />

besitzt heute fast jeder Rentner. Aber auch<br />

in den Internet Shops trifft man häufig auf<br />

ältere Menschen. Eine Nachbarin erzählte,<br />

sie ginge häufig in das Nachbarschaftshaus<br />

was sich nahe unserer Siedlung<br />

befindet. Am Montag wäre sie im Chor,<br />

am Dienstag sei Walzer tanzen angesagt,<br />

wo sie immer auf nette Leute treffe. Mittwochs<br />

wäre Gymnastik. Donnerstags treffe<br />

sich die Zeichengruppe und am Freitag<br />

sei sie mit der Wandergruppe unterwegs.<br />

Am Wochenende müsse sie ihren Haushalt<br />

machen und täglich zwischen 8:00<br />

und 10:00 Uhr helfe sie einer älteren Nachbarin<br />

(92) bei der Morgenwäsche. Jetzt ist<br />

sie 74 und manchmal sehe ich sie, wie sie<br />

mit dem Fahrrad zum einkaufen fährt.<br />

In den Medien wird auch immer wieder<br />

diskutiert, wann ein Mensch seinen Führerschein<br />

abgeben sollte. Schon lange<br />

beobachte ich eine ältere Nachbarin die<br />

auch schon auf die achtzig zu geht, wie<br />

lange sie mit ihrer Gehstock vom Haus<br />

bis zu ihren Auto kommt. Und wenn sie<br />

ihr Auto wieder am Strassenrand parkt,<br />

bleibt sie eine Weile noch im Wagen sitzen,<br />

da Auto fahren in diesen Alter anstrengend<br />

ist. Ihre Tochter sagte einmal<br />

„Auto fahren bedeutet auch für einen<br />

Menschen, der aus Altersgründen nicht<br />

mehr so gut zu Fuß ist, ein Stück Freiheit“.<br />

Vor Jahren war die Lebensmitte 35<br />

Jahre. In früheren Zeiten stellte man<br />

sich mit fünfundsechzig Jahren auf den<br />

wohlverdienten Ruhestand ein. Das hat<br />

sich ohnehin geändert, da viele länger<br />

im Berufsleben bleiben werden. Die Altersrente<br />

beginnt nun erst mit 67 Jahren.<br />

Halte ich mir vor Augen, jemand ist<br />

45 und lebt die Zeit, die er schon gelebt<br />

hat noch einmal, ist das doch eine ziemlich<br />

lange Zeit. Ich bin zu der Erkenntnis<br />

gekommen, das die steigende Lebenserwartung<br />

auch eine Chance darstellt. Es<br />

kommt also nur darauf an, was wir mit<br />

der Zeit anfangen, die wir dazu gewonnen<br />

habe<br />

(Namen sind frei erfunden)<br />

Maria<br />

(Foto: DGB-Senioren)


<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

FILM I<br />

19<br />

I, Anna<br />

Seit ihr Mann sie verlassen hat, lebt Anna Welles (Charlotte Rampling) in einem kleinen Apartment mitten in London. Sie<br />

ist nicht mehr jung, aber immer noch attraktiv. Ihre Tochter Emmy (Hayley Atwell) drängt sie, ihr Single Dasein zu beenden,<br />

einmal auszugehen und einen neuen Anfang zu wagen. Bei den Single – Treffen, die sie hin und wieder besucht,<br />

lernt sie gelegentlich einen Mann kennen. Ihre Wahl fällt auf den attraktiven George (Ralph Brown) und begleitet ihn nach<br />

Hause. Am nächsten Tag ist er tot. Noch am frühen Morgen verlässt sie das Hochhaus. Da begegnet sie den Kriminalkommissar<br />

Bernie Reid (Gabriel Byrne), der gerade zu einer Aufklärung eines Mordfalls gerufen wurde. Während der Ermittlung geht<br />

ihn die unbekannte Schöne nicht mehr aus den Kopf. Er macht sie ausfindig und beschattet sie. Er bittet sie zu einem Date.<br />

Doch irgend etwas scheint Anna zu verbergen. Inspektor Reid hat nun einen Verdacht, dass Georges Sohn ihn aufgrund von<br />

Geldmangel und zunehmenden Drogenproblemen ermordet hat. Denn gleich nach der Bekanntgabe des Mordes an seinen<br />

Vater ist er mit seiner Mutter geflüchtet. Bald weisen Indizien darauf hin, dass auch Anna etwas mit der Ermordung Georges<br />

zu tun haben könnte, doch zu sehr fühlt sich Bernie zu ihr hingezogen. Es wird immer deutlicher, dass sie ein tiefes Geheimnis<br />

in sich trägt.<br />

Charlotte Rampling übernahm neben Gabriel Byrne die Hauptrolle im Regiedebüt ihres Sohnes Barnaby Southcombe. Sein<br />

Drehbuch bezieht sich auf Elsa Lewins Roman „I, Anna“ und erinnert an den Film noir der -siebzigerjahre. Den Film fand ich<br />

sehr spannend. Wie auch schon in vielen anderen Filmen brillierte auch in diesen Film Charlotte Rampling mit ihren Charme<br />

und Können. Der Film bietet den Zuschauern viel Abwechslung. Die einzelnen Schicksale der Protagonisten wurden geschickt<br />

miteinander verwoben.<br />

Der Film lief bei den 62. Filmfestspielen in Berlin in der Sektion „Berlinale Spezial“ und lief am 22.11.2012 in den Kinos an.<br />

Buch und Regie: Barnaby Southcombe<br />

Nach dem gleichnamigen Roman von<br />

Elsa Lewin<br />

Darsteller:<br />

Charlotte Rampling<br />

Gabriel Byrne<br />

Hayley Atwell<br />

Eddie Marsan<br />

Ralf Brown u.a.<br />

Genre: Psychodrama<br />

Länge: 93 Min.<br />

Großbritanien, Deutschland,<br />

Frankreich 2011<br />

Maria


20 FILM II<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

Die Wand<br />

Das Buch „Die Wand“ hatte ich vor Jahren mit Spannung gelesen. 2011 wurde der Roman von Marlen Haushofer verfilmt,<br />

und bei den diesjährigen Filmfestspielen in Berlin in der Sektion Panorama gezeigt. Der Film spielt in Österreich. Ein<br />

Ehepaar unternimmt gemeinsam mit einer Frau einen Ausflug in den Bergen. Am Abend geht man gemeinsam in ein<br />

Wirtshaus ins Tal. Als das Ehepaar das Wirtshaus verlässt und nicht wieder zurück kehrt, macht sich die Frau mit den Hund<br />

auf die Suche. Der Hund rennt durch das Dickicht und kommt mit einer blutigen Schnauze zurück. Da entdeckt die Frau etwas<br />

Unvorstellbares. Eine unsichtbare Wand, hinter der es kein Leben mehr zu geben scheint, und die sie von der Außenwelt<br />

trennt. Völlig allein muss sie nun mit den Hund, einer Katze und einer Kuh versuchen im Wald zu überleben. Ihre Gedanken<br />

und Sorgen hält sie in Aufzeichnungen fest, die vielleicht nie jemand lesen wird. Die zu unfreiwillig gewordenen „Inselbewohnerin“<br />

geht sorgfältig mit den noch vorhandenen Lebensmitteln, die sie in der Hütte findet, um. Sie legt einen Garten an,<br />

pflückt Beeren im Wald. Den Hund nennt sie „Luchs“, das Katzenjunge, das völlig abgemagert vor der Hütte auftauchte „Perle“.<br />

Die Kuh, die sich ebenfalls im Wald verirrt hatte bekommt den Namen „Bella“. Sie bestellt einen Acker und pflanzt Kartoffeln.<br />

An einen Tag macht sie sich auf den Weg ins Tal und stößt wieder an die Wand. In der Ferne, auf der anderen Seite der Wand,<br />

sieht sie einen Mann der aus einen Brunnen Wasser schöpft, aber er bewegt sich nicht und wirkt wie versteinert. Auch Waldtiere<br />

entdeckt sie, die ihr wie aus einen Wachsfiguren Kabinett vorkommen. Lange kann sie nicht unterwegs sein, denn die<br />

Kuh muss gemolken werden. Während sie den Heimweg antritt, denkt sie an ihr früheres Leben. „Ich hatte wenig erreicht, vor<br />

allem, was ich gewollt hatte, und alles, was ich erreicht hatte, hatte ich nicht mehr gewollt“. Bella muss trächtig gewesen sein<br />

und bringt einen Stier zur <strong>Welt</strong>. Die Frau hat täglich viel zu tun. Mit einen Gewehr geht sie auf die Jagt, stellt aus der Milch<br />

Butter her, baut für die Kuh und den Stier einen Stall, sammelt Beeren und besorgt Feuerholz.<br />

„Die Wand ist so sehr ein Teil meines Lebens geworden, das ich wochenlang nicht an sie denke. Wenn es dort draußen noch<br />

Menschen gäbe, hätten sie längst das Gebiet mit Flugzeugen überflogen. Ich habe gesehen, das auch niedrig hängende<br />

Wolken die Grenze überfliegen können. Wo bleiben die Erkundungsflugzeuge der Sieger? Gibt es keine Sieger? Schreibt sie in<br />

ihre Aufzeichnungen. Als sie eines Tages von einen Ausflug zurück kommt, bellt Luchs kräftig und springt aufgeregt hin und<br />

her. Da kommt ihr ein Mann entgegen mit einer Axt in der Hand. Voller Entsetzen sieht sie, dass er den Stier erschlagen hat<br />

und auch den Hund tötet er. Sie rennt ins Haus und holt das Gewehr und tötet den Mann. Die Leiche wirft sie einen Abhang<br />

hinunter, den Hund begräbt sie. Den Stier lässt sie liegen. Er ist zu schwer für sie. Mit Bella und der Katze verlässt sie die Alm<br />

und macht sich auf den Weg. „Von allen Seiten kriecht die Angst auf mich zu, und ich will nicht warten, bis sie mich erreicht<br />

und mich überwältigt“, schreibt sie auf ein Stück vergilbtes Papier.<br />

„Die Wand“ ist ein Roman von der Österreicherin Schriftstellerin Marlen Haushofer aus dem Jahre 1963. Die Rolle der Frau im<br />

Film übernahm Martina Gedeck.<br />

Die Geschichte wirkt am Anfang beklemmend. Doch im Grunde hält die Wand diese Frau am Leben. Die Protagonistin arrangiert<br />

sich mit dem was sie hat, schafft sich einen Raum. Es scheint, das sie ihren geschützten Raum gar nicht mehr verlassen<br />

möchte.<br />

„Die Wand als Grenze löst wiederum andere Grenzen auf. Sie verkehrt die Dinge. Die festgesetzten Wände, die im Menschen<br />

selbst existieren, verschwinden. Sie nimmt die Wand irgendwann nicht mehr wirklich wahr, Deswegen beachtet sie die eigentliche<br />

Wand irgendwann gar nicht mehr“. sagt Martina Gedeck in einen Interview. Kinostart ist am 11. Oktober 2012.<br />

Regie: Julian Roman Pölsler<br />

Darsteller: Martina Gedeck, Karlheinz Hackl, Hans Michael Rehberg, Julia Gschnitzer u.a.<br />

Österreich/Deutschland 108 Min.<br />

Maria (Foto: ÖBv)


<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

LITERATUR 21<br />

Die Sonne der Sterbenden<br />

von Jean-Claude Izzo<br />

Obdachlos? Wenigstens das kann mir nicht passieren!<br />

So hatte Rico sicher auch gedacht, bevor wenige Fehlentscheidungen, Alkohol und<br />

Pech ihn aus seinem Leben als Familienvater, Angestellten und respektablen Bürger<br />

hinauskatapultierten. Und scheinbar plötzlich findet er sich im winterlichen Paris<br />

auf der Straße, in Metrostationen und Bushaltestellen wieder, sein Leben reduziert<br />

auf die Abwehr von Kälte, die Suche nach einem Schlafplatz, nach Alkohol, Gemeinschaft<br />

und vielleicht etwas zu Essen.<br />

In der Hoffnung nach Glück und Wärme macht sich Rico auf die Reise nach Marseille.<br />

Es ist eine Reise, die mit Komplikationen verbunden ist, die der Normalbürger nicht<br />

erlebt. Eine Reise mit Zwischenstationen, neuen Bekanntschaften und Gewalt. Fast<br />

beiläufig, aber sehr überzeugend wird erzählt, wie äußerer Mangel menschliche Beziehungen<br />

immer weiter verarmen läßt, bis schließlich nur noch das Teilen einer<br />

Unterkunft, der letzten Zigarette, oder alter Geschichten übrig bleibt.<br />

Schließlich an seinem Ziel angekommen, befreundet sich Rico mit dem Streuner<br />

Abdou. Er teilt mit ihm seinen geheimen Schlafplatz und seine Erfahrungen und<br />

wird für den Jungen eine Art von Vaterersatz. Als dann noch sein Pariser Kumpel<br />

Dede auftaucht, scheint er sein Glück gefunden zu haben.<br />

Eines Tages schleppt sich Rico in seinem schwer vernachlässigten und misshandelten<br />

Körper zu seinem Lieblingsaussichtspunkt am Meer ..<br />

Izzo erzählt die Geschichte(n) ohne Pathos, ohne offensichtliche Sozialkritik, ohne<br />

Mitleidsbekundungen, humorvoll, eindringlich, spannend und sehr glaubhaft.<br />

Das Buch ist sowohl für den Gelegenheitsleser als auch für tiefgründige Gemüter<br />

empfehlenswert.<br />

Jean-Claude Izzo, Die Sonne der Sterbenden (Le Soleil des mourants). Unionsverlag<br />

Zürich, ISBN 9783293205567. Taschenbuch. 9,95 EUR.<br />

JL (Text + Scan)<br />

Wir bedanken uns bei Unionsverlag Zürich<br />

für die freundliche Zusendung eines<br />

Rezensionsexemplares.<br />

Red. <strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>


22 HISTORISCHE PERSÖNLICHKEIT<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

Jeder kennt den „Struwwelpeter“,<br />

eines der bekanntesten Kinderbücher<br />

der <strong>Welt</strong> und zugleich eines der ersten<br />

überhaupt. „Das Dschungelbuch“<br />

und „Alice in Wunderland“ ebenso<br />

wie ,“Huckleberry Finn“ und „Max<br />

und Moritz“ entstanden erst später.<br />

Das Buch ist also berühmt, aber<br />

wer kennt den Verfasser? Heinrich<br />

Hoffmann wurde 1809 in der Fressgass‘<br />

in Frankfurt geboren und starb<br />

auch in seiner Heimatstadt 1894. Von<br />

Beruf war er nicht etwa Schriftsteller,<br />

sondern Arzt, und zwar ein durchaus<br />

ungewöhnlicher.<br />

Sein Leben begann ganz normal:<br />

Gymnasium, Medizinstudium in Heidelberg<br />

und Halle, Doktor, Studienaufenthalt<br />

in Paris an dortigen Hospitälern,<br />

Rückkehr nach Frankfurt, Arzt<br />

am Leichenschauhaus und praktischer<br />

Arzt und Geburtshelfer in Sachsenhausen.<br />

Es wird ihm von der Wiege<br />

bis zur Bahre wohl nichts Menschliches<br />

fremd gewesen sein. Schließlich<br />

Heirat mit der Frankfurterin Therese<br />

Donner, drei Kinder -und Arzt an der<br />

Armenklinik in der Meisengasse, einer<br />

Institution, wo arme Kranke aus<br />

Frankfurt und Umgebung kostenlos<br />

behandelt wurden.<br />

Wohltäter der Wahnsinnigen<br />

Das Hauptanliegen seines beruflichen<br />

Lebens war aber die Schaffung<br />

der ersten modernen Klinik für Geisteskranke.<br />

Nachdem er 1851 Ärztlicher<br />

Leiter der „Anstalt für Irre und<br />

Heinrich Hoffmann<br />

Der Schöpfer des „Struwwelpeter“<br />

Epileptische“ in Frankfurt geworden<br />

war, kämpfte er jahrelang für die Änderung<br />

der dortigen Zustände, wo<br />

Geisteskranke wie Verbrecher, ja fast<br />

wie wilde Tiere weggesperrt wurden.<br />

Im Jahre 1864 kann er am damaligen<br />

Rande Frankfurts, auf dem sogenannten<br />

Affenstein, wo heute das<br />

vormalige IG-Farben-Haus steht, einst<br />

amerikanisches Hauptquartier, jetzt<br />

Universität, den Neubau einer Nervenklinik<br />

eröffnen. Hier wurden die<br />

Kranken wie Menschen behandelt, damals<br />

etwas ganz Neues auf der <strong>Welt</strong>.<br />

Vor allem war Hoffmann auch an<br />

kranken Kindern interessiert, deren<br />

Probleme vorher prinzipiell von<br />

Ärzten ignoriert worden waren. Zu<br />

seinem 50jährigen Doktor- Jubiläum<br />

1883 wurde das Gedicht rezitiert:#<br />

„Bei Kindern und bei Narren nur<br />

Ist von Verstellung keine Spur.<br />

Drum schloß er beide in sein Herz<br />

Und linderte gar manchen Schmerz.“<br />

Der Kinderfreund<br />

Der „Struwwelpeter“ entstand 1844<br />

als Weihnachtsgeschenk für seinen<br />

dreijährigen Sohn und wurde schon<br />

1845 zum ersten Mal gedruckt. Im<br />

Jahre 1856 erschien bereits die 100.<br />

Auflage, ein Popularitätserfolg, den<br />

im 19. Jahrhundert kaum ein anderes<br />

Buch hatte. Schon damals waren<br />

Übersetzungen in mindestens neun<br />

Sprachen des illustrierten Kinderbuches<br />

erschienen, sogar in Brasilien.<br />

Die Entstehungsgeschichte des Kinderbuches<br />

ist folgende: Dr. Hoffmann<br />

wollte seinem kleinen Sohn zu Weihnachten<br />

ein Bilderbuch schenken,<br />

aber was angeboten wurde, gefiel ihm<br />

nicht. Als er aus den Buchhandlungen<br />

zurückkam, so berichtet er selbst: „Als<br />

ich heimkam, hatte ich doch ein Buch<br />

mitgebracht, ich überreichte es meiner<br />

Frau mit den Worten: „Hier ist das<br />

gewünschte Buch für den Jungen!“.<br />

Sie nahm es und rief verwundert:<br />

„Das ist ja ein Schreibheft mit leeren<br />

weißen Blättern!“ „Nun ja, dann wollen<br />

wir ein Buch daraus machen!“.<br />

Irrenanstalt am Affenstein<br />

Schon vor und auch nach diesem<br />

berühmten Buch hat Hoffmann auch<br />

manche andere veröffentlicht, neben<br />

wissenschaftlich-medizinischen vor<br />

allem lustige Kleinigkeiten, Gedichte,<br />

Lieder, Satiren, kleine Komödien, die<br />

alle neben dem Struwwelpeter heute


<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

HISTORISCHE PERSÖNLICHKEIT 23<br />

ziemlich vergessen sind. (Es gab einmal<br />

eine schöne mehrbändige Ausgabe<br />

seiner gesammelten Schriften<br />

beim Frankfurter Insel Verlag, die in<br />

den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts<br />

erschien.)<br />

Hoffmann war vielleicht das, was<br />

man heute einen Vereinsmeier nennen<br />

würde, der gern eigene Verse auf<br />

Banketten der honorablen Bürger der<br />

Stadt vortrug und mit ihnen Lieder<br />

sang. Aber dabei verfolge er immer<br />

sein Hauptziel, die Lage der geistig<br />

Kranken zu verbessern, was ohne<br />

Unterstützung des Frankfurter Bürgertums<br />

nicht möglich war.Die Stadt<br />

Frankfurt war Mitte des 19. Jahrhunderts<br />

ja noch eine freie Republik und<br />

keinem Fürsten oder König Untertan.<br />

Ohne breite Unterstützung der Bürger<br />

ließ sich nichts durchsetzen.<br />

Nussknacker und Paulskirche<br />

Dass der Nussknacker als deutsche<br />

Weihnachtsfigur auf<br />

den Frankfurter Hoffmann<br />

zurückgeht und<br />

nicht auf den anderen,<br />

berühmteren Hoffmann,<br />

den romantischen<br />

E. T. A.-Gespenster-Hoffmann<br />

und sein<br />

Märchen „Nußknacker<br />

und Mausekönig“ ist<br />

nur wenig bekannt.<br />

Anlass der Holzfiguren<br />

war die Erzählung des<br />

Frankfurters mit dem<br />

Titel „König Nussknacker<br />

und der arme<br />

Reinhold“. Um das<br />

Jahr 1870 wurden die<br />

ersten Nussknacker als<br />

Weihnachtsfiguren im<br />

Erzgebirge hergestellt.<br />

Politisch gesehen<br />

war Hoffmann ein sogenannter<br />

Liberaler,<br />

was für die Konservativen<br />

der Zeit fast so<br />

etwas wie ein Revoluzzer<br />

war. Tatsächlich<br />

beherbergte er in<br />

seinem Haus den später<br />

berüchtigten badischen<br />

Revolutionär Friedrich Hecker.<br />

Aber tatsächlich war Hoffmann immer<br />

ein Bürgerlicher, gehörte er 1848<br />

der Versammlung in der Paulskirche<br />

an, welche die erste deutsche Nationalversammlung<br />

vorbereitete. Später<br />

aber befürwortete er eine preußische<br />

Monarchie und auch, dass 1866 die<br />

Preußen die seit Jahrhunderten republikanisch<br />

und selbstständig regierte<br />

Freie Reichsstadt besetzten.<br />

Damit war er mit vielen anderen<br />

Frankfurtern nicht einer Meinung, sicherlich<br />

auch nicht mit dem anderen<br />

berühmten Frankfurter Dichter der<br />

Zeit, Friedrich Stoltze oder zum Beispiel<br />

mit Carl Fellner:<br />

Der letzte „Ältere Bürgermeister“ der<br />

Stadt, war von dem Verlust der Frankfurter<br />

Freiheit und von dem unverschämten<br />

Verhalten der Preußen (Sie wollten von<br />

ihm eine Liste aller Frankfurter mit öffentlichen<br />

Ämtern samt ihren Adressen.) und<br />

der fehlenden Unterstützung der Frankfurter<br />

Bürger so deprimiert, dass er sich<br />

Heber das Leben nahm und sich erhängte.<br />

Der Todesbaum wurde 1977 wegen<br />

Altersschwäche umgehauen. (Manche<br />

bezweifeln allerdings, dass das wirklich<br />

der fragliche Baum war, denn es war eine<br />

Kastanie, und die werden üblicherweise<br />

nicht über 80 oder 90 Jahre alt.)<br />

Nun, Dr. Hoffmann machte das<br />

Preußischwerden seiner Vaterstadt<br />

nichts aus, er lebte noch ein gutes<br />

Vierteljahrhundert, kümmerte sich<br />

vor allem um >seine< Klinik, die zunehmend<br />

anderswo in Europa als Vorbild<br />

betrachtet wurde, und starb am<br />

20. 9.1894.<br />

Es gibt in Frankfurt das „Struwwelpetermuseum“<br />

in der Schubertstraße 20<br />

im Westend, welches auch für Kinder<br />

sehr interessant ist. Museumsträger ist<br />

- sicher ganz im Sinne des Arztes und<br />

Dichters - ein Sozialwerk für psychisch<br />

erkrankte Menschen, die „frankfurter<br />

Werkgemeinschaft e. V.“. Das Museum ist<br />

also eine überzeugende Vereinigung von<br />

kultureller Historie und aktuellem sozialen<br />

Engagement.<br />

MF<br />

(Alle Fotos und Grafiken: wikimedia /commons)


24 VEREINSNACHRICHTEN / IMPRESSUM<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

Abschied von Silvia Schöpf<br />

Alle Mitarbeiter, Freunde und Verkäufer des Vereins trauern um ihre<br />

Mitarbeiterin und Kollegin Silvia Schöpf, die, plötzlich und unerwartet,<br />

während Ihres ehrenamtlichen Dienstes im Büro zusammenbrach. Ein<br />

Rettungswagen brachte Sie zur Uniklinik, dort verstarb Silvia.<br />

Silvia Schöpf<br />

23.5.1957 - 16.10.2012<br />

Seit einigen Jahren war Silvia die Frau, die unser Büro organisierte, die<br />

Ansprechpartnerin für die vielen, oftmals auch hilflosen Besucher. Sie hielt<br />

den Kontakt zu unseren Partnern in Frankfurt. Silvia scheute auch nicht die<br />

harte Arbeit beim Straßenverkauf.<br />

Sie war die Seele des Vereins - <strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> - sie fehlt uns!<br />

Sie war beliebt bei den Kollegen, bei den Verkäufern wegen ihrer freundlichen<br />

und verträglichen Haltung. Sie gab Tipps für die armen und obdachlosen<br />

Menschen, sie half den sehr bedrängten Menschen aus den Ländern rund um<br />

Deutschland.<br />

Ihre geradlinige Mitarbeit bei den Besprechungen unserer Redaktion, den<br />

Verkäufertreffen und bei den Gesprächen mit Partnern zeichnete sie aus.<br />

Wir konnten noch Blumen auf Ihr Grab legen, zum Abschied musizieren,<br />

trommeln und singen. Sie hätte ihre Freude daran gehabt.<br />

Mi., 30.1.2013<br />

Mi., 27.2.2013<br />

Mi., 27.3.2013<br />

Wir werden Silvia in bester Erinnerung behalten<br />

Die nächsten Termine<br />

18:00 Uhr Vorstandssitzung, 19:00 Redaktion<br />

18:00 Uhr Vorstandssitzung, 19:00 Redaktion<br />

18:00 Uhr Vorstandssitzung, 19:00 Redaktion<br />

LESERBRIEF<br />

Hier noch ein Gedanke zur Buchbesprechung „Bürger oder Bettler“ aus SW68<br />

Hört mal wer da spricht!<br />

In christlichen Kirchen wird gerne das Gleichnis vom barmherzigen Samariter beschrieben.<br />

Es gibt dort 3 Hauptakteure den Armen/Hilfsbedürftigen (unter die Räuber gefallener<br />

Reisenden), den Helfer (zufällig vorüber kommender Samariter, der großherzig<br />

rettet) und den Wirt, er nimmt den Armen auf, versorgt ihn, pflegt ihn gesund, weil<br />

er dafür bezahlt wird.<br />

Gerne verstehen sich die Akteure von Diakonie, Caritas, Hilfsorganisationen, usw.<br />

als barmherzige Samariter und stellen sich in der Öffentlichkeit auch so dar.<br />

Das Buch wurde von Personen geschrieben die in der Position des Wirtes sind, denn<br />

sie werden für ihre Fürsorge bezahlt.<br />

Barbara Härtel, Oberkalbach (Rhön)<br />

I M P R E S S U M<br />

Frankfurter Armutsaktie e. V.<br />

Lahnstr. 37<br />

60326 Frankfurt am Main<br />

Tel.: 0<strong>69</strong>-373 00 568<br />

Fax.: 0<strong>69</strong>-254 97 248<br />

E-Mail: sozialeweltffm@yahoo.de<br />

Internet: www.soziale-welt-ffm.de<br />

Redaktion:<br />

Martin Fischer, Yevheniya Genova,<br />

Johannes Krämer, John Leitner,<br />

Manuela Lietzow^(Maria),<br />

Gerhard Pfeifer, Stefanie Schütten,<br />

Reinhold Urbas (v.i.S.d.P.)<br />

Cartoons:<br />

Janne Karlsson, Linkoping, Schweden<br />

Layout und Satz:<br />

Hans-Jürgen Schöpf<br />

Bürozeit:<br />

Mo - Do 9 - 13 Uhr, Fr 9 - 12.00 Uhr<br />

Zeitungsverkauf:<br />

Mo., Mi., Fr. 9.00 - 12.00 Uhr<br />

und nach telefonischer Vereinbarung!<br />

Auflage: 5.000<br />

Druck:<br />

Henrich Druck + Medien<br />

Schwanheimer Straße 110<br />

60528 Frankfurt am Main


<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

WICHTIGE ADRESSEN UND ANLAUFSTELLEN 25<br />

Ärztliche Versorgung:<br />

Sozialberatung:<br />

Malteser Migranten Medizin Frankfurt<br />

Am Bürgerhospital<br />

Nibelungenallee 37-41<br />

60318 Frankfurt/M.<br />

Telefon: (0<strong>69</strong>) 94210563<br />

Telefax: (0<strong>69</strong>) 94210522<br />

E-Mail: info@malteser-frankfurt.de<br />

Ärztlicher Leiter: Matthias Plieninger<br />

Öffnungszeiten: Jeden Dienstag von 14 bis 18 Uhr<br />

Die Elisabeth - Straßenambulanz des Caritasverbandes<br />

Frankfurt bietet kranken wohnungslosen Menschen kostenlose<br />

Hilfe. Hier erhalten Sie medizinische, zahnmedizinische<br />

und pflegerische Behandlung.<br />

Elisabeth - Straßenambulanz Caritasverband Frankfurt e.V.<br />

Klingerstraße 8<br />

60313 Frankfurt am Main<br />

Telefon: +49 (0)<strong>69</strong> 297208740<br />

Telefax: +49 (0)<strong>69</strong> 297208759<br />

E-Mail: elisabeth-strassenambulanz@caritas-frankfurt.de<br />

Öffnungszeiten:<br />

Mo - Mi + Fr 09:00 - 14:00 Uhr<br />

Do 09:00 - 13:30 Uhr<br />

Frauensprechstunde:<br />

Mo 14:30 - 16:00 Uhr<br />

Medizinisch-pflegerische Ambulanz<br />

LAZARUS Wohnsitzlosenhilfe e.V.<br />

Affentorplatz 2<br />

60594 Frankfurt<br />

Telefon: 0<strong>69</strong>)61991590<br />

E-mail: ambulanz@lazarus-frankfurt.de<br />

Sprechzeiten:<br />

Montag - Donnerstag 8 bis 14 Uhr<br />

Freitag 8 bis 13 Uhr<br />

http://www.lazarus-frankfurt.de<br />

Amt für Gesundheit<br />

Internationale Humanitäre Sprechstunden<br />

Breite Gasse 28<br />

60313 Frankfurt am Main<br />

Telefon: 0<strong>69</strong> 212-45241<br />

Fax: 0<strong>69</strong> 212-39265<br />

Offene Sprechzeiten:<br />

Montag und Donnerstag 8.00–12.00 Uhr<br />

Mittwoch ab 14.00 Uhr (nur in rumänischer Sprache)<br />

internationale.sprechstunden@stadt-frankfurt.de<br />

Die Brücke<br />

Günthersburgallee 31<br />

60316 Frankfurt am Main<br />

Telefon: +49 (0)<strong>69</strong> 4990129<br />

Evangelisches Zentrum für Beratung und Therapie<br />

am Weißen Stein<br />

Evangelischer Regionalverband Frankfurt am Main<br />

Eschersheimer Landstraße 567<br />

60431 Frankfurt am Main<br />

Telefon: +49 (0)<strong>69</strong> 5302-220<br />

Raphaels-Werk - Dienst am Menschen unterwegs e.V.<br />

Caritasverband Frankfurt e.V.<br />

Vilbeler Straße 36<br />

60313 Frankfurt am Main<br />

Telefon: +49 (0)<strong>69</strong> 91306550<br />

Schuldnerberatung:<br />

SOS Alltag e.V. - Schuldner- und Insolvenzberatung<br />

Schwarzburgstraße 10<br />

60318 Frankfurt am Main<br />

Telefon: +49 (0)<strong>69</strong> 441553<br />

Beratungen für Migranten:<br />

Förderverein Roma e.V.<br />

c/o Herr Joachim Brenner<br />

Stoltzestraße 17<br />

60311 Frankfurt am Main<br />

Telefon: +49 (0)<strong>69</strong> 440123<br />

Regenbogen - Internationale Stadtteilarbeit Am Bügel -<br />

Evangelischer Regionalverband<br />

Evangelische Familienbildung<br />

Ben-Gurion-Ring 39<br />

60437 Frankfurt am Main<br />

Telefon: +49 (0)<strong>69</strong> 5077078<br />

Fachdienst für Migration Team Stadtmitte<br />

Caritasverband Frankfurt e.V.<br />

Rüsterstraße 5<br />

60325 Frankfurt am Main<br />

Telefon: +49 (0)<strong>69</strong> 1700240


26 <strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

Sie pflegen kranke Tiere im Urwald<br />

von Peru. Sie betreuen<br />

Kinder in Nicaragua oder bauen<br />

einen Spielplatz für ein Kinderheim<br />

in Argentinien. Viele junge<br />

Menschen gehen nach dem Abitur<br />

ins Ausland und engagieren<br />

sich in sozialen Projekten. Was<br />

bewegt sie zu diesem Schritt?<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> sprach mit Anna A.<br />

über ihre Reise nach Nicaragua<br />

und das Kinder-Projekt, in dem<br />

die 20-Jährige Frankfurterin für<br />

sieben Monate mitarbeitete.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Anna,<br />

Du bist gerade von einer<br />

großen Reise zurückgekehrt.<br />

Du warst fast ein<br />

Jahr lang in Lateinamerika<br />

unterwegs, davon<br />

hast Du sieben Monate<br />

als freiwillige Helferin in<br />

Nicaragua in einem Kinder-Projekt<br />

mitgearbeitet.<br />

Was war für Dich die<br />

Motivation ins Ausland<br />

zu gehen?<br />

Anna: Ich hatte<br />

Lust ein ganz neues<br />

Land und eine andere<br />

Kultur kennenzulernen,<br />

und zwar<br />

anders als man es im<br />

Urlaub tut. Ich wollte<br />

in einem anderen Land leben<br />

und arbeiten.<br />

Ein soziales Projekt habe ich mir<br />

ausgesucht, weil ich die Situation<br />

der Menschen vor Ort richtig mitkriegen<br />

wollte. Und gehofft habe,<br />

was weitergeben zu können.<br />

Schön fand ich auch, vom Abitur<br />

nicht gleich zum Studium überzugehen.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Wie kamst Du auf Nicaragua?<br />

Anna: Ich hatte immer Lateinamerika<br />

im Blick für meine Reise. Sprache, Kultur<br />

SOZIALE PROJEKTE INTERNATIONAL<br />

Wir sind dann mal weg!<br />

Freiwilligendienste: Nach dem Abitur treibt es viele junge Leute ins Ausland –<br />

Abenteuerlust und der Wunsch sich zu engagieren<br />

und Lebensart haben mich schon länger<br />

interessiert. Bei meiner Recherche stieß<br />

ich dann auf ein Projekt in Nicaragua,<br />

das ich gut fand.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Wie geht man vor, wenn<br />

man als Freiwillige ein passendes Ziel<br />

sucht?<br />

Anna: Das Internet ist die wichtigste<br />

Informationsquelle. Dort stößt man auf<br />

viele Angebote für Freiwilligendienste.<br />

Als erstes sollte man sich allerdings darüber<br />

im Klaren werden, was man will. Es<br />

gibt verschiedene Modelle, wie man sich<br />

eine solche Reise ermöglichen kann.<br />

Zum Beispiel kann man über staatliche<br />

Leon, die zweitgrößte Stadt Nicaraguas.<br />

Im Hintergrund die Vulkankette<br />

Organisationen wie <strong>Welt</strong>wärts (entwicklungspolitischer<br />

Freiwilligendienst des<br />

Bundesministeriums für wirtschaftliche<br />

Zusammenarbeit und Entwicklung, Anmerkung<br />

der Redakt.) oder über Vereine<br />

und NGOs vermittelt werden. Ich<br />

wollte mir aussuchen, in welches Land<br />

und Projekt ich komme und bin bei meiner<br />

Recherche auf „Manita“ gestoßen.<br />

Das ist ein Verein, der Anfang 2004 von<br />

Dresdner Studenten gegründet wurde<br />

und Freiwillige in verschiedene Projekte<br />

in Lateinamerika entsendet. Ich habe<br />

mich dann bei Manita für das Projekt<br />

„Las Tias“ in Nicaragua beworben.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: „Las Tias“ heißt im spanischen<br />

die Tanten, was verbirgt sich<br />

dahinter?<br />

Anna: Las Tias kümmert sich in Leon,<br />

der zweitgrößten Stadt Nicaraguas, um<br />

Kinder aus sozial schwachen Familien<br />

und Problemvierteln. Es gibt viele Kinder<br />

in Leon, aber zu wenig Schulplätze,<br />

so dass die Schule im Zwei-Schicht-Betrieb<br />

läuft. Die Kinder gehen nur 2 bis 4<br />

Stunden am Tag in die Schule, und viele<br />

sind vor oder nach der Schule auf sich<br />

allein gestellt. Las Tias bietet Betreuung<br />

nach oder vor der Schule. Die Kinder<br />

kommen zum Haus, das Las Tias in<br />

Leon führt. Sie bekommen dort ein Mittagessen<br />

und Hilfe bei<br />

den Hausaufgaben. Die<br />

Kinder haben bestimmte<br />

Pflichten wie die Räume<br />

sauber zu halten<br />

oder abzuspülen. Jedes<br />

Kind übernimmt eine<br />

bestimmte Aufgabe. Außerdem<br />

lernen sie auch<br />

hygienische Regeln wie<br />

Händewaschen oder<br />

Zähneputzen.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Warum<br />

hast Du Dich ausgerechnet<br />

für Las Tias entscheiden?<br />

Anna: Las Tias wurde<br />

von Marktfrauen nach<br />

der Revolution in Nicaragua<br />

gegründet, also<br />

Ende der 70er Jahre. Die Frauen haben<br />

gesehen, dass viele Kinder auf dem<br />

Markt arbeiten anstatt zur Schule zu gehen<br />

oder zu spielen. Sie wollten einen<br />

Ort für Kinder schaffen. Es hat mir gefallen,<br />

dass Las Tias von Einheimischen gegründet<br />

und geführt ist. Außerdem fand<br />

ich die Vorstellung gut, in viele verschiedene<br />

Aufgabenfelder einen Einblick zu<br />

bekommen.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Was war speziell Deine<br />

Aufgabe in dem Projekt?<br />

Anna: Meine Aufgabe war die gleiche<br />

wie die der festangestellten Erzieher,


<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

SOZIALE PROJEKTE INTERNATIONAL<br />

27<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Wie bist Du mit dem<br />

Anfangs-Frust umgegangen?<br />

Anna: Den muss man einfach aushalten.<br />

Bei mir verschwand der Frust<br />

allmählich als ich die Sprache besser<br />

verstanden habe und die Erzieher und<br />

die Kinder mir vertrauten. Ich bin im Oktober<br />

2011 angekommen, im Dezember<br />

gab es Weihnachtsferien und nach den<br />

Ferien haben die Kinder mich freudig<br />

begrüßt. Dann habe ich gemerkt, dass<br />

ich akzeptiert wurde und angekommen<br />

war. Das war ein schöner Moment.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Gibt es kulturelle Unterschiede<br />

zwischen Nicaragua und Europa?<br />

die bei Las Tias arbeiten. Ich habe den<br />

Kindern ganz viel bei den Hausaufgaben<br />

geholfen, habe den kleineren die Hände<br />

gewaschen, sie entlaust, Essen ausgeteilt<br />

und mit ihnen gespielt. Zu Las Tias<br />

kommen 6 bis 13jährige Kinder. Ich war<br />

mit Kolleginnen für die jüngeren zuständig.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Wie haben die Kinder<br />

Dich aufgenommen?<br />

Anna: Die Kinder sind es gewohnt,<br />

dass Fremde kommen, um im Haus mitzuarbeiten.<br />

Nicaragua hat eine starke<br />

Tradition der Freiwilligen-Arbeit. Nach<br />

der sandinistischen Revolution gab es<br />

viele Unterstützungsprojekte für Nicaragua.<br />

Die Kinder sind sehr interessiert. Sie<br />

haben viel gefragt, wie zum Beispiel, wo<br />

genau ich herkomme, und wie ich nach<br />

Nicaragua gekommen bin. Wie lange ich<br />

gebraucht habe und wo ich jetzt wohne.<br />

Aber der Anfang war schwer, wegen der<br />

Spachbarriere. Ich habe noch schlecht<br />

Spanisch gesprochen und die Kinder haben<br />

mich oft nicht verstanden und umgekehrt.<br />

Das hatte ich nicht erwartet.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Welche weiteren Hürden<br />

gab es bei der Eingewöhnung im<br />

Projekt; gab es Momente, in denen Du<br />

Dich gefragt hast, was soll ich hier?<br />

Anna: Ja, die gab es. Ich hatte in<br />

den ersten Wochen noch keine klare<br />

Rolle bei Las Tias. Ich war in der<br />

Spielen:<br />

Im Proyecto Las Tias<br />

Beobachterrolle und wurde beobachtet.<br />

Ich hatte noch keine konkrete Tätigkeit,<br />

die musste ich mir selbst suchen. Ich bin<br />

auf die Betreuer zugegangen und dann<br />

haben sie mir eine Aufgabe zugewiesen,<br />

oder manchmal auch nicht. Das heißt,<br />

ich war stark auf mich alleine gestellt. In<br />

solchen Momenten habe ich mich dann<br />

schon manchmal gefragt, kann ich hier<br />

überhaupt sinnvoll helfen.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Man muss also auf jeden<br />

Fall Eigeninitiative mitbringen?<br />

Anna: Ohne Eigeninitiative geht es<br />

gar nicht. Das ist aber nicht nur in Nicaragua<br />

so. Ein bisschen Frust ist auch<br />

ganz normal. Das hat sich auch beim<br />

Nachbereitungstreffen gezeigt, das vor<br />

einigen Wochen stattfand. Das klang in<br />

allen Berichten der Freiwilligen an, dass<br />

es Einstiegshürden gab.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Nicaragua ist eines der<br />

ärmsten Länder Lateinamerikas. Wie<br />

hast Du diesen Unterschied zu unserer<br />

westlichen Wohlstandskultur erfahren<br />

und ausgehalten?<br />

Anna: Ich würde den Schritt, in ein<br />

Entwicklungsland zu gehen, nur Leuten<br />

empfehlen, die offen sind für neue Kulturen<br />

und andere Lebensstandards, als<br />

wir es aus Deutschland gewöhnt sind.<br />

Speziell für den Freiwilligendienst muss<br />

man natürlich auch eine bestimmte<br />

Frustrationstoleranz mitbringen.<br />

Anna: Kulturelle Unterschiede gibt<br />

es jede Menge. Das reicht vom Essen<br />

über Pünktlichkeit bis hin zu strikteren<br />

Rollenzuschreibungen für Jungs<br />

und Mädchen. In Nicaragua verläuft alles<br />

viel langsamer als in Deutschland.<br />

Ungeduld versteht keiner. Als Mädchen<br />

ist es nicht üblich, abends auszugehen<br />

oder männliche Freunde zu haben. Die<br />

größte Hürde im Projekt war für mich<br />

die unterschiedliche Auffassung über<br />

Kindererziehung und Pädagogik. In meinem<br />

Projekt wurde viel geschrien, was<br />

anfangs gewöhnungsbedürftig und hart<br />

für mich war. Viele Kinder in Nicaragua<br />

werden von ihren Eltern geschlagen.<br />

Bei Las Tias gibt es allerdings die Regel,<br />

dass die Erzieher die Kinder nicht schlagen.<br />

Und daran halten sich auch alle.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Du hast Dir deinen Aufenthalt<br />

in Nicaragua komplett selbst<br />

finanziert. Wie hast Du das Geld zusammenbekommen?<br />

Anna: Ich habe vorher gearbeitet und<br />

mein Erspartes in die Reise investiert.<br />

Außerdem habe ich weiter Kindergeld<br />

bekommen. Für meine Arbeit bei Las<br />

Tias gab es kein Geld.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Was war die wichtigste<br />

Erfahrung, die Du gemacht hast?<br />

Anna: Man kann in einer komplett<br />

fremden Umgebung und fremden Kultur<br />

relativ schnell ankommen und glücklich<br />

werden. Das war meine wichtigste Erfahrung.


28 SOZIALE PROJEKTE INTERNATIONAL<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

Chaotischer Straßenverkehr in Managua<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Wie unterscheidet sich<br />

Las Tias von Kinderhorten in Deutschland?<br />

Anna: Der Betreuungsschlüssel ist<br />

viel schlechter. Bei zirka 100 Kindern gab<br />

es drei Betreuer. Das allein war schon<br />

eine Überforderung. Vor allem mittags,<br />

wenn alle Kinder gleichzeitig zum Essen<br />

kamen. In meiner Gruppe war zwei Wochen<br />

lang eine Erzieherin krank, sodass<br />

ich die Kleinen alleine betreute. Das waren<br />

nachmittags dann 20 bis 30 Kinder,<br />

die ich zu beschäftigen und zu bändigen<br />

hatte. Am Abend war ich platt.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Kamst Du Deinem Ziel<br />

näher, den Menschen zu helfen und sie<br />

zu unterstützen?<br />

Anna: Ja und nein. Einerseits habe<br />

ich auf der persönlichen Ebene viele<br />

schöne Erfahrungen gemacht und einzelnen<br />

Leuten geholfen. Andererseits<br />

bin ich in einen Konflikt mit mir selbst<br />

gekommen, und zwar über die Form und<br />

Rolle von Entwicklungshilfe. Ich frage<br />

mich, ob es sinnvoll ist ungelernte junge<br />

Frauen und Männer in solche Projekte<br />

ins Ausland zu schicken. Es hätte ja auch<br />

ein Nicaraguaner meinen Job übernehmen<br />

können. Und sein Gehalt könnte<br />

mit Geldern aus der Entwicklungshilfe<br />

bezahlt werden. Ich hatte diesen inneren<br />

Konflikt erwartet, darüber hatten<br />

wir im Vorbereitungsseminar schon gesprochen.<br />

In Nicaragua zeigte sich dann,<br />

dass ich mit meinem Gefühl richtig lag.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Meinst Du, dass es<br />

mehr ein Selbsterfahrungstrip junger<br />

Menschen ist, wenn sie ins Ausland gehen,<br />

aber letztendlich dem Land nicht<br />

viel bringt?<br />

Anna: Zumindest bin ich skeptisch,<br />

was die tatsächliche Hilfe angeht. Ich<br />

habe wie gesagt auf der persönlichen<br />

Ebene viele tolle Erfahrungen gemacht<br />

und auch Erfolge erlebt. Aber insgesamt<br />

halte ich die Entwicklungshilfe in Form<br />

von Aufbau einer Infrastruktur wie zum<br />

Beispiel für die Energie- oder Wasserversorgung<br />

für hilfreicher. Was jedoch<br />

etwas bringt, ist der gegenseitige Austausch,<br />

der entsteht. Ich habe viele neue<br />

Anregungen bekommen und andererseits<br />

wurden im Projekt einige Dinge<br />

durch meine Anregungen überdacht<br />

oder geändert.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Willst Du beruflich in<br />

Richtung Entwicklungshilfe gehen?<br />

Anna: Das weiß ich noch nicht. Das<br />

muss ich noch rausfinden.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Warum machen sich<br />

viele junge Leute nach dem Abi auf ins<br />

Ausland?<br />

Anna: Von meinen Freunden sind fast<br />

alle ins Ausland gegangen, aber nicht<br />

alle in soziale Projekte. Es ist Abenteuerlust,<br />

der Wille was Neues zu entdecken.<br />

Natürlich spielt auch eine Rolle, dass es<br />

heute viel einfacher ist, den Schritt zu<br />

tun als in früheren Generationen. Viele


<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

SOZIALE PROJEKTE INTERNATIONAL<br />

29<br />

wollen weg und sich engagieren.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Hattest Du Angst vorm<br />

Weggehen?<br />

Anna: Ich hatte ziemlich Bammel. Zunächst<br />

nicht, aber je näher der Abflugtermin<br />

rückte, um so mehr kam die Aufregung.<br />

Jetzt kann ich natürlich sagen,<br />

es war eine tolle Zeit, eine schöne Erfahrung.<br />

Im Endeffekt ist alles viel weniger<br />

fremd als man dachte. Man gewöhnt<br />

sich schnell an das andere. Durch die Arbeit<br />

gehört man auch schnell dazu. Umgekehrt<br />

erlebte ich einen Kulturschock,<br />

als ich wiederkam. Auf das Ausland bereitet<br />

man sich vor, aber auf die Rückkehr<br />

eben nicht.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Worin besteht der Kulturschock<br />

bei der Rückkehr?<br />

Anna: Man hat sich vor der Reise auf<br />

das Fremde eingestellt, aber bei der<br />

Rückkehr macht man sich nicht klar,<br />

dass man lange weg war, sich verändert<br />

hat und zu Hause auf Ungewohntes trifft.<br />

Es ist eben vieles anders als da wo man<br />

gerade herkommt. Ein banales Beispiel<br />

ist das Verhalten in der U-Bahn: Als ich<br />

das erste Mal wieder U-Bahn in Frankfurt<br />

fuhr, kam es mir extrem leise in der Bahn<br />

vor. Es ist komisch still, obwohl die Bahn<br />

voller Menschen ist. In Nicaragua ist es<br />

immer laut in den Bussen. Die Leute<br />

sitzen nebeneinander und reden sofort<br />

miteinander, beispielsweise über den<br />

defekten Bus, die Verspätung, die Probleme<br />

beim Reisen etc. In Deutschland<br />

reden fremde Menschen, die zufällig<br />

aufeinander treffen viel seltener miteinander.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Außerdem hattest Du<br />

eine Selbständigkeit, die Du jetzt wahrscheinlich<br />

nicht mehr ganz so hast, wenn<br />

Du in Deine Familie zurückkommst.<br />

Anna: Ich war sehr selbständig in Nicaragua<br />

und kann das jetzt weiter sein. Die<br />

kleinen Unselbständigkeiten, die ich dadurch<br />

habe, dass ich wieder in meine Familie<br />

zurückgekehrt bin, genieße ich auch.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Mit welchen Augen siehst<br />

Du jetzt unseren Wohlstand?<br />

Anna: Ich sehe die Verschwendung<br />

jetzt kritischer. Dass wir eine Wegwerfgesellschaft<br />

sind, schmerzt mich jetzt viel<br />

mehr. In Nicaragua war beispielsweise<br />

das Wasser knapp und manchmal gab<br />

es morgens kein Wasser. Die Verschwendung<br />

hier fällt mit jetzt viel mehr auf.<br />

Allerdings möchte ich betonen, dass Nicaragua<br />

zwar materiell arm ist, aber keinesfalls<br />

geistig oder kulturell. Das Land<br />

hat beispielsweise eine lebendige Literaturtradition.<br />

Der Dichter Rubén Dario<br />

ist bekannt und wird von vielen verehrt.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Anna, wir danken für<br />

das Gespräch und wünschen Dir viel<br />

Glück für Deine Zukunft.<br />

Das Interview führte liz<br />

(Fotos: N. Arthur)<br />

Der Mercado Central<br />

Morgens strömt ganz León auf den Mercado de la Terminal um einzukaufen und mit Bekannten zu plaudern


UNSER REISETIPP<br />

Ibiza!<br />

It‘s the Glamour Boys again“ Robert Mitchum<br />

30 <strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

Nach Ibiza kommt der Tourist gewöhnlich<br />

mit dem Billigflieger.<br />

Wenn man am Strand von Platja<br />

d‘en Bossa in einem der vielen Billiglokale<br />

sitzt, kann man alle zwei Minuten<br />

einen Landeanflug sehen und hören,<br />

meistens Ryan Air. Wer aus Oberrad oder<br />

Neu-Isenburg kommt, kann sich also wie<br />

zu Hause fühlen, nur dass dort die meisten<br />

Flieger das Lufthansa-Zeichen am<br />

Leitwerk haben.<br />

Der erwähnte Strand ist lang, hat feinen<br />

Sand und liegt nur ein paar Meter<br />

neben der Einflugschneise. Dahinter stehen<br />

vier- bis achtstöckige Hotels im klassischen<br />

Stil der 70er bis 90er Jahre. An<br />

der Promenade werden Döner-Kebabs,<br />

Hamburger, Pizza und andere katalanische<br />

Spezialitäten angeboten.<br />

Die Touristen hier sehen durchaus zufrieden<br />

aus, falls man sie mal zu sehen<br />

bekommt. Tagsüber schlafen sie meist<br />

zwischen zwei Doppel-Monster-Whopper-Imbissen,<br />

um abends die aktuellen<br />

Cocktails in den einschlägigen Discos<br />

vertragen zu können.<br />

Ein paar Kilometer nach Südwesten<br />

liegt der betriebsame Flughafen, der<br />

wie alle Flughäfen nichts ist, was man<br />

sich freiwillig ansieht. Ein paar Kilometer<br />

nach Nordosten liegt die Hauptstadt<br />

Eivissa. Darüber lohnt es sich schon, ein<br />

paar Worte zu sagen:<br />

Eine der „ältesten Städte Europas !<br />

Gegründet von den Karthagern, so wie<br />

Cagliari und Cädiz, Städte, die auch älter<br />

als Athen und Rom sind.<br />

Eivissa (Dalt-Vila)<br />

„Unattended children<br />

will be captured and<br />

sold to the circus.“<br />

Schild an einer Boutique<br />

in Ibiza<br />

Um eine hübsche<br />

ovale Bucht herum<br />

liegen die drei<br />

recht unterschiedlichen<br />

Teile der Insel-<br />

Hauptstadt. Wenn<br />

man mit einem<br />

Schiff hinein fährt,<br />

findet sich rechts<br />

das Viertel mit modernen<br />

und schicken<br />

Hotels und Apartmentbauten der<br />

letzten 10-15 Jahre.<br />

Auf der linken Seite findet sich die<br />

ältere Unterstadt mit hübschen ca. 100<br />

Jahre alten Häusern und unzähligen<br />

Boutiquen, Restaurants, Cafes und kleinen<br />

Hotels. Das sind die Viertel La Marina<br />

und Sa Penya.<br />

Darüber erhebt sich die Altstadt, Dalt<br />

Vila genannt. Sie ist von gewaltigen, gut<br />

erhaltenen Stadtmauern umgeben, von<br />

denen man einen schönen Blick über<br />

Stadt, Bucht und Insel hat. Hier sieht alles<br />

aus, als wäre es seit 200 Jahren unverändert.<br />

Die Hotels und Restaurants,<br />

die es hier auch gibt, sind stilvoll und<br />

meist nicht billig, na, sagen wir ruhig:<br />

teuer.<br />

Für ein Menü in einem besseren Lokal<br />

muss man für zwei Personen inklusive<br />

Getränke mit 100 bis 200 € rechnen.<br />

Auch im Hafenviertel unten gibt es<br />

solche Lokale, und wenn man sich die<br />

Weinkarte genauer<br />

ansieht, merkt<br />

man schnell, dass<br />

man auch für eine<br />

Flasche Wein wesentlich<br />

mehr ausgeben<br />

kann als für<br />

ein Menü für zwei<br />

Personen.<br />

Es gibt aber<br />

auch kleine, eher<br />

versteckte Lokale,<br />

wo man für<br />

ein ordentliches<br />

(Foto:Forbfruit)<br />

spanisches Menü<br />

mit einer Karaffe<br />

Landwein mit 15<br />

Landeanflug auf Ibiza (Foto:CJ Mancini)<br />

€ dabei ist. Oder man hält sich an Pizza<br />

und Hamburger, aber das ist nicht wesentlich<br />

billiger.<br />

Ein anderes Kapitel sind die ungefähr<br />

500 Boutiquen allein im kleinen Hafenviertel.<br />

Viele Touristen, vor allem Frauen,<br />

verfallen in hemmungslose Kaufräusche,<br />

die tagelang anhalten können.<br />

Es gibt Sommerhosen oder Blusen für<br />

kaum mehr als 10 €, aber in der Boutique<br />

daneben modische Stiefel für über<br />

500 oder Kleider für 1000. Alles durcheinander.<br />

Neben der Hauptstadt mit 50.000 Einwohnern<br />

gibt es natürlich noch ein paar<br />

andere Orte, die aber kaum der Rede<br />

wert sind. Die meisten liegen an der K<br />

ste und sind nur über Stichstraßen zu<br />

erreichen. Eine Uferstraße gibt es nicht,<br />

dazu sind die Küsten zu felsig und steil,<br />

und die meisten Orte sind auch nur alte<br />

Fischerdörfchen, manche allerdings<br />

während der letzten Jahrzehnte zu den<br />

blichen Touristenzentren ausgebaut.<br />

St. Antoni!<br />

Gut gerüstete Engländer im Dutzend billiger.<br />

„Entre fumo y botillas“ Los Lobos<br />

(Zwischen Rauch und Flaschen)<br />

Der größte davon ist St. Antoni de Portmany<br />

am anderen Ende der Insel wie die<br />

Hauptstadt gelegen und vom Stil her so<br />

ähnlich wie der moderne Teil Eivissas,<br />

nur um einiges ärmlicher. Der Ort hat<br />

20.000 Einwohner, und im Sommer ungefähr<br />

vier- oder fünfmal so viele Touristen.<br />

Die meisten sind junge Engländer.


<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

Jeden Tag kommen mit den<br />

Ryan-Air-Fliegern aus Manchester<br />

oder Liverpool ein<br />

paar 100 dazu.<br />

Der einzige Grund für einen<br />

Flug hierher ist genauso wie<br />

für einen nach Mallorca oder<br />

sonst wohin ans Mittelmeer,<br />

sich einen soliden Sonnenbrand<br />

zu holen. Den ganzen<br />

Tag laufen die jungen Söhne<br />

Albions mit kurzen Hosen<br />

und ohne Hemden herum.<br />

In Birmingham kann man so<br />

etwas den ganzen Sommer<br />

über machen ohne ein bisschen<br />

mehr als leicht gerötete<br />

Haut zu bekommen, aber hier haben die<br />

jungen Leute schon nach zwei Tagen die<br />

Farbe von gekochten Hummern angenommen,<br />

sind von Stirn bis unter den<br />

Bauchnabel und die Beine entlang von<br />

Blasen überzogen. Am dritten Tag geht<br />

die kürzlich noch schneeweiße Haut<br />

schon in Fetzen ab. Kein Wunder, dass<br />

sie das nur in volltrunkenem Zustand<br />

ertragen. Dafür gibt es überall in dem<br />

ausgesucht hässlichen Örtchen riesige<br />

Supermärkte, die nichts als Schnaps,<br />

Bier und Kartoffelchips (Vinegar-Taste)<br />

anbieten.<br />

Vor ein paar Jahren kam irgendwelchen<br />

spanischen Offiziellen die Idee, von<br />

St. Antoni nach Eivissa eine Autobahn zu<br />

bauen: 15 Kilometer lang! Inzwischen<br />

ist sie fertig und so leer als wäre sie in<br />

Nordkorea oder Tadschikistan. Vielleicht<br />

war ein Grund für den Bau, die Engländer,<br />

die sich nach Eivissa verirrt hatten,<br />

schneller wieder in den ihnen angemessenen<br />

Ort zurückschaffen zu können.<br />

Eivissa ist in vielem das Gegenteil von S.<br />

Antoni, und selbst junge Engländer in ihren<br />

schon mittags Whisky- oder Gin-benebelten<br />

Hirnen merken das recht bald.<br />

Hippies not dead!<br />

Alles ist lebendig.<br />

„Dance all night and sleep all day”<br />

Robert Mitchum<br />

UNSER REISETIPP 31<br />

Das „Ei“ in St. Antonini (Foto:Flups)<br />

spanisch, auch durcheinander, was niemand<br />

stört. Selten sind noch russisch<br />

und japanisch, die aber auch schon auf<br />

manchen Speisekarten vorkommen.<br />

Wenn man einigermaßen vorurteilsfrei<br />

ist, was bei überall freundlichen<br />

Menschen kein Problem ist, fühlt man<br />

sich hier schnell zuhause. Wo man zum<br />

zweiten Mal erscheint, wird man gefragt:<br />

„Dasselbe wie gestern?” In unserem<br />

Stammlokal vom ersten Abend an wurde<br />

uns auf Verlangen ein Wein empfohlen.<br />

Wir stellten erst nachher fest, dass es<br />

nicht nur der billigste auf der Karte war,<br />

sondern auch noch ein italienischer.<br />

Erst nach einer Woche hörten wir, dass<br />

die Betreiber des Lokals Italiener waren.<br />

Ebenso merkten wir erst nach zwei oder<br />

drei Tagen, dass das Lokal mit einer der<br />

großen Discos der Insel geschäftlich verbunden<br />

war und begriffen bald, dass so<br />

gut wie alles auf der Insel mit einer großen<br />

Disco kooperiert.<br />

Disco rules !<br />

Was passiert, wenn eine ganze Insel<br />

dieMacht an die Discotheken übergibt:<br />

„Money, money, money.<br />

Must be funny<br />

In the rich man’s world!” Abba<br />

Die großen Discos sind reich.<br />

Man kann sich leicht ausrechnen:<br />

warum. Sie bieten Platz<br />

für 8.000 bis 15.000 zahlende<br />

Gäste. Der Eintritt kostet pro<br />

Abend zwischen 30 und 60 €, je<br />

nach Programm (Elton John,<br />

Sting und anderen Altstars)<br />

manchmal auch deutlich<br />

mehr. Bei 10.000 Gästen und<br />

z. B. 40 € Eintritt kommt schon<br />

einiges zusammen jeden<br />

Abend, ohne die nicht ganz billigen<br />

Cocktails mitzurechnen.<br />

Und das geht hier noch immer<br />

so den ganzen Sommer über.<br />

Dann ziehen die berühmten<br />

DJs und die Gogo-Girls mit der neuen<br />

Disco-Musik nach Nordeuropa und sonst<br />

wohin.<br />

Die Discothek >Pacha< wurde ursprünglich<br />

im Urlaubsort Sitges in der<br />

Nähe von Barcelona 1966 eröffnet. Von<br />

dort zog er in das schick gewordene Ibiza,<br />

und hat heute Dependancen in Barcelona<br />

und ein paar Dutzend anderen<br />

Orten auf der ganzen <strong>Welt</strong>. Auch das<br />

>Space< hat seit 2004 eine große Disco<br />

in Barcelona und so weiter.<br />

Eine Pizza auf Ibiza !<br />

Man kann auch billig essen.<br />

Aber zurück in der alten, modernen<br />

Stadt Eivissa hat man wieder lebendiges<br />

Leben um sich herum. Eine Pizza ist<br />

meist billig und durchaus nicht schlecht.<br />

Nicht besser als in Neapel, aber besser<br />

als in Venedig. Und die Freundlichkeit<br />

und <strong>Welt</strong>aufgeschlossenheit der Leute<br />

ist kaum zu übertreffen.<br />

MF<br />

(Fotos und Grafik vs. wikimedia/commons)<br />

Eivissa ist noch immer Hippie-Land.<br />

Überall sind sie ausgestorben, hier sind<br />

sie nur älter geworden, besitzen Bars<br />

oder Hotels und grau gewordene Pferdeschwänze.<br />

Auch dadurch ist Eivissa sehr<br />

multikulturell, vielsprachig und friedlich.<br />

Nirgendwo in Europa sind die Leute<br />

allen Ausländern gegenüber so freundlich<br />

und aufgeschlossen. Man redet englisch,<br />

katalanisch, italienisch, deutsch,<br />

Ja, was dann passiert, kann man auf<br />

Ibiza sehen: Es herrscht Prosperität,<br />

Frieden und gute Laune. Und tatsächlich<br />

gehört praktisch ganz Ibiza einem<br />

Dutzend Discotheken. Sie heißen Pacha,<br />

Amnesia, Privilege, Space, Ushaia oder<br />

DC 10 und besitzen oder sind beteiligt an<br />

Cafes, Bars, Restaurants, Hotels, Boutiquen<br />

und eigene Kleiderlabels, Yachten<br />

und wahrscheinlich noch einiges mehr.<br />

Das Wappen von Ibiza


32 AKTUELLE MUSIK<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />

- eine Musikgruppe aus den Vororten<br />

von Daressalam hat mit dem Bandna-<br />

JAGWA men nicht das Tier Jaguar gemeint,<br />

vielmehr nach Dege La Jeshi einem Kampfflugzeug zur Zeit der Neunziger<br />

Jahre, der französischen-britischen Armeen.<br />

So zeigt sich Realität dann in der Musik und in deren Volkskultur.<br />

Mchiriku der Name dieser Musik wird gespielt mit selbst gebauten<br />

Trommeln – 4 Trommler agieren – sowie einer Percussion per Holzschemeln.<br />

Die Trommeln sind mit Plastikschläuchen gespannt.<br />

In den Höhen fiebern eingängige Melodien, erzeugt durch alte Casio<br />

Keyboards; so entwickelt sich Musik und damit Identitäten für die Menschen<br />

in den Mega-Citys Afrikas.<br />

Die Gruppe spielte ein tolles Konzert am 01.11.2012 in der Frankfurter<br />

Brotfabrik. Afro –Pop bester Güte und Intensität.<br />

Dieser Sound aus den Armenvierteln ist echt, ernst und voller Leben,<br />

keine künstliches elektronisches Hip-Hop-Gestampfe.<br />

Die Gruppe hat Ihre erste CD Bongo Hotheads veröffentlicht, in Afrika<br />

verbreitet sich die Musik per Kassetten. Leider hört man die Gruppe in<br />

Tansania nie im Radio:<br />

Ihre Songs berichten zu den Themen Armut, Aids, und soziale Fragen<br />

einer Unterschicht. Auch ihre Straßenkonzerte wurden verboten: Die<br />

Musik lässt sich aber davon nicht aufhalten. Auch bei dem Konzert in<br />

Frankfurt war der Publikumsdichte leider nicht überwältigend.<br />

Unsere CD –Empfehlung : JAGWA BONGO HOTHEADS<br />

MP3-Download: 7,92 €, CD 19,99 € bei Amazon<br />

RU<br />

M i t s p i e l e r g e s u c h t !<br />

F ü r B a n d u n d R y t h m u s g r u p p e<br />

Wir treffen uns Montags:<br />

und Dienstags:<br />

Lahnstr. 37<br />

Karl-Blum-Allee 1-3<br />

Frankfurt-Gallus<br />

Frankfurt-Höchst<br />

9.00 - 12.00 Uhr<br />

10.00 - 13.00 Uhr<br />

Kontakt: Reinhold Urbas * Tel.: 06109 - 22527 * E-Mail: r.urbas@freenet.de

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