Nr. 69 - Soziale Welt
Nr. 69 - Soziale Welt
Nr. 69 - Soziale Welt
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Unabhängige Frankfurter Straßenzeitung <strong>Nr</strong>. <strong>69</strong> Euro 1,80<br />
Sozialleistungen für alle Europäer<br />
M i tg l i e d i m<br />
“ I n te r n a t i o n a l N et w o r k o f S t re et Pa p e rs”
2 EDITORIAL / INHALT<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />
zunächst einmal die besten Grüße zum neuen Jahr. Mögen Ihre Wünsche wahr werden und bleiben Sie gesund!<br />
Sie halten die SOZIALE WELT in einem neuen Format in Händen. Wir hatten schon länger über diesen Wechsel nach gedacht, waren<br />
aber am Ende dazu gezwungen. Unsere langjährige Druckerei, CARO, hat am Jahresende die Produktion eingestellt. Der großformatige<br />
Zeitungsdruck von der Rolle ist in Frankfurt nicht mehr erhältlich, also haben wir uns nach einem neuen Partner umgesehen und waren<br />
auch erfolgreich.<br />
Die letzte Ausgabe wurde mit 6.000 Exemplaren überdurchschnittlich gut verkauft, wir konnten damit die Auflage im Jahr 2012<br />
verdoppeln. Vielen Dank an Sie, und nicht zuletzt, an unsere fleißigen Verkäuferinnen un d Verkäufer!<br />
Wir werden weiterhin bemüht bleiben, Ihnen eine informative und abwechslungsreiche Straßenzeitung anzubieten.<br />
Mit besten Grüßen<br />
Hans-Jürgen Schöpf<br />
AKTUELL IN DIESER AUSGABE:<br />
S.2 Ein Blick auf diese Seite und die folgenden, und Sie wissen besser Bescheid über Sozialbeschiss<br />
S.7 Unsere fleiSSigen StraSSenverkäufer - Treffen Sie die inspirierendsten Arbeitskräfte der <strong>Welt</strong><br />
S.9 DIE TAFELN - Gnadenbrot im reichen Land<br />
S.10 DER KOMMENTAR - „Wer die Noten liebt, der mache Musik,doch wer die Banknoten liebt, der mache Politik.“<br />
S.13 Kaufen wir eigentlich Schrott? - Elektrogeräte - Finaler Error<br />
S.15 <strong>Soziale</strong>s Projekt in Frankfurt - Stolze Preungesheimer stellen ein Familienbuch vor<br />
S.17 Aus der Geschichte des europäischen Fortschritts - Zigaretten mit Löschzonen<br />
S.18 DemograFische Entwicklung - Die Menschen in Deutschland werden immer älter und auch aktiver<br />
S.19-S.20 Filmbesprechungen: „I, Anna“ und „Die Wand“<br />
S.21 buchbesprechung: „Die Sonne der Sterbenden“<br />
S.22 historisch persönlickeit: Heinrich Hoffmann - Der Vater des „Struwwelpeter“ und noch viel mehr<br />
S.24 vereinsnachrichten / impressum<br />
s.25 wichtige anlaufstellen und adressen<br />
s.26 soziale projekte international: Interview mit einer freiwilligen Deutschen in Nicaragua<br />
S.30 unser reisetipp: Ibiza<br />
S.32 jagwa music: Bongo Hotheads
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
SOZIALPOLITIK 3<br />
Sozialleistungen für alle Europäer<br />
Ein aktueller Fall<br />
Die folgende Geschichte hat sich unlängst in einem Jobcenter unserer Stadt zugetragen: Eine<br />
junge Frau – nennen wir sie einmal „Maria“, die als Kind in einem europäischen Nachbarland<br />
geboren wurde und mit Ihren Eltern alsbald nach Deutschland gezogen war, wollte beim Jobcenter<br />
in Frankfurt Sozialleistungen gemäß SGB II – also „Harz IV“ beantragen, da sie hilfebedürftig<br />
geworden war.<br />
„Maria“ hatte hier in Deutschland<br />
die Schule besucht und<br />
die mittlere Reife erlangt. Dann<br />
hatte sie eine Ausbildung erfolgreich<br />
abgeschlossen. In<br />
Deutschland arbeitete sie Jahrelang<br />
in dem von ihr erlernten<br />
Beruf. Als ein Familienmitglied<br />
nun sehr schwer erkrankte, ging<br />
sie für eine Weile in ihr Geburtsland,<br />
um die Pflege zu übernehmen.<br />
Nach dem Tod des<br />
Angehörigen im vergangenen<br />
Jahr, kehrte Sie in ihre Heimat<br />
nach Deutschland zurück. In<br />
das Land, dass ihr seit frühester<br />
Kindheit Heimat geworden war<br />
und immer Ihr eigentlicher Lebensmittelpunkt<br />
geblieben ist.<br />
Da sie nun nicht direkt wieder<br />
eine Arbeitsstelle fand, meldetet<br />
sie sich Arbeitsuchend und<br />
beantragte beim zuständigen<br />
Jobcenter Hilfen zum Lebensunterhalt,<br />
gemäß den Bestimmungen<br />
des Zweiten Sozialgesetzbuches.<br />
Das Jobcenter lehnte aber<br />
die Anträge „Marias“, unter Berufung<br />
auf den § 7 Abs. 1 Satz<br />
2 <strong>Nr</strong>. 2 SGB II, rundheraus ab.<br />
In der Zwischenzeit erkrankte<br />
„Maria“ und bedarf daher auch<br />
ärztlicher Betreuung. Wegen<br />
der abgelehnten Hilfe durch die<br />
Behörde ist sie nicht krankenversichert.<br />
Nur durch die Hilfe<br />
von Verwandten konnten die<br />
inzwischen notwendigen Operationen<br />
und Behandlungen mit Mühe<br />
bezahlt werden.<br />
Ablehnung ohne jede Hilfestellung<br />
Im Paragraph sieben des zweiten Sozialgesetzbuches<br />
werden die Anspruchsvoraussetzungen,<br />
bzw. die Ausschlusskriterien<br />
geregelt, die einzuhalten sind wenn es<br />
um Leistungen nach SGB II / Harz IV geht.<br />
Die „Justitia“ auf dem Frankfurter Römerberg –<br />
ein Symbol der Unabhängigkeit des Rechtswesens<br />
In diesem Falle teilte das Jobcenter<br />
mit, dass „Maria“ eine Ausländerin sei,<br />
deren Aufenthaltsrecht sich alleine aus<br />
dem Zwecke der Arbeitssuche ergäbe (so<br />
steht es sehr oft in den einschlägigen<br />
Ablehnungsbescheiden der Jobcenter).<br />
Aus diesem Grunde habe sie keinen Anspruch<br />
auf Leistungen.<br />
Mittellos, krank und ohne Krankenversicherung<br />
ließ das Jobcenter,<br />
als zuständige Sozialbehörde,<br />
die junge Frau abblitzen,<br />
die immer wieder um Hilfe<br />
ersucht hatte. Einen Hinweis<br />
auf die Möglichkeit der Beantragung<br />
von Sozialhilfe nach<br />
SGB XII gab es nicht. Und dies,<br />
obwohl die Not der Bürgerin inzwischen<br />
erdrückend geworden<br />
war und sie wegen ihrer Erkrankung<br />
dringend Hilfsbedürftig<br />
ist.<br />
Der von „Maria“ in der Zwischenzeit<br />
bevollmächtigte Anwalt,<br />
dem dieser Sachverhalt zu<br />
Ohren gekommen war und der<br />
sich um Menschen bemüht, die<br />
sich sonst keinen Anwalt leisten<br />
können, kümmerte sich sofort<br />
um die Sache.<br />
Er stellte Antrag auf einstweilige<br />
Anordnung beim Sozialgericht.<br />
Hierin beantragte er das<br />
Jobcenter anzuweisen umgehend<br />
die – sehr wohl zustehenden<br />
– Leistungen, rückwirkend<br />
an die junge Frau auszuzahlen<br />
und damit auch für Krankenversicherungsschutz<br />
zu sorgen.<br />
Der Anwalt erläuterte in seinem<br />
Antrag, die Antragstellerin<br />
sei keine „Ausländerin“, sondern<br />
eine Inländerin mit ausländischem<br />
Pass. Eine Entscheidung<br />
des Eilantrags ist bisher<br />
nicht bekannt.<br />
Kein Einzelfall<br />
Vielen Menschen, die in Deutschland<br />
angemeldet sind und aus europäischen<br />
Ländern stammen, ergeht es ähnlich.<br />
Sie leben in unserer Mitte und befinden<br />
sich in echter Not. Sie hungern,<br />
werden krank und leben von einem Tag
4 SOZIALPOLITIK<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
Bundessozialgericht in Kassel<br />
zum anderen in der Angst darum, was<br />
aus ihnen werden soll. Dabei sind die<br />
allermeisten Nachbarn nicht nur nach<br />
Deutschland gekommen um hier von<br />
Sozialleistungen zu leben. Sie sind guten<br />
Willens und wollen gerne integriert<br />
sein, arbeiten und in der Gemeinschaft<br />
mitmachen.<br />
Allzu oft erleben sie aber, wenn sie<br />
hilfsbedürftig sind die Behörden nicht<br />
als Ihre Helfer zur Selbsthilfe, sondern<br />
als Ihren Feind, der blockend, taktierend,<br />
abweisend und oft auch unfreundlich<br />
ablehnt, was im Grunde oft doch zuzugestehen<br />
wäre.<br />
Verwaltungspraxis gegen<br />
Rechtsprechung<br />
Immer wieder berichteten Menschen,<br />
die sich in großen sozialen Schwierigkeiten<br />
befinden, auch im Büro der Frankfurter<br />
Armutsaktie e.V. von ähnlichen<br />
Problemen. Dieser beispielhafte Fall<br />
soll daher der Anlass sein dieses Thema<br />
einmal etwas näher „unter die Lupe“ zu<br />
nehmen.<br />
Es könnte einen nämlich der Eindruck<br />
beschleichen, dass die Jobcenter sehr<br />
häufig sogenannte „Ausländer“ zunächst<br />
einmal abblitzen lassen, um die<br />
Hürden für die Erlangung von Sozialleistungen<br />
hoch zu legen.<br />
Das ist aber ein falscher Eindruck<br />
und nicht der eigentliche Grund für die<br />
häufig Ausgesprochene Ablehnung von<br />
Leistungen. Oft werden diese Ablehnungsentscheidungen<br />
auch vor Gericht<br />
revidiert. Die zunächst Abgewiesenen<br />
bekommen relativ häufig vor dem Sozialgericht<br />
recht. Meist bleibt es aber nicht<br />
bei der ersten Instanz. Häufig gehen die<br />
Leistungsträger den langen und für die<br />
Betroffenen kaum aushaltbaren Gang<br />
durch die Instanzen, was mit erheblichen<br />
Kosten und zwar letztlich meist<br />
für die Staatskasse verbunden ist. Dies<br />
liegt wohl auch daran, dass die Gesetzgebung<br />
in diesem Bereich weder einfach<br />
noch unproblematisch ist.<br />
Mit dem Zusammenschluß der Europäischen<br />
Länder und den damit verbundenen<br />
Europäischen Übereinkommen<br />
einerseits und den landesspezifischen<br />
Sozialgesetzen andererseits sind offenbar<br />
Widersprüche verbunden, die zu den<br />
oben beschriebenen Problemen führen<br />
und den eigentlichen Grund der Misere<br />
darstellen. Auch sind die Mitarbeiter der<br />
Jobcenter dadurch sehr belastet. Immer<br />
wieder stellt sich ihnen die Frage, ob der<br />
nächste Bescheid nicht wieder einen<br />
Rechtsstreit heraufführt.<br />
Freizügigkeit innerhalb Europas<br />
Wenn es um die Frage des Anspruches<br />
auf Sozialleistungen im „deutschen<br />
Sozialnetz“ geht, ist nämlich zunächst<br />
einmal die grundsätzliche Berechtigung<br />
des Antragstellers in Hinsicht auf seine<br />
Zugehörigkeit zu diesem „Sozialnetz“ zu<br />
klären.<br />
Wenn es dabei um die Ansprüche von<br />
Europäern geht, die keinen deutschen<br />
Pass besitzen, spielt der Begriff der sogenannten<br />
„Freizügigkeit“ eine große<br />
Rolle. Hinter diesem Begriff verbirgt sich<br />
das Recht, innerhalb der Europäischen<br />
Union seinen Wohnsitz frei zu wählen<br />
und am Ort des gewählten Wohnsitzes<br />
auch arbeiten und Arbeit suchen zu dürfen<br />
(Arbeitnehmerfreizügigkeit – Art. 45<br />
ff. AEUV).<br />
Einschränkungen der Freizügigkeit<br />
Hierbei ist festzuhalten, dass nicht alle<br />
Europäer diese sogenannte „Freizügigkeit“<br />
in gleichem, uneingeschränktem<br />
Maße für sich in Anspruch nehmen<br />
können. So ist den Unionsbürgern der<br />
jüngsten Beitrittsstaaten (diese sind seit<br />
dem 01.Mai 2011 nur noch Bulgarien<br />
und Rumänien, weil für die am 01.Mai<br />
2004 beigetretenen Staaten die Übergangsregelungen<br />
zum 30. April 2011<br />
erloschen sind) die volle Freizügigkeit,<br />
insbesondere die Arbeitnehmerfreizügigkeit,<br />
nach dem Beschluß der Bundesregierung<br />
vom Dezember 2011, noch<br />
nicht gegeben. Die Beschränkungen für<br />
Unionsbürger aus Bulgarien und Rumänien<br />
gelten demnach noch bis Ende<br />
2013. Alle anderen EU Bürger besitzen<br />
die volle Freizügigkeit und benötigen<br />
keine Arbeitserlaubnis. Bei der Anmeldung<br />
am deutschen Wohnsitz erhalten<br />
Sie die Freizügigkeitsbescheinigung<br />
durch die zuständige Behörde, dies ist<br />
ein reiner Verwaltungsakt. Es steht damit<br />
fest, dass sie sich erlaubt und rechtmäßig<br />
hier aufhalten.<br />
Der Wohnsitz –<br />
Zugehörigkeit zum Sozialsystem<br />
In Deutschland ist der Erhalt von Sozialhilfe<br />
an den Aufenthalt geknüpft. Besitzt<br />
nun ein eingereister Ausländer einen<br />
offiziellen Aufenthaltsstatus, der ihm<br />
aufgrund des Freizügigkeitsabkommens<br />
nicht – oder nur im Ausnahmefall, wenn<br />
er beispielsweise ein Risiko für die Sicherheit<br />
der Bundesrepublik darstellen<br />
würde, aberkannt werden kann, gehört<br />
er zu den Personen, die das Europäische<br />
Fürsorgeabkommen einbezieht. Wird
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
SOZIALPOLITIK 5<br />
er bedürftig, so hat er automatisch laut<br />
Sozialhilfegesetz Anspruch auf ein Existenzminimum.<br />
Daran hat sich auch, wie<br />
„Die <strong>Welt</strong> online“ schreibt nach den neuen<br />
Regelungen von Harz IV nichts geändert.<br />
Entscheidung des obersten<br />
Sozialgerichts<br />
So entschied der oberste Senat des Bundessozialgerichts<br />
in Kassel, in seinem<br />
Urteil (AZ.: B14 AS 23/10R) bereits 2010,<br />
dass selbst arbeitslose Zuwanderer aus<br />
den Europäischen Ländern, die das Fürsorgeabkommen<br />
unterzeichnet haben,<br />
einen unbefristeten Anspruch auf Leistungen<br />
nach dem zweiten Sozialgesetzbuch<br />
haben.<br />
Das Bundessozialgericht stellte somit,<br />
als letzte Instanz der Sozialgerichtsbarkeit<br />
in Deutschland, fest, dass diejenigen<br />
Ausländer, die sich auf dieses<br />
Abkommen berufen können, nicht von<br />
Leistungen gem. SGB II ausgeschlossen<br />
werden können, da dieses Fürsorgeabkommen<br />
(vom 11.12.1953 / EFA) unmittelbar<br />
geltendes Bundesrecht sei.<br />
Zu dieser Entscheidung kam es, da<br />
der deutsche Rechtsanwalt Joachim<br />
Genge einen Mandanten vertrat, der wegen<br />
der Ausschlussregelung des §7 Abs. 1<br />
Satz 2 <strong>Nr</strong>. 2 SGB II keine Leistungen mehr<br />
erhalten sollte. Dagegen hatte er durch<br />
alle Instanzen geklagt und Recht bekommen.<br />
Das Bundessozialgericht hatte hiermit<br />
eine umstrittene Frage in der Rechtsprechung<br />
zu Gunsten der Hilfebedürftigen<br />
entschieden. Gleichzeitig hatte es die<br />
Klärung der Frage, ob die Ausschlusskriterien<br />
des §7 Abs. 1 Satz 2 <strong>Nr</strong>. 2 SGB II mit<br />
der Europäischen Gesetzgebung vereinbar<br />
sind, geschickt umgangen, da dieses<br />
Problem einer Klärung beim Europäischen<br />
Gerichtshof notwendig gemacht<br />
hätte.<br />
Das Europäische<br />
Fürsorgeabkommen<br />
Im sogenannten Europäischen Fürsorgeabkommen<br />
verpflichten sich die<br />
Mitgliedsstaaten (Belgien, Dänemark,<br />
Deutschland, Estland, Frankreich, Griechenland,<br />
Irland, Island, Italien, Luxemburg,<br />
Malta, Niederlande, Norwegen,<br />
Portugal, Schweden, Spanien, Türkei,<br />
Großbritannien) alle Staatsangehörigen<br />
der anderen Länder, die sich in irgendeinem<br />
Teil seines Gebietes, auf das dieses<br />
Abkommen Anwendung findet, erlaubt<br />
aufhalten und nicht über ausreichende<br />
Mittel verfügen, in gleicher Weise<br />
wie seinen eigenen Staatsangehörigen<br />
und unter den gleichen Bedingungen<br />
die Leistungen der sozialen und der Gesundheitsfürsorge<br />
zu gewähren, die in<br />
der in diesem Teil seines Gebietes geltenden<br />
Gesetzgebung vorgesehen sind.<br />
Kurz gesagt – alle Staaten müssen die<br />
Bürger der Mitgliedsländer im Bezug auf<br />
die Fürsorge, wie ihre eigenen behandeln.<br />
So steht es in Artikel 1 der Übereinkunft,<br />
welche die Bundesrepublik Deutschland<br />
bereits 1953 unterzeichnet hatte. Das<br />
oben benannte Urteil dürfte daher auch<br />
im Hinblick auf die Leistungen nach SGB<br />
XII, nämlich der Sozialhilfe für nicht arbeitsfähige<br />
Ausländer, Auswirkungen<br />
haben, da nach dem EFA der Begriff der<br />
Fürsorge auch die Grundsicherungsleistungen<br />
nach dem zwölften Gesetzbuch<br />
umfasst.<br />
Vorbehalt der Bundesregierung<br />
gegen das Fürsorgeabkommen<br />
Wahrscheinlich nur aufgrund der Befürchtungen<br />
bezüglich erheblicher,<br />
finanzieller Auswirkungen dieses Urteils<br />
des BSG, hatte dann aber die Bundesregierung<br />
im Dezember 2011 einen<br />
sogenannten „Vorbehalt“ gegen das<br />
Europäische Fürsorgeabkommen (EFA)<br />
eingelegt, um zu verhindern, dass Zuwanderer<br />
aus den anderen 17 Mitgliedstaaten<br />
des Abkommens bereits in den<br />
ersten drei Monaten ihres Aufenthalts in<br />
Deutschland Hartz IV bekommen.“<br />
Dies führte sodann zu der Geschäftsanweisung<br />
vom 08.02.2012, welche die<br />
Bundesagentur für Arbeit an die Jobcenter<br />
ausgab (AZ.: SP II 21 / SP II 23 – II-<br />
1101.1).<br />
In dieser Geschäftsanweisung werden<br />
die Verwaltungen angewiesen, die<br />
Entscheidung des BSG zugunsten des<br />
ministerialen Vorbehalts – wenn man so<br />
will – faktisch zu ignorieren und die Hilfesuchenden,<br />
sofern sie sich nicht damit<br />
Europäischer Gerichtshof in Den Haag
6 SOZIALPOLITIK<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
abfinden wollen, bei den Sozialgerichten<br />
auflaufen zu lassen. In der Geschäftsanweisung<br />
(GA <strong>Nr</strong>. 09/2012) heißt es sodann:<br />
„Die Bundesrepublik Deutschland hat<br />
für Leistungen, die nach dem SGB II<br />
zustehen, einen Vorbehalt gegen das<br />
Europäische Fürsorgeabkommen (EFA)<br />
erklärt. Dieser ist mit Wirkung zum<br />
19.12.2011 in Kraft getreten. Damit finden<br />
die Leistungsausschlussgründe<br />
nach § 7 Abs. 1 S. 2 <strong>Nr</strong>. 1 und 2 SGB II ab<br />
dem 19.12.2011 auf Angehörige der EFA-<br />
Staaten wieder Anwendung.“<br />
Bedenklichkeit des Vorbehaltes<br />
Durch die Erhebung des Vorbehalts versucht<br />
die Regierung die Entscheidung<br />
des Bundessozialgerichts auszuhebeln.<br />
Dabei hatte sie, bei dieser europarechtlich<br />
so wichtigen Entscheidung, das Parlament<br />
außen vor gelassen und quasi<br />
erst im Nachhinein dazu informiert.<br />
Der Vorbehalt selbst und die Begründung<br />
des Ministeriums: „wir wollen die<br />
Zuwanderung von Fachkräften, aber keine<br />
Zuwanderung in die Sozialsysteme“,<br />
so war es seinerzeit in der Presse („Die<br />
<strong>Welt</strong>“) zu lesen, wurde von allen Oppositionsparteien<br />
scharf kritisiert, als europafeindlich<br />
und als ein eklatanter Verstoß<br />
gegen den Kern des Europäischen<br />
Fürsorgeabkommens angesehen.<br />
Der Deutsche Anwaltsverein, dem<br />
etwa 67.000 Mitglieder angehören,<br />
schrieb in seiner Stellungnahme vom<br />
Juni 2012, dass die Erhebung des Vorbehaltes<br />
im Bezug auf das SGB II rechtswidrig<br />
sei und gegen Völkerrecht verstoße.<br />
Der Verein appellierte daher an die<br />
Bundesregierung, diesen Vorbehalt zurückzunehmen.<br />
Dass in dem Vorbehalt die Möglichkeit<br />
der Beantragung von Sozialhilfe (außer<br />
diejenige Hilfe zur Überwindung besonderer<br />
sozialer Schwierigkeiten – Kapitel<br />
8 SGB XII, die schon bei der Unterzeichnung<br />
des EFA ausgeschlossen war) nicht<br />
ausgeschlossen wurde, zeigt, dass die<br />
rechtlichen Voraussetzungen dieses Vorbehalts<br />
nur auf die Fürsorgeleistungen<br />
gemäß SGB II beschränkt wurden. Was<br />
wiederum bedeutet, dass die Fürsorgepflicht<br />
grundsätzlich anerkannt wird. Da<br />
aber dieselbe Grundsicherung sowohl<br />
im Bereich des SGB II, als auch im Bereich<br />
des SGB XII, der eigentliche Kern<br />
der Fürsorgeverpflichtung ist, kann das<br />
eine vom andern nicht getrennt werden.<br />
So ist der ganze Vorbehalt bereits ein Widerspruch<br />
in sich selbst.<br />
Wenn nämlich das Ministerium in der<br />
Unterrichtung an den Ausschuss für<br />
Arbeit und <strong>Soziale</strong>s schreibt, dass sich<br />
der sogenannte Vorbehalt nur auf die<br />
Anwendung des zweiten Sozialgesetzbuches<br />
bezieht, der Anspruch auf Leistungen<br />
nach dem zwölften Sozialgesetzbuch<br />
aber gegeben sein könnte, dann<br />
ist darin der Widerspruch zu erkennen,<br />
der auch den Verfassern des Vorbehaltes<br />
nicht entgangen sein kann. Wie nämlich<br />
bereits oben erwähnt, sind doch beide<br />
Teile Sozialleistungen, die unter dem<br />
Begriff der Fürsorge zusammengefasst<br />
werden müssen (vergl. Auch Urteil des<br />
BSG).<br />
Die Opposition hatte mit 19 Abgeordneten<br />
und der Fraktion „Bündnis 90<br />
/ Die Grünen“ in dem Antrag vom 20.<br />
März 2012 die Rücknahme des Vorbehalts,<br />
in dem Sie eine Teilrücknahme<br />
des Europäischen Fürsorge Abkommens<br />
sieht, zur Abstimmung im Parlament<br />
gebracht. Dieser Antrag wurde mit der<br />
Mehrheit von CDU/CSU mit der FDP abgewiesen.<br />
Fazit<br />
Bei der Auseinandersetzung mit der<br />
konkreten Notsituation einer EU-Bürgerin,<br />
die in diesem Artikel beschrieben<br />
wurde, ist zutage gekommen, dass die<br />
Jobcenter einer Geschäftsanweisung<br />
der Bundesregierung folgen, wenn Sie<br />
Leistungen auf der Grundlage der Bestimmungen<br />
des SGB II ablehnen, die<br />
von zugereisten EU-Bürgern beantragt<br />
werden.<br />
Es ist weiter klar geworden, dass<br />
es zwar eine höchst sozialgerichtliche<br />
Rechtsprechung gibt, die für Recht erkannt<br />
hat, dass alle EU-Bürger der Länder,<br />
die dem Fürsorgeabkommen beigetreten<br />
sind, sozialrechtlich wie Inländer<br />
zu behandeln sind, wogegen aber ein<br />
Vorbehalt geltend gemacht wurde.<br />
Der von der Bundesregierung gegen<br />
dieses Urteil ins Feld geführte Vorbehalt<br />
ist rechtlich bedenklich.<br />
Bürgern der Europäischen Union,<br />
die wegen des §7 Abs.1Satz 2 <strong>Nr</strong>. 2 des<br />
SGB II eine Verweigerung der Leistungen<br />
erfahren, bleibt der Rechtsweg offen.<br />
Denjenigen, die in Not geraten sind<br />
bleibt außerdem der Weg zum Sozialamt.<br />
Traurig ist der Umstand in unserem Beispielfall,<br />
dass keinerlei Hilfeleistung erbracht<br />
wurde, obwohl eine konkrete Not<br />
erkennbar war.<br />
Ist es nicht so, dass die Sozialbehörde,<br />
der die Hilfsbedürftigkeit eines Hilfeersuchenden<br />
zuerst bekannt wird, im<br />
Grunde auch dazu verpflichtet ist, diesen<br />
an die zuständige Behörde zu verweisen,<br />
wenn sie selber sich als nicht<br />
zuständig erkennt? Dies wäre zumindest<br />
schon rein menschlich zu erwarten.<br />
Ist es nicht mehr als traurig, wenn die<br />
Hilfen, die im Sozialgesetzbuch festgelegt<br />
sind, erst nur auf Klage hin gewährt<br />
werden? Letztlich sind die Sozialgesetze<br />
gesicherte Rechte, um die Generationen<br />
hart gerungen haben und für die in der<br />
Geschichte ein hoher Preis bezahlt worden<br />
ist.<br />
So wie Europa ein Unterfangen ist,<br />
für das alle einen hohen Preis bezahlen<br />
müssen – ohne das es aber keine<br />
friedvolle und glückliche Zukunft geben<br />
kann. Je mehr wir von dieser Europäischen<br />
Gemeinschaft abkommen und je<br />
mehr wir von schon geschlossenen Vereinbarungen<br />
zurücknehmen umso höher<br />
wird der Preis sein, den Alle irgendwann<br />
bezahlen müssen.<br />
GP)<br />
(Fotos: Justitia GP, wikimedia/commons)<br />
Quellen: Drucksachen des dt. Bundestages<br />
17/9036, 17/9474, 17/8<strong>69</strong>9 (Antwort auf die schriftl.<br />
Frage <strong>Nr</strong>.60 / Abgeordneter Kurth), Zeitung „Die<br />
<strong>Welt</strong>“, „Die <strong>Welt</strong> Online“, Geschäftsanweisung der<br />
Bundesagentur für Arbeit (SP II 21 / SP II 23 – II-<br />
1101.1), Stellungnahme des dt. Anwaltvereins<br />
60/12, Urteil des BSG: AZ.: B14 AS 23/10R, u.a.
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
INSP / SNS<br />
Treffen Sie die inspirierendsten Arbeitskräfte der <strong>Welt</strong><br />
7<br />
Da die Finanzkrise sich weiterhin verheerend auf die<br />
<strong>Welt</strong>wirtschaft und die Arbeitsmärkte auswirkt, wird die<br />
Tatsache, dass jeder obdachlos werden könnte – unabhängig<br />
von Alter, Nationalität oder gesellschaftlichem Status<br />
– so offensichtlich wie nie zuvor, ebenso wie die absolute<br />
Notwendigkeit von Straßenzeitungen.Für viele Menschen,<br />
die in Armut leben oder obdachlos sind, kann der Verkauf von<br />
Straßenzeitungen ein Rettungsanker und ein Sprungbrett<br />
darstellen, um Größeres zu erreichen. Unabhängig davon, ob<br />
sie auf den Straßen von Glasgow, Kapstadt, Melbourne oder<br />
Mailand sind: jeder einzelne Straßenzeitungsverkäufer ist Teil<br />
einer globalen Familie, die den Wunsch teilt, der Armut zu<br />
entkommen.<br />
Mehr als 280000 Verkäufer arbeiten jedes Jahr auf dieses<br />
Ziel hin, indem sie ihre örtliche Straßenzeitung verkaufen. Das<br />
International Network of Street Papers (INSP) vereinigt mehr<br />
als 120 dieser Publikationen in über 600 Groß- und Kleinstädten<br />
auf der ganzen <strong>Welt</strong>.<br />
Von seinem Hauptsitz in Schottland aus hilft INSP seinen<br />
Mitgliedern, indem es sie bei der Gründung und mit dem Editieren,<br />
im Personal- und Verkaufstraining, bei der Finanzierung<br />
und mit Netzwerken und Kampagnen unterstützt, um<br />
auf deren Arbeit aufmerksam zu machen.<br />
Die Geschichten unserer Verkäufer zeugen von der Stärke<br />
und Effektivität des Straßenzeitungsmodels, das sich in 40<br />
Ländern auf sechs Kontinenten etabliert hat und den Verkäufern<br />
mehr als 30 Millionen Euro pro Jahr einbringt.<br />
„Ich habe viel Schlimmes auf den Straßen gesehen, aber<br />
ich habe auch Leute getroffen, die, so wie ich, ihr Leben ändern<br />
wollten“, sagt der brasilianische Verkäufer Nelson Carvalho,<br />
dessen Drogenabhängigkeit zu seiner Obdachlosigkeit<br />
geführt hat.<br />
Für Nelson bedeutete der Verkauf von Aurora du Rua auf<br />
den Straßen Salvadors mehr, als sich ein Einkommen zu verdienen:<br />
„Ich habe die Möglichkeit, meine Erfahrungen mit anderen<br />
zu teilen und ihnen zu zeigen, dass Menschen, die auf<br />
der Straße leben, Menschen sind wie du und ich.“<br />
Verkäufer wie Nelson sind stolz darauf, die Publikationen<br />
zu verkaufen und haben eine vereinigte Leserschaft von 6 Millionen<br />
pro Ausgabe erzielt. Er erklärt: „Straßenzeitungen portraitieren<br />
Menschen, die auf der Straße leben, mit Würde und<br />
Menschlichkeit und ändern die Ansichten der Gesellschaft<br />
über sie.“<br />
Seine südafrikanische Kollegin Erica Phillips glaubt auch,<br />
dass Straßenzeitungen die Ansichten der Menschen zur
INSP / SNS<br />
8 <strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
Obdachlosigkeit ändern. Sie verkauft seit sieben Jahren The<br />
Big Issue South Africa, nachdem sie gezwungen war, ihre Arbeit<br />
aufzugeben, als sich ihr Sehvermögen verschlechterte.<br />
„Ich habe so viel erreicht und Menschen gefunden, die mich<br />
wirklich unterstützt haben. Sie merken, dass ich willenstark<br />
bin und eine kontaktfreudige Persönlichkeit habe. Ich habe<br />
das Glück, viele Kunden zu haben, die mich nicht nur als Verkäuferin,<br />
sondern als Freundin sehen.“<br />
Erica sagt, dass sie ohne die Straßenzeitung niemals ihr eigenes<br />
Unternehmen hätte finanzieren können, das sie kürzlich<br />
eröffnet hat. „Ich denke sehr ungern darüber nach, wo ich<br />
ohne diese Arbeit wäre. Ich hätte wahrscheinlich aufgegeben,<br />
aber die Arbeit hat mir dabei geholfen, zu sehen, dass es Hoffnung<br />
gibt.“<br />
Der Verkauf von Street Roots hat Charles Yost, einem Verkäufer<br />
in Portland, USA, geholfen, seine Alkoholsucht zu<br />
überwinden, die ihn sein ganzes Leben lang begleitet hatte:<br />
„Es kam zu dem Punkt, wo ich mich entweder betrunken oder<br />
Straßenzeitungen verkauft hätte. Es ist etwas, worauf ich<br />
mich freuen kann. Ich spreche mit vielen Menschen. Es bewahrt<br />
mich vor der Isolation.“<br />
Der Verkauf der norwegischen Straßenzeitung Megafon hat<br />
das Leben von Jonny Larssen komplett verändert, der die Alltagsrealität<br />
von Drogen und Gewalt gegen einen würdevollen<br />
Beruf eingetauscht hat. „Wenn man als Straßenzeitungsverkäufer<br />
arbeitet, muss man Menschen in die Augen sehen, mit<br />
ihnen lachen und sich um andere kümmern. Hätten Sie mich<br />
vor ein paar Jahren kennen gelernt, dann hätten Sie niemals<br />
geglaubt, dass ich das tun könnte.“<br />
Für Tapiwa Chemhere, Verkäufer von The Big Issue Australia,<br />
der einem Leben in Gewalt und politischer Unterdrückung<br />
in Zimbabwe entflohen ist, sind es die Kunden, die ihn inspirieren:<br />
„Wenn sie lächeln und mit mir reden, versüßt mir das<br />
den Tag. Ich fühle mich sehr ermutigt. Ich danke all meinen<br />
Kunden für ihre Unterstützung.“<br />
Auf der ganzen <strong>Welt</strong> haben Straßenzeitungen dabei geholfen,<br />
mehr als 250000 Leben zum Besseren zu verändern. Da<br />
das INSP-Netzwerk sich weiterhin ausdehnt, hoffen wir, dass<br />
die Geschichten der Verkäufer andere inspirieren werden,<br />
sich der Bewegung anzuschließen.<br />
Für alle Verkäufer, die von Straßenzeitungen unterstützt<br />
werden, sind es die Leser, die dabei helfen, etwas zu bewirken.<br />
Daher, wohin Sie auch gehen auf der <strong>Welt</strong>: Kaufen Sie<br />
Ihre örtliche Straßenzeitung.<br />
Die Veränderung liegt ganz in Ihren Händen.<br />
Laura Smith www.street-papers.org
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
Suppe wird dort nicht ausgeschenkt.<br />
„Die Tafel“ ist keine<br />
Suppenküche im klassischen<br />
Sinn. Auf den Tafeln liegen Sachen, die<br />
man gut mitnehmen kann: Brot, Obst,<br />
Gemüse, Wurst - Verderbliches oft, kurz<br />
vor dem Ablaufdatum gespendet. Marmelade,<br />
Schokolade, Tütensuppe. Die<br />
Tafeln sind Einkaufsorte, nein Ausgabestellen<br />
für Leute, die sich ein normales<br />
Einkaufen nicht leisten können.<br />
Dort finden sie Lebensmittel und oft<br />
auch Kleidung. Wie nennt man Leute,<br />
die dort hingehen? „Kunden „ klingt<br />
besser als „Arme“. Es gibt immer mehr<br />
Kunden an immer mehr Tafeln. An<br />
manchen Tafeln zahlt man einen Euro<br />
am Eingang, an anderen fünf. So einen<br />
Obolus finden fast alle gerecht, die da<br />
anstehen. Das hilft gegen das Gefühl,<br />
es würde einem alles geschenkt. Man<br />
nimmt, was man kriegt. Viele sagen, sie<br />
hätten nie gedacht, einmal „so was“ in<br />
Anspruch nehmen zu müssen.<br />
Ein Staat, der tausend Tafeln braucht,<br />
ist kein guter Sozialstaat Tafeln gehören<br />
zu den erfolgreichsten Einrichtungen in<br />
Deutschland. Sie expandieren wie sonst<br />
nichts. Sie expandieren, weil Not und Bedürftigkeit<br />
in Deutschland expandieren.<br />
Mehr als 900 Tafeln gibt es in Deutschland,<br />
dort versorgen eineinhalb Millionen<br />
Kunden sich und ihre Familienangehörigen.<br />
Soeben hat der Fiskus dafür<br />
gesorgt, dass das so weitergehen kann:<br />
Die Finanzämter verzichten darauf, dass<br />
die Spender auf ihre gespendeten Waren<br />
Mehrwertsteuer zahlen müssen. Der<br />
Staat hätte sich selbst geschadet, wenn<br />
er auf diese Weise den Tafeln geschadet<br />
hätte. Die nämlich bewirken, dass die<br />
Not in Deutschland nicht so laut schreit,<br />
wie sie das sonst täte. Die Tafeln breiten<br />
ein deutschlandgroßes Tischtuch über<br />
die Armut.<br />
Es wäre eine Katastrophe, wenn es<br />
diese gemeinnützige Einrichtung nicht<br />
mehr gäbe. Es ist aber auch eine Katastrophe,<br />
dass es sie gebenmuss, Die vielen<br />
Tafeln zeigen, dass die Not zurückgekehrt<br />
ist in ein reiches Land. Natürlich<br />
ist diese Not eine andere Not als die in<br />
Kalkutta. Die Armen in Deutschland<br />
SOZIALE PROJEKTE 9<br />
DIE TAFELN<br />
Gnadenbrot im reichen Land<br />
Von Heribert Prantl<br />
sind relativ arm<br />
- sie sind -arm<br />
dran. Armut in<br />
Deutschland hat<br />
viele Gesichter:<br />
Da ist der wegra<br />
t i o n a l i s i e r te<br />
Facharbeiter, da<br />
ist die alleinerziehende<br />
Mutter,<br />
die den Sprung<br />
ins Berufsleben<br />
nicht mehr<br />
schafft; da sind<br />
Familien mit Kindern,<br />
Migranten,<br />
Niedriglöhner, Langzeitarbeitslose, Ein-<br />
Euro-Jobber und Rentner. All diese relativ<br />
Armen haben wenig gemeinsam,<br />
es verbindet sie nur Hartz IV. Die Hartz-<br />
Gesetze sind der große Hobel der deutschen<br />
Gesellschaft. All die relativ Armen,<br />
ob sie arbeiten oder nicht, verbindet<br />
das Faktum, dass ihnen das Geld zum<br />
Leben nicht reicht. Sie stehen für billige,<br />
ansonsten unverkäufliche Lebensmittel<br />
an.<br />
Das „Gesetz über die Grundsicherung<br />
von Arbeitssuchenden“ (so heißt<br />
das Hartz-IV-Gesetz im Wortlaut) hat der<br />
deutschen Gesellschaft die Grundsicherheit<br />
genommen, die Sicherheit darüber,<br />
dass es in Deutschland eine ausreichende<br />
soziale Basis-Sicherung gibt. Hartz<br />
IV ist die Chiffre dafür, dass das Sichere<br />
nicht sicher ist. Und die Tafeln sind der<br />
Beleg: Ihre Zahl hat sich seit Einführung<br />
der Hartz-Gesetze vervielfacht. Wenn<br />
man von den Erfolgen dieser Gesetze<br />
redet - das gehört auch dazu. An den<br />
Tafeln kann man studieren, wie sich die<br />
Ungleichheit der Gesellschaft verändert,<br />
Nicht nur Arbeitslose kommen dahin,<br />
sondern auch Leute, die von ihrer Arbeit<br />
nicht leben können. Die Spaltungslinien<br />
der Gesellschaft verlaufen nicht mehr<br />
nur zwischen arbeitenden und arbeitslosen<br />
Menschen. Sie verlaufen kreuz<br />
und quer. Auf diesem Kreuz-und-Quer<br />
stehen die Tafeln.<br />
Die Tafelbewegung ist wohl die derzeit<br />
größte Bürgerbewegung der Bundesrepublik.<br />
Mehr als vierzigtausend<br />
MitarbeiterInnen bei der Tafel Frankfurt Nordwest -<br />
kurz vor der Lebensmittelausgabe<br />
Menschen arbeiten ehrenamtlich dafür,<br />
dass Bedürftige ihr täglich Brot bekommen.<br />
Sie sammeln die Lebensmittel,<br />
die sonst als Biomüll entsorgt werden<br />
müssten. Davon profitieren die Bedürftigen<br />
und die Spender. Erstere haben was<br />
zu essen, Letztere ersparen sich Entsorgungskosten.<br />
Und der Staat erspart sich<br />
ein Sozialsystem, das den Bedürftigen<br />
wirklich das gibt, was sie brauchen. Tafeln<br />
sind etwas Wunderbares, weil sie<br />
Pragmatismus mit Wohltätigkeit verbinden,<br />
weil die Idee, die hinter den Tafeln<br />
steckt, so verblüffend einfach ist. Aber:<br />
Soll man wirklich als Großtat der Bürgergesellschaft<br />
feiern, was eigentlich ein<br />
Armutszeugnis ist?<br />
Tafeln sind ein Notbehelf, sie bieten<br />
Almosen, sie liefern die Krümel vom<br />
Überfluss, sie sind Gnadenbrot. Aber sie<br />
sind keine geeignete Antwort auf Not<br />
und Armut in einer reichen Gesellschaft<br />
- sondern Anklage. Wenn der Staat sich<br />
auf die Tafeln verlässt, verstößt er gegen<br />
seine soziale Fürsorgepflicht. Vielleicht<br />
sollten die Wohlfahrtsverbände, welche<br />
die Tafeln organisieren, einmal streiken.<br />
Armutsbekämpfung verlangt mehr als<br />
Barmherzigkeit. Ein Staat, der tausend<br />
Tafeln braucht, ist kein guter Sozialstaat.<br />
SZ vom 12.10.2012<br />
Wir bedanken uns bei der Süddeutschen<br />
Zeitung für die Nachdruckgenehmigung<br />
Redaktion SW
10 KOMMENTAR<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
„Wer die Noten liebt, der mache Musik,<br />
doch wer die Banknoten liebt, der mache Politik.“<br />
(Reinhard Mai)<br />
So lautete eine Textzeile eines<br />
Liedes, dass Reinhard Mai 1974<br />
in seinem Album „Vor Jahr und<br />
Tag“ veröffentlichte. Dieser Song-Text<br />
scheint eine zeitlose Aktualität zu haben,<br />
die uns unlängst in der Berichterstattung<br />
um den Kanzlerkandidaten<br />
Peer Steinbrück vor Augen gehalten<br />
wird.<br />
Da ist ein Abgeordneter, der kürzlich<br />
immer wieder in die Schlagzeilen geriet.<br />
Nicht weil er, als möglicher, zukünftiger<br />
Kanzler, gute, politische Inhalte und<br />
Ziele erklärt oder weil er konstruktive<br />
Kritik an der Bundesregierung übt<br />
und vorschlägt wie es besser gemacht<br />
werden kann – nein es geht in diesen<br />
Schlagzeilen ums Geldverdienen oder<br />
ums Geld bekommen.<br />
Ging es zunächst um die sogenannten<br />
Nebenverdienste durch seine zahlreichen,<br />
kostenpflichtigen Vorträge und<br />
die damit verbundene mutmaßliche<br />
Vernachlässigung seiner Abgeordnetenpflichten,<br />
die ihm bei abgeordnetenwatch.de<br />
vorgerechnet wird, kam<br />
er neuerlich auf den Gedanken, dass<br />
wohl das Gehalt des Bundeskanzlers<br />
erheblich zu niedrig sei. Kürzlich berichtet<br />
dann der Spiegel auch von seinem<br />
„besonderen Engagement“ bei Thyssen<br />
Grupp, was Ihn als tüchtigen Geschäftsamann<br />
auszuweisen vermag, als einen,<br />
der der Wirtschaft gerne einen Dienst erweist.<br />
Schließlich ist man das dem Amt<br />
schuldig – jedenfalls dem Amt des Aufsichtsrats<br />
von Thyssen Grupp.<br />
Natürlich stürzen sich die Medien auf<br />
den besonders, der im Staat besondere<br />
Verantwortung übernehmen will. Und<br />
für einen, der kein Blatt vor den Mund<br />
nimmt, ist das manchmal nicht ungefährlich.<br />
Aber so ist das mit den Worten,<br />
die man spricht: Einmal gesagt, sind sie<br />
wie ein Schuss aus einer Pistole – zurückholen<br />
ist unmöglich. Die Presse und<br />
die Kritiker, die sich immer begierig auf<br />
Dinge stürzen, die dazu geeignet sind einem<br />
„an den Wagen zu fahren“, kosten<br />
jede Spitze aus. Nun, Langweiliges und<br />
Unspektakuläres gibt es ja auch genug<br />
in der politischen Presse.<br />
“Oh Lord, Won‘t You Buy Me a<br />
Mercedes Benz” (Janis Joplin)<br />
„Dass jeder Sparkassendirektor mehr<br />
verdient als die Bundeskanzlerin“, soll<br />
er gesagt haben. Das halte ich für eine<br />
grundfalsche Aussage. Wenn er gesagt<br />
hätte: „die Bundeskanzlerin verdient<br />
mehr, als jeder Sparkassendirektor bekommt“,<br />
dann wäre daraus „ein Schuh“<br />
geworden.<br />
Dieser Unterschied von „Verdienen“<br />
und „Bekommen“ scheint mir eine nähere<br />
Betrachtung wert zu sein: Denn<br />
längst schon geht es bei den Apanagen,<br />
die einzelnen Aufsichtsrats- und Vorstandsmitgliedern,<br />
Direktoren und „Supereinstreichern“<br />
zufließen, nicht mehr<br />
ums Verdienen.<br />
Ein Immobilienmagnat etwa, der aufgrund<br />
des Kredit- und Mietzinswesens,<br />
seinen Besitz nahezu unbegrenzt vermehren<br />
darf, bekommt ein Millioneneinkommen<br />
– aber er hat er es verdient?<br />
Dieses Einkommen wird ihm nämlich<br />
von der Verwaltung monatlich aus den<br />
Mietkonten überwiesen. Einen echten,<br />
täglichen und vollzeitlichen Arbeitsaufwand<br />
dafür kann man bei diesem Großgrundbesitzer<br />
kaum mit diesen Einnahmen<br />
unmittelbar in Verbindung bringen.
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
Sein Job ist hauptsächlich „Besitzen“.<br />
Vielleicht hat er vorher dafür gearbeitet.<br />
Die Mieter in seinen Häusern arbeiten<br />
zum größten Teil. Sie arbeiten jeden Tag<br />
und verdienen das Geld, wofür sie dann<br />
die Wohnungen leihweise überlassen<br />
bekommen. – Die einen arbeiten, die anderen<br />
besitzen. – So sieht das aus und<br />
so funktioniert das.<br />
Auch in den Banken, Kaufhäusern,<br />
Versicherungen und in der Industrie arbeiten<br />
die Menschen und verdienen das<br />
Geld, wofür sie natürlich meistens weniger<br />
bekommen als sie mit ihrer Arbeit<br />
verdient haben. Das heißt – Viele haben<br />
gearbeitet und Geld verdient und Wenige<br />
haben sehr viel von dem bekommen,<br />
was andere verdient haben. Wie sollte<br />
man sonst die Manager, Aktionäre und<br />
Eigentümer der Konzerne bezahlen, die<br />
ganz schön viel mehr bekommen als<br />
sie arbeiten – im Verhältnis zum durchschnittlichen<br />
Arbeitsaufkommen bei<br />
den Arbeitern, Angestellten und freien<br />
Mitarbeitern etc. Wenn das auch ziemlich<br />
spitz gesagt ist und nicht ohne Humor<br />
gelesen werden darf, so würde ich<br />
sagen:<br />
So unterschiedlich sieht das also mit<br />
dem „Verdienen“ und dem „Bekommen“<br />
aus. In allen<br />
Fällen also, wo sehr<br />
viel mehr Geld gezahlt<br />
wird, als gearbeitet<br />
wird, würde<br />
ich lieber vom „Bekommen“<br />
sprechen<br />
als vom „Verdienen“.<br />
Denn Viele verdienen<br />
eigentlich<br />
mehr als sie bekommen.<br />
Ob das immer<br />
anständig ist, ist<br />
fraglich. Übrigens –<br />
Vorstand, habe ich<br />
einmal gehört, bedeutet<br />
Vorbild für<br />
Anstand; deshalb<br />
bekommen Vorstände<br />
natürlich auch anständig viel für das,<br />
wofür sie oft ganz was Anderes verdient<br />
hätten!<br />
Herr Steinbrück hatte das ja schon oft<br />
gesagt, dass er der Auffassung sei, dass<br />
Gehalt des Regierungschefs sei zu niedrig<br />
– nicht erst als Kanzlerkandidat. Im<br />
KOMMENTAR<br />
Verhältnis zu den Gegebenheiten in der<br />
Wirtschaft, die ich oben etwas humorvoll<br />
versucht habe zu beleuchten, mag<br />
er da recht haben. Aber genau da liegt ja<br />
das Problem!<br />
Welche Entwicklung zukünftig erwünscht<br />
ist, darum geht es nämlich. Soll<br />
es so weiter gehen, ist alles in Ordnung?<br />
Augen zu und durch – trotz Bankenkriese<br />
und raffgieriger Rücksichtslosigkeit<br />
des immer aggressiver werdenden Kapitalismus?<br />
Dafür steht doch Peer Steinbrück,<br />
der Sozialdemokrat nicht!?<br />
Das würde ich ihm wirklich nicht unterstellen!<br />
“Didn’t we almost have it all?”<br />
(Whitney Houston)<br />
Da sich die Bundeskanzlerin bisher<br />
nicht über Ihr Gehalt beschwert hatte,<br />
habe ich einmal versucht herauszufinden,<br />
was sie denn so verdient – oder bekommt<br />
– je nachdem. Es ist gar nicht so<br />
wenig;<br />
Es sind etwa 21.750 EUR im Monat,<br />
wenn man der Unternehmensberatung<br />
Hay-Group glauben will. Soviel verdienen<br />
die meisten Menschen in unserem<br />
Land nicht in einem Jahr.<br />
Und liege ich falsch, wenn ich sage,<br />
dass man mit so viel Geld ohne Weiteres<br />
seine Familie ernähren kann und gut<br />
und froh zu leben vermag? Sicher nicht<br />
– und das weiß auch Herr Steinbrück<br />
und alle anderen Politiker, die so wie er<br />
ganz genau wissen, was im Staat passiert<br />
und wie die Finanzen verteilt sind<br />
– schließlich war er Finanzminister.<br />
11<br />
Vorstand bedeutet Vorbild für Anstand<br />
– das sollte in jeder Hinsicht für<br />
den Chef einer Regierung gelten. Vorbild<br />
sein und hinter sein Amt zurücktreten,<br />
das ist sicher eine nicht zu unterschätzende<br />
Herausforderung. Diese Herausforderung<br />
anzunehmen,<br />
sollte<br />
aber jeder bereit<br />
sein, der ein<br />
Ministerium im<br />
Staat übernimmt,<br />
denn schon in<br />
dem Wort „Minister“<br />
steckt der<br />
wesentliche Begriff:<br />
Dienen. Ich<br />
glaube ein „alter<br />
Hase“ wie der<br />
Peer ist sich dessen<br />
bewusst.<br />
Das Gehalt des<br />
Regierungschefs<br />
oder der Regierungschefin<br />
ist<br />
nicht zu niedrig,<br />
gut kann man davon leben – sehr gut!<br />
Aber was manch einer in der <strong>Welt</strong> der<br />
großen Finanzen bekommt ist vielleicht<br />
mehr als genug und oft zu viel. Es geht<br />
um die Verhältnismäßigkeit. Was ist genug?<br />
Diese Frage ist in der Tat eine Frage<br />
nach den Verhältnissen.
12 KOMMENTAR<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
“Knock-knock-knockin‘ on<br />
heaven‘s door” (Guns ‘N Roses)<br />
Wer viel bekommt, gibt auch viel. Diejenigen,<br />
die am meisten Bekommen sind<br />
im Staat meist auch diejenigen, welche<br />
die meisten Steuern bezahlen. Das ist<br />
doch klar – oder? Von diesen Steuern<br />
bekommen dann auch die, die nicht<br />
oder nicht mehr arbeiten können – also<br />
im Grunde nichts verdienen. Wir sind<br />
ein sozialer Staat, dessen höchster Wert<br />
die Menschenwürde ist. Wir müssen ein<br />
soziales Europa werden, eine Gemeinschaft<br />
in der dieser höchste Wert der<br />
Maßstab zur Gestaltung der Verhältnisse<br />
des Zusammenlebens wird.<br />
Mancher bekommt mehr als genug<br />
und viele weniger als anständig ist. Wer<br />
von sehr viel, viel abgibt, hat am Ende<br />
immer noch mehr als genug. Aber er ist<br />
anständig und das sind nicht ganz wenige.<br />
Wer aber zu wenig hat, der hat nie<br />
genug und das sind sehr viele.<br />
Wenn also die, die so viel mehr für<br />
das bekommen, für was sie eigentlich<br />
weniger verdienten,<br />
an die abgeben, die<br />
weniger bekommen<br />
als anständig ist,<br />
dann kommen wir<br />
auf den richtigen<br />
Weg. Auf einen Weg,<br />
der sich an Werten<br />
und nicht allein am<br />
Wert orientiert. Es<br />
muss im Leben mehr<br />
als alles geben! Mehr<br />
als alles zu haben ist<br />
zu viel. Genug ist genug!<br />
Und es gibt genug<br />
für alle.<br />
„Wenn jeder gibt<br />
was er hat,<br />
dann werden alle<br />
satt“<br />
(WilhelmWillms /<br />
Peter Janssens)<br />
Wenn jetzt nach all<br />
den Tiraden über<br />
Steinbrücks Reden<br />
und Bemerkungen,<br />
die in der Presse breit<br />
getreten wurden,<br />
endlich auf sinnvolle<br />
Inhalte zurückgekommen<br />
wird, dann ist es<br />
auch höchste Zeit.<br />
Die Idee z.B., eine stärkere Begrenzung<br />
der Mietpreise für Wohnimmobilien<br />
in Innenstadtlagen zu fordern, ist<br />
ein wichtiger Schritt hin zu einer Neubesinnung<br />
auf die alte Mahnung: „Eigentum<br />
verpflichtet.“ Auch in diesen Zeiten<br />
gibt es noch seriöse Eigentümer, die<br />
nicht den letzen Cent aus Ihren Mietern<br />
quetschen. Auch weniger vermögende<br />
Menschen habe ein Recht darauf in der<br />
Stadt zu leben. Börsenumsatzsteuer,<br />
Bankenrechtsreform, Besteuerung der<br />
Wertschöpfungen, Erhöhung der Spitzensteuersätze<br />
für besonders Reiche,<br />
Vermögenssteuer, Senkung der Steuersätze<br />
für Geringverdiener, stärkere<br />
Förderung im Bildungswesen, klare Positionierung<br />
für Europa, Anhebung der<br />
Regelsätze in der Grundsicherung auf<br />
ein gerechtes Maß, Einführung eines flächendeckenden<br />
Mindestlohns zur Verhinderung<br />
von Arbeiterarmut, Klärung<br />
der Wiedersprüche zwischen Europarecht<br />
und Verwaltungspraxis im Sozialbereich<br />
und vieles Mehr. All das wird<br />
nicht nur von den Sozialdemokraten<br />
erwogen. Die Frage ist, wer wird es umsetzen?<br />
Die Menschen erwarten Ansätze<br />
die wirklich etwas zu ändern vermögen.<br />
Nur echte und einschneidende Änderungen<br />
können eine Lösung für die Probleme<br />
unserer Zeit werden.<br />
Vielleicht werden wir alle zurückschalten<br />
müssen, einige mehr andere weniger.<br />
Einigen wird es dann vielleicht<br />
besser gehen als je zuvor – eben nicht<br />
nur in Deutschland, sondern in Europa,<br />
das unser aller Zukunft ist. Wenn die,<br />
die wirklich mehr als genug haben, von<br />
ihrem Überfluss herreichen – dann werden<br />
alle davon profitieren – auch die Geber<br />
selbst. Nur durch größere Solidarität<br />
und ein näheres Zusammenrücken wird<br />
die Schere von Arm und Reich nicht weiter<br />
und weiter auseinandergehen.<br />
Dabei ist es nicht erforderlich, dass<br />
jemand mit utopischen Steuern, wie in<br />
Frankreich geplant, enteignet wird. –<br />
Auch das ist ungerecht! Vielmehr gilt es,<br />
verhältnismäßig Prozente da abzuholen,<br />
wo es den Betroffenen nicht wirklich<br />
wehtut, allen aber geholfen ist.<br />
Viele geben schon von sich aus viel –<br />
verzichten auf Erhöhungen ihrer Bezüge,<br />
vermieten ihre Häuser nicht zu Wucherzinsen<br />
und treten sogar öffentlich dafür<br />
ein, Teile ihres Vermögens hergeben zu<br />
wollen. Das sind diejenigen, welche die<br />
Zeichen der Zeit erkannt haben.<br />
Sie haben weitblickend erkannt, dass<br />
die freiheitlich-demokratische Gemeinschaft<br />
aller Menschen in Deutschland<br />
und in ganz Europa nur dann Bestand<br />
haben kann, wenn die Potentialunterschiede<br />
zwischen Arm und Reich nicht<br />
zu groß werden. Wer also die Freiheit<br />
liebt, der mache die richtige Politik!<br />
G. Pfeifer (Text + Fotos)
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
TECHNIK UND UMWELT<br />
Elektrogeräte - Finaler Error<br />
13<br />
Waschmaschinen, TV-Geräte und<br />
Drucker geben heute in der Regel<br />
schon nach wenigen Jahren<br />
den Geist auf. Der Verdacht drängt<br />
sich auf: Werden elektronische Geräte<br />
bewusst kurzlebig konstruiert, um uns<br />
das Geld aus der Tasche zu ziehen?<br />
Plötzlich bleibt der Bildschirm schwarz,<br />
das Handy stumm und der Drucker<br />
spuckt keine Seiten mehr aus. Reparieren<br />
kostet fast so viel wie neu kaufen,<br />
manchmal sogar mehr. Also ersetzt man<br />
und entsorgt das Alte. Die Lebenserwartung<br />
der praktischen Apparate scheint<br />
immer kürzer zu werden. Für viele steht<br />
fest: Die Industrie konstruiert die Geräte<br />
absichtlich so, dass sie nach wenigen<br />
Jahren den finalen Error produzieren<br />
und sich die Kunden etwas Neues kaufen<br />
müssen. „Geplante Obsoleszenz“ nennt<br />
sich das; zu Deutsch: Veraltung. Ist das<br />
Todesdatum nicht schon einprogrammiert,<br />
so der Verdacht, dann wird so gebaut,<br />
dass das Gerät unmöglich länger<br />
als drei oder vier Jahre funktionieren<br />
kann. „Für uns ist klar, dass vieles getimed<br />
ist”, sagt Sara Stalder, Geschäftsleiterin<br />
der Stiftung für Konsumentenschutz.<br />
„Zu viele Menschen melden sich<br />
bei uns, deren Geräte zwei Monate nach<br />
Ende der Garantie kaputtgehen oder die<br />
im Bekanntenkreis festgestellt haben,<br />
dass gleichartige Maschinen bei allen<br />
ungefähr gleich lang funktionieren.“<br />
Schwache Heizstäbe<br />
und lotternde Leiterplatten<br />
Diverse Medienbeiträge liefern Beispiele,<br />
so die Arte-Dokumentation „Kaufen<br />
für die Müllhalde“ von Cosima Dannowitz.<br />
Der Beweis für die Arglist freilich ist<br />
schwer zu erbringen, denn die Hersteller<br />
können stets auf die Kosten verweisen.<br />
Dauerhaft ist teurer. Das Angebot in den<br />
Discount-Märkten legt tatsächlich nahe,<br />
dass es für einen wesentlichen Teil der<br />
Kundschaft gar nicht billig genug sein<br />
kann.<br />
Ein paar Beispiele kurzlebiger Technik:<br />
In modernen Waschmaschinen<br />
werden schwächere Heizstäbe verwendet<br />
als früher, diese brennen durch,<br />
die Maschine ist nach einer Handvoll<br />
Jahren hin. In Netzteile von Computern<br />
und Fernsehern werden Kondensatoren<br />
eingebaut, die der darin auftretenden<br />
Temperatur nicht gewachsen sind. Hitzeresistente<br />
Bauteile würden nur ein<br />
paar Rappen mehr kosten und die Lebensdauer<br />
um Jahre verlängern. In<br />
Spielkonsolen werden die Leiterplatten<br />
so schlecht befestigt, dass sie sich nach<br />
wenigen Jahren ablösen, Wackelkontakte<br />
entwickeln oder den Start des Geräts<br />
komplett verhindern.<br />
Soweit so schlecht. Aber werden<br />
Elektro- und Elektronikgeräte tatsächlich<br />
immer defektanfälliger? Peter Jacob<br />
von der Empa (Eidgenössische<br />
Materialprüfungs- und Forschungsanstalt)<br />
widerspricht: „Mir scheint, dass die<br />
Geräte sogar langlebiger werden, hingegen<br />
ist die Reparierbarkeit drastisch<br />
reduziert.“ Jacob kennt sich mit Material-<br />
und Konstruktionsfehlern aus: Er untersucht<br />
sie nicht nur wissenschaftlich,<br />
auch privat flickt er gerne alte Radiogeräte.<br />
Ein Radio aus den Fünfzigerjahren<br />
lässt sich problemlos reparieren. Bei<br />
einem fünfjährigen DABRadio geht das<br />
heute vielleicht gerade noch. In 20 Jahren<br />
ist es sicher nicht mehr reparierbar.<br />
Hauptgrund dafür sei, dass kaum mehr<br />
Standardbauteile verwendet werden,<br />
sondern speziell für das Gerät entwickelte<br />
integrierte Schaltungen, die nach wenigen<br />
Jahren als Ersatzteile nicht mehr<br />
erhältlich sind. Es gibt aber auch ganz<br />
andere Gründe: Gehäuse, die sich nicht<br />
öffnen, sondern nur knacken lassen<br />
oder fest eingebaute Akkus, die, wenn<br />
überhaupt, nur der Spezialist wechseln<br />
kann, wenn ihre Kapazität nachlässt.<br />
Es geht auch anders - vorausgesetzt,<br />
man ist beim Kauf bereit, etwas tiefer in<br />
die Tasche zu greifen. Qualitätsprodukte<br />
sind robuster und lassen sich im Falle<br />
eines Falles vom Fachmann reparieren.<br />
Andere, die das frühe Ende ihres Geräts<br />
nicht akzeptieren wollen, finden im Internet<br />
Hilfe. Seiten wie ifixit.com oder<br />
insidemylaptop.com bieten detaillierte<br />
Anleitungen, wie sich die geliebten<br />
Gadgets auseinandernehmen und reparieren<br />
lassen. Voraussetzung sind handwerkliches<br />
Geschick, Spezialwerkzeug<br />
und je nach Schaden Ersatzteile.<br />
Ein Gerätefehler, der dem programmierten<br />
Tod schon sehr nahekommt,<br />
tritt bei verschiedenen Tintenstrahldruckern<br />
auf: Ein sogenannter Waste<br />
Counter („Abfallzähler“) registriert jede<br />
gedruckte Seite. Nach einer bestimmten<br />
Anzahl (beispielsweise 5000) gibt er<br />
an, der Schwamm sei voll, welcher die<br />
Tinte auffängt, die beim Reinigen der<br />
Düsen austritt - ob dies wirklich der Fall<br />
ist oder nicht. Der Schwamm lässt sich<br />
austauschen, jedoch nützt dies nichts,<br />
wenn der Zähler nicht auf Null gesetzt<br />
wird. Im Arte-Film wird dem Probanden<br />
geraten, einen neuen Drucker zu kaufen.<br />
Nach langer Suche in Web-Foren und
TECHNIK UND UMWELT<br />
14 <strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
sie sowieso nicht länger benutzt werden?<br />
Es gibt auch gute Gründe, einen alten<br />
Computer oder sonst ein Gerät<br />
nicht mehr weiter zu verwenden: dann<br />
nämlich, wenn sein Stromverbrauch so<br />
hoch ist, dass ein neues Gerät innerhalb<br />
nützlicher Frist inklusive Herstellung<br />
und Transport zum Endkunden weniger<br />
Energie verbraucht. Teresa Medaglia<br />
von der Stiftung Entsorgung Schweiz<br />
(SENS) verweist auf eine Broschüre von<br />
Energie Schweiz: Darin wird für verschiedene<br />
Haushaltsgeräte sowie Bildschirme<br />
angegeben, ob es sinnvoller ist,<br />
das defekte Gerät reparieren zu lassen<br />
oder ein neues zu kaufen. Grundsätzlich<br />
gilt: Je älter das Gerät, desto weniger<br />
Reparaturkosten lohnen sich, denn das<br />
neue schont die Umwelt und entlastet<br />
die Stromrechnung.<br />
Hilfeseiten entdeckt der Mann auf einer<br />
russischen Website ein Programm, das<br />
den Zähler seines Druckers zurücksetzt.<br />
Er riskiert das Leben seines Computers,<br />
lädt das Programm herunter, lässt es<br />
laufen und siehe da: Der Drucker druckt<br />
wieder.<br />
Inzwischen sind sogenannte Waste-<br />
Counter-Reset-Programme relativ leicht<br />
zu finden, einige Drucker können den<br />
Zähler sogar selber zurücksetzen, wenn<br />
man die richtige Tastenkombination<br />
kennt. Natürlich sollte man sich vergewissern,<br />
ob der Schwamm nicht doch<br />
ersetzt werden muss. Auch dafür gibt es<br />
Anleitungen im Netz.<br />
Zurück zum Vorwurf der geplanten<br />
Obsoleszenz. Im Internet findet sich<br />
nach kurzer Suche eine Handvoll Fachleute,<br />
die überzeugt sind und dafür<br />
hinstehen, dass Hersteller ihre Geräte<br />
absichtlich auf eine kurze Lebensdauer<br />
auslegen, um möglichst viele neue<br />
Geräte verkaufen zu können. Empa-<br />
Forscher Peter Jacob sieht einen anderen<br />
Grund, weshalb Geräte immer weniger<br />
lange benutzt werden: „Die tatsächliche<br />
Lebensdauer ist nicht entscheidend, sondern<br />
technische Standards und Features:<br />
Kaum begann sich das Digitalradio DAB<br />
durchzusetzen, stellte man auf DAB plus<br />
um und viele nur wenige Jahre alten<br />
Radios blieben stumm. Videorecorder<br />
wurden durch DVD-Rekorder ersetzt und<br />
diese nun durch Video-on-Demand und<br />
Festplattenrekorder. Ein Handy würde<br />
ohne Weiteres zehn bis 15 Jahre funktionieren,<br />
aber niemand verwendet es so<br />
lang, weil die neueste Generation wieder<br />
einiges mehr kann.“<br />
Immer nur das Neueste<br />
Kaum vorstellbar, dass ein modernes<br />
Smartphone in 15 Jahren noch funktioniert.<br />
Aber wer verwendet nur schon ein<br />
fünfjähriges? Die durchschnittliche Nutzungsdauer<br />
von Handys in Deutschland<br />
beträgt 18 bis 24 Monate. In der Schweiz<br />
dürfte es ähnlich aussehen, denn entscheidend<br />
ist, wann der Provider ein<br />
neues Gerät anbietet. Hand aufs Herz:<br />
Wie viele der Telefone, die Sie ausgemustert<br />
haben, funktionierten wirklich nicht<br />
mehr? Am Computer verlangen immer<br />
neue System- und Programmversionen<br />
nach immer höherer Rechenleistung.<br />
Wer nicht mitmacht, muss entweder ein<br />
Soft- und Hardware-Tüftler sein oder er<br />
landet auf dem digitalen Abstellgleis.<br />
Viele sind ohnehin magisch angezogen<br />
von Geräten der neuesten Generation.<br />
Schließlich wird ihnen mindestens einmal<br />
pro Jahr ein neues technologisches<br />
Zeitalter versprochen. Umso angenehmer,<br />
wenn das alte Teil ohnehin schwächelt.<br />
Wieso also sollen die Apparate<br />
länger halten, als sie benutzt werden?<br />
Es bleibt die Frage nach dem Huhn und<br />
dem Ei: Ersetzen die Leute ihre Geräte so<br />
häufig, weil sie so schnell kaputtgehen,<br />
oder gehen diese so schnell kaputt, weil<br />
Werden Elektroapparate schneller ersetzt,<br />
verbreiten sich umweltfreundliche<br />
Technologien schneller. Das räumt auch<br />
Sara Stalder ein, meint aber: „Es macht<br />
natürlich keinen Sinn, alle zwei Jahre einen<br />
energieeffizienteren Kühlschrank zu<br />
kaufen und den Alten zu entsorgen.“ Für<br />
die Konsumentenschützerin überwiegt<br />
das Interesse der Menschen, die nicht<br />
binnen drei bis fünf Jahren ihren gesamten<br />
Haushaltsmaschinenpark ersetzen<br />
wollen.<br />
„Es ist ein Kampf David gegen Goliath“,<br />
beschreibt Stalder die Situation<br />
der Konsumenten, „nur mit vereinten<br />
Kräften - einer internationalen Initiative<br />
- könnten die großen Hersteller dazu<br />
bewegt werden, langlebigere Produkte<br />
zu entwickeln.“ Auf die Leute, die für das<br />
neuste iPhone stundenlang Schlange<br />
stehen oder regelmäßig auf Schnäppchenjagd<br />
gehen, kann sie in diesem<br />
Kampf wohl nicht zählen.<br />
Von Stefan Michel<br />
www.street-papers.org/Surprise-Schweiz<br />
(Fotos: wikimedia/commons)
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
Stadtteilbotschafter Kenza und<br />
Hamad Khan verfassten ein „Familienbuch<br />
für Preungesheim“<br />
- Förderung durch die Polytechnische<br />
Gesellschaft<br />
SOZIALE PROJEKTE IN FRANKFURT<br />
Stolze Preungesheimer<br />
15<br />
Integration einmal anders – Ein Geschwisterpaar<br />
mit pakistanischen Wurzeln<br />
engagiert sich als Stadteilbotschafter<br />
in Preungesheim. Kenza und Hamad<br />
Khan gingen auf die Menschen in ihrer<br />
Nachbarschaft zu und sammelten deren<br />
Geschichten. Anfang Januar präsentierten<br />
sie ihr „Familienbuch für Preungesheim“.<br />
Kenza (19 Jahre) und Hamad Khan<br />
(18 Jahre) sind ungewöhnlich offene<br />
und tatkräftige junge Menschen. 2005<br />
siedelten sie mit ihrer Familie von Pakistan<br />
nach Frankfurt, genauer nach<br />
Preungesheim, über. Sie waren Kinder<br />
und sprachen kein Wort Deutsch. Doch<br />
sie gaben sich nicht damit zufrieden,<br />
in einem unbekannten Land angekommen<br />
und Fremde zu sein. Sie machten<br />
sich auf, Preungesheim zu erobern. So<br />
könnte das Integrationsmärchen der<br />
von Kenza und ihrem Bruder Hamad beginnen.<br />
Dass es keines ist, dafür sorgten<br />
Engagiertes Trio: Kenza (rechts) und Hamad Khan (Mitte) bei der Buchpräsentation.<br />
Die große Schwester der Beiden moderierte die gutbesuchte Veranstaltung<br />
Kenza und Hamad selbst. Sie lernten<br />
Deutsch, engagierten sich in der Schule<br />
und fassten in einem rasanten Tempo<br />
auch in ihrem Stadtteil Fuß.<br />
Im Herbst 2010 erfuhren sie von der<br />
Möglichkeit Stadtteilbotschafter zu<br />
werden. Klaus Dorenkamp, Leiter des<br />
Projektes, das von der Stiftung Polytechnische<br />
Gesellschaft initiiert und gefördert<br />
wird, besuchte die Schule. Kenza<br />
und Hamad bewarben sich und wurden<br />
genommen. In Workshops, mit Reisen<br />
und Trainings bereiteten sie sich mit<br />
anderen engagierten Jugendlichen auf<br />
ihre Rolle vor. Das ehrenamtliche Engagement<br />
der Stadteilbotschafter wird<br />
auch finanziell von der Stiftung unterstützt.<br />
Geschult in Rhetorik und Kommunikation<br />
erforschten Enza und Hamad ihren<br />
Stadtteil ganz gezielt. Mittlerweile kennen<br />
sie Preungesheim so gut, dass sie<br />
seine Geschichten erzählen können. Sie<br />
dokumentierten diese in einem Buch.<br />
Anfang Januar präsentierten die Beiden<br />
das „Familienbuch für Preungesheim“.<br />
„Preungesheim hat viel mehr zu bieten<br />
als nur das Frauengefängnis, an das jeder<br />
sofort denkt“, sagt Kenza Khan. „Wir<br />
wollten die Geschichten sammeln und<br />
damit den Zusammenhalt stärken.“<br />
Auftrittsstark: Kenza Khan stellt das Familienbuch für Preungesheim vor<br />
Über 100 Menschen, darunter der<br />
Frankfurter Bürgermeister Olaf Cunitz,<br />
Ortsvorsteher Robert Lange und viele<br />
interessierte Frankfurter waren in das<br />
IB-Hotel an der Friedberger Warte gekommen,<br />
um sich von den Ergebnissen<br />
der Recherchen der Khan-Geschwister<br />
zu überzeugen. „Die Suche nach Identität,<br />
Heimat und Zusammenhalt ist<br />
wichtig“, sagte Olaf Cunitz und dankte<br />
Kenza und Hamad für ihre Spurensuche
SOZIALE PROJEKTE IN FRANKFURT<br />
16 <strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
Herr Martell erzählte Kenza und Hamad,<br />
dass er und seine Rock-Band „Memphis“<br />
jahrelang im Keller der Festeburgkirche<br />
übten und er sich deshalb heute für den<br />
Erhalt der Kirche an der Wolfsweide einsetzt.<br />
Dieses und vieles andere rund um<br />
das 1910 eingemeindete Dorf erfährt<br />
der Leser des Familienbuchs. Es ist ein<br />
Appell an jeden Menschen, sich einzumischen,<br />
und zwar dort wo man lebt.<br />
Neben den Texten enthält das Buch<br />
auch Fotos aus dem Stadtteil. Nicht alle<br />
Interviewten kommen im Buch zu Wort.<br />
Das Budget, das Kenza und Hamad zur<br />
Verfügung stand, war begrenzt.<br />
Gut gelaunt: Olaf Cunitz, Frankfurter Bürgermeister, freut sich mit Kenza (Mitte)<br />
und Hamad Khan über den Erfolg ihres Projektes<br />
in dem Frankfurter Stadtteil, der im 8.<br />
Jahrhundert erstmalig erwähnt wurde.<br />
Ortsvorsteher Lange bescheinigt Kenza<br />
und Hamad eine schnellstmögliche Integration:<br />
„Ihr seid nach sieben Jahren<br />
so integriert, wie es mancher Deutsche<br />
nicht ist“, so der Kommunalpolitiker.<br />
„Schön, dass es euch gibt.“<br />
Monatelang waren die Beiden im<br />
vergangenen Jahr in Preungesheim unterwegs,<br />
führten Straßeninterviews mit<br />
jungen, älteren, alteingesessenen und<br />
neuen Bürgern, mit Politikern sowie Geschäftsleuten<br />
des Stadtteils. Sie wollten<br />
von ihnen etwas über das Zusammenleben<br />
der Menschen erfahren, über die Integration<br />
der vielen Nationalitäten und<br />
darüber, was sie an Preungesheim gut<br />
oder schlecht finden.<br />
berufsbedingten Wechsel nach Hannover<br />
habe sich sein Netz von Beziehungen<br />
nach Preungesheim, dem „ewigen<br />
Dorf“, als tragfähig erwiesen.<br />
„Preungesheim ist das, was Menschen<br />
daraus machen“, sagte Herr Breitkreuz<br />
im Interview. Er ist im Präventionsrat<br />
des Stadtteils tätig und hat folglich viel<br />
Kontakt mit Jugendeinrichtungen, der<br />
Kirche aber auch der Polizei. Auch wenn<br />
sein Name deutsch klingt, stammt Herr<br />
Breitkreuz wie die Khans aus einer Migrantenfamilie.<br />
Seine siedelte aus Polen<br />
über.<br />
„Wir hatten viele Glücksmomente<br />
bei dem Projekt“, sagt Kenza Khan.<br />
„Wenn wir jetzt durch die Straßen gehen,<br />
sehen wir die Geschichten hinter<br />
den Gebäuden, an den Ecken und Plätzen.“<br />
Ihr Bruder Hamad ergänzt: „Ich<br />
sehe Preungesheim als große Familie.“<br />
Hamad appellierte zum Abschluss der<br />
Veranstaltung an die Zuhörer: „Wenn<br />
euch etwas nicht gefällt, müsst ihr das<br />
ändern.“ Auch dafür erntete er nicht nur<br />
von eingefleischten Preungesheimern<br />
viel Applaus.<br />
liz<br />
(Fotos: A. Pöppel und N. Hussain)<br />
Wer das Buch lesen möchte, kann es<br />
per E-Mail kostenlos bestellen, bei:<br />
kenza.khan@stadteilbotschafter.de<br />
Im Gespräch mit Frau Lange erfuhren<br />
sie beispielsweise, dass es früher viele<br />
Felder und mehrere Bauern in Preungesheim<br />
gab, bei denen man Milch, Eier<br />
und Gemüse kaufen konnte. Und, dass<br />
Frau Lange Kaugummiflecken auf dem<br />
Bürgersteig derart stören, dass sie diese<br />
manchmal sogar selbst von der „Gass“<br />
kratzt.<br />
Der ehemalige Pfarrer Pausch erzählte,<br />
dass er beim Einzug in die Jasperstraße<br />
vor Gewalt und Asozialität gewarnt<br />
wurde. „Uns ist in all den Jahren<br />
nie etwas Schlimmes passiert, obwohl<br />
wir im Stadtteil sehr präsent waren und<br />
ich dort Offene Jugendarbeit machte“,<br />
zieht der Pfarrer Bilanz. Auch nach dem<br />
Aufmerksam: Viele Frankfurter, darunter Bürgermeister Olaf Cunitz (rechts),<br />
interessieren sich für das Projekt der Geschwister Khan
ABTLG. SELTSAME GESETZE<br />
Aus der Geschichte des europäischen Fortschritts:<br />
Zigaretten-Löschzonen<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
17<br />
Seit dem 17. November letzten<br />
Jahres hat durch EU-Beschluss<br />
jede Zigarette zwei sogenannte<br />
Löschzonen eingebaut. In einer kleinen,<br />
zehnzeiligen Zeitungsmeldung<br />
wurde Anfang Januar lobend darüber<br />
berichtet. (Wir nennen das Blatt lieber<br />
nicht: Der Verfasser hat kaum länger als<br />
30 Sekunden über das nachgedacht,<br />
was er da lobt.)<br />
Zunächst fragt man sich ja, warum<br />
wird so eine Bestimmung eingeführt?<br />
Falls der Zeitungsschreiber ein offizielles<br />
Argument wiedergibt, dann weil<br />
„die Zigarette, die endlos qualmend im<br />
Aschenbecher liegen konnte, stinkend,<br />
bis der Filter ankokelte“ nun der Vergangenheit<br />
angehört.<br />
Gut und schön, aber da fallen einem<br />
doch noch Fragen ein. Zum Beispiel:<br />
Wo gibt es denn heute überhaupt<br />
noch Aschenbecher, in denen qualmende<br />
Zigaretten Unbeteiligte stören könnten?<br />
In Wirtschaften und Restaurants,<br />
Büros und Behörden, Bahnen und Flugzeugen,<br />
Taxis und Mietwagen ist das<br />
Rauchen ja sowieso verboten. Dort kann<br />
diese Neuerung also keinen Vorteil bringen.<br />
Und Leute, die bei sich zu Hause<br />
rauchen?<br />
Diese sind jetzt gezwungen, entweder<br />
an ihren Zigaretten hektischer und häufiger<br />
zu ziehen, damit sie nicht mittendrin<br />
von alleine ausgehen - oder, wenn<br />
sie langsam rauchen, sie mehrmals erneut<br />
anzuzünden. Dazu ist jedes Mal ein<br />
wenig vom Rohstoff Holz, bei Streichhölzern,<br />
oder vom Rohstoff Gas, bei Feuerzeugen,<br />
zu verschwenden.<br />
Schneller zu rauchen dürfte kaum<br />
gesünder sein als gelegentlich mal eine<br />
halbe Kippe verqualmen zu lassen; und<br />
die zwei- bis dreifache Menge Gas zu verwenden,<br />
um die mehrmals erlöschende<br />
Kippe wieder anzustecken, wird auch<br />
kaum jemand als besonders umweltfreundlich<br />
einstufen.<br />
Dabei gibt es ein viel einfacheres und<br />
natürlicheres Mittel, Zigaretten zum gelegentlichen<br />
Ausgehen zu bringen, wenn<br />
eine Weile nicht daran gezogen wird,<br />
falls man das von Seiten der EU unbedingt<br />
so haben will: Die Älteren unter<br />
uns erinnern sich vielleicht noch an frühere<br />
Ausflüge nach Frankreich, wo man<br />
nicht selten Menschen mit nicht qualmenden<br />
Zigarettenkippen, halb- oder<br />
dreiviertelgerauchten, im Mundwinkel<br />
sehen konnten. Manche der älteren<br />
Franzosen schienen ihr ganzes Leben<br />
lang eine erloschene Zigarettenkippe im<br />
Mundwinkel zu haben und sie nur gelegentlich<br />
für zwei, drei Züge wieder anzuzünden.<br />
Das funktionierte vor allem mit<br />
den altmodischen, früher sehr starken<br />
Zigarettenmarken wie Boyards, Parisiennes,<br />
Gitanes und Gauloises sehr gut.<br />
Wieso? Enthielten diese auch schon<br />
Löschzonen? Keineswegs, sie enthielten<br />
aber noch keine künstlichen, chemischen<br />
Brandverstärker, wie sie sonst nur<br />
von<br />
Brandstiftern geschätzt werden und<br />
die zusammen mit anderen, zweifelhaften<br />
Zusätzen, ausgehend von Amerika,<br />
während der letzten Jahrzehnte die ganze<br />
<strong>Welt</strong> des Rauchens eroberten.<br />
Die erwähnten französischen Zigaretten<br />
gingen bei Nichtgebrauch einfach<br />
deswegen nach einer Weile von selbst<br />
aus, weil sie nichts als Tabak enthielten.<br />
Früher stand auf manchen Zigarettenpäckchen<br />
der geradezu stolze Hinweis<br />
auf den Inhalt des Produkts: Tabak, Papier.<br />
Nichts weiter.<br />
Noch heute, im Jahre 1212, steht auf<br />
den französischen Gauloises-Päckchen:<br />
„Tabac: 94,0 %, Papier ä cigarette: 6<br />
%. Agents de saveur et de texture: 0,0<br />
%“ Die Anteile von Tabak und Papier<br />
sind wohl verständlich. Wovon es 0,0<br />
% gibt, ist schwer zu übersetzen, grob<br />
oder wörtlich gesagt so etwas wie: Wirkstoffe<br />
rettender oder struktureller Art?<br />
Jedenfalls enthalten diese Zigaretten<br />
wie angegeben nichts Als Tabak und Papier.<br />
Keine Brandverlängerer und keine<br />
Brandunterbrecher.<br />
Auch Zigarren, die aus >100 % Tabak<<br />
bestehen, gehen nach einer Weile<br />
sich selbst überlassener, qualmender<br />
Vernachlässigung von selbst aus. Dieses<br />
Weiterquahnen findet allerdings bei<br />
noblen Produkten aus Kuba für ein paar<br />
Minuten ebenso statt wie bei den neuen<br />
Zigaretten mit Löschzonen.<br />
Aber, so mag man sich weiterfragen,<br />
wäre es nicht viel einfacher gewesen,<br />
denselben Effekt zu erzielen, nämlich<br />
den, dass Zigaretten nach einer Weile<br />
von selbst ausgehen, wenn man alle Zusatzstoffe<br />
außer Tabak (und Papier) verboten<br />
hätte? Aber die Industrie...<br />
Man kann sich auch fragen, wieso Zigaretten<br />
zu den ganz wenigen Produkten<br />
gehören, jedenfalls in Deutschland,<br />
auf deren Verpackungen keine Inhaltsstoffe<br />
angegeben werden müssen. Nur<br />
Teer, Nikotin und Kohlenmonoxid werden<br />
in ,mg‘ genannt. Das sind aber die<br />
Inhalte des Rauchs der Produkte, nicht<br />
die Inhalte der Produkte selbst, die bei<br />
ihrer Herstellung neben Tabak und Papier<br />
in sie hineinpraktiziert werden. Wer<br />
weiß schon genau, was der Tabak noch<br />
alles enthält, was der Filter?<br />
Es fallen einem immer mehr Fragen<br />
bei einem so scheinbar ganz nebensächlichen<br />
Thema ein. Wer hat das eigentlich<br />
beschlossen? Wo wurde darüber je diskutiert?<br />
Welche Argumente dafür oder<br />
dagegen wurden vorgebracht und von<br />
wem bestätigt oder widerlegt?<br />
Und: Woraus bestehen diese sogenannten<br />
Löschzonen? Welche chemischen<br />
Substanzen - denn was sollte es<br />
anderes sein? - kommen zum Einsatz?<br />
Sind diese nachweislich gesünder als<br />
der Tabak selbst? Warum müssen sie so<br />
wenig wie andere Zusatzstoffe bei uns<br />
nicht auf der Packung deklariert werden?<br />
Aber ehe wir uns noch mehr wiederholen,<br />
der oben ohne Quellenangabe<br />
erwähnte Mini-Artikel schließt ahnungslos:<br />
„...und hat es uns geschadet? Nein,<br />
der Raucher nimmt es hin. Auch in<br />
Frankfurt. Danke, EU.“ (Kein Ausrufungszeichen!)<br />
Man nimmt es hin. Die EU.<br />
Wir wollen den gedankenlosen,<br />
dummen Verfasser nicht noch durch<br />
die Nennung seines Namens ehren.
18 DemograFische entwicklung<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
Die Menschen in Deutschland werden immer älter<br />
und auch aktiver<br />
Otto Rudeski 68, Margarete Schultz<br />
71, und Erwin Richards 73, sind<br />
nur drei von vielen Rentnern die<br />
noch täglich zur Arbeit gehen. Lange haben<br />
sie in die Rentenkasse eingezahlt.<br />
Und doch liegt ihre Rente nur knapp<br />
über den Sozialhilfeniveau. Weil es einfach<br />
nicht zum Leben reicht, müssen<br />
sie auch im hohen Alter noch jobben.<br />
Zurzeit sind es ca. 600 000 Menschen in<br />
Deutschland deren Rente nicht reicht.<br />
Die Armutsgrenze liegt bei derzeit 940 €.<br />
Zurzeit gibt es hier zu Lande 10 000 Hundertjährige<br />
und älter. Alle fünf Jahre verdoppelt<br />
sich das. Jedes zweite Kind, das<br />
heute auf die <strong>Welt</strong> kommt, wird einmal<br />
die Chance haben100 oder noch älter zu<br />
werden. Im Gegensatz zu denen die eine<br />
recht gute Rente bekommen, wird den<br />
weniger betuchten Menschen im Alter<br />
wenig Aufmerksam geschenkt.Wer arm<br />
ist und vielleicht auch noch krank, landet<br />
gegeben falls im Betreuten Wohnen<br />
oder einem Pflegeheim. Auch das Thema<br />
Alt und Arm wird uns in der nächsten<br />
Zeit beschäftigen.<br />
Mein Blick in ein Gemeindebrief einer<br />
Evangelischen Kirchengemeinde meines<br />
Bezirkes, brachte mich in Staunen.<br />
Unter der Rubrik „Gratulanten“ waren<br />
31 Menschen aufgelistet die im Monat<br />
September 85-93 Jahre alt wurden. Im<br />
Oktober feierten 34 Menschen zwischen<br />
85 bis 104 Jahren ihren Geburtstag. Im<br />
November wurden 28 Leute zwischen 85<br />
und 100 Jahre alt.<br />
Anfang der 50ger Jahre lag die durchschnittliche<br />
Lebenserwartung bei Frauen<br />
68,5 Jahren, bei Männern 64,5 Jahren.<br />
Anfang der 80ger wurden von 100<br />
Frauen die Hälfte achtzig, bei den Männer<br />
waren es 29 von100, die ein Alter von<br />
80 Jahren erreichten. Wir haben 2012<br />
und jeder vierte ist in Deutschland über<br />
60 Jahre alt. Die Lebensform älterer<br />
Menschen hat sich in den letzten Jahren<br />
stark verändert.Da sich die Gruppe älterer<br />
Menschen in unserer Gesellschaft<br />
immer mehr vergrößert, haben etliche<br />
Brachen, wie zum Beispiel Reiseveranstalter,<br />
für die die es sich leisten können,<br />
darauf reagiert. In den Universitäten<br />
konzentriert man sich auf die „aktiven<br />
Alten“, die spezielle Studienfächer belegen.<br />
Ein großer Anteil alter Menschen<br />
leben selbständig<br />
in eigenen<br />
Wohnungen. Die<br />
meisten sind fit<br />
und und in der<br />
Lage ein selbständiges<br />
Leben<br />
zu führen, die<br />
auch ihren Lebensabend<br />
aktiv<br />
gestalten können.<br />
Auch in Ehrenamt<br />
engagieren<br />
sich immer<br />
mehr Rentner.<br />
Als ich im Frühjahr<br />
auf der Berliner<br />
Ehrenamts<br />
Börse im Roten<br />
Rathaus war, geriet ich ins staunen über<br />
die zahlreichen Rentner die diese Messe<br />
besuchten. Eine ältere Dame erzählte<br />
mir, die Kinder wären längst erwachen,<br />
die Enkel aus dem größten raus. Jetzt<br />
ergreift sie die Initiative, um sich bei einen<br />
großen Träger nützlich zu machen.<br />
Bewerben wolle sie sich um eine Stelle,<br />
wo sie Kindern bei den Schularbeiten<br />
hilft, wo Eltern aus beruflichen Gründen<br />
nicht so die Zeit hätten. Und zugleich<br />
wäre sie auch ein bisschen Ersatz Oma.<br />
Ich traute mich nicht zu fragen wie alt sie<br />
ist, aber in unseren Gespräch erwähnte<br />
sie, sie sei 72.<br />
In der sich immer schnelleren entwickelnden<br />
Zeit, möchten auch immer mehr<br />
ältere Menschen Schritt halten. Ein Handy<br />
besitzt heute fast jeder Rentner. Aber auch<br />
in den Internet Shops trifft man häufig auf<br />
ältere Menschen. Eine Nachbarin erzählte,<br />
sie ginge häufig in das Nachbarschaftshaus<br />
was sich nahe unserer Siedlung<br />
befindet. Am Montag wäre sie im Chor,<br />
am Dienstag sei Walzer tanzen angesagt,<br />
wo sie immer auf nette Leute treffe. Mittwochs<br />
wäre Gymnastik. Donnerstags treffe<br />
sich die Zeichengruppe und am Freitag<br />
sei sie mit der Wandergruppe unterwegs.<br />
Am Wochenende müsse sie ihren Haushalt<br />
machen und täglich zwischen 8:00<br />
und 10:00 Uhr helfe sie einer älteren Nachbarin<br />
(92) bei der Morgenwäsche. Jetzt ist<br />
sie 74 und manchmal sehe ich sie, wie sie<br />
mit dem Fahrrad zum einkaufen fährt.<br />
In den Medien wird auch immer wieder<br />
diskutiert, wann ein Mensch seinen Führerschein<br />
abgeben sollte. Schon lange<br />
beobachte ich eine ältere Nachbarin die<br />
auch schon auf die achtzig zu geht, wie<br />
lange sie mit ihrer Gehstock vom Haus<br />
bis zu ihren Auto kommt. Und wenn sie<br />
ihr Auto wieder am Strassenrand parkt,<br />
bleibt sie eine Weile noch im Wagen sitzen,<br />
da Auto fahren in diesen Alter anstrengend<br />
ist. Ihre Tochter sagte einmal<br />
„Auto fahren bedeutet auch für einen<br />
Menschen, der aus Altersgründen nicht<br />
mehr so gut zu Fuß ist, ein Stück Freiheit“.<br />
Vor Jahren war die Lebensmitte 35<br />
Jahre. In früheren Zeiten stellte man<br />
sich mit fünfundsechzig Jahren auf den<br />
wohlverdienten Ruhestand ein. Das hat<br />
sich ohnehin geändert, da viele länger<br />
im Berufsleben bleiben werden. Die Altersrente<br />
beginnt nun erst mit 67 Jahren.<br />
Halte ich mir vor Augen, jemand ist<br />
45 und lebt die Zeit, die er schon gelebt<br />
hat noch einmal, ist das doch eine ziemlich<br />
lange Zeit. Ich bin zu der Erkenntnis<br />
gekommen, das die steigende Lebenserwartung<br />
auch eine Chance darstellt. Es<br />
kommt also nur darauf an, was wir mit<br />
der Zeit anfangen, die wir dazu gewonnen<br />
habe<br />
(Namen sind frei erfunden)<br />
Maria<br />
(Foto: DGB-Senioren)
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
FILM I<br />
19<br />
I, Anna<br />
Seit ihr Mann sie verlassen hat, lebt Anna Welles (Charlotte Rampling) in einem kleinen Apartment mitten in London. Sie<br />
ist nicht mehr jung, aber immer noch attraktiv. Ihre Tochter Emmy (Hayley Atwell) drängt sie, ihr Single Dasein zu beenden,<br />
einmal auszugehen und einen neuen Anfang zu wagen. Bei den Single – Treffen, die sie hin und wieder besucht,<br />
lernt sie gelegentlich einen Mann kennen. Ihre Wahl fällt auf den attraktiven George (Ralph Brown) und begleitet ihn nach<br />
Hause. Am nächsten Tag ist er tot. Noch am frühen Morgen verlässt sie das Hochhaus. Da begegnet sie den Kriminalkommissar<br />
Bernie Reid (Gabriel Byrne), der gerade zu einer Aufklärung eines Mordfalls gerufen wurde. Während der Ermittlung geht<br />
ihn die unbekannte Schöne nicht mehr aus den Kopf. Er macht sie ausfindig und beschattet sie. Er bittet sie zu einem Date.<br />
Doch irgend etwas scheint Anna zu verbergen. Inspektor Reid hat nun einen Verdacht, dass Georges Sohn ihn aufgrund von<br />
Geldmangel und zunehmenden Drogenproblemen ermordet hat. Denn gleich nach der Bekanntgabe des Mordes an seinen<br />
Vater ist er mit seiner Mutter geflüchtet. Bald weisen Indizien darauf hin, dass auch Anna etwas mit der Ermordung Georges<br />
zu tun haben könnte, doch zu sehr fühlt sich Bernie zu ihr hingezogen. Es wird immer deutlicher, dass sie ein tiefes Geheimnis<br />
in sich trägt.<br />
Charlotte Rampling übernahm neben Gabriel Byrne die Hauptrolle im Regiedebüt ihres Sohnes Barnaby Southcombe. Sein<br />
Drehbuch bezieht sich auf Elsa Lewins Roman „I, Anna“ und erinnert an den Film noir der -siebzigerjahre. Den Film fand ich<br />
sehr spannend. Wie auch schon in vielen anderen Filmen brillierte auch in diesen Film Charlotte Rampling mit ihren Charme<br />
und Können. Der Film bietet den Zuschauern viel Abwechslung. Die einzelnen Schicksale der Protagonisten wurden geschickt<br />
miteinander verwoben.<br />
Der Film lief bei den 62. Filmfestspielen in Berlin in der Sektion „Berlinale Spezial“ und lief am 22.11.2012 in den Kinos an.<br />
Buch und Regie: Barnaby Southcombe<br />
Nach dem gleichnamigen Roman von<br />
Elsa Lewin<br />
Darsteller:<br />
Charlotte Rampling<br />
Gabriel Byrne<br />
Hayley Atwell<br />
Eddie Marsan<br />
Ralf Brown u.a.<br />
Genre: Psychodrama<br />
Länge: 93 Min.<br />
Großbritanien, Deutschland,<br />
Frankreich 2011<br />
Maria
20 FILM II<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
Die Wand<br />
Das Buch „Die Wand“ hatte ich vor Jahren mit Spannung gelesen. 2011 wurde der Roman von Marlen Haushofer verfilmt,<br />
und bei den diesjährigen Filmfestspielen in Berlin in der Sektion Panorama gezeigt. Der Film spielt in Österreich. Ein<br />
Ehepaar unternimmt gemeinsam mit einer Frau einen Ausflug in den Bergen. Am Abend geht man gemeinsam in ein<br />
Wirtshaus ins Tal. Als das Ehepaar das Wirtshaus verlässt und nicht wieder zurück kehrt, macht sich die Frau mit den Hund<br />
auf die Suche. Der Hund rennt durch das Dickicht und kommt mit einer blutigen Schnauze zurück. Da entdeckt die Frau etwas<br />
Unvorstellbares. Eine unsichtbare Wand, hinter der es kein Leben mehr zu geben scheint, und die sie von der Außenwelt<br />
trennt. Völlig allein muss sie nun mit den Hund, einer Katze und einer Kuh versuchen im Wald zu überleben. Ihre Gedanken<br />
und Sorgen hält sie in Aufzeichnungen fest, die vielleicht nie jemand lesen wird. Die zu unfreiwillig gewordenen „Inselbewohnerin“<br />
geht sorgfältig mit den noch vorhandenen Lebensmitteln, die sie in der Hütte findet, um. Sie legt einen Garten an,<br />
pflückt Beeren im Wald. Den Hund nennt sie „Luchs“, das Katzenjunge, das völlig abgemagert vor der Hütte auftauchte „Perle“.<br />
Die Kuh, die sich ebenfalls im Wald verirrt hatte bekommt den Namen „Bella“. Sie bestellt einen Acker und pflanzt Kartoffeln.<br />
An einen Tag macht sie sich auf den Weg ins Tal und stößt wieder an die Wand. In der Ferne, auf der anderen Seite der Wand,<br />
sieht sie einen Mann der aus einen Brunnen Wasser schöpft, aber er bewegt sich nicht und wirkt wie versteinert. Auch Waldtiere<br />
entdeckt sie, die ihr wie aus einen Wachsfiguren Kabinett vorkommen. Lange kann sie nicht unterwegs sein, denn die<br />
Kuh muss gemolken werden. Während sie den Heimweg antritt, denkt sie an ihr früheres Leben. „Ich hatte wenig erreicht, vor<br />
allem, was ich gewollt hatte, und alles, was ich erreicht hatte, hatte ich nicht mehr gewollt“. Bella muss trächtig gewesen sein<br />
und bringt einen Stier zur <strong>Welt</strong>. Die Frau hat täglich viel zu tun. Mit einen Gewehr geht sie auf die Jagt, stellt aus der Milch<br />
Butter her, baut für die Kuh und den Stier einen Stall, sammelt Beeren und besorgt Feuerholz.<br />
„Die Wand ist so sehr ein Teil meines Lebens geworden, das ich wochenlang nicht an sie denke. Wenn es dort draußen noch<br />
Menschen gäbe, hätten sie längst das Gebiet mit Flugzeugen überflogen. Ich habe gesehen, das auch niedrig hängende<br />
Wolken die Grenze überfliegen können. Wo bleiben die Erkundungsflugzeuge der Sieger? Gibt es keine Sieger? Schreibt sie in<br />
ihre Aufzeichnungen. Als sie eines Tages von einen Ausflug zurück kommt, bellt Luchs kräftig und springt aufgeregt hin und<br />
her. Da kommt ihr ein Mann entgegen mit einer Axt in der Hand. Voller Entsetzen sieht sie, dass er den Stier erschlagen hat<br />
und auch den Hund tötet er. Sie rennt ins Haus und holt das Gewehr und tötet den Mann. Die Leiche wirft sie einen Abhang<br />
hinunter, den Hund begräbt sie. Den Stier lässt sie liegen. Er ist zu schwer für sie. Mit Bella und der Katze verlässt sie die Alm<br />
und macht sich auf den Weg. „Von allen Seiten kriecht die Angst auf mich zu, und ich will nicht warten, bis sie mich erreicht<br />
und mich überwältigt“, schreibt sie auf ein Stück vergilbtes Papier.<br />
„Die Wand“ ist ein Roman von der Österreicherin Schriftstellerin Marlen Haushofer aus dem Jahre 1963. Die Rolle der Frau im<br />
Film übernahm Martina Gedeck.<br />
Die Geschichte wirkt am Anfang beklemmend. Doch im Grunde hält die Wand diese Frau am Leben. Die Protagonistin arrangiert<br />
sich mit dem was sie hat, schafft sich einen Raum. Es scheint, das sie ihren geschützten Raum gar nicht mehr verlassen<br />
möchte.<br />
„Die Wand als Grenze löst wiederum andere Grenzen auf. Sie verkehrt die Dinge. Die festgesetzten Wände, die im Menschen<br />
selbst existieren, verschwinden. Sie nimmt die Wand irgendwann nicht mehr wirklich wahr, Deswegen beachtet sie die eigentliche<br />
Wand irgendwann gar nicht mehr“. sagt Martina Gedeck in einen Interview. Kinostart ist am 11. Oktober 2012.<br />
Regie: Julian Roman Pölsler<br />
Darsteller: Martina Gedeck, Karlheinz Hackl, Hans Michael Rehberg, Julia Gschnitzer u.a.<br />
Österreich/Deutschland 108 Min.<br />
Maria (Foto: ÖBv)
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
LITERATUR 21<br />
Die Sonne der Sterbenden<br />
von Jean-Claude Izzo<br />
Obdachlos? Wenigstens das kann mir nicht passieren!<br />
So hatte Rico sicher auch gedacht, bevor wenige Fehlentscheidungen, Alkohol und<br />
Pech ihn aus seinem Leben als Familienvater, Angestellten und respektablen Bürger<br />
hinauskatapultierten. Und scheinbar plötzlich findet er sich im winterlichen Paris<br />
auf der Straße, in Metrostationen und Bushaltestellen wieder, sein Leben reduziert<br />
auf die Abwehr von Kälte, die Suche nach einem Schlafplatz, nach Alkohol, Gemeinschaft<br />
und vielleicht etwas zu Essen.<br />
In der Hoffnung nach Glück und Wärme macht sich Rico auf die Reise nach Marseille.<br />
Es ist eine Reise, die mit Komplikationen verbunden ist, die der Normalbürger nicht<br />
erlebt. Eine Reise mit Zwischenstationen, neuen Bekanntschaften und Gewalt. Fast<br />
beiläufig, aber sehr überzeugend wird erzählt, wie äußerer Mangel menschliche Beziehungen<br />
immer weiter verarmen läßt, bis schließlich nur noch das Teilen einer<br />
Unterkunft, der letzten Zigarette, oder alter Geschichten übrig bleibt.<br />
Schließlich an seinem Ziel angekommen, befreundet sich Rico mit dem Streuner<br />
Abdou. Er teilt mit ihm seinen geheimen Schlafplatz und seine Erfahrungen und<br />
wird für den Jungen eine Art von Vaterersatz. Als dann noch sein Pariser Kumpel<br />
Dede auftaucht, scheint er sein Glück gefunden zu haben.<br />
Eines Tages schleppt sich Rico in seinem schwer vernachlässigten und misshandelten<br />
Körper zu seinem Lieblingsaussichtspunkt am Meer ..<br />
Izzo erzählt die Geschichte(n) ohne Pathos, ohne offensichtliche Sozialkritik, ohne<br />
Mitleidsbekundungen, humorvoll, eindringlich, spannend und sehr glaubhaft.<br />
Das Buch ist sowohl für den Gelegenheitsleser als auch für tiefgründige Gemüter<br />
empfehlenswert.<br />
Jean-Claude Izzo, Die Sonne der Sterbenden (Le Soleil des mourants). Unionsverlag<br />
Zürich, ISBN 9783293205567. Taschenbuch. 9,95 EUR.<br />
JL (Text + Scan)<br />
Wir bedanken uns bei Unionsverlag Zürich<br />
für die freundliche Zusendung eines<br />
Rezensionsexemplares.<br />
Red. <strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>
22 HISTORISCHE PERSÖNLICHKEIT<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
Jeder kennt den „Struwwelpeter“,<br />
eines der bekanntesten Kinderbücher<br />
der <strong>Welt</strong> und zugleich eines der ersten<br />
überhaupt. „Das Dschungelbuch“<br />
und „Alice in Wunderland“ ebenso<br />
wie ,“Huckleberry Finn“ und „Max<br />
und Moritz“ entstanden erst später.<br />
Das Buch ist also berühmt, aber<br />
wer kennt den Verfasser? Heinrich<br />
Hoffmann wurde 1809 in der Fressgass‘<br />
in Frankfurt geboren und starb<br />
auch in seiner Heimatstadt 1894. Von<br />
Beruf war er nicht etwa Schriftsteller,<br />
sondern Arzt, und zwar ein durchaus<br />
ungewöhnlicher.<br />
Sein Leben begann ganz normal:<br />
Gymnasium, Medizinstudium in Heidelberg<br />
und Halle, Doktor, Studienaufenthalt<br />
in Paris an dortigen Hospitälern,<br />
Rückkehr nach Frankfurt, Arzt<br />
am Leichenschauhaus und praktischer<br />
Arzt und Geburtshelfer in Sachsenhausen.<br />
Es wird ihm von der Wiege<br />
bis zur Bahre wohl nichts Menschliches<br />
fremd gewesen sein. Schließlich<br />
Heirat mit der Frankfurterin Therese<br />
Donner, drei Kinder -und Arzt an der<br />
Armenklinik in der Meisengasse, einer<br />
Institution, wo arme Kranke aus<br />
Frankfurt und Umgebung kostenlos<br />
behandelt wurden.<br />
Wohltäter der Wahnsinnigen<br />
Das Hauptanliegen seines beruflichen<br />
Lebens war aber die Schaffung<br />
der ersten modernen Klinik für Geisteskranke.<br />
Nachdem er 1851 Ärztlicher<br />
Leiter der „Anstalt für Irre und<br />
Heinrich Hoffmann<br />
Der Schöpfer des „Struwwelpeter“<br />
Epileptische“ in Frankfurt geworden<br />
war, kämpfte er jahrelang für die Änderung<br />
der dortigen Zustände, wo<br />
Geisteskranke wie Verbrecher, ja fast<br />
wie wilde Tiere weggesperrt wurden.<br />
Im Jahre 1864 kann er am damaligen<br />
Rande Frankfurts, auf dem sogenannten<br />
Affenstein, wo heute das<br />
vormalige IG-Farben-Haus steht, einst<br />
amerikanisches Hauptquartier, jetzt<br />
Universität, den Neubau einer Nervenklinik<br />
eröffnen. Hier wurden die<br />
Kranken wie Menschen behandelt, damals<br />
etwas ganz Neues auf der <strong>Welt</strong>.<br />
Vor allem war Hoffmann auch an<br />
kranken Kindern interessiert, deren<br />
Probleme vorher prinzipiell von<br />
Ärzten ignoriert worden waren. Zu<br />
seinem 50jährigen Doktor- Jubiläum<br />
1883 wurde das Gedicht rezitiert:#<br />
„Bei Kindern und bei Narren nur<br />
Ist von Verstellung keine Spur.<br />
Drum schloß er beide in sein Herz<br />
Und linderte gar manchen Schmerz.“<br />
Der Kinderfreund<br />
Der „Struwwelpeter“ entstand 1844<br />
als Weihnachtsgeschenk für seinen<br />
dreijährigen Sohn und wurde schon<br />
1845 zum ersten Mal gedruckt. Im<br />
Jahre 1856 erschien bereits die 100.<br />
Auflage, ein Popularitätserfolg, den<br />
im 19. Jahrhundert kaum ein anderes<br />
Buch hatte. Schon damals waren<br />
Übersetzungen in mindestens neun<br />
Sprachen des illustrierten Kinderbuches<br />
erschienen, sogar in Brasilien.<br />
Die Entstehungsgeschichte des Kinderbuches<br />
ist folgende: Dr. Hoffmann<br />
wollte seinem kleinen Sohn zu Weihnachten<br />
ein Bilderbuch schenken,<br />
aber was angeboten wurde, gefiel ihm<br />
nicht. Als er aus den Buchhandlungen<br />
zurückkam, so berichtet er selbst: „Als<br />
ich heimkam, hatte ich doch ein Buch<br />
mitgebracht, ich überreichte es meiner<br />
Frau mit den Worten: „Hier ist das<br />
gewünschte Buch für den Jungen!“.<br />
Sie nahm es und rief verwundert:<br />
„Das ist ja ein Schreibheft mit leeren<br />
weißen Blättern!“ „Nun ja, dann wollen<br />
wir ein Buch daraus machen!“.<br />
Irrenanstalt am Affenstein<br />
Schon vor und auch nach diesem<br />
berühmten Buch hat Hoffmann auch<br />
manche andere veröffentlicht, neben<br />
wissenschaftlich-medizinischen vor<br />
allem lustige Kleinigkeiten, Gedichte,<br />
Lieder, Satiren, kleine Komödien, die<br />
alle neben dem Struwwelpeter heute
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
HISTORISCHE PERSÖNLICHKEIT 23<br />
ziemlich vergessen sind. (Es gab einmal<br />
eine schöne mehrbändige Ausgabe<br />
seiner gesammelten Schriften<br />
beim Frankfurter Insel Verlag, die in<br />
den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts<br />
erschien.)<br />
Hoffmann war vielleicht das, was<br />
man heute einen Vereinsmeier nennen<br />
würde, der gern eigene Verse auf<br />
Banketten der honorablen Bürger der<br />
Stadt vortrug und mit ihnen Lieder<br />
sang. Aber dabei verfolge er immer<br />
sein Hauptziel, die Lage der geistig<br />
Kranken zu verbessern, was ohne<br />
Unterstützung des Frankfurter Bürgertums<br />
nicht möglich war.Die Stadt<br />
Frankfurt war Mitte des 19. Jahrhunderts<br />
ja noch eine freie Republik und<br />
keinem Fürsten oder König Untertan.<br />
Ohne breite Unterstützung der Bürger<br />
ließ sich nichts durchsetzen.<br />
Nussknacker und Paulskirche<br />
Dass der Nussknacker als deutsche<br />
Weihnachtsfigur auf<br />
den Frankfurter Hoffmann<br />
zurückgeht und<br />
nicht auf den anderen,<br />
berühmteren Hoffmann,<br />
den romantischen<br />
E. T. A.-Gespenster-Hoffmann<br />
und sein<br />
Märchen „Nußknacker<br />
und Mausekönig“ ist<br />
nur wenig bekannt.<br />
Anlass der Holzfiguren<br />
war die Erzählung des<br />
Frankfurters mit dem<br />
Titel „König Nussknacker<br />
und der arme<br />
Reinhold“. Um das<br />
Jahr 1870 wurden die<br />
ersten Nussknacker als<br />
Weihnachtsfiguren im<br />
Erzgebirge hergestellt.<br />
Politisch gesehen<br />
war Hoffmann ein sogenannter<br />
Liberaler,<br />
was für die Konservativen<br />
der Zeit fast so<br />
etwas wie ein Revoluzzer<br />
war. Tatsächlich<br />
beherbergte er in<br />
seinem Haus den später<br />
berüchtigten badischen<br />
Revolutionär Friedrich Hecker.<br />
Aber tatsächlich war Hoffmann immer<br />
ein Bürgerlicher, gehörte er 1848<br />
der Versammlung in der Paulskirche<br />
an, welche die erste deutsche Nationalversammlung<br />
vorbereitete. Später<br />
aber befürwortete er eine preußische<br />
Monarchie und auch, dass 1866 die<br />
Preußen die seit Jahrhunderten republikanisch<br />
und selbstständig regierte<br />
Freie Reichsstadt besetzten.<br />
Damit war er mit vielen anderen<br />
Frankfurtern nicht einer Meinung, sicherlich<br />
auch nicht mit dem anderen<br />
berühmten Frankfurter Dichter der<br />
Zeit, Friedrich Stoltze oder zum Beispiel<br />
mit Carl Fellner:<br />
Der letzte „Ältere Bürgermeister“ der<br />
Stadt, war von dem Verlust der Frankfurter<br />
Freiheit und von dem unverschämten<br />
Verhalten der Preußen (Sie wollten von<br />
ihm eine Liste aller Frankfurter mit öffentlichen<br />
Ämtern samt ihren Adressen.) und<br />
der fehlenden Unterstützung der Frankfurter<br />
Bürger so deprimiert, dass er sich<br />
Heber das Leben nahm und sich erhängte.<br />
Der Todesbaum wurde 1977 wegen<br />
Altersschwäche umgehauen. (Manche<br />
bezweifeln allerdings, dass das wirklich<br />
der fragliche Baum war, denn es war eine<br />
Kastanie, und die werden üblicherweise<br />
nicht über 80 oder 90 Jahre alt.)<br />
Nun, Dr. Hoffmann machte das<br />
Preußischwerden seiner Vaterstadt<br />
nichts aus, er lebte noch ein gutes<br />
Vierteljahrhundert, kümmerte sich<br />
vor allem um >seine< Klinik, die zunehmend<br />
anderswo in Europa als Vorbild<br />
betrachtet wurde, und starb am<br />
20. 9.1894.<br />
Es gibt in Frankfurt das „Struwwelpetermuseum“<br />
in der Schubertstraße 20<br />
im Westend, welches auch für Kinder<br />
sehr interessant ist. Museumsträger ist<br />
- sicher ganz im Sinne des Arztes und<br />
Dichters - ein Sozialwerk für psychisch<br />
erkrankte Menschen, die „frankfurter<br />
Werkgemeinschaft e. V.“. Das Museum ist<br />
also eine überzeugende Vereinigung von<br />
kultureller Historie und aktuellem sozialen<br />
Engagement.<br />
MF<br />
(Alle Fotos und Grafiken: wikimedia /commons)
24 VEREINSNACHRICHTEN / IMPRESSUM<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
Abschied von Silvia Schöpf<br />
Alle Mitarbeiter, Freunde und Verkäufer des Vereins trauern um ihre<br />
Mitarbeiterin und Kollegin Silvia Schöpf, die, plötzlich und unerwartet,<br />
während Ihres ehrenamtlichen Dienstes im Büro zusammenbrach. Ein<br />
Rettungswagen brachte Sie zur Uniklinik, dort verstarb Silvia.<br />
Silvia Schöpf<br />
23.5.1957 - 16.10.2012<br />
Seit einigen Jahren war Silvia die Frau, die unser Büro organisierte, die<br />
Ansprechpartnerin für die vielen, oftmals auch hilflosen Besucher. Sie hielt<br />
den Kontakt zu unseren Partnern in Frankfurt. Silvia scheute auch nicht die<br />
harte Arbeit beim Straßenverkauf.<br />
Sie war die Seele des Vereins - <strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> - sie fehlt uns!<br />
Sie war beliebt bei den Kollegen, bei den Verkäufern wegen ihrer freundlichen<br />
und verträglichen Haltung. Sie gab Tipps für die armen und obdachlosen<br />
Menschen, sie half den sehr bedrängten Menschen aus den Ländern rund um<br />
Deutschland.<br />
Ihre geradlinige Mitarbeit bei den Besprechungen unserer Redaktion, den<br />
Verkäufertreffen und bei den Gesprächen mit Partnern zeichnete sie aus.<br />
Wir konnten noch Blumen auf Ihr Grab legen, zum Abschied musizieren,<br />
trommeln und singen. Sie hätte ihre Freude daran gehabt.<br />
Mi., 30.1.2013<br />
Mi., 27.2.2013<br />
Mi., 27.3.2013<br />
Wir werden Silvia in bester Erinnerung behalten<br />
Die nächsten Termine<br />
18:00 Uhr Vorstandssitzung, 19:00 Redaktion<br />
18:00 Uhr Vorstandssitzung, 19:00 Redaktion<br />
18:00 Uhr Vorstandssitzung, 19:00 Redaktion<br />
LESERBRIEF<br />
Hier noch ein Gedanke zur Buchbesprechung „Bürger oder Bettler“ aus SW68<br />
Hört mal wer da spricht!<br />
In christlichen Kirchen wird gerne das Gleichnis vom barmherzigen Samariter beschrieben.<br />
Es gibt dort 3 Hauptakteure den Armen/Hilfsbedürftigen (unter die Räuber gefallener<br />
Reisenden), den Helfer (zufällig vorüber kommender Samariter, der großherzig<br />
rettet) und den Wirt, er nimmt den Armen auf, versorgt ihn, pflegt ihn gesund, weil<br />
er dafür bezahlt wird.<br />
Gerne verstehen sich die Akteure von Diakonie, Caritas, Hilfsorganisationen, usw.<br />
als barmherzige Samariter und stellen sich in der Öffentlichkeit auch so dar.<br />
Das Buch wurde von Personen geschrieben die in der Position des Wirtes sind, denn<br />
sie werden für ihre Fürsorge bezahlt.<br />
Barbara Härtel, Oberkalbach (Rhön)<br />
I M P R E S S U M<br />
Frankfurter Armutsaktie e. V.<br />
Lahnstr. 37<br />
60326 Frankfurt am Main<br />
Tel.: 0<strong>69</strong>-373 00 568<br />
Fax.: 0<strong>69</strong>-254 97 248<br />
E-Mail: sozialeweltffm@yahoo.de<br />
Internet: www.soziale-welt-ffm.de<br />
Redaktion:<br />
Martin Fischer, Yevheniya Genova,<br />
Johannes Krämer, John Leitner,<br />
Manuela Lietzow^(Maria),<br />
Gerhard Pfeifer, Stefanie Schütten,<br />
Reinhold Urbas (v.i.S.d.P.)<br />
Cartoons:<br />
Janne Karlsson, Linkoping, Schweden<br />
Layout und Satz:<br />
Hans-Jürgen Schöpf<br />
Bürozeit:<br />
Mo - Do 9 - 13 Uhr, Fr 9 - 12.00 Uhr<br />
Zeitungsverkauf:<br />
Mo., Mi., Fr. 9.00 - 12.00 Uhr<br />
und nach telefonischer Vereinbarung!<br />
Auflage: 5.000<br />
Druck:<br />
Henrich Druck + Medien<br />
Schwanheimer Straße 110<br />
60528 Frankfurt am Main
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
WICHTIGE ADRESSEN UND ANLAUFSTELLEN 25<br />
Ärztliche Versorgung:<br />
Sozialberatung:<br />
Malteser Migranten Medizin Frankfurt<br />
Am Bürgerhospital<br />
Nibelungenallee 37-41<br />
60318 Frankfurt/M.<br />
Telefon: (0<strong>69</strong>) 94210563<br />
Telefax: (0<strong>69</strong>) 94210522<br />
E-Mail: info@malteser-frankfurt.de<br />
Ärztlicher Leiter: Matthias Plieninger<br />
Öffnungszeiten: Jeden Dienstag von 14 bis 18 Uhr<br />
Die Elisabeth - Straßenambulanz des Caritasverbandes<br />
Frankfurt bietet kranken wohnungslosen Menschen kostenlose<br />
Hilfe. Hier erhalten Sie medizinische, zahnmedizinische<br />
und pflegerische Behandlung.<br />
Elisabeth - Straßenambulanz Caritasverband Frankfurt e.V.<br />
Klingerstraße 8<br />
60313 Frankfurt am Main<br />
Telefon: +49 (0)<strong>69</strong> 297208740<br />
Telefax: +49 (0)<strong>69</strong> 297208759<br />
E-Mail: elisabeth-strassenambulanz@caritas-frankfurt.de<br />
Öffnungszeiten:<br />
Mo - Mi + Fr 09:00 - 14:00 Uhr<br />
Do 09:00 - 13:30 Uhr<br />
Frauensprechstunde:<br />
Mo 14:30 - 16:00 Uhr<br />
Medizinisch-pflegerische Ambulanz<br />
LAZARUS Wohnsitzlosenhilfe e.V.<br />
Affentorplatz 2<br />
60594 Frankfurt<br />
Telefon: 0<strong>69</strong>)61991590<br />
E-mail: ambulanz@lazarus-frankfurt.de<br />
Sprechzeiten:<br />
Montag - Donnerstag 8 bis 14 Uhr<br />
Freitag 8 bis 13 Uhr<br />
http://www.lazarus-frankfurt.de<br />
Amt für Gesundheit<br />
Internationale Humanitäre Sprechstunden<br />
Breite Gasse 28<br />
60313 Frankfurt am Main<br />
Telefon: 0<strong>69</strong> 212-45241<br />
Fax: 0<strong>69</strong> 212-39265<br />
Offene Sprechzeiten:<br />
Montag und Donnerstag 8.00–12.00 Uhr<br />
Mittwoch ab 14.00 Uhr (nur in rumänischer Sprache)<br />
internationale.sprechstunden@stadt-frankfurt.de<br />
Die Brücke<br />
Günthersburgallee 31<br />
60316 Frankfurt am Main<br />
Telefon: +49 (0)<strong>69</strong> 4990129<br />
Evangelisches Zentrum für Beratung und Therapie<br />
am Weißen Stein<br />
Evangelischer Regionalverband Frankfurt am Main<br />
Eschersheimer Landstraße 567<br />
60431 Frankfurt am Main<br />
Telefon: +49 (0)<strong>69</strong> 5302-220<br />
Raphaels-Werk - Dienst am Menschen unterwegs e.V.<br />
Caritasverband Frankfurt e.V.<br />
Vilbeler Straße 36<br />
60313 Frankfurt am Main<br />
Telefon: +49 (0)<strong>69</strong> 91306550<br />
Schuldnerberatung:<br />
SOS Alltag e.V. - Schuldner- und Insolvenzberatung<br />
Schwarzburgstraße 10<br />
60318 Frankfurt am Main<br />
Telefon: +49 (0)<strong>69</strong> 441553<br />
Beratungen für Migranten:<br />
Förderverein Roma e.V.<br />
c/o Herr Joachim Brenner<br />
Stoltzestraße 17<br />
60311 Frankfurt am Main<br />
Telefon: +49 (0)<strong>69</strong> 440123<br />
Regenbogen - Internationale Stadtteilarbeit Am Bügel -<br />
Evangelischer Regionalverband<br />
Evangelische Familienbildung<br />
Ben-Gurion-Ring 39<br />
60437 Frankfurt am Main<br />
Telefon: +49 (0)<strong>69</strong> 5077078<br />
Fachdienst für Migration Team Stadtmitte<br />
Caritasverband Frankfurt e.V.<br />
Rüsterstraße 5<br />
60325 Frankfurt am Main<br />
Telefon: +49 (0)<strong>69</strong> 1700240
26 <strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
Sie pflegen kranke Tiere im Urwald<br />
von Peru. Sie betreuen<br />
Kinder in Nicaragua oder bauen<br />
einen Spielplatz für ein Kinderheim<br />
in Argentinien. Viele junge<br />
Menschen gehen nach dem Abitur<br />
ins Ausland und engagieren<br />
sich in sozialen Projekten. Was<br />
bewegt sie zu diesem Schritt?<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> sprach mit Anna A.<br />
über ihre Reise nach Nicaragua<br />
und das Kinder-Projekt, in dem<br />
die 20-Jährige Frankfurterin für<br />
sieben Monate mitarbeitete.<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Anna,<br />
Du bist gerade von einer<br />
großen Reise zurückgekehrt.<br />
Du warst fast ein<br />
Jahr lang in Lateinamerika<br />
unterwegs, davon<br />
hast Du sieben Monate<br />
als freiwillige Helferin in<br />
Nicaragua in einem Kinder-Projekt<br />
mitgearbeitet.<br />
Was war für Dich die<br />
Motivation ins Ausland<br />
zu gehen?<br />
Anna: Ich hatte<br />
Lust ein ganz neues<br />
Land und eine andere<br />
Kultur kennenzulernen,<br />
und zwar<br />
anders als man es im<br />
Urlaub tut. Ich wollte<br />
in einem anderen Land leben<br />
und arbeiten.<br />
Ein soziales Projekt habe ich mir<br />
ausgesucht, weil ich die Situation<br />
der Menschen vor Ort richtig mitkriegen<br />
wollte. Und gehofft habe,<br />
was weitergeben zu können.<br />
Schön fand ich auch, vom Abitur<br />
nicht gleich zum Studium überzugehen.<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Wie kamst Du auf Nicaragua?<br />
Anna: Ich hatte immer Lateinamerika<br />
im Blick für meine Reise. Sprache, Kultur<br />
SOZIALE PROJEKTE INTERNATIONAL<br />
Wir sind dann mal weg!<br />
Freiwilligendienste: Nach dem Abitur treibt es viele junge Leute ins Ausland –<br />
Abenteuerlust und der Wunsch sich zu engagieren<br />
und Lebensart haben mich schon länger<br />
interessiert. Bei meiner Recherche stieß<br />
ich dann auf ein Projekt in Nicaragua,<br />
das ich gut fand.<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Wie geht man vor, wenn<br />
man als Freiwillige ein passendes Ziel<br />
sucht?<br />
Anna: Das Internet ist die wichtigste<br />
Informationsquelle. Dort stößt man auf<br />
viele Angebote für Freiwilligendienste.<br />
Als erstes sollte man sich allerdings darüber<br />
im Klaren werden, was man will. Es<br />
gibt verschiedene Modelle, wie man sich<br />
eine solche Reise ermöglichen kann.<br />
Zum Beispiel kann man über staatliche<br />
Leon, die zweitgrößte Stadt Nicaraguas.<br />
Im Hintergrund die Vulkankette<br />
Organisationen wie <strong>Welt</strong>wärts (entwicklungspolitischer<br />
Freiwilligendienst des<br />
Bundesministeriums für wirtschaftliche<br />
Zusammenarbeit und Entwicklung, Anmerkung<br />
der Redakt.) oder über Vereine<br />
und NGOs vermittelt werden. Ich<br />
wollte mir aussuchen, in welches Land<br />
und Projekt ich komme und bin bei meiner<br />
Recherche auf „Manita“ gestoßen.<br />
Das ist ein Verein, der Anfang 2004 von<br />
Dresdner Studenten gegründet wurde<br />
und Freiwillige in verschiedene Projekte<br />
in Lateinamerika entsendet. Ich habe<br />
mich dann bei Manita für das Projekt<br />
„Las Tias“ in Nicaragua beworben.<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: „Las Tias“ heißt im spanischen<br />
die Tanten, was verbirgt sich<br />
dahinter?<br />
Anna: Las Tias kümmert sich in Leon,<br />
der zweitgrößten Stadt Nicaraguas, um<br />
Kinder aus sozial schwachen Familien<br />
und Problemvierteln. Es gibt viele Kinder<br />
in Leon, aber zu wenig Schulplätze,<br />
so dass die Schule im Zwei-Schicht-Betrieb<br />
läuft. Die Kinder gehen nur 2 bis 4<br />
Stunden am Tag in die Schule, und viele<br />
sind vor oder nach der Schule auf sich<br />
allein gestellt. Las Tias bietet Betreuung<br />
nach oder vor der Schule. Die Kinder<br />
kommen zum Haus, das Las Tias in<br />
Leon führt. Sie bekommen dort ein Mittagessen<br />
und Hilfe bei<br />
den Hausaufgaben. Die<br />
Kinder haben bestimmte<br />
Pflichten wie die Räume<br />
sauber zu halten<br />
oder abzuspülen. Jedes<br />
Kind übernimmt eine<br />
bestimmte Aufgabe. Außerdem<br />
lernen sie auch<br />
hygienische Regeln wie<br />
Händewaschen oder<br />
Zähneputzen.<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Warum<br />
hast Du Dich ausgerechnet<br />
für Las Tias entscheiden?<br />
Anna: Las Tias wurde<br />
von Marktfrauen nach<br />
der Revolution in Nicaragua<br />
gegründet, also<br />
Ende der 70er Jahre. Die Frauen haben<br />
gesehen, dass viele Kinder auf dem<br />
Markt arbeiten anstatt zur Schule zu gehen<br />
oder zu spielen. Sie wollten einen<br />
Ort für Kinder schaffen. Es hat mir gefallen,<br />
dass Las Tias von Einheimischen gegründet<br />
und geführt ist. Außerdem fand<br />
ich die Vorstellung gut, in viele verschiedene<br />
Aufgabenfelder einen Einblick zu<br />
bekommen.<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Was war speziell Deine<br />
Aufgabe in dem Projekt?<br />
Anna: Meine Aufgabe war die gleiche<br />
wie die der festangestellten Erzieher,
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
SOZIALE PROJEKTE INTERNATIONAL<br />
27<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Wie bist Du mit dem<br />
Anfangs-Frust umgegangen?<br />
Anna: Den muss man einfach aushalten.<br />
Bei mir verschwand der Frust<br />
allmählich als ich die Sprache besser<br />
verstanden habe und die Erzieher und<br />
die Kinder mir vertrauten. Ich bin im Oktober<br />
2011 angekommen, im Dezember<br />
gab es Weihnachtsferien und nach den<br />
Ferien haben die Kinder mich freudig<br />
begrüßt. Dann habe ich gemerkt, dass<br />
ich akzeptiert wurde und angekommen<br />
war. Das war ein schöner Moment.<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Gibt es kulturelle Unterschiede<br />
zwischen Nicaragua und Europa?<br />
die bei Las Tias arbeiten. Ich habe den<br />
Kindern ganz viel bei den Hausaufgaben<br />
geholfen, habe den kleineren die Hände<br />
gewaschen, sie entlaust, Essen ausgeteilt<br />
und mit ihnen gespielt. Zu Las Tias<br />
kommen 6 bis 13jährige Kinder. Ich war<br />
mit Kolleginnen für die jüngeren zuständig.<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Wie haben die Kinder<br />
Dich aufgenommen?<br />
Anna: Die Kinder sind es gewohnt,<br />
dass Fremde kommen, um im Haus mitzuarbeiten.<br />
Nicaragua hat eine starke<br />
Tradition der Freiwilligen-Arbeit. Nach<br />
der sandinistischen Revolution gab es<br />
viele Unterstützungsprojekte für Nicaragua.<br />
Die Kinder sind sehr interessiert. Sie<br />
haben viel gefragt, wie zum Beispiel, wo<br />
genau ich herkomme, und wie ich nach<br />
Nicaragua gekommen bin. Wie lange ich<br />
gebraucht habe und wo ich jetzt wohne.<br />
Aber der Anfang war schwer, wegen der<br />
Spachbarriere. Ich habe noch schlecht<br />
Spanisch gesprochen und die Kinder haben<br />
mich oft nicht verstanden und umgekehrt.<br />
Das hatte ich nicht erwartet.<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Welche weiteren Hürden<br />
gab es bei der Eingewöhnung im<br />
Projekt; gab es Momente, in denen Du<br />
Dich gefragt hast, was soll ich hier?<br />
Anna: Ja, die gab es. Ich hatte in<br />
den ersten Wochen noch keine klare<br />
Rolle bei Las Tias. Ich war in der<br />
Spielen:<br />
Im Proyecto Las Tias<br />
Beobachterrolle und wurde beobachtet.<br />
Ich hatte noch keine konkrete Tätigkeit,<br />
die musste ich mir selbst suchen. Ich bin<br />
auf die Betreuer zugegangen und dann<br />
haben sie mir eine Aufgabe zugewiesen,<br />
oder manchmal auch nicht. Das heißt,<br />
ich war stark auf mich alleine gestellt. In<br />
solchen Momenten habe ich mich dann<br />
schon manchmal gefragt, kann ich hier<br />
überhaupt sinnvoll helfen.<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Man muss also auf jeden<br />
Fall Eigeninitiative mitbringen?<br />
Anna: Ohne Eigeninitiative geht es<br />
gar nicht. Das ist aber nicht nur in Nicaragua<br />
so. Ein bisschen Frust ist auch<br />
ganz normal. Das hat sich auch beim<br />
Nachbereitungstreffen gezeigt, das vor<br />
einigen Wochen stattfand. Das klang in<br />
allen Berichten der Freiwilligen an, dass<br />
es Einstiegshürden gab.<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Nicaragua ist eines der<br />
ärmsten Länder Lateinamerikas. Wie<br />
hast Du diesen Unterschied zu unserer<br />
westlichen Wohlstandskultur erfahren<br />
und ausgehalten?<br />
Anna: Ich würde den Schritt, in ein<br />
Entwicklungsland zu gehen, nur Leuten<br />
empfehlen, die offen sind für neue Kulturen<br />
und andere Lebensstandards, als<br />
wir es aus Deutschland gewöhnt sind.<br />
Speziell für den Freiwilligendienst muss<br />
man natürlich auch eine bestimmte<br />
Frustrationstoleranz mitbringen.<br />
Anna: Kulturelle Unterschiede gibt<br />
es jede Menge. Das reicht vom Essen<br />
über Pünktlichkeit bis hin zu strikteren<br />
Rollenzuschreibungen für Jungs<br />
und Mädchen. In Nicaragua verläuft alles<br />
viel langsamer als in Deutschland.<br />
Ungeduld versteht keiner. Als Mädchen<br />
ist es nicht üblich, abends auszugehen<br />
oder männliche Freunde zu haben. Die<br />
größte Hürde im Projekt war für mich<br />
die unterschiedliche Auffassung über<br />
Kindererziehung und Pädagogik. In meinem<br />
Projekt wurde viel geschrien, was<br />
anfangs gewöhnungsbedürftig und hart<br />
für mich war. Viele Kinder in Nicaragua<br />
werden von ihren Eltern geschlagen.<br />
Bei Las Tias gibt es allerdings die Regel,<br />
dass die Erzieher die Kinder nicht schlagen.<br />
Und daran halten sich auch alle.<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Du hast Dir deinen Aufenthalt<br />
in Nicaragua komplett selbst<br />
finanziert. Wie hast Du das Geld zusammenbekommen?<br />
Anna: Ich habe vorher gearbeitet und<br />
mein Erspartes in die Reise investiert.<br />
Außerdem habe ich weiter Kindergeld<br />
bekommen. Für meine Arbeit bei Las<br />
Tias gab es kein Geld.<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Was war die wichtigste<br />
Erfahrung, die Du gemacht hast?<br />
Anna: Man kann in einer komplett<br />
fremden Umgebung und fremden Kultur<br />
relativ schnell ankommen und glücklich<br />
werden. Das war meine wichtigste Erfahrung.
28 SOZIALE PROJEKTE INTERNATIONAL<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
Chaotischer Straßenverkehr in Managua<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Wie unterscheidet sich<br />
Las Tias von Kinderhorten in Deutschland?<br />
Anna: Der Betreuungsschlüssel ist<br />
viel schlechter. Bei zirka 100 Kindern gab<br />
es drei Betreuer. Das allein war schon<br />
eine Überforderung. Vor allem mittags,<br />
wenn alle Kinder gleichzeitig zum Essen<br />
kamen. In meiner Gruppe war zwei Wochen<br />
lang eine Erzieherin krank, sodass<br />
ich die Kleinen alleine betreute. Das waren<br />
nachmittags dann 20 bis 30 Kinder,<br />
die ich zu beschäftigen und zu bändigen<br />
hatte. Am Abend war ich platt.<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Kamst Du Deinem Ziel<br />
näher, den Menschen zu helfen und sie<br />
zu unterstützen?<br />
Anna: Ja und nein. Einerseits habe<br />
ich auf der persönlichen Ebene viele<br />
schöne Erfahrungen gemacht und einzelnen<br />
Leuten geholfen. Andererseits<br />
bin ich in einen Konflikt mit mir selbst<br />
gekommen, und zwar über die Form und<br />
Rolle von Entwicklungshilfe. Ich frage<br />
mich, ob es sinnvoll ist ungelernte junge<br />
Frauen und Männer in solche Projekte<br />
ins Ausland zu schicken. Es hätte ja auch<br />
ein Nicaraguaner meinen Job übernehmen<br />
können. Und sein Gehalt könnte<br />
mit Geldern aus der Entwicklungshilfe<br />
bezahlt werden. Ich hatte diesen inneren<br />
Konflikt erwartet, darüber hatten<br />
wir im Vorbereitungsseminar schon gesprochen.<br />
In Nicaragua zeigte sich dann,<br />
dass ich mit meinem Gefühl richtig lag.<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Meinst Du, dass es<br />
mehr ein Selbsterfahrungstrip junger<br />
Menschen ist, wenn sie ins Ausland gehen,<br />
aber letztendlich dem Land nicht<br />
viel bringt?<br />
Anna: Zumindest bin ich skeptisch,<br />
was die tatsächliche Hilfe angeht. Ich<br />
habe wie gesagt auf der persönlichen<br />
Ebene viele tolle Erfahrungen gemacht<br />
und auch Erfolge erlebt. Aber insgesamt<br />
halte ich die Entwicklungshilfe in Form<br />
von Aufbau einer Infrastruktur wie zum<br />
Beispiel für die Energie- oder Wasserversorgung<br />
für hilfreicher. Was jedoch<br />
etwas bringt, ist der gegenseitige Austausch,<br />
der entsteht. Ich habe viele neue<br />
Anregungen bekommen und andererseits<br />
wurden im Projekt einige Dinge<br />
durch meine Anregungen überdacht<br />
oder geändert.<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Willst Du beruflich in<br />
Richtung Entwicklungshilfe gehen?<br />
Anna: Das weiß ich noch nicht. Das<br />
muss ich noch rausfinden.<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Warum machen sich<br />
viele junge Leute nach dem Abi auf ins<br />
Ausland?<br />
Anna: Von meinen Freunden sind fast<br />
alle ins Ausland gegangen, aber nicht<br />
alle in soziale Projekte. Es ist Abenteuerlust,<br />
der Wille was Neues zu entdecken.<br />
Natürlich spielt auch eine Rolle, dass es<br />
heute viel einfacher ist, den Schritt zu<br />
tun als in früheren Generationen. Viele
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
SOZIALE PROJEKTE INTERNATIONAL<br />
29<br />
wollen weg und sich engagieren.<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Hattest Du Angst vorm<br />
Weggehen?<br />
Anna: Ich hatte ziemlich Bammel. Zunächst<br />
nicht, aber je näher der Abflugtermin<br />
rückte, um so mehr kam die Aufregung.<br />
Jetzt kann ich natürlich sagen,<br />
es war eine tolle Zeit, eine schöne Erfahrung.<br />
Im Endeffekt ist alles viel weniger<br />
fremd als man dachte. Man gewöhnt<br />
sich schnell an das andere. Durch die Arbeit<br />
gehört man auch schnell dazu. Umgekehrt<br />
erlebte ich einen Kulturschock,<br />
als ich wiederkam. Auf das Ausland bereitet<br />
man sich vor, aber auf die Rückkehr<br />
eben nicht.<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Worin besteht der Kulturschock<br />
bei der Rückkehr?<br />
Anna: Man hat sich vor der Reise auf<br />
das Fremde eingestellt, aber bei der<br />
Rückkehr macht man sich nicht klar,<br />
dass man lange weg war, sich verändert<br />
hat und zu Hause auf Ungewohntes trifft.<br />
Es ist eben vieles anders als da wo man<br />
gerade herkommt. Ein banales Beispiel<br />
ist das Verhalten in der U-Bahn: Als ich<br />
das erste Mal wieder U-Bahn in Frankfurt<br />
fuhr, kam es mir extrem leise in der Bahn<br />
vor. Es ist komisch still, obwohl die Bahn<br />
voller Menschen ist. In Nicaragua ist es<br />
immer laut in den Bussen. Die Leute<br />
sitzen nebeneinander und reden sofort<br />
miteinander, beispielsweise über den<br />
defekten Bus, die Verspätung, die Probleme<br />
beim Reisen etc. In Deutschland<br />
reden fremde Menschen, die zufällig<br />
aufeinander treffen viel seltener miteinander.<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Außerdem hattest Du<br />
eine Selbständigkeit, die Du jetzt wahrscheinlich<br />
nicht mehr ganz so hast, wenn<br />
Du in Deine Familie zurückkommst.<br />
Anna: Ich war sehr selbständig in Nicaragua<br />
und kann das jetzt weiter sein. Die<br />
kleinen Unselbständigkeiten, die ich dadurch<br />
habe, dass ich wieder in meine Familie<br />
zurückgekehrt bin, genieße ich auch.<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Mit welchen Augen siehst<br />
Du jetzt unseren Wohlstand?<br />
Anna: Ich sehe die Verschwendung<br />
jetzt kritischer. Dass wir eine Wegwerfgesellschaft<br />
sind, schmerzt mich jetzt viel<br />
mehr. In Nicaragua war beispielsweise<br />
das Wasser knapp und manchmal gab<br />
es morgens kein Wasser. Die Verschwendung<br />
hier fällt mit jetzt viel mehr auf.<br />
Allerdings möchte ich betonen, dass Nicaragua<br />
zwar materiell arm ist, aber keinesfalls<br />
geistig oder kulturell. Das Land<br />
hat beispielsweise eine lebendige Literaturtradition.<br />
Der Dichter Rubén Dario<br />
ist bekannt und wird von vielen verehrt.<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>: Anna, wir danken für<br />
das Gespräch und wünschen Dir viel<br />
Glück für Deine Zukunft.<br />
Das Interview führte liz<br />
(Fotos: N. Arthur)<br />
Der Mercado Central<br />
Morgens strömt ganz León auf den Mercado de la Terminal um einzukaufen und mit Bekannten zu plaudern
UNSER REISETIPP<br />
Ibiza!<br />
It‘s the Glamour Boys again“ Robert Mitchum<br />
30 <strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
Nach Ibiza kommt der Tourist gewöhnlich<br />
mit dem Billigflieger.<br />
Wenn man am Strand von Platja<br />
d‘en Bossa in einem der vielen Billiglokale<br />
sitzt, kann man alle zwei Minuten<br />
einen Landeanflug sehen und hören,<br />
meistens Ryan Air. Wer aus Oberrad oder<br />
Neu-Isenburg kommt, kann sich also wie<br />
zu Hause fühlen, nur dass dort die meisten<br />
Flieger das Lufthansa-Zeichen am<br />
Leitwerk haben.<br />
Der erwähnte Strand ist lang, hat feinen<br />
Sand und liegt nur ein paar Meter<br />
neben der Einflugschneise. Dahinter stehen<br />
vier- bis achtstöckige Hotels im klassischen<br />
Stil der 70er bis 90er Jahre. An<br />
der Promenade werden Döner-Kebabs,<br />
Hamburger, Pizza und andere katalanische<br />
Spezialitäten angeboten.<br />
Die Touristen hier sehen durchaus zufrieden<br />
aus, falls man sie mal zu sehen<br />
bekommt. Tagsüber schlafen sie meist<br />
zwischen zwei Doppel-Monster-Whopper-Imbissen,<br />
um abends die aktuellen<br />
Cocktails in den einschlägigen Discos<br />
vertragen zu können.<br />
Ein paar Kilometer nach Südwesten<br />
liegt der betriebsame Flughafen, der<br />
wie alle Flughäfen nichts ist, was man<br />
sich freiwillig ansieht. Ein paar Kilometer<br />
nach Nordosten liegt die Hauptstadt<br />
Eivissa. Darüber lohnt es sich schon, ein<br />
paar Worte zu sagen:<br />
Eine der „ältesten Städte Europas !<br />
Gegründet von den Karthagern, so wie<br />
Cagliari und Cädiz, Städte, die auch älter<br />
als Athen und Rom sind.<br />
Eivissa (Dalt-Vila)<br />
„Unattended children<br />
will be captured and<br />
sold to the circus.“<br />
Schild an einer Boutique<br />
in Ibiza<br />
Um eine hübsche<br />
ovale Bucht herum<br />
liegen die drei<br />
recht unterschiedlichen<br />
Teile der Insel-<br />
Hauptstadt. Wenn<br />
man mit einem<br />
Schiff hinein fährt,<br />
findet sich rechts<br />
das Viertel mit modernen<br />
und schicken<br />
Hotels und Apartmentbauten der<br />
letzten 10-15 Jahre.<br />
Auf der linken Seite findet sich die<br />
ältere Unterstadt mit hübschen ca. 100<br />
Jahre alten Häusern und unzähligen<br />
Boutiquen, Restaurants, Cafes und kleinen<br />
Hotels. Das sind die Viertel La Marina<br />
und Sa Penya.<br />
Darüber erhebt sich die Altstadt, Dalt<br />
Vila genannt. Sie ist von gewaltigen, gut<br />
erhaltenen Stadtmauern umgeben, von<br />
denen man einen schönen Blick über<br />
Stadt, Bucht und Insel hat. Hier sieht alles<br />
aus, als wäre es seit 200 Jahren unverändert.<br />
Die Hotels und Restaurants,<br />
die es hier auch gibt, sind stilvoll und<br />
meist nicht billig, na, sagen wir ruhig:<br />
teuer.<br />
Für ein Menü in einem besseren Lokal<br />
muss man für zwei Personen inklusive<br />
Getränke mit 100 bis 200 € rechnen.<br />
Auch im Hafenviertel unten gibt es<br />
solche Lokale, und wenn man sich die<br />
Weinkarte genauer<br />
ansieht, merkt<br />
man schnell, dass<br />
man auch für eine<br />
Flasche Wein wesentlich<br />
mehr ausgeben<br />
kann als für<br />
ein Menü für zwei<br />
Personen.<br />
Es gibt aber<br />
auch kleine, eher<br />
versteckte Lokale,<br />
wo man für<br />
ein ordentliches<br />
(Foto:Forbfruit)<br />
spanisches Menü<br />
mit einer Karaffe<br />
Landwein mit 15<br />
Landeanflug auf Ibiza (Foto:CJ Mancini)<br />
€ dabei ist. Oder man hält sich an Pizza<br />
und Hamburger, aber das ist nicht wesentlich<br />
billiger.<br />
Ein anderes Kapitel sind die ungefähr<br />
500 Boutiquen allein im kleinen Hafenviertel.<br />
Viele Touristen, vor allem Frauen,<br />
verfallen in hemmungslose Kaufräusche,<br />
die tagelang anhalten können.<br />
Es gibt Sommerhosen oder Blusen für<br />
kaum mehr als 10 €, aber in der Boutique<br />
daneben modische Stiefel für über<br />
500 oder Kleider für 1000. Alles durcheinander.<br />
Neben der Hauptstadt mit 50.000 Einwohnern<br />
gibt es natürlich noch ein paar<br />
andere Orte, die aber kaum der Rede<br />
wert sind. Die meisten liegen an der K<br />
ste und sind nur über Stichstraßen zu<br />
erreichen. Eine Uferstraße gibt es nicht,<br />
dazu sind die Küsten zu felsig und steil,<br />
und die meisten Orte sind auch nur alte<br />
Fischerdörfchen, manche allerdings<br />
während der letzten Jahrzehnte zu den<br />
blichen Touristenzentren ausgebaut.<br />
St. Antoni!<br />
Gut gerüstete Engländer im Dutzend billiger.<br />
„Entre fumo y botillas“ Los Lobos<br />
(Zwischen Rauch und Flaschen)<br />
Der größte davon ist St. Antoni de Portmany<br />
am anderen Ende der Insel wie die<br />
Hauptstadt gelegen und vom Stil her so<br />
ähnlich wie der moderne Teil Eivissas,<br />
nur um einiges ärmlicher. Der Ort hat<br />
20.000 Einwohner, und im Sommer ungefähr<br />
vier- oder fünfmal so viele Touristen.<br />
Die meisten sind junge Engländer.
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
Jeden Tag kommen mit den<br />
Ryan-Air-Fliegern aus Manchester<br />
oder Liverpool ein<br />
paar 100 dazu.<br />
Der einzige Grund für einen<br />
Flug hierher ist genauso wie<br />
für einen nach Mallorca oder<br />
sonst wohin ans Mittelmeer,<br />
sich einen soliden Sonnenbrand<br />
zu holen. Den ganzen<br />
Tag laufen die jungen Söhne<br />
Albions mit kurzen Hosen<br />
und ohne Hemden herum.<br />
In Birmingham kann man so<br />
etwas den ganzen Sommer<br />
über machen ohne ein bisschen<br />
mehr als leicht gerötete<br />
Haut zu bekommen, aber hier haben die<br />
jungen Leute schon nach zwei Tagen die<br />
Farbe von gekochten Hummern angenommen,<br />
sind von Stirn bis unter den<br />
Bauchnabel und die Beine entlang von<br />
Blasen überzogen. Am dritten Tag geht<br />
die kürzlich noch schneeweiße Haut<br />
schon in Fetzen ab. Kein Wunder, dass<br />
sie das nur in volltrunkenem Zustand<br />
ertragen. Dafür gibt es überall in dem<br />
ausgesucht hässlichen Örtchen riesige<br />
Supermärkte, die nichts als Schnaps,<br />
Bier und Kartoffelchips (Vinegar-Taste)<br />
anbieten.<br />
Vor ein paar Jahren kam irgendwelchen<br />
spanischen Offiziellen die Idee, von<br />
St. Antoni nach Eivissa eine Autobahn zu<br />
bauen: 15 Kilometer lang! Inzwischen<br />
ist sie fertig und so leer als wäre sie in<br />
Nordkorea oder Tadschikistan. Vielleicht<br />
war ein Grund für den Bau, die Engländer,<br />
die sich nach Eivissa verirrt hatten,<br />
schneller wieder in den ihnen angemessenen<br />
Ort zurückschaffen zu können.<br />
Eivissa ist in vielem das Gegenteil von S.<br />
Antoni, und selbst junge Engländer in ihren<br />
schon mittags Whisky- oder Gin-benebelten<br />
Hirnen merken das recht bald.<br />
Hippies not dead!<br />
Alles ist lebendig.<br />
„Dance all night and sleep all day”<br />
Robert Mitchum<br />
UNSER REISETIPP 31<br />
Das „Ei“ in St. Antonini (Foto:Flups)<br />
spanisch, auch durcheinander, was niemand<br />
stört. Selten sind noch russisch<br />
und japanisch, die aber auch schon auf<br />
manchen Speisekarten vorkommen.<br />
Wenn man einigermaßen vorurteilsfrei<br />
ist, was bei überall freundlichen<br />
Menschen kein Problem ist, fühlt man<br />
sich hier schnell zuhause. Wo man zum<br />
zweiten Mal erscheint, wird man gefragt:<br />
„Dasselbe wie gestern?” In unserem<br />
Stammlokal vom ersten Abend an wurde<br />
uns auf Verlangen ein Wein empfohlen.<br />
Wir stellten erst nachher fest, dass es<br />
nicht nur der billigste auf der Karte war,<br />
sondern auch noch ein italienischer.<br />
Erst nach einer Woche hörten wir, dass<br />
die Betreiber des Lokals Italiener waren.<br />
Ebenso merkten wir erst nach zwei oder<br />
drei Tagen, dass das Lokal mit einer der<br />
großen Discos der Insel geschäftlich verbunden<br />
war und begriffen bald, dass so<br />
gut wie alles auf der Insel mit einer großen<br />
Disco kooperiert.<br />
Disco rules !<br />
Was passiert, wenn eine ganze Insel<br />
dieMacht an die Discotheken übergibt:<br />
„Money, money, money.<br />
Must be funny<br />
In the rich man’s world!” Abba<br />
Die großen Discos sind reich.<br />
Man kann sich leicht ausrechnen:<br />
warum. Sie bieten Platz<br />
für 8.000 bis 15.000 zahlende<br />
Gäste. Der Eintritt kostet pro<br />
Abend zwischen 30 und 60 €, je<br />
nach Programm (Elton John,<br />
Sting und anderen Altstars)<br />
manchmal auch deutlich<br />
mehr. Bei 10.000 Gästen und<br />
z. B. 40 € Eintritt kommt schon<br />
einiges zusammen jeden<br />
Abend, ohne die nicht ganz billigen<br />
Cocktails mitzurechnen.<br />
Und das geht hier noch immer<br />
so den ganzen Sommer über.<br />
Dann ziehen die berühmten<br />
DJs und die Gogo-Girls mit der neuen<br />
Disco-Musik nach Nordeuropa und sonst<br />
wohin.<br />
Die Discothek >Pacha< wurde ursprünglich<br />
im Urlaubsort Sitges in der<br />
Nähe von Barcelona 1966 eröffnet. Von<br />
dort zog er in das schick gewordene Ibiza,<br />
und hat heute Dependancen in Barcelona<br />
und ein paar Dutzend anderen<br />
Orten auf der ganzen <strong>Welt</strong>. Auch das<br />
>Space< hat seit 2004 eine große Disco<br />
in Barcelona und so weiter.<br />
Eine Pizza auf Ibiza !<br />
Man kann auch billig essen.<br />
Aber zurück in der alten, modernen<br />
Stadt Eivissa hat man wieder lebendiges<br />
Leben um sich herum. Eine Pizza ist<br />
meist billig und durchaus nicht schlecht.<br />
Nicht besser als in Neapel, aber besser<br />
als in Venedig. Und die Freundlichkeit<br />
und <strong>Welt</strong>aufgeschlossenheit der Leute<br />
ist kaum zu übertreffen.<br />
MF<br />
(Fotos und Grafik vs. wikimedia/commons)<br />
Eivissa ist noch immer Hippie-Land.<br />
Überall sind sie ausgestorben, hier sind<br />
sie nur älter geworden, besitzen Bars<br />
oder Hotels und grau gewordene Pferdeschwänze.<br />
Auch dadurch ist Eivissa sehr<br />
multikulturell, vielsprachig und friedlich.<br />
Nirgendwo in Europa sind die Leute<br />
allen Ausländern gegenüber so freundlich<br />
und aufgeschlossen. Man redet englisch,<br />
katalanisch, italienisch, deutsch,<br />
Ja, was dann passiert, kann man auf<br />
Ibiza sehen: Es herrscht Prosperität,<br />
Frieden und gute Laune. Und tatsächlich<br />
gehört praktisch ganz Ibiza einem<br />
Dutzend Discotheken. Sie heißen Pacha,<br />
Amnesia, Privilege, Space, Ushaia oder<br />
DC 10 und besitzen oder sind beteiligt an<br />
Cafes, Bars, Restaurants, Hotels, Boutiquen<br />
und eigene Kleiderlabels, Yachten<br />
und wahrscheinlich noch einiges mehr.<br />
Das Wappen von Ibiza
32 AKTUELLE MUSIK<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> <strong>69</strong><br />
- eine Musikgruppe aus den Vororten<br />
von Daressalam hat mit dem Bandna-<br />
JAGWA men nicht das Tier Jaguar gemeint,<br />
vielmehr nach Dege La Jeshi einem Kampfflugzeug zur Zeit der Neunziger<br />
Jahre, der französischen-britischen Armeen.<br />
So zeigt sich Realität dann in der Musik und in deren Volkskultur.<br />
Mchiriku der Name dieser Musik wird gespielt mit selbst gebauten<br />
Trommeln – 4 Trommler agieren – sowie einer Percussion per Holzschemeln.<br />
Die Trommeln sind mit Plastikschläuchen gespannt.<br />
In den Höhen fiebern eingängige Melodien, erzeugt durch alte Casio<br />
Keyboards; so entwickelt sich Musik und damit Identitäten für die Menschen<br />
in den Mega-Citys Afrikas.<br />
Die Gruppe spielte ein tolles Konzert am 01.11.2012 in der Frankfurter<br />
Brotfabrik. Afro –Pop bester Güte und Intensität.<br />
Dieser Sound aus den Armenvierteln ist echt, ernst und voller Leben,<br />
keine künstliches elektronisches Hip-Hop-Gestampfe.<br />
Die Gruppe hat Ihre erste CD Bongo Hotheads veröffentlicht, in Afrika<br />
verbreitet sich die Musik per Kassetten. Leider hört man die Gruppe in<br />
Tansania nie im Radio:<br />
Ihre Songs berichten zu den Themen Armut, Aids, und soziale Fragen<br />
einer Unterschicht. Auch ihre Straßenkonzerte wurden verboten: Die<br />
Musik lässt sich aber davon nicht aufhalten. Auch bei dem Konzert in<br />
Frankfurt war der Publikumsdichte leider nicht überwältigend.<br />
Unsere CD –Empfehlung : JAGWA BONGO HOTHEADS<br />
MP3-Download: 7,92 €, CD 19,99 € bei Amazon<br />
RU<br />
M i t s p i e l e r g e s u c h t !<br />
F ü r B a n d u n d R y t h m u s g r u p p e<br />
Wir treffen uns Montags:<br />
und Dienstags:<br />
Lahnstr. 37<br />
Karl-Blum-Allee 1-3<br />
Frankfurt-Gallus<br />
Frankfurt-Höchst<br />
9.00 - 12.00 Uhr<br />
10.00 - 13.00 Uhr<br />
Kontakt: Reinhold Urbas * Tel.: 06109 - 22527 * E-Mail: r.urbas@freenet.de