18.07.2014 Aufrufe

1 Klärung der Begriffe 1.1. Konfliktbereitschaft - Fachbereich ...

1 Klärung der Begriffe 1.1. Konfliktbereitschaft - Fachbereich ...

1 Klärung der Begriffe 1.1. Konfliktbereitschaft - Fachbereich ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

1<br />

Kriminologische Studienwoche <strong>der</strong> Universität Hamburg<br />

7. – 11. März 2005<br />

Gewalt in <strong>der</strong> Schule –<br />

Ausprägung, Erklärung, Prävention<br />

Angela Sack-Hauchwitz, Diplom-Soziologin<br />

Zu männlicher und weiblicher <strong>Konfliktbereitschaft</strong>, Gen<strong>der</strong>aspekten und Diversity,<br />

Inhalt<br />

1 Klärung <strong>der</strong> <strong>Begriffe</strong><br />

<strong>1.1.</strong> <strong>Konfliktbereitschaft</strong> - Konfliktfähigkeit<br />

1.2. Gewaltbereitschaft<br />

1.3. Gen<strong>der</strong> Aspekte<br />

1.4. Diversity<br />

2 Jungen – das starke Geschlecht?<br />

2.1. Wie verhalten sich Jungen?<br />

2.2. Wie ist die öffentliche Wahrnehmung von Jungen?<br />

2.3. Die Folgen einer „gelernten Männlichkeit“ auf die Gewaltbereitschaft<br />

2.4. Persönlichkeitsprofil aggressiver junger Männer<br />

2.5. Der kulturelle Hintergrund und die Gewaltbereitschaft bei Jungen<br />

3 Mädchen – die sanfte Hälfte <strong>der</strong> Jugend?<br />

3.1. Wie verhalten sich Mädchen?<br />

3.2. Werteorientierungen<br />

3.3. Mädchen und Gewaltbereitschaft<br />

3.4. Mobbing in <strong>der</strong> Klasse<br />

4 Geschlechtsspezifische Gewaltprävention und Diversity<br />

4.1. Wo sind die Potentiale <strong>der</strong> Jungen?<br />

4.2. Wo sind die Potentiale <strong>der</strong> Mädchen?<br />

5 Ausblick<br />

6 Literaturliste<br />

7 Kurzbiografie<br />

1


2<br />

Kriminologische Studienwoche <strong>der</strong> Universität Hamburg<br />

7. – 11. März 2005<br />

Gewalt in <strong>der</strong> Schule –<br />

Ausprägung, Erklärung, Prävention<br />

Angela Sack-Hauchwitz, Diplom-Soziologin<br />

Zu männlicher und weiblicher <strong>Konfliktbereitschaft</strong>, Gen<strong>der</strong>aspekten und Diversity,<br />

Klärung <strong>der</strong> <strong>Begriffe</strong><br />

<strong>1.1.</strong> <strong>Konfliktbereitschaft</strong> - Konfliktfähigkeit<br />

<strong>Konfliktbereitschaft</strong> hat nichts mit Gewaltbereitschaft zu tun. Die Bereitschaft, sich auf<br />

Konflikte einzulassen, hängt von den individuellen Erfahrungen mit dem Ablauf von<br />

Konflikten ab. Konflikte können Nie<strong>der</strong>lagen auslösen o<strong>der</strong> das Gefühl geben,<br />

Interessen durchsetzen zu können. Sie können als emotional belastend o<strong>der</strong><br />

befreiend erlebt werden. Es spielt eine entscheidende Rolle, ob jemand als Dritter bei<br />

Konflikten An<strong>der</strong>er dabei ist o<strong>der</strong> ob man selbst Beteiligter in einem Konflikt ist.<br />

Der Grad <strong>der</strong> eigenen <strong>Konfliktbereitschaft</strong> hat aber einen Einfluss auf unsere<br />

Bewertung von Situationen, in denen Gewalt ausgeübt und erlitten wird. Die eigene<br />

<strong>Konfliktbereitschaft</strong> hat auch Einfluss auf die persönliche Bewertung <strong>der</strong> Motive <strong>der</strong><br />

Täter und Opfer und auf persönlich bevorzugte Strategien zur Gewaltprävention.<br />

Deshalb macht es Sinn, sich über die eigene Bereitschaft, sich auf Konflikte<br />

einzulassen, klar zu werden.<br />

Konfliktfähigkeit meint eine komplexe soziale Kompetenz. Konfliktfähige Menschen<br />

sind in <strong>der</strong> Lage, einen drohenden o<strong>der</strong> aufgebrochenen Konflikt zu erkennen, die<br />

unterschiedlichen Ebenen des Konfliktes wahrzunehmen und zu differenzieren, den<br />

Konflikt zu klären und angemessen zu lösen, beziehungsweise zu einer angemessenen<br />

Lösung beizutragen. Mit steigen<strong>der</strong> Konfliktfähigkeit steigt die Bereitschaft,<br />

sich auf Konflikte einlassen zu können, ohne dass Gewalt ausgeübt wird.<br />

1.2. Gewaltbereitschaft<br />

Viele Theorien machen individuelle Defizite in <strong>der</strong> frühen Kindheit wie zum Beispiel<br />

Gewalterfahrungen und eine lieblose Erziehung für die erhöhte Gewaltbereitschaft<br />

eines jungen Menschen verantwortlich. Auch ökonomische und soziale Defizite, <strong>der</strong><br />

Zerfall gesellschaftlicher Normen und Werte, <strong>der</strong> Zerfall <strong>der</strong> traditionellen Familie,<br />

Armut und Arbeitslosigkeit werden als Gründe für eine erhöhte Gewaltbereitschaft<br />

angeführt. Aber Gewalt allein als Folge von Defiziten zu begreifen, greift für den<br />

Bereich Schule zu kurz, vor allem wenn wir präventiv handeln wollen. Da sowohl<br />

Jungen als auch Mädchen unter den oben genannten Defiziten gleichermaßen zu<br />

leiden haben, erklären diese Theorien auch nicht, warum die Gewaltbereitschaft bei<br />

Jungen signifikant höher als bei Mädchen ist.<br />

Das Bild, dass sich ein Junge, ein junger Mann, von sich selbst in seinem sozialen<br />

Umfeld macht – in seiner Familie, in <strong>der</strong> Schule, in <strong>der</strong> Freizeit,– dieses Bild hat<br />

Einfluss auf das „Umkippen“ von Gewaltbereitschaft zur Gewalt. Auch das Bild, dass<br />

sich die Personen seines sozialen Umfeldes – seine Eltern, Brü<strong>der</strong> und Schwestern,<br />

seine Freunde, Schulkameraden, Lehrer, die Mädchen – von ihm machen, haben<br />

einen Einfluss auf sein Selbstwertgefühl und sein Handeln, also auch auf die<br />

Bereitschaft, seine Interessen mit Gewalt durchzusetzen.<br />

2


3<br />

Kriminologische Studienwoche <strong>der</strong> Universität Hamburg<br />

7. – 11. März 2005<br />

Gewalt in <strong>der</strong> Schule –<br />

Ausprägung, Erklärung, Prävention<br />

Angela Sack-Hauchwitz, Diplom-Soziologin<br />

Zu männlicher und weiblicher <strong>Konfliktbereitschaft</strong>, Gen<strong>der</strong>aspekten und Diversity,<br />

Für ein Mädchen, eine junge Frau gilt dies entsprechend. Sowohl das Bild, das sich<br />

das Mädchen, die junge Frau von sich selbst im sozialen Umfeld – in ihrer Familie, in<br />

<strong>der</strong> Schule - macht, als auch das Bild, das sich die Menschen in ihrer Umgebung von<br />

ihr machen - ihre Eltern und Geschwister, Freundinnen, Lehrer, die Jungen - haben<br />

Einfluss auf ihre Gefühle und Handlungen.<br />

These: Das Selbstbild eines Mädchens o<strong>der</strong> eines Jungen hat Einfluss auf die<br />

Konflikt- und Gewaltbereitschaft ebenso wie das Fremdbild, dass die Menschen des<br />

sozialen Umfeldes sich von dieser Person machen. Der Einfluss des Selbstbildes<br />

und des Fremdbildes ist bei heranwachsenden Jugendlichen, die noch auf <strong>der</strong> Suche<br />

nach ihrer Identität sind, beson<strong>der</strong>s zu beachten. Eine Erziehung zur Konfliktfähigkeit<br />

kann nur gelingen, wenn ein männlicher Jugendlicher für die Entwicklung seiner<br />

Identität als Mann auf ein breiteres Rollenrepertoire zurückzugreifen lernt. Auch<br />

Mädchen brauchen für die Entwicklung ihrer Identität als Frau einen breiteren<br />

Verhaltenskanon, als sie bisher nutzen, beziehungsweise nutzen dürfen. 1<br />

1.3. Gen<strong>der</strong> Aspekte<br />

Gen<strong>der</strong> bedeutet „soziales Geschlecht“, im Gegensatz zum „biologischen Geschlecht“,<br />

das im englischen „sex“ heißt. Da wir im Deutschen nur das eine Wort<br />

„Geschlecht“ haben, sind die Definitionen etwas umständlich. Wenn Sie<br />

„Geschlechtergerechtigkeit“ hören, ist damit gemeint, dass in unserem Zusammenhang<br />

Jungen und Mädchen zum Beispiel in ihrem sozialen Umfeld Schule<br />

gleiche Rechte und Pflichten haben. Da Mädchen und Jungen aber immer noch<br />

unterschiedlich erzogen und sozialisiert werden, ist es wichtig, Benachteiligungen<br />

auszugleichen, um die Fähigkeiten so zu för<strong>der</strong>n, dass Mädchen und Jungen die<br />

gleichen Chancen haben, einen zufriedenstellenden Berufs- und Lebensplan für sich<br />

zu entwickeln. Das heißt nicht unbedingt, dass sie gleich behandelt werden müssen.<br />

Wenn Sie „Gen<strong>der</strong> Mainstreaming“ hören, so bedeutet das in unserem<br />

Zusammenhang, dass alle politischen und pädagogischen Entscheidungen schon im<br />

Vorwege darauf abgeklopft werden müssen, ob Benachteiligungen „aufgrund des<br />

sozialen Geschlechts“ aufgefangen und ausgeglichen werden können.<br />

1.4. Diversity<br />

Diversity heißt „Vielfalt“ „Mannigfaltigkeit“ und umfasst neben dem "sozialen<br />

Geschlecht" auch an<strong>der</strong>e Unterschiede wie Alter, Kulturhintergrund, Lebensentwürfe,<br />

gesellschaftlichen Status. Der Fokus richtet sich weniger auf die normierten<br />

Schwächen o<strong>der</strong> Benachteiligungen einer gesellschaftlichen Gruppe, son<strong>der</strong>n<br />

1 Die These, dass es einer konkreten Situation bedarf, um Gewaltbereitschaft in Gewalt umschlagen<br />

zu lassen, wird hier vernachlässigt, da an<strong>der</strong>e Seminarteile sich mit diesem Schwerpunkt befassen.<br />

Wichtig ist zu berücksichtigen, dass es nicht die Situation selbst ist, die zu Gewalt führt, son<strong>der</strong>n die<br />

individuelle Bewertung dieser Situation durch eine gewaltbereite Person, und die Bewertung dieser<br />

Situation durch an<strong>der</strong>e Beteiligte.<br />

3


4<br />

Kriminologische Studienwoche <strong>der</strong> Universität Hamburg<br />

7. – 11. März 2005<br />

Gewalt in <strong>der</strong> Schule –<br />

Ausprägung, Erklärung, Prävention<br />

Angela Sack-Hauchwitz, Diplom-Soziologin<br />

Zu männlicher und weiblicher <strong>Konfliktbereitschaft</strong>, Gen<strong>der</strong>aspekten und Diversity,<br />

vielmehr auf die Potentiale, die sich aus <strong>der</strong> Vielfalt ihrer vielleicht noch zu wenig<br />

genutzten Fähigkeiten ergeben. Wenn Sie hören, dass große Konzerne „Diversity<br />

Management“ betreiben, heißt das, diese entwickeln Strategien, um die Potentiale<br />

ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen für das Wohl <strong>der</strong> Firma optimal zu nutzen, um<br />

qualifiziertes Personal zu halten. Sie schaffen zum Beispiel für Mütter (und Väter)<br />

Rahmenbedingungen zur Kin<strong>der</strong>betreuung und för<strong>der</strong>n Frauen und Männer gezielt<br />

für Führungspositionen.<br />

Diversity bedeutet auch, die individuellen Unterschiede werden nicht normiert,<br />

(Jungen sind nun mal so) son<strong>der</strong>n sie werden zum gegenseitigen Nutzen anerkannt<br />

und aktiviert. (Dieses Mädchen ist so, jenes an<strong>der</strong>s. Was können die einen, was die<br />

an<strong>der</strong>en, was uns allen weiterhilft.) In unserem Zusammenhang bedeutet Diversity<br />

auch, den Blick nicht nur auf die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen als etwas<br />

Negatives zu richten, son<strong>der</strong>n auch die konstruktiven Möglichkeiten zu sehen, die in<br />

Risikobereitschaft, Mut und Kühnheit liegen können. Es heißt aber auch, sogenannte<br />

„weiche“ Fähigkeiten von Jungen, die die Gewaltbereitschaft senken helfen, positiv<br />

zu bewerten und gezielt zu för<strong>der</strong>n.<br />

2. Jungen – das starke Geschlecht?<br />

2.1. Wie verhalten sich Jungen?<br />

Jungen können grundsätzlich alles sein. Jungen können lärmend und leise –<br />

aggressiv und ängstlich – egoistisch und hilfsbereit - sexistisch und einfühlsam sein.<br />

Sie können den Unterricht stören und konzentriert mitarbeiten. Sie können sich<br />

prügeln und sie können Streitereien schlichten.<br />

2.1. Wie ist die öffentliche Wahrnehmung von Jungen?<br />

Jungen gelten landläufig als laut, aggressiv, störend, beleidigend. O<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s<br />

ausgedrückt: Jungen sollen durchsetzungsstark und kämpferisch sein, wenn sie<br />

richtige Männer werden wollen. In unserer Gesellschaft, die männlich dominiert ist,<br />

muss ein Junge, <strong>der</strong> eine „männliche Identität“ anstrebt, sich ständig beweisen, dass<br />

er stark und überlegen ist. Kein „richtiger“Junge will ein „Looser“ sein.<br />

2.2. Die Folgen einer „gelernten Männlichkeit“ auf die Gewaltbereitschaft<br />

Merken Sie, was hier passiert?<br />

Die Potentiale <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Jungen, <strong>der</strong> leisen, hilfsbereiten, einfühlsamen,<br />

konzentriert arbeitenden Jungen werden nicht nur nicht genutzt, son<strong>der</strong>n sie werden<br />

sogar diskreditiert. Auch die sogenannten „starken“ Jungen, die ja auch ihre weichen<br />

Seiten haben, werden nur einseitig in Richtung auf das Starksein hin unterstützt. Ihre<br />

sicher auch mal vorhandenen „weichen“ Kompetenzen, zum Beispiel die Fähigkeit<br />

zuhören zu können, werden als unmännlich abgetan. Welcher Junge will schon<br />

Gefühle wie Traurigkeit o<strong>der</strong> Angst zeigen, wenn diese Gefühle als unmännlich<br />

gelten.<br />

4


5<br />

Kriminologische Studienwoche <strong>der</strong> Universität Hamburg<br />

7. – 11. März 2005<br />

Gewalt in <strong>der</strong> Schule –<br />

Ausprägung, Erklärung, Prävention<br />

Angela Sack-Hauchwitz, Diplom-Soziologin<br />

Zu männlicher und weiblicher <strong>Konfliktbereitschaft</strong>, Gen<strong>der</strong>aspekten und Diversity,<br />

Zu viele Jungen werden also auch heute noch zu wenig dahingehend erzogen und<br />

unterstützt, Konflikte auf sozial verträgliche Weise zu lösen. Denn dazu bräuchte<br />

man soziale Kompetenzen. Ein „richtiger“ Junge löst den Konflikt lieber, indem er<br />

siegt. Bis zu gewalttätigem Handeln ist es hier oft nur ein kleiner Schritt. Sogenannte<br />

„männliche Attribute“ wie Durchsetzungsvermögen und Stark-Sein erfor<strong>der</strong>n, eigene<br />

Gefühle auszuklammern und die Gefühle an<strong>der</strong>er nicht zur Kenntnis zu nehmen.<br />

Viele Jungen lernen also früh, ihre Gefühle und die Signale ihres Körpers nicht<br />

wichtig zu nehmen. Viele junge Männer erleben sich selbst und ihr Gegenüber wenig<br />

über Gefühle, seien sie angenehm o<strong>der</strong> unangenehm.<br />

Wo können Jungen (und Mädchen) heute noch ihre aktiven Potentiale wie Abenteuerlust,<br />

Energie und Tatendrang ausleben? Im Alltag doch nur noch sehr eingeschränkt.<br />

Der Unterschied zwischen Jungen und Mädchen hier aber ist, dass<br />

Jungen offenbar generell schlechter als Mädchen mit den Verän<strong>der</strong>ungen unserer<br />

Welt in den letzten 20 bis 30 Jahren zurechtkommen. Dann sollten wir noch berücksichtigen,<br />

dass Jungen zum Beispiel in einer durchschnittlichen 8. o<strong>der</strong> 9. Klasse bis<br />

zu einem Jahr in <strong>der</strong> körperlichen und mentalen Entwicklung hinter den Mädchen<br />

zurückliegen. Wen wun<strong>der</strong>t es da, dass zahlreiche Untersuchungen belegen, dass<br />

Jungen in ihren Leistungen auffällig hinter den Mädchen zurückfallen, dass Jungen<br />

häufiger krank sind, häufiger Sprech- Konzentrations- Schreibstörungen haben,<br />

häufiger an dem berüchtigten Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom leiden.<br />

Für unser Thema „Gewaltbereitschaft“ hat das zur Folge, dass sich viele Jungen - in<br />

ihrem Tatendrang nicht ausgelastet und qua Rolle ständig stark sein zu müssen, in<br />

latenter Gefühl- und Sprachlosigkeit – dran gewöhnen, ohne Rücksicht auf eigene<br />

Emotionen und die Interessen an<strong>der</strong>er ihre Machtinteressen mit Gewalttätigkeiten<br />

durchzusetzen.<br />

2.3. Persönlichkeitsprofil aggressiver junger Männer<br />

Wen wun<strong>der</strong>t es da auch, dass die Lebenshypothese gewaltbereiter Jugendlicher<br />

heißt: Gewalt macht stark und unangreifbar. Friedfertigkeit dagegen heißt, feige und<br />

schwach zu sein. Für das Selbstbild aggressiver Jungen und junger Männer sind<br />

zwei Persönlichkeitsbezüge entscheidend, die sie ihre Gewalttätigkeit aufrecht halten<br />

und ausleben lassen. Gewaltbereite Jungen rechtfertigen ihr (auch mieses) Verhalten<br />

ständig zu ihren Gunsten und rücken auch Gewalttätigkeiten in ein positives<br />

heldenhaftes Licht. „Ich wollte Gerechtigkeit“. Sie sind außerdem kaum bereit o<strong>der</strong><br />

fähig, sich in das Opfer einzufühlen. „Selbst schuld, warum kommt er mir komisch.“<br />

An diesen beiden Stellen, die Rechtfertigungen zu knacken und Empathie, Mitgefühl<br />

zu wecken, liegen die Anknüpfungspunkte zur Arbeit mit gewaltbereiten<br />

Jugendlichen. Wer Mitgefühl mit einem Opfer entwickelt, verliert den Spaß an<br />

Gewalt.<br />

5


6<br />

Kriminologische Studienwoche <strong>der</strong> Universität Hamburg<br />

7. – 11. März 2005<br />

Gewalt in <strong>der</strong> Schule –<br />

Ausprägung, Erklärung, Prävention<br />

Angela Sack-Hauchwitz, Diplom-Soziologin<br />

Zu männlicher und weiblicher <strong>Konfliktbereitschaft</strong>, Gen<strong>der</strong>aspekten und Diversity,<br />

2.4. Der kulturelle Hintergrund kann die Gewaltbereitschaft bei Jungen<br />

verstärken<br />

Das Bild von Männlichkeit wird bei Jungen türkischer Herkunft meist noch entscheidend<br />

durch die Familie geprägt. Die Interessen <strong>der</strong> Familie stehen über denen<br />

des Einzelnen. Die Männer <strong>der</strong> Familie haben mehr Rechte und Freiheiten als die<br />

Frauen. An diesen traditionellen Werten halten türkische Familien in Deutschland<br />

noch viel stärker fest als türkische Familien in <strong>der</strong> heutigen Türkei. In einer sich<br />

verän<strong>der</strong>nden westlichen Gesellschaft bezieht sich die hoch gehaltene Ehre <strong>der</strong><br />

Familie heute mehr und mehr nur noch auf Äußerlichkeiten. Diesen Werte, die in<br />

einer Dorfgemeinschaft in Anatolien früher ihren Sinn gemacht haben, werden heute<br />

in <strong>der</strong> Großstadt zu einer leeren Hülle. Der türkische Vater hat oft keine echte<br />

Autorität mehr, son<strong>der</strong>n kompensiert seine Ohnmacht durch autoritäres Gehabe und<br />

Gewalt. Die Jungen haben nicht Respekt vor <strong>der</strong> Autorität des Vaters, son<strong>der</strong>n Angst<br />

vor Gewalt. Die Erziehung in 20 Prozent <strong>der</strong> türkischen Familien wird auch heute<br />

noch durch Gewalt geprägt, dass heißt, je<strong>der</strong> 5. türkische Junge wird zu Hause<br />

geschlagen.<br />

In Deutschland prallen für türkische Jungen ihre familiäre Tradition und die mo<strong>der</strong>ne<br />

Schule auf einan<strong>der</strong>, eine Schule, die das Individuum betont und individuelle<br />

Leistungen for<strong>der</strong>t. Für Jungen hat dieser kulturelle Bruch vor allem negative Folgen.<br />

Sie sind verunsichert, sie haben nicht gelernt, sich als Individuum mit persönlichen<br />

Wünschen und Vorstellungen und persönlichen Leistungen zu entwickeln. Sie haben<br />

zu wenige männliche Lehrer, die ihnen außer dem Vater eine wirkliche männliche<br />

Autorität sind. Sie haben Schwierigkeiten, in einer Lehrerin eine Fachautorität zu<br />

sehen. Da Frauen in ihrer altertümlichen Werteskala „unter dem Mann“ stehen,<br />

lassen sie sich oft nichts sagen und Lehrerinnen müssen sich oft üble sexistische<br />

Beschimpfungen anhören.<br />

Erkennen Sie den Teufelskreis? Wenn sprachliche Probleme und schlechte<br />

schulische Leistungen dazukommen, sind diese Jungen in <strong>der</strong> Falle ihrer<br />

Männerrolle. Sie haben nicht gelernt, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen,<br />

Frauen und Mädchen als gleichwertig anzuerkennen, geschweige denn, ihre eigenen<br />

Gefühle ernst zu nehmen und Gefühle an<strong>der</strong>er wahrzunehmen und zu respektieren.<br />

Sie retten sich in Gruppen von gleichaltrigen Jungen und bestätigen sich gegenseitig<br />

in ihrer männlichen Überlegenheit. Der Gewalttätige ist <strong>der</strong> Held, das Opfer hat selbst<br />

Schuld.<br />

Bei aus Russland eingewan<strong>der</strong>ten Familien stellt sich die familiäre Situation zwar<br />

an<strong>der</strong>s da, allerdings ist das Ergebnis, was die Gewaltbereitschaft <strong>der</strong> männlichen<br />

Jugendlichen betrifft, lei<strong>der</strong> ähnlich gravierend. Die Gleichberechtigung von Frauen<br />

und Männern wurde bereits 1917 in <strong>der</strong> sowjetischen Verfassung verankert. Frauen<br />

fanden Zugang zu fast allen qualifizierten Berufen. Aber irgendwas ging mit <strong>der</strong><br />

Gleichverpflichtung bei<strong>der</strong> Geschlechter schief. Frauen hatten fast die gesamte<br />

6


7<br />

Kriminologische Studienwoche <strong>der</strong> Universität Hamburg<br />

7. – 11. März 2005<br />

Gewalt in <strong>der</strong> Schule –<br />

Ausprägung, Erklärung, Prävention<br />

Angela Sack-Hauchwitz, Diplom-Soziologin<br />

Zu männlicher und weiblicher <strong>Konfliktbereitschaft</strong>, Gen<strong>der</strong>aspekten und Diversity,<br />

Doppelbelastung <strong>der</strong> Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu tragen und gaben die<br />

Kin<strong>der</strong>erziehung oft bei <strong>der</strong> Großmutter ab.<br />

Die repressiven gesellschaftlichen Strukturen im Beruf wurden in <strong>der</strong> Familie nach<br />

schon überholt geglaubten Traditionen kompensiert. Die Männer wurden als Paschas<br />

verwöhnt, neigten zu Alkoholkonsum, verhielten sich anspruchsvoll, egoistisch, zu<br />

Gewalt neigend. Die Frauen (Ehefrau, Mutter und Töchter) ordneten sich zu Haus<br />

sanft und anschmiegsam unter. Die Kin<strong>der</strong>, vor allem die Jungen wurden verwöhnt,<br />

gehegt, gepflegt und überbeschützt gehalten.<br />

Diese Jungen kommen als 12- bis 16-jährige Jugendliche nach Deutschland, oft<br />

gegen ihren Willen, ohne ausreichende Sprachkenntnisse, sozial nicht akzeptiert,<br />

ohne zufriedenstellende berufliche Perspektiven. Wenn sie keinen Rückhalt in <strong>der</strong><br />

Familie haben, was bleibt ihnen zu tun, um ihre vermeintliche Ehre und Männlichkeit<br />

zu retten? Gewalttätigkeit und Bandenbildung.<br />

3. Mädchen – die sanfte Hälfte <strong>der</strong> Jugend?<br />

3.1. Wie verhalten sich Mädchen?<br />

Mädchen können wie Jungen grundsätzlich alles sein. Sie können leise und<br />

ängstlich, laut und aggressiv, intelligent und kooperativ, egoistisch und sexistisch,<br />

hilfsbereit und einfühlsam sein. Sie können den Unterricht stören und konzentriert<br />

mitarbeiten.<br />

3.2. Werteorientierungen<br />

Die sogenannte Shell-Studie hat die Werteorientierung von Mädchen und Jungen<br />

analysiert und festgestellt, dass Mädchen bei zwei Drittel <strong>der</strong> Werte, die sie für ihre<br />

Lebensgestaltung wichtig finden, mit den Jungen übereinstimmen. Dem Wert<br />

„Selbstdurchsetzung“ hatten zum Beispiel beide auf einer Skala von 1 bis 7 im<br />

Durchschnitt denselben Wert 4.8 angegeben.<br />

Es gibt aber auch Unterschiede, die bei 0.3 Punkten Unterschied als signifikant<br />

bezeichnet werden. „Macht und Einfluss“ ist Jungen wichtiger, 4.1 (Jungen) zu 3.8<br />

Punkten (Mädchen. Mädchen halten Eigenverantwortlichkeit mit 5.8 zu 5.6 für<br />

wichtiger, ebenso sind ihnen Gefühle, 5.5 zu 5.1., und soziales Engagement, 4.8 zu<br />

4.5 wichtiger als Jungen. Jungen sind Gesetz und Ordnung nicht so wichtig wie<br />

Mädchen, 5.4 (Jungen) zu 5.7 (Mädchen). Obgleich auch hier ein hohes Maß an<br />

Übereinstimmung deutlich ist, bestätigen diese Befunde die Aussagen über die<br />

Jungen.<br />

3.3. Mädchen und Gewaltbereitschaft<br />

Das Bild eines gewaltbereiten Mädchens ist ungewohnt. Es ist zwar erwiesen, dass<br />

Gewalt vor allem von männlichen Jugendlichen ausgeht, aber was machen Mädchen<br />

7


8<br />

Kriminologische Studienwoche <strong>der</strong> Universität Hamburg<br />

7. – 11. März 2005<br />

Gewalt in <strong>der</strong> Schule –<br />

Ausprägung, Erklärung, Prävention<br />

Angela Sack-Hauchwitz, Diplom-Soziologin<br />

Zu männlicher und weiblicher <strong>Konfliktbereitschaft</strong>, Gen<strong>der</strong>aspekten und Diversity,<br />

mit ihrer Wut? Denn Mädchen sind grundsätzlich keineswegs weniger zornig als<br />

Jungen. Während Jungen durch Gewalt Macht und Kontrolle über An<strong>der</strong>e ausüben<br />

wollen, definieren Mädchen physische Gewalt als Kontrollverlust. Das soziale Umfeld<br />

toleriert außerdem physische Gewalt bei Mädchen viel weniger als bei Jungen,<br />

dieses Verhalten gilt landläufig als „unweiblich“.<br />

Mädchen neigen also eher dazu, Gefühle wie Wut und Ärger zu unterdrücken. O<strong>der</strong><br />

sie demütigen ihre Opfer verbal durch „Nie<strong>der</strong>reden“ durch Beleidigungen,<br />

Ausgrenzung und Missachtung. Wie bei Jungen ist die Ursache häufig ein unsicheres<br />

Selbstbild, Angst vor Ablehnung und auch Angst, selbst Opfer von Gewalt zu werden.<br />

Die Gewaltbereitschaft bei Mädchen sollte nicht per se „männlich“ genannt werden.<br />

Da das soziale Geschlecht nicht statisch ist, son<strong>der</strong>n sich dynamisch entwickelt,<br />

verän<strong>der</strong>n sich auch die traditionellen Verhältnisse <strong>der</strong> Geschlechter zueinan<strong>der</strong>. Die<br />

Bedeutung <strong>der</strong> Unterscheidung von Männlichkeit und Weiblichkeit verwischt sich<br />

trotz aller bestehenden Stereotypen. Es wird in Zukunft eine größere Bandbreite<br />

männlicher und weiblicher Lebensentwürfe geben. Auf unser Thema bezogen<br />

können sich auch gewaltbereite Mädchen durchaus in an<strong>der</strong>en Situationen<br />

normgerecht weiblich verhalten. Die These, dass Mädchen eher verbal aggressiv<br />

seien, kann auch so interpretiert werden, dass sich Mädchen in Konfliktsituationen<br />

zunächst mit reden durchzusetzen versuchen und erst später zuschlagen..<br />

3.4. Mobbing in <strong>der</strong> Klasse<br />

Mobbing ist eine konfliktbelastete Kommunikation. Typisch für Mobbing ist, dass es<br />

sich gegen „als unterlegen empfundene Einzelpersonen“ richtet, und zwar<br />

systematisch und über einen längeren Zeitraum hinweg. Mobbing ist ein typisches<br />

Problem im Klassenverband. Täter sind – ausdrücklich angemerkt – Jungen und<br />

Mädchen. Etwa die Hälfte <strong>der</strong> Mobbingvorfälle fallen unter „verbale Gewalt“. Eine<br />

Person wird ständig unterbrochen, es werden ständig Abwertungen und<br />

Diskriminierungen geäußert o<strong>der</strong> diese Person wird „wie Luft“ behandelt, ausgelacht,<br />

ungerechtfertigt beschuldigt. Für eine gezielte Klärung und Lösung dieser Konflikte<br />

gibt es erprobte Strategien. An Anti-Mobbing-Programmen und solchen zur<br />

Gewaltprävention sollten sowohl Mädchen als auch Jungen teilnehmen können.<br />

Auch Mädchen brauchen hier die gezielte För<strong>der</strong>ung brachliegen<strong>der</strong> kommunikativer<br />

Kompetenzen. Ihre Gefühle und Motive müssen erkannt und ernst genommen<br />

werden.<br />

3.5. Der Einfluss des kulturellen Hintergrunds auf das Verhalten von<br />

Mädchen<br />

Mädchen mit einem traditionellen türkischen Familienhintergrund blühen in <strong>der</strong><br />

Schule oft auf, da Schule <strong>der</strong> Ort ist, an dem sie sich als Individuum geachtet und<br />

geför<strong>der</strong>t sehen. Dennoch haben türkische Mädchen oft ein gering ausgeprägtes<br />

Selbstbewusstsein. Die Angst zu versagen führt aber – an<strong>der</strong>s als bei ihren Brü<strong>der</strong>n<br />

8


9<br />

Kriminologische Studienwoche <strong>der</strong> Universität Hamburg<br />

7. – 11. März 2005<br />

Gewalt in <strong>der</strong> Schule –<br />

Ausprägung, Erklärung, Prävention<br />

Angela Sack-Hauchwitz, Diplom-Soziologin<br />

Zu männlicher und weiblicher <strong>Konfliktbereitschaft</strong>, Gen<strong>der</strong>aspekten und Diversity,<br />

– oft zu psychosomatischen Beschwerden, richtet sich also gegen sie selbst und<br />

nicht als Aggression nach außen.<br />

Für Mädchen mit Migrationshintergund gilt verstärkt, was auch für viele deutsche<br />

Mädchen heute noch gilt. Ihre intellektuellen Kapazitäten werden – vor allem, wenn<br />

Sprachprobleme dazukommen - oft und nicht nur bei <strong>der</strong> Berufswahl übersehen.<br />

„Weibliche“ Fähigkeiten wie Empathie und Teamgeist werden oft negativ als „zu<br />

emotional“ bewertet. Wenn diese Mädchen in <strong>der</strong> Entwicklung ihrer Selbstständigkeit,<br />

Ausdrucks- und Durchsetzungsfähigkeit geför<strong>der</strong>t werden, bieten sie ein großes,<br />

noch zu wenig genutztes Potential an Kompetenzen, die einer Klasse gut tun.<br />

4. Geschlechtsspezifische Gewaltprävention und Diversity<br />

4.1. Wo sind die Potentiale <strong>der</strong> Jungen?<br />

Wir haben in <strong>der</strong> Einleitung schon davon gesprochen, dass Diversity den Fokus nicht<br />

so sehr auf die Benachteiligungen richtet, son<strong>der</strong>n auf die Potentiale, die entwe<strong>der</strong><br />

nicht genutzt o<strong>der</strong> fehlgenutzt werden.<br />

Jungen brauchen eigene positiv besetzte Inhalte, eigene Freiräume und eigene<br />

Methoden, die sie unterstützen, ihre Ängste und negativen Gefühle wie Wut und<br />

Verzweiflung und auch positive Gefühle wie Zuneigung und Mitleid bei sich und<br />

an<strong>der</strong>en wahrzunehmen und zuzulassen. Jungen brauchen die Möglichkeit, unter<br />

einan<strong>der</strong> Wünsche, Probleme, Stärken, Schwächen auszutauschen und ohne Angst<br />

vor Diskriminierung wirklich eigene Interessen zu entwickeln. Die positive Bewertung<br />

kommunikativer, sozialer Kompetenzen und Fähigkeiten zur Konfliktlösung durch das<br />

soziale Umfeld macht es Jungen leichter, sich mit diesen Fähigkeiten auch als<br />

zukünftiger Mann zu identifizieren.<br />

Aber auch die in unserem Zusammenhang oft gescholtenen „männlichen“<br />

Eigenschaften sollten, neu bewertet, zur Identitätsfindung <strong>der</strong> Jungen beitragen.<br />

Prahlen, Coolness und Wettbewerbstreben können eine Form von Selbstmotivation<br />

sein, um „große Projekte“ zu entwerfen. Schule könnte Jungen ein Jungenprojekt<br />

entwerfen lassen. Leistung schafft Selbstwertgefühl, ein hohler Ehrbegriff ist weniger<br />

wichtig.<br />

In Cliquen herumziehen kann ein Zeichen sein für „ich bin in <strong>der</strong> Gruppe handlungsfähiger“<br />

sein. Schule könnte einer Clique eine größere Aufgabe zur<br />

verantwortungsvollen Erledigung übertragen? Verantwortung übernehmen schafft<br />

Autorität, autoritäres Gehabe verliert an Bedeutung.<br />

Bewegungsdrang, Kampfgeist, lautstarkes Verhalten kann ein Zeichen für<br />

Einsatzfreude sein. Schule könnte mit Jungen eine Kampfsportart wie Rugby „Mann<br />

gegen Mann“ trainieren. Regeln einhalten, sich und an<strong>der</strong>en Grenzen setzen und<br />

9


10<br />

Kriminologische Studienwoche <strong>der</strong> Universität Hamburg<br />

7. – 11. März 2005<br />

Gewalt in <strong>der</strong> Schule –<br />

Ausprägung, Erklärung, Prävention<br />

Angela Sack-Hauchwitz, Diplom-Soziologin<br />

Zu männlicher und weiblicher <strong>Konfliktbereitschaft</strong>, Gen<strong>der</strong>aspekten und Diversity,<br />

nach Regeln siegen und verlieren schafft Fairness und Genugtuung. Gewalttätigkeit<br />

ist dann vielleicht nicht mehr nötig.<br />

Eine Jungengruppe muss – bei aller Anerkennung <strong>der</strong> Koedukation - auch häufiger<br />

allein mit einem männlichen Lehrer arbeiten können. Ohne Balz- und Imponiergehabe<br />

können sicher auch Jungen zielgerichteter und konzentrierter arbeiten.<br />

4.2. Wo sind die Potentiale <strong>der</strong> Mädchen?<br />

Viele Mädchen haben ein gutes Potential an sozialen und kommunikativen<br />

Fähigkeiten. Fähigkeiten, Konflikte zu erkennen, zu klären und zu lösen müssen aber<br />

von <strong>der</strong> Gesellschaft, hier von <strong>der</strong> Schule ausdrücklich positiv bewertet werden. In<br />

einem Schulprojekt zur Schulung von Konfliktschlichtern ergab die Ergebnisanalyse,<br />

dass die Aufwertung sprachlicher Fertigkeiten die Position <strong>der</strong> Mädchen deutlich<br />

verbesserte. Im Laufe des Projektes ließen sich ein Drittel <strong>der</strong> Schüler eines<br />

Jahrgangs zu Schlichtern ausbilden, die Hälfte davon Jungen.<br />

Mädchen werden bereits unterstützt und geför<strong>der</strong>t, ihre kognitiven Fähigkeiten, ihre<br />

Leistungsbereitschaft, ihre Energie und Vitalität besser zu nutzen. Durch diese<br />

För<strong>der</strong>programme wurde in den letzten 10 bis 15 Jahre viel erreicht. Dennoch nutzen<br />

immer noch viele Mädchen, vor allem auch Mädchen aus islamischen Elternhäusern,<br />

ihre intellektuellen Fähigkeiten nicht genügend für ihre eigene Lebensplanung.<br />

Auch Mädchen tut es gut, hin und wie<strong>der</strong> ohne Jungen unterrichtet zu werden. In<br />

einer reinen Mädchengruppe entfaltet sich erfahrungsgemäß ein weiteres Spektrum<br />

an Interessen, Bedürfnissen und Fähigkeiten, als <strong>der</strong> koedukative Alltag vermuten<br />

ließe.<br />

5. Ausblick<br />

Eine Erziehung zur Konfliktfähigkeit und zur Gewaltprävention sollte die beson<strong>der</strong>e<br />

Lebenssituation von Jungen und Mädchen berücksichtigen, ebenso ihre ethnischen<br />

Hintergründe. Mädchen und Jungen sollten auch in geschlechtshomogenen Gruppen<br />

lernen können. Stereotype Rollenbil<strong>der</strong> von Jungen und Mädchen sollten durch<br />

vielfältige und offene Lebensentwürfe ersetzt werden, damit kein Jugendlicher für<br />

seinen Lebenspläne hinter seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten zurückbleiben<br />

muss. Die Pädagogik sollte weniger an den Defiziten, son<strong>der</strong>n vielmehr an den<br />

Potentialen ansetzen, um Fähigkeiten zu för<strong>der</strong>n und zu trainieren, die aus Gründen<br />

noch zu starrer o<strong>der</strong> überholter Rollenbil<strong>der</strong> bislang nicht zufriedenstellend genutzt<br />

werden können.<br />

Wir stehen hier nicht etwa am Anfang einer Entwicklung. Es gibt seit Jahren<br />

zahlreiche Projekte, schulintern und län<strong>der</strong>übergreifend, die sich mit Gewaltprävention,<br />

Konfliktlösungsstrategien und inhaltlichen und methodischen Ansätzen<br />

zur Verän<strong>der</strong>ung und Erweiterung <strong>der</strong> Kompetenzen von Jungen und Mädchen<br />

10


11<br />

Kriminologische Studienwoche <strong>der</strong> Universität Hamburg<br />

7. – 11. März 2005<br />

Gewalt in <strong>der</strong> Schule –<br />

Ausprägung, Erklärung, Prävention<br />

Angela Sack-Hauchwitz, Diplom-Soziologin<br />

Zu männlicher und weiblicher <strong>Konfliktbereitschaft</strong>, Gen<strong>der</strong>aspekten und Diversity,<br />

befassen. Wichtig ist hier, mehr als bisher geschehen, dass zur Auswertung und<br />

Analyse <strong>der</strong> Ergebnisse Daten zum sozialen Geschlecht, zum Alter, zum<br />

Kulturhintergrund u.ä. erhoben werden, damit Verän<strong>der</strong>ungen professionell begleitet<br />

werden können.<br />

Die Akteure, die in diesem Feld zum Teil unter schwierigen Umständen arbeiten,<br />

brauchen den Kontakt und die Vernetzung untereinan<strong>der</strong>, den Erfahrungsaustausch,<br />

Anregungen. Sie brauchen nicht nur eine kritische Begleitung, son<strong>der</strong>n auch eine<br />

ausdrückliche Anerkennung ihrer Arbeit.<br />

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen interessanten Verlauf <strong>der</strong> Studienwoche.<br />

11


12<br />

Kriminologische Studienwoche <strong>der</strong> Universität Hamburg<br />

7. – 11. März 2005<br />

Gewalt in <strong>der</strong> Schule –<br />

Ausprägung, Erklärung, Prävention<br />

Angela Sack-Hauchwitz, Diplom-Soziologin<br />

Zu männlicher und weiblicher <strong>Konfliktbereitschaft</strong>, Gen<strong>der</strong>aspekten und Diversity,<br />

6. Literaturhinweise<br />

Sammelbände<br />

Detlev Gause, Heike Schlottau, Hrsg. Jugendgewalt ist männlich, Gewaltbereitschaft<br />

von Mädchen und Jungen, Hamburg 2002<br />

Heike Schlottau, Klaus Waldmann, Hrsg. Mehr als Karriere und Konsum, Jugendliche<br />

auf <strong>der</strong> Suche nach moralischer Orientierung, Bad Segeberg 1995<br />

Jens Weidner, Rainer Kilb, Dieter Kreft, Hrsg., Gewalt im Griff 1: Neue Formen des<br />

Anti-Aggressions-Trainings, Weinheim, 4. Aufl. 2004<br />

Jugend 2002, 14. Shell-Studie, 4. Auflage 2003<br />

Fachzeitschriften<br />

Durchblick, Zeitschrift für Ausbildung, Weiterbildung und berufliche Integration, Heft<br />

Gen<strong>der</strong> Mainstreaming, Nr. 4, 2002, Heidelberger Institut Beruf und Arbeit<br />

Switchboard, Zeitschrift für Männer- und Jungenarbeit, Verlag Männerwege<br />

Heft Gen<strong>der</strong> und Gewalt Nr. 163, 2004,<br />

Heft Gen<strong>der</strong> Mainstreaming, Nr. 153, 2002<br />

Pädagogik, Heft Hilfen gegen Gewalt, Weinheim,Nr. 1, 1999<br />

Maria Lindner u.a. Schulschlichtung – Schlichterschulung, in Die Ganztagsschule,<br />

Heft 4, 1998<br />

Artikel aus Zeitungen<br />

Das Fleisch ist deins, Interview mit Haci Halil Uslucan,<br />

TAZ v. 13.1.2003<br />

Ehre und hohle Männlichkeit, Interview mit Hakan Aslan, TAZ v. 10.2.2003<br />

Mehmet Daigamüler, Türkische Männer müssen umdenken, Die Welt, ohne Datum<br />

Uwe Buse, Aufstand <strong>der</strong> Hormone, Der S-Bahn Schubser,<br />

Der Spiegel Nr. 37/ 2004<br />

Jugendbanden gibt es hier nicht, Osdorfer Born,<br />

Klönschnack Nr. 11/2004<br />

12


13<br />

Kriminologische Studienwoche <strong>der</strong> Universität Hamburg<br />

7. – 11. März 2005<br />

Gewalt in <strong>der</strong> Schule –<br />

Ausprägung, Erklärung, Prävention<br />

Angela Sack-Hauchwitz, Diplom-Soziologin<br />

Zu männlicher und weiblicher <strong>Konfliktbereitschaft</strong>, Gen<strong>der</strong>aspekten und Diversity,<br />

Jochen Bölsche, „Mann, sind die Sterne geil“, Böse Buben, kranke Knaben, Spiegelonline<br />

v.11.10.2002<br />

Broschüren und Handreichungen<br />

Hinweise zu Gewaltvorfällen in Schulen, interne Handreichung <strong>der</strong> Behörde für<br />

Bildung und Sport, o.J.<br />

Zur Verbesserung <strong>der</strong> Streitkultur in den Schulen, För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Konfliktfähigkeit,<br />

Gesamtschule Grellkamp, o.J.<br />

Gewalt in <strong>der</strong> Schule, Behörde für Bildung und Sport, Hamburg 2002<br />

Günther Gugel, Mobbing, Themenblätter zum Unterricht, Bundeszentrale für<br />

politischen Unterricht, Bonn 2002<br />

13


14<br />

Kriminologische Studienwoche <strong>der</strong> Universität Hamburg<br />

7. – 11. März 2005<br />

Gewalt in <strong>der</strong> Schule –<br />

Ausprägung, Erklärung, Prävention<br />

Angela Sack-Hauchwitz, Diplom-Soziologin<br />

Zu männlicher und weiblicher <strong>Konfliktbereitschaft</strong>, Gen<strong>der</strong>aspekten und Diversity,<br />

7. Kurzlebenslauf<br />

Angela Sack-Hauchwitz<br />

Diplom-Soziologin (Universität Hamburg 1972)<br />

Studiendirektorin in <strong>der</strong> Erwachsenenbildung (seit 1993)<br />

Erstes Standbein<br />

Zweites Standbein<br />

1972 – 1977<br />

Leiterin des <strong>Fachbereich</strong>s Deutsch als<br />

Fremdsprache an <strong>der</strong> Hamburger<br />

Volkshochschule<br />

1977 – 1994<br />

Leiterin <strong>der</strong> Volkshochschule West in Hamburg<br />

1994 – heute<br />

1970 – 1977<br />

Kursleiterin für Deutsch als Fremdsprache<br />

1977 – 1995<br />

Seminarleiterin zu den Themenbereichen<br />

Kommunikation, Konfliktlösung<br />

Hamburger Volkshochschule, Friedrich-Ebert-<br />

Stiftung Ahrensburg, Ev. Akademie Bad Segeberg<br />

und 1991 - 1992 Volkshochschule Schwerin<br />

1985 – 1998<br />

Referentin in <strong>der</strong> Behörde für Bildung und Sport,<br />

zuständig unter an<strong>der</strong>em für Konzepte und<br />

Projekte zur Stadtteilentwicklung und zur<br />

Berufsorientierung, zu Fragen von Gen<strong>der</strong><br />

Mainstreaming und Diversity<br />

Lehrbeauftragte an <strong>der</strong> Fachhochschule für<br />

Elektrotechnik und Elektronik Hamburg im<br />

Wahlpflichtbereich zu den Themenbereichen<br />

Kommunikation und Projektmanagement<br />

2003<br />

Gründung <strong>der</strong> Agentur für kulturelle<br />

Kommunikation mit den Ziel, die Aktivitäten zu<br />

Gen<strong>der</strong> / Diversity im Hamburger Raum zu<br />

vernetzen - siehe http://www.arbeitskreis-gen<strong>der</strong>diversity.de<br />

- und den Lernbereich Kommunikation<br />

durch neue Blended Learning Konzepte zu<br />

ergänzen.<br />

14


15<br />

Der Teufelskreis <strong>der</strong> Gewalt<br />

Dr. med. Hubertus Adam<br />

Klinik für Kin<strong>der</strong>- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie


16<br />

Peter Fonagy, 1998<br />

‣ Es wird allgemein anerkannt, dass Aggression<br />

nicht von sich aus pathologisch ist und<br />

durchaus Teil eines gesunden mentalen<br />

Zustandes sein kann. Sie hat durchdringenden<br />

Einfluss auf viele alltägliche Handlungen<br />

‣ auf das Konkurrenzverhalten<br />

‣ auf die Humorentwicklung<br />

‣ auf das Verhalten beim Sport<br />

‣ auf die Phantasietätigkeit<br />

tigkeit<br />

‣ Aggression kann auch beschützend wirken


17<br />

Gewalt<br />

‣ Schiprowski, , 1993<br />

‣ Physische Gewalt<br />

‣ Psychische Gewalt<br />

‣ Verbale Gewalt<br />

‣ Vernachlässigung<br />

‣ Sexuelle Gewalt<br />

‣ Frauenfeindliche Gewalt<br />

‣ Fremdenfeindliche Gewalt<br />

‣ Ratzke et al., 1997<br />

‣ Gewaltbereites Verhalten als „soziale Krankheit“<br />

‣ Ursprungsort <strong>der</strong> Konflikte nicht identisch mit dem Ort <strong>der</strong> Gewaltäußerung<br />

erung<br />

‣ Gewaltbereites Verhalten als Möglichkeit M<br />

<strong>der</strong> Konfliktlösung


18<br />

Die kindliche Entwicklungslinie<br />

Symptomatik Intervention<br />

Entwicklungsschwierigkeiten<br />

Bewältigungsversuche<br />

Traumatische<br />

Situationen<br />

Entwicklungsaufgaben<br />

Schule und Beruf<br />

Peer group<br />

Eltern und Familie<br />

Säugling<br />

Kleinkind<br />

Vorschulkind<br />

Schulkind<br />

Jugendliche/r<br />

junge/r<br />

Erwachsene/r


19<br />

Neue Ergebnisse <strong>der</strong> Neurobiologie und<br />

Entwicklungspsychologie zu Aggressivität und<br />

Konfliktfähigkeit<br />

‣ In <strong>der</strong> ersten Hälfte H<br />

des ersten Lebensjahres (ab<br />

ca. dem 2. Monat) können k<br />

Zeichen von Ärger<br />

–<br />

mit dem Ziel <strong>der</strong> Überwindung eines<br />

Hin<strong>der</strong>nisses, das im Wege steht, d.h. also als<br />

Folge einer Frustration zielgerichteter<br />

Handlungen – beobachtet werden.<br />

‣ Hass = intrapsychische, stabile Konfiguration<br />

chronischer Feindseligkeit (erst ab ca. 18<br />

Monaten)


20<br />

Neue Ergebnisse <strong>der</strong> Neurobiologie und<br />

Entwicklungspsychologie zu Aggressivität und<br />

Konfliktfähigkeit<br />

‣ Zwischen dem 9. und 18. Monat wird <strong>der</strong> Ärger<br />

(Kratzen, Schlagen, Treten, Schubsen,<br />

Spielzeug-Wegnehmen) objektgerichteter.<br />

‣ Ärger ist meist situativ (d.h. reaktiv auf<br />

Frustration o<strong>der</strong> Schmerz) determiniert.<br />

Verletzungsabsichten stellen keinen integralen<br />

Bestandteil dieser Handlungen dar, können k<br />

aber<br />

beobachtet werden.


21<br />

Neue Ergebnisse <strong>der</strong> Neurobiologie und<br />

Entwicklungspsychologie zu Aggressivität und<br />

Konfliktfähigkeit<br />

‣ Zwischen dem 12. und dem 18. Monat können k<br />

sich in den aggressiven Handlungen auch erste<br />

absichts- und lustvolle sadistische Komponenten<br />

zeigen.<br />

‣ Zwischen dem 18. und 36. Monat steht <strong>der</strong><br />

Besitz von Gegenständen nden o<strong>der</strong> die in<br />

Anspruchnahme von Zuwendung bei den<br />

meisten Auseinan<strong>der</strong>setzungen im Zentrum.<br />

‣ Jungen reagieren physisch aggressiver als<br />

Mädchen.


22<br />

Neue Ergebnisse <strong>der</strong> Neurobiologie und<br />

Entwicklungspsychologie zu Aggressivität und<br />

Konfliktfähigkeit<br />

‣ Feindselige Aggressivität t als charakterliche<br />

Eigenschaft existiert bereits im 2. Lebensjahr,<br />

verfestigt sich und zeigt eine hohe Persistenz im<br />

Laufe <strong>der</strong> weiteren Entwicklung.<br />

‣ Es besteht ein weitgehen<strong>der</strong> Konsens darüber,<br />

dass feindselig-destruktives destruktives Verhalten wie auch<br />

dessen Chronifizierung das Ergebnis eines mehr<br />

o<strong>der</strong> weniger lieblosen Umgangs mit dem Kind<br />

ist.


23<br />

Neue Ergebnisse <strong>der</strong> Neurobiologie und<br />

Entwicklungspsychologie zu Aggressivität und<br />

Konfliktfähigkeit<br />

‣ Angeboren dürfte d<br />

allenfalls die Möglichkeit M<br />

sein,<br />

destruktive Impulse zu entwickeln.<br />

Beziehungserfahrungen in <strong>der</strong> Kindheit legen<br />

diesbezüglich weitgehend fest, wie viel feindselig-<br />

destruktives Potential entwickelt wird.<br />

‣ Sicher gebundene Kin<strong>der</strong> sind weniger aggressiv,<br />

desorganisierte zeigen mehr Feindseligkeit.<br />

‣ Der Zusammenhang zwischen Erziehung und<br />

Aggressivitätsentwicklung tsentwicklung hat sowohl bei gesunden<br />

als bei kranken Kin<strong>der</strong>n Gültigkeit. G


24<br />

Neue Ergebnisse <strong>der</strong> Neurobiologie und<br />

Entwicklungspsychologie zu Aggressivität und<br />

Konfliktfähigkeit<br />

‣ Aggessives Handeln vermittelt ein gehobenes Gefühl<br />

, eine Art narzisstischer Lust.<br />

‣ Destruktive Aggressivität, t, lustvolle Feindseligkeit und<br />

sadistisch gefärbte Handlungen sind erheblich von<br />

sozialen und situativen Umständen abhängig.<br />

Es gibt soziale Determinanten, atmosphärische<br />

‣ Es gibt soziale Determinanten, atmosph<br />

Beson<strong>der</strong>heiten und Klimata<br />

Klimata, , die Gewalt beför<strong>der</strong>n. 5<br />

Jahre nach einem Krieg liegen die Zahlen für f<br />

Gewaltverbrechen klar höher h her als 5 Jahre vor dem<br />

Krieg<br />

Krieg (Lore / Schultz, 1993).


25<br />

Schlussfolgerung<br />

Hintergrund<br />

generelle Einstellung <strong>der</strong> Eltern zum Kind<br />

Psychische und körperliche Verfassung <strong>der</strong> Eltern<br />

Sozioökonomische Bedingungen<br />

Temperament des Kindes<br />

Vor<strong>der</strong>grund<br />

aktuelles Geschehen<br />

befriedigende +<br />

frustrierende Erfahrungen


26<br />

Risikofaktoren<br />

Äußere Risikofaktoren<br />

Kindliche<br />

Risikofaktoren<br />

Schlussfolgerung<br />

„missing link“ Manifestierung<br />

psychischer Störung<br />

Beziehungserfahrung<br />

Beziehungsgestaltung


27<br />

Schlussfolgerung<br />

‣ Die meisten psychischen Fehlentwicklungen sind<br />

verknüpft mit einer unzureichenden Fähigkeit F<br />

zu<br />

innerseelischen und interpersonalen<br />

Konfliktlösungen, d.h. solchen, die an<strong>der</strong>e Ich-<br />

Funktionen wesentlich beeinträchtigen.<br />

‣ Psychotherapie erleichtert die Umwandlung<br />

primitiv-aggressiver Strebungen in differenziertere<br />

Formen.


28<br />

Traumatische Situation<br />

Primäre Schutzmechanismen eines Kindes versagen,<br />

es entsteht eine bedrohliche Hilflosigkeit,<br />

schließlich:<br />

• psychobiologisch sinnvolle Alarmreaktionen<br />

• Symptome als Bewältigungsversuch


29<br />

Definition: psychisches Trauma<br />

„Vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen<br />

Situationsfaktoren und individuellen<br />

Bewältigungsmöglichkeiten, welches mit dem<br />

Gefühl <strong>der</strong> Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe<br />

einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung<br />

von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.“<br />

(Fischer und Riedesser, 1999)


30<br />

… dann ist das<br />

Dach kaputt!<br />

Suher, 12 Jahre, Kosovo


31<br />

Prädiktoren I: Art des Traumas<br />

Zunahme<br />

des<br />

pathogenen<br />

Effekts<br />

A. Naturkatastrophen<br />

B. von Menschen induziert<br />

1. technische Katastrophen<br />

2. organisierte Gewalt<br />

3. familiäre Gewalt<br />

(McNally, 1992; Yule, 1994)


32<br />

Prädiktoren II<br />

Unmittelbare Reaktion und spätere pathogene<br />

Effekte hängen ab von:<br />

• <strong>der</strong> Gefahr für die eigene Person und dem Grad <strong>der</strong><br />

Involviertheit (Yule, 1990)<br />

• <strong>der</strong> Nähe zu Tod und Verletzung an<strong>der</strong>er (Kaplan, 1994)<br />

• <strong>der</strong> Dauer <strong>der</strong> traumatischen Situation (Terr, 1983)<br />

• den individuellen Coping-Ressourcen (Pynoos, 1995)


33<br />

Folgen von<br />

Krieg<br />

Karole, 9 Jahre,<br />

Elfenbeinküste


34<br />

Symptome I<br />

Posttraumatische Belastungsstörung:<br />

• Arousal (Hypervigilanz, übermäßige Schreckreaktion,<br />

motorische Hyperaktivität, Schlafstörungen, Albträume)<br />

• Intrusion (Einbrechen von traumatischen Erinnerungen in das<br />

Bewusstsein, getriggert durch Schlüsselreize)<br />

• Numbing (Abstumpfung, Dissoziation, Vermeidung)


35<br />

Der Vulkan<br />

Edrin, 10 Jahre,<br />

Bosnien


36<br />

Symptome II<br />

Störungen von Basisfunktionen<br />

• funktionelle Störungen, Essstörungen<br />

„Kulturwechselsyndrome“<br />

• Anpassungsstörungen, Mutismus, „Nostalgia“<br />

Verhaltensstörungen<br />

• regressives, aggressives Verhalten<br />

Intrapsychische Konflikte<br />

• Schuldgefühle, archaische Abwehrmechanismen


37<br />

Therapeutische Aspekte<br />

Sicherheit und Schutz<br />

Neugier + Selbstkritik des Therapeuten<br />

Integration in das altersgemäße kindliche<br />

Weltbild<br />

Korrektive therapeutische Beziehungserfahrung<br />

Ressourcenorientiertes Arbeiten mit Umwelt +<br />

Familie<br />

Anbindung an prätraumatische positive<br />

Erfahrungen<br />

Versöhnungsarbeit


38<br />

Supermann<br />

Ramin, 10 Jahre,<br />

Afghanistan


39<br />

Vielen Dank


40<br />

Jugendliche Amokläufer aus entwicklungspsychologisch<br />

-psychiatrischer Perspektive<br />

Prof. Dr. Dr. Reinhart Lempp<br />

(Stuttgart)<br />

Amokläufer sind lt. Wörterbuch :<br />

Malayiische Inseln – plötzliche Bewegungsstörung mit<br />

Mordtrieb – Epilepsie, Katatonie<br />

Neuere Kriminologie – keine Eintragung<br />

Handbuch <strong>der</strong> forensischen Psychiatrie (Göppinger, Witter)<br />

1972: unter psychogene Ausnahmezustände.<br />

Definition Lothar Adler – ref. S.Schildbach –<br />

Serienmör<strong>der</strong> – in zeitl. Abstand, an verschiedenen<br />

Orten – <strong>der</strong> erste oft zufällig, ungeplant, aus Affekt. Die<br />

weiteren<br />

Massenmör<strong>der</strong> – am gleichen Ort u. gleichzeitig –<br />

wahllose Opfer<br />

Amokläufer- keine Kurzschlusshandlung – Kränkung –<br />

Depression - in dissoziativem Zustand – wie im „Trance“ –<br />

Suicid o<strong>der</strong>e langer SchlaF – keine Erinnerung<br />

Bezeichnung „Amokläufer“ – erweitert – ungenau:<br />

Plötzliche, unmotivierte, wahllose Tötung zufällig<br />

Anwesen<strong>der</strong> – oft Suicid


41<br />

2<br />

Gilt so nicht für School Shotings!<br />

Überraschend – aber klar motiviert, geplant - gezielte<br />

Tötung – oft Suicid<br />

Es gibt auch Amoktaten: außerhalb <strong>der</strong> Schule<br />

- 1.11.99 Bad Reichenhall Martin Peyerl 16. Vater hat 20<br />

Schusswaffen<br />

Hauskatze, Schwester, 43 Schüsse aus dem Fenster 2<br />

Tote , 8 verletzt – Suicid<br />

- 12.2.02 „Maskenmör<strong>der</strong>“ Gersthofen durch den<br />

Jugendlichen Michael Weinhold<br />

Opfer. Das ihm unbekannte 12 jährige Kind Vanessa<br />

durch Messerstiche<br />

In <strong>der</strong> Schule : gezielter Aggression gegen Lehrer –<br />

Lehrerinnen<br />

Mitschüler – Sekretärin – eher „Kollateralschaden“.<br />

Was ist Aggressivität?<br />

Das lateinische aggredi umfasst das freundliche auf jemand<br />

zugehen, in Angriff nehmen sich zuwenden ebenso wie<br />

das feindliche Angreifen<br />

aggressiv - in Psychologie und umgangssprachlich weit<br />

gefasst,<br />

von Haltung – Sprechen - .Sport mit Regeln bis<br />

Schlagen und Töten


42<br />

3<br />

Bei <strong>der</strong> Suche nach dem Motiv <strong>der</strong> Aggressivität ist eine<br />

Einschränkung des Begriffs nötig –<br />

Handlung mit Schädigungsabsicht: - körperlicher<br />

Schädigung.<br />

Dann gilt: Die Ursache je<strong>der</strong> so definierten Aggression ist<br />

Angst.<br />

Analogie zum Säugetier. Bei konkreter Gefahr (einschl.<br />

Hunger)<br />

– Flucht o<strong>der</strong> Aggression<br />

Beispiel: stärkerer Feind - Platzhirsch gegen Rivalen –<br />

= Angst um Existenz – (kritischer Abstand) –<br />

Angst vor Machtsverlust.<br />

Beim Menschen ist es ebenso<br />

Unterschied. Er kann sich seine Zukunft vorstellen –<br />

virtuelle Gefahr<br />

- keine Fluchtmöglichkeit – nur Aggression gegen schwächere<br />

–Vandalismus<br />

Entwicklung von Nebenrealität und Hauptrealität<br />

Kindl. Egozentrismus – Überstieg<br />

Bedeutung <strong>der</strong> NR – Entlastung, vorübergehende<br />

Wunschtraumerfüllung<br />

Aber auch – Angst und Bedrohung<br />

- auch Voraussetzung für Kunst


43<br />

4<br />

Leben in zwei Realitätsebenen<br />

Vor dieser Angst ist keine Flucht möglich – nur Drogen, NR –<br />

Suicid<br />

NR geeignet um Selbstwertschwäche auszugleichen<br />

Vorstellungen von eigener Macht, Stärke und Fahigkeit<br />

Narzismus – Selbstverliebt, eigene Mängel überdecken<br />

Stabilisierung <strong>der</strong> NR durch Video-Medien<br />

Beson<strong>der</strong>e Wirksamkeit und Prägung visueller Eindrücke<br />

gegenüber verbalen (gehörten. Gelesenen) Videokunst -<br />

suchtartig<br />

Überstieg nach emot. Film<br />

Individuelle Neigung zu Überstiegsverlust –<br />

Realitätsverlust<br />

Bor<strong>der</strong>line ? – pubertär – nachpubertär ?<br />

Die subjektiv erlebte Situation jugendlicher Amokläufer<br />

Kränkung – subj. Ausweglose Situation<br />

Selbstwertunsicherheit – Zukunftsängste Angst ⇒<br />

Aggression


44<br />

5<br />

Robert Steinhäuser – von <strong>der</strong> Schule gewiesen – Eltern<br />

wissen nichts davon – Verbot, es den Eltern mitzuteilen<br />

(inzwischen durch höchstrichterl.Position fixiert)<br />

Eine subjektiv auswegslose Situation<br />

Selbstwertkrise besteht schon lange<br />

Schon lange Pflege <strong>der</strong> selbstwerterhöhenden<br />

Nebenrealität<br />

Schießverein – Aggressionsfantasien gegen <strong>der</strong> Bösen<br />

Der Böse ist die Schule – die Lehrer<br />

Diese Pflege macht kein schlechtes Gewissen – ist ja nur<br />

Fantasie<br />

An<strong>der</strong>e Beispiele. Friedensflieger Manfred Rust<br />

Nach Amoklauf erweckt diese lang zurückreichende Pflege<br />

den<br />

Verdacht auf systematische Vorbereitung <strong>der</strong> Tat –<br />

Irrtum<br />

Plötzlicher – o<strong>der</strong> allmählicher ?? Verlust des<br />

Realitätsbezugs – <strong>der</strong> Fähigkeit zum Überstieg<br />

Ebenso plötzliche Rückkehr zur Realität - Grund zum<br />

Suicid – nicht zu bewältigende Situation<br />

Beispiel Robert Steinhäuser – Lehrlinge? – Polizist<br />

?– Lehrer Heise?


45<br />

6<br />

Das gilt für alle (jugendlichen? ) Amokläufer:<br />

Anhaltende Selbstwertkrise – mit o<strong>der</strong> ohne<br />

Narzismus – Training in NR<br />

- Sich zuspitzende nicht zu bewältigende Situation –<br />

- Plötzlicher Realitätsbezugsverlust – Plötzliche<br />

Rückkehr in die HR –<br />

Endgültig nicht zu bewältigende Situation – möglicher<br />

Suicid<br />

Beson<strong>der</strong>e Bedingung <strong>der</strong> Tat zu zweit – gleiches Muster –<br />

aber gegenseitige Verstärkung – gemeinsame NR –folie a<br />

deux<br />

Eigene Einstellung zur Tat<br />

Eigentliche psychotische - schizophrene Handlung<br />

Können sich mit <strong>der</strong> eigenen Tat nicht identifizieren –<br />

möchten nicht akzeptieren, das sie etwas tun, was sie – realiter<br />

- nicht tun wollen<br />

Verstehen ihre eigene Handlung nicht –<br />

Fall versuchter Bru<strong>der</strong>mord – Romeo u. Julia-<br />

Überidentifikation<br />

Wahrscheinlich sind solche NR-Handlungen viel häufiger –<br />

werden nur bekannt, wenn etwas Kriminelles –<br />

Aufsehenerregendes - geschieht.-


46<br />

7<br />

Zwei Typen – sich überschneidend:<br />

Bor<strong>der</strong>line Typ - spezielle Persönlichkeitsstörung ICD 10<br />

F.60.31<br />

Gibt es puberal – postpuberal passager<br />

- Tat steht im Wi<strong>der</strong>spruch zum bisherigen Verhalten des<br />

Täters<br />

- Tat ist auch für den Täter nicht verständlich<br />

- Täter distanziert sich nachdrücklich von seiner Tat ohne<br />

sie zu bestreiten (Splitting)<br />

- Täter ist nach <strong>der</strong> Tat psychisch unauffällig (abgesehen<br />

von <strong>der</strong> Reaktion auf seine Tat)<br />

- Verdeckungshandlungen sind möglich (z.B., sekundärer<br />

Raub)<br />

- Unerzwungene Vermeidung <strong>der</strong> letzten Konsequenz <strong>der</strong><br />

Tat (Mordversuch statt Mord).<br />

Von Bildmedien inspirierte Täter<br />

- Tat ist Antwort auf vermeintliche o<strong>der</strong> tatsächliche<br />

Selbstwertkränkung<br />

- Tat geht eine längere Zeit <strong>der</strong> Identifizierung mit einer<br />

selbstwerterhöhenden Rolle, unterstützt durch<br />

Bildmedien, voraus<br />

- Tat wird – zunächst spielerisch - geplant und vorbereitet<br />

- Tat hat ein offensichtliches Motiv, ist aber<br />

unverhältnismäßig<br />

- Tat ist nicht persönlichkeitsfremd<br />

- Tat endet meist mit Selbstmord<br />

Was ist zu tun? Gibt es eine Prophylaxe?


47<br />

8<br />

Im Einzelfall:<br />

Sich um mögliche Problemfälle kümmern - Hilfe<br />

anbieten – damit NR unnötig – Aggressionen abbauen<br />

Amoktendenzen unmöglich machen.<br />

Fiktive Vorbereitungen aufspüren<br />

- Psychotherapie<br />

Schwierig, da <strong>der</strong> Betroffene verdrängt – sich gut fühlt<br />

s. Gersthofen – bekam einen Preis vor <strong>der</strong> Tat.<br />

Im Allgemeinen:<br />

Schulsozialarbeit (Beispiel USA NY)<br />

Einschlägige Videospiele verbieten – Stop to teach our<br />

kids to kill<br />

-Argumentation <strong>der</strong> Hersteller. Seltene Einzelfälle –<br />

Pharmakologie!<br />

Verbot nicht durchsetzbar – beson<strong>der</strong>er Anreiz<br />

Selbstbewußtsein stärken<br />

Individuelle Fähigkeiten aufspüren - entwickeln<br />

Bildungssystem kränkt den Selbstwert eines Drittels <strong>der</strong><br />

Kin<strong>der</strong> durch Zeugnishierarchie – fehlende<br />

Erfolgserfahrungen<br />

Angstabbau – in Schule wie in Politik


48<br />

9<br />

Gewalt in <strong>der</strong> Schule<br />

Im Übrigen:<br />

Prof. Pfeiffer, Hannover<br />

– Aggression Jugendlicher geht seit 1997 zurück<br />

Kulturelle Unterschiede – daheim mehr Gewalt als<br />

iun <strong>der</strong> Schule<br />

Das Klassenzimmer ist <strong>der</strong> sicherste Ort<br />

Lösel: Wenige, die mehr Aggressionen zeigen.


67<br />

Auswirkungen von Schulschießereien<br />

auf Opfer und Umfeld<br />

Georg Pieper<br />

ITB<br />

Institut für Traumabewältigung<br />

© ITB Pieper 1


68<br />

Auswirkungen von Schulschießereien<br />

auf Opfer und Umfeld<br />

… an zwei Beispielen<br />

• Der Lehrerinnenmord in Meissen vom 9. November 1999<br />

• Der Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium<br />

vom 26. April 2002<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 2


69<br />

Teil 1:<br />

Der Mord an einer Lehrerin<br />

des Gymnasiums Franziskaneum,<br />

Meissen, 9. November 1999<br />

© ITB Pieper 3


70<br />

Betroffenen-Gruppen<br />

• Die Schüler <strong>der</strong> Klasse 9, die direkte Zeugen des Mordes waren<br />

• Die Lehrer, die direkt mit <strong>der</strong> sterbenden Kollegin konfrontiert waren<br />

• Schüler <strong>der</strong> Schule, die auf dem Flur mit <strong>der</strong> getöteten Lehrerin<br />

konfrontiert worden waren<br />

• Hausmeister, die das Blut des Opfers im Klassenzimmer und auf<br />

dem Flur wegwischen mussten<br />

• Das gesamte Lehrerkollegium des Gymnasiums Franziskaneum<br />

• Die Eltern <strong>der</strong> Schüler aus Klasse 9<br />

• Die Familie des Täters<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 4


71<br />

Betroffenen-Gruppe 1: Schüler <strong>der</strong> Klasse 9,<br />

die Augenzeugen des Mordes waren<br />

• Traumatische Stressoren<br />

(A) Konfrontation mit <strong>der</strong> Tat<br />

– Eindringen des Täters in die Klasse<br />

– Maskierung des Täters<br />

– Die Messer<br />

– An die Tafel spritzendes Blut<br />

– Schreie <strong>der</strong> Lehrerin<br />

– Konfrontation mit <strong>der</strong> stark blutenden sterbenden Lehrerin<br />

– Entsetzen, Panik, Todesangst, selber angegriffen zu werden<br />

(B) Konfrontation mit den Folgen <strong>der</strong> Tat<br />

– lange Blutspur auf dem Flur<br />

– zugedeckte Leiche<br />

– Konfrontation mit fassungslosen, weinenden, hilflosen Lehrern<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 5


72<br />

Betroffenen-Gruppe 1: Schüler <strong>der</strong> Klasse 9,<br />

die Augenzeugen des Mordes waren (Forts.)<br />

• Typische Reaktionen<br />

– Angst und Verunsicherung in <strong>der</strong> Schule; sich dort nicht<br />

mehr sicher fühlen<br />

– Wie<strong>der</strong>kehrende quälende Bil<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Tat, z.B. von <strong>der</strong><br />

verletzten, schreienden Lehrerin<br />

– Ein- und Durchschlafstörungen, Albträume, Konzentrationsstörungen<br />

und Leistungsabfall<br />

– Hypervigilanz, starke Anspannung, Unruhe<br />

– Starke Schreckreaktionen bei plötzlichem Öffnen <strong>der</strong> Klassentür<br />

– Emotionale und physiologische Reaktionen bei Konfrontation mit<br />

schwarz gekleideten Personen<br />

– Schuldgefühle, nicht auf die Ankündigungen des Mitschülers<br />

reagiert und das Ereignis verhin<strong>der</strong>t zu haben<br />

– Gefühl, niemandem mehr trauen zu können<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 6


73<br />

Betroffenen-Gruppe 2: Lehrer, die mit<br />

<strong>der</strong> sterbenden Kollegin konfrontiert waren<br />

• Traumatische Stressoren<br />

– Hören von lauten Schreien<br />

– Konfrontation mit <strong>der</strong> stark blutenden sterbenden Kollegin<br />

– Hilflosigkeit beim Versuch, sie zu retten<br />

– Konfrontation mit dem Täter, <strong>der</strong> nah an ihnen vorbeilief<br />

– lange Blutspur auf dem Flur<br />

– fassungslos, verwirrt und voller Angst, wie<strong>der</strong> vor die Klasse<br />

treten zu müssen<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 7


74<br />

Betroffenen-Gruppe 2: Lehrer, die mit<br />

<strong>der</strong> sterbenden Kollegin konfrontiert waren (Forts.)<br />

• Typische Reaktionen<br />

– Ängste in die Schule zu gehen und vor <strong>der</strong> Klasse zu stehen<br />

– Ängste vor Schülern, sich in <strong>der</strong> Schule nicht mehr sicher fühlen<br />

– Überlegungen, welcher Schüler zu einer solchen Tat fähig wäre<br />

– Schuldgefühle, <strong>der</strong> Kollegin nicht geholfen zu haben<br />

– Schlafstörungen, Albträume, Konzentrationsstörungen<br />

– Hypervigilanz, dauernde Anspannung, Schreckhaftigkeit<br />

– Vermeidung <strong>der</strong> Stelle im Flur, an <strong>der</strong> die Kollegin verstarb<br />

– Körperliche Beschwerden (Herz-Kreislaufprobleme, Magenbeschwerden,<br />

Kopfschmerzen, allgemeine Kraftlosigkeit)<br />

– in Frage stellen <strong>der</strong> eigenen Berufstätigkeit („ein Lehrerleben<br />

scheint nichts wert zu sein“)<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 8


75<br />

Betroffenen-Gruppe 3: Schüler, die mit<br />

<strong>der</strong> getöteten Lehrerin konfrontiert waren<br />

• Traumatische Stressoren<br />

– Hören von lauten Schreien<br />

– Konfrontation mit <strong>der</strong> stark blutenden sterbenden Lehrerin<br />

– Konfrontation mit fassungslosen, weinenden, hilflosen Lehrern<br />

– Konfrontation mit dem Täter, <strong>der</strong> nah an ihnen vorbeilief<br />

– lange Blutspur auf dem Flur<br />

• Typische Reaktionen<br />

– Ängste, in die Schule zu gehen<br />

– Misstrauen gegenüber Mitschülern;<br />

Fragen, wer zu einer solchen Tat fähig wäre<br />

– Schuldgefühle<br />

– Wut auf die Schüler, die über die Tat informiert waren<br />

– Schlafstörungen, Albträume, Konzentrationsstörungen<br />

– Hypervigilanz, dauernde Anspannung<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 9


76<br />

Betroffenen-Gruppe 4: Hausmeister, die den<br />

Tatort reinigen mussten<br />

• Traumatische Stressoren<br />

– Hören von lauten Schreien<br />

– Konfrontation mit fassungslosen, weinenden, hilflosen<br />

Lehrern und Schülern<br />

– Aufgabe, die lange Blutspur auf dem Flur wegwischen<br />

und das Klassenzimmer reinigen zu müssen<br />

• Typische Reaktionen<br />

– Sich unwohl und bedroht fühlen in <strong>der</strong> Schule<br />

– Misstrauen gegenüber den Schülern<br />

– Wut auf die Schüler, die über die Tat informiert waren<br />

– Schlafstörungen, Albträume, Konzentrationsstörungen<br />

– Hypervigilanz, dauernde Anspannung, erhöhter Alkoholkonsum<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 10


77<br />

Betroffenen-Gruppe 5: Das Lehrerkollegium<br />

des Gymnasiums<br />

• Traumatische Stressoren<br />

– Indirekte Konfrontation mit dem Ereignis durch den Aufruhr<br />

in <strong>der</strong> Schule<br />

– Indirekte Konfrontation mit dem Ereignis über die Medien<br />

– Konfrontation mit erschütterten Kollegen, und verstörten<br />

Schülern, die das Ereignis direkt miterlebt hatten<br />

• Typische Reaktionen<br />

– Ängste, in die Schule zu gehen; Unsicherheit gegenüber Schülern<br />

– Wut auf die Schüler, die über die Tat informiert waren<br />

– Schlafstörungen, Albträume, Konzentrationsstörungen<br />

– Hypervigilanz, dauernde Anspannung<br />

– Angst, es könne wie<strong>der</strong> etwas passieren in <strong>der</strong> Schule<br />

– Hinterfragen <strong>der</strong> eigenen Rolle als Lehrer, <strong>der</strong> von <strong>der</strong><br />

Gesellschaft nicht genügend geschützt wird<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 11


78<br />

Betroffenen-Gruppe 6: Die Eltern <strong>der</strong><br />

Schüler <strong>der</strong> Klasse 9<br />

• Traumatische Stressoren<br />

– Indirekte Konfrontation mit dem Ereignis über die Medien<br />

– Konfrontation mit ihren verstörten Kin<strong>der</strong>n, die das Ereignis<br />

direkt miterlebt hatten<br />

• Typische Reaktionen<br />

– Ängste um das Wohlergehen ihrer Kin<strong>der</strong><br />

– Verunsicherung wegen <strong>der</strong>en Mitwisserschaft und Angst<br />

vor Konsequenzen<br />

– Angst, es könne wie<strong>der</strong> etwas passieren in <strong>der</strong> Schule<br />

– Verunsicherung über den richtigen Umgang mit ihren<br />

(traumatisierten) Kin<strong>der</strong>n<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 12


79<br />

Betroffenen-Gruppe 7: Die Familie des Täters<br />

• Traumatische Stressoren<br />

– Indirekte Konfrontation mit dem Ereignis über die Polizei<br />

– Bedrängung durch die Medien<br />

• Typische Reaktionen<br />

– Unverständnis ihrem eigenen Sohn gegenüber<br />

– Schuldgefühle, Verzweiflung<br />

– Verleugnung <strong>der</strong> Verantwortlichkeit<br />

– sozialer Rückzug, Ablehnung von Hilfsangeboten<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 13


80<br />

Gruppeninterventionen für Lehrer & Angestellte<br />

• Beginn zwei Monate nach dem Ereignis<br />

• kognitive Aufarbeitung des Ereignisses<br />

• Wi<strong>der</strong>stand gegen Bearbeitung <strong>der</strong> emotionalen Ebene<br />

in <strong>der</strong> Gruppe<br />

• keine über Monate bestehende Gruppe – Auflösung<br />

nach fünf Sitzungen<br />

> Grund: Exponierte Position<br />

(Angst vor Souveränitätsverlust gegenüber Kollegen &<br />

Schülern; Problem Schulleitung & Schulbehörde;<br />

DDR-Sozialisation)<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 14


81<br />

Gruppeninterventionen für Schüler<br />

• Klasse, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Mord geschehen war, am stärksten<br />

betroffen<br />

• starkes Bedürfnis <strong>der</strong> Schüler, über einzelne Aspekte des<br />

Ereignisses ausführlicher zu sprechen<br />

• große Breitschaft, im Klassenverband offen über die<br />

eigene Betroffenheit zu reden (erlebte Hilflosigkeit,<br />

Ängste, Fassungslosigkeit)<br />

> Gründe: Selbstversicherung und gegenseitige Entlastung<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 15


82<br />

Gruppeninterventionen<br />

Lehrer & Angestellte vs. Schüler<br />

Phase Lehrer Schüler<br />

1. Faktenphase 2 Sitzungen 3 Sitzungen<br />

2. Reaktionsphase I 1 Sitzung 1 Sitzung<br />

3. Reaktionsphase II 1 Sitzung 1 Sitzung<br />

4. Reaktionsphase III entfällt 1 Sitzung<br />

5. Symptomphase entfällt 1 Sitzung<br />

6. Psychoedukation 1 Sitzung 1 Sitzung<br />

7. Trauerarbeit entfällt 1 Sitzung<br />

8. Voneinan<strong>der</strong> lernen entfällt 3-4 Sitzungen<br />

9. Symptombehandlung entfällt 2 Sitzungen<br />

10.Umgang mit Krisen & Belastungen entfällt 1 Sitzung<br />

11.Zukunftsperspektive entfällt 3-4 Sitzungen<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 16


83<br />

Neigungsgruppen für Schüler<br />

• Konzept & Aufbau<br />

– unterschiedliche Interessen- & Bedürfnislagen bei den Schülern<br />

– Formulierung von Schwerpunktthemen für Untergruppen<br />

– jeweils 5 – 10 Schüler<br />

– hohes Maß an Intimität, Vertrautheit und Motivation<br />

– verhaltenstherapeutische Hausaufgaben<br />

• Themen<br />

– Umgang mit Ängsten und Schlafstörungen<br />

– Erlernen von Entspannungsmethoden<br />

– Umgang mit dem Prozess gegen den Ex-Mitschüler, Zeugenrolle<br />

– Vorbereitung des Jahrestages des Ereignisses<br />

– Hilfen für die Eltern <strong>der</strong> ermordeten Lehrerin<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 17


84<br />

„Sehr geehrter Herr Pieper,<br />

… deshalb schreibe ich Ihnen jetzt, um Ihnen zu erzählen, ob Ihre Tipps geholfen<br />

haben. […] Mein Problem war, dass ich wahnsinnige Angst im Dunkeln und allein<br />

hatte – auch in unserer Wohnung. […] Und nun war es ja auch so, dass ich in den<br />

Sommerferien 10 Tage ganz allein zuhause war, nur, dass ich tagsüber noch arbeiten<br />

gegangen bin.<br />

Sie hatten mir gesagt, dass ich mir immer wie<strong>der</strong> Sätze wie „Ich bin hier völlig sicher“<br />

o<strong>der</strong> „Die Angst […] ist nur eine Erinnerung an den 09.11.1999“ aufsagen soll, damit<br />

sich endlich wie<strong>der</strong> ein kleines Stück heile Welt um mich entwickelt und damit ich<br />

wie<strong>der</strong> Vertrauen fasse. Ich habe es dann im Sommer so gemacht, dass ich einen<br />

großen A4-Zettel genommen habe und ganz groß darauf geschrieben habe:<br />

Ich bin hier völlig sicher, die Angst ist nur ein Überbleibsel des 9.11.<br />

und hier völlig fehl am Platz! – SEI STARK!<br />

Das Blatt habe ich auf meinen Nachttisch neben mein Bett gestellt und mir mindestens<br />

jeden Abend und in „brenzligen“ Situationen, wo wie<strong>der</strong> Angst hochkam,<br />

durchgelesen. Und: Es hat geholfen! Ich will nicht behaupten, dass ich völlig<br />

angstfrei gelebt habe […], aber es ist jeden Tag etwas weniger geworden, bis ich am<br />

Ende richtig gut damit klar kam.<br />

[…] bedanken – ich meine dafür, dass Sie mir geholfen haben, wie<strong>der</strong> in einer<br />

halbwegs heilen Welt zu leben, auch wenn ich genau weiß, dass sie trotzdem nie<br />

wie<strong>der</strong> so sein wird, wie vor dem 09.11.1999. Aber das ist auch gut so, ansonsten<br />

würde es ja bedeuten, dass ich nichts daraus gelernt habe….“<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 18


85<br />

Einzeltherapeutische Interventionen<br />

bei Schülern und Lehrern<br />

• Kontrollierte Traumaexposition (KTE)<br />

• Exposition in sensu<br />

• Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR)<br />

• Exposition in vivo<br />

• Hausaufgaben<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 19


86<br />

Brief einer Schülerin nach EMDR-Behandlung<br />

Meißen, 28.06.00<br />

Hallo Herr Pieper,<br />

von Freitag bis heute ist überhaupt nichts<br />

Außergewöhnliches passiert. Alles ist wie immer – obwohl<br />

ich mich immer noch wun<strong>der</strong>e, wie durch ein bisschen<br />

„Augen-hin-und-her-bewegen“ das Bild fast verschwinden<br />

konnte.<br />

Es besteht nur noch aus Schatten und Umrissen, und wenn<br />

ich nicht wüsste, wie es aussah – ich könnte es mir kaum<br />

noch vor dem inneren Auge vorstellen.<br />

Einen schönen Urlaub!<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 20


87<br />

Tabelle 1-1: Betreute Lehrer und Schüler,<br />

gruppierte Häufigkeiten (N = 35)<br />

Gruppierung k. Einzeltherapie Einzeltherapie Gesamt<br />

Betroffenengruppe<br />

Lehrer 11 (31,4%) 6 (17,1%) 17 (48,6%)<br />

Schüler 8 (22,9%) 10 (28,6%) 18 (51,4%)<br />

Gesamt 19 (54,3%) 16 (45,7%) 35 (100,0%)<br />

Geschlecht<br />

männlich 5 (14,3%) 4 (11,4%) 9 (25,7%)<br />

weiblich 14 (40,0%) 12 (34,3%) 26 (74,3%)<br />

Gesamt 19 (54,3%) 16 (45,7%) 35 (100,0%)<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 21


88<br />

Erhebungsinstrumente<br />

• B-L/B-L' – Beschwerden-Liste, Erfassung allgemeiner<br />

psychophysischer Belastung und Überfor<strong>der</strong>ung (von<br />

Zerssen, 1976)<br />

• IES-R – Impact of Event Scale, revidierte Version, zur<br />

Erfassung <strong>der</strong> traumatischen Belastung (deutsch von<br />

Maercker und Schützwohl, 1998)<br />

• Fragen zur Qualität sozialer Beziehungen – Itemsammlung<br />

zur Erfassung interpersonaler Beziehungen im schulischen<br />

Kontext (Pieper, 2000)<br />

• Zielerreichung – Befragungsbögen zur Formulierung persönlicher<br />

(Bewältigungs-) Ziele und zur Einschätzung des<br />

Erfolgs (Pieper, 2000)<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 22


89<br />

Tabelle 1-2: Häufigkeitsverteilungen <strong>der</strong><br />

Belastung nach <strong>der</strong> IES-R (N = 35)<br />

Schüler Lehrer gesamt<br />

IES R – Messzeitpunkt 1<br />

schwere Belastung (Score > 0) 6 (17,1%) 5 (14,3%) 11 (31,4%)<br />

mittlere Belastung (0 bis - 0.99) 5 (14,3%) 5 (14,3%) 10 (28,6%)<br />

leichte Belastung (Score ≤ -1.0) 7 (20,0%) 7 (20,0%) 14 (40,0%)<br />

IES R – Messzeitpunkt 2<br />

schwere Belastung (Score > 0) 3 (8,6%) 5 (14,3%) 8 (22,9%)<br />

mittlere Belastung (0 bis - 0.99) 2 (5,7%) 1 (2,9%) 3 (8,6%)<br />

leichte Belastung (Score ≤ -1.0) 13 (37,1%) 11 (31,4%) 24 (68,6%)<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 23


90<br />

Tabelle 1-3: Häufigkeitsverteilungen <strong>der</strong><br />

Belastung nach <strong>der</strong> B-L (N = 35)<br />

Schüler Lehrer gesamt<br />

B-L – Messzeitpunkt 1<br />

schwer belastet (Score ≥ 22) 11 (31,4%) 11 (31,4%) 22 (62,9%)<br />

leicht belastet (Score < 22) 7 (20,0%) 6 (17,1%) 13 (37,1%)<br />

B-L – Messzeitpunkt 2<br />

schwer belastet (Score ≥ 22) 7 (20,0%) 6 (17,1%) 13 (37,1%)<br />

leicht belastet (Score < 22) 11 (31,4%) 11 (31,4%) 22 (62,9%)<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 24


91<br />

Abb. 1-1: Belastungsmittelwerte <strong>der</strong> zweifachen<br />

Messwie<strong>der</strong>holung (N = 35)<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 25


92<br />

Abb. 1-2: Belastungsmittelwerte <strong>der</strong> dreifachen<br />

Messwie<strong>der</strong>holung (N = 10)<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 26


93<br />

Tabelle 1-4: Belastung in Zusammenhang mit<br />

Kontakt zum Täter und zum Opfer<br />

Item N IES-R I IES-R V IES-R Ü IES-R G<br />

1. Messzeitpunkt<br />

Kontakt zum Opfer 29 -.154 .432* -.094 .014<br />

Kontakt zum Täter 30 .124 -.364* .183 .037<br />

2. Messzeitpunkt<br />

Kontakt zum Opfer 29 -.381* .211 -.207 -.081<br />

Kontakt zum Täter 30 .433* .000 .330 .243<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 27


94<br />

Belastung in Zusammenhang mit Kontakt<br />

zum Täter und zum Opfer<br />

• IES-R Vermeidung – Vermeidungswerte sind um so höher …<br />

… je schlechter <strong>der</strong> Kontakt zum Opfer war<br />

… je besser <strong>der</strong> Kontakt zum Täter war<br />

> Schuld- & Schamgefühle, psychisches Ausweichen<br />

Dieser Zusammenhang aus Messzeitpunkt 1 verschwindet bis<br />

Messzeitpunkt 2<br />

• IES-R Intrusion – Intrusionswerte sind um so höher …<br />

… je besser <strong>der</strong> Kontakt zum Opfer war<br />

… je schlechter <strong>der</strong> Kontakt zum Täter war<br />

> Mitgefühl mit dem Opfer, anhaltende Trauer; Furcht vor dem Täter<br />

Dieser Zusammenhang taucht erst zum Messzeitpunkt 2, aber noch<br />

nicht zum Messzeitpunkt 1 auf<br />

(starke Initialbelastung, Deckeneffekt)<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 28


95<br />

Ziele <strong>der</strong> Lehrergruppe<br />

• Ruhe und Gelassenheit wie<strong>der</strong> finden<br />

• Sich wie<strong>der</strong> entspannen können, wie<strong>der</strong> loslassen können<br />

• Abstand zu dem Ereignis bekommen<br />

• Wunsch nach Verständnis und Toleranz zwischen<br />

den Lehrern<br />

• Angst überwinden, vor <strong>der</strong> Klasse zu unterrichten<br />

• Wunsch, dass das Lehrer-Schüler-Verhältnis wie<strong>der</strong><br />

so werde, wie es vor dem Ereignis war<br />

• Gemeinsam mit den Kollegen Wege zur gewaltfreien<br />

Konfliktlösung finden<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 29


96<br />

Ziele <strong>der</strong> Lehrergruppe - Einzelziele<br />

• An das Grab gehen können<br />

• Fitnesstraining machen, weil S.L. es machte, seit dem Mord kann ich<br />

es nicht mehr, weil es mich an sie so stark erinnert<br />

• Nachts ohne Albträume durchschlafen, ausgeruht aufstehen<br />

• Einen Schüler erkennen können, <strong>der</strong> zu so einer Gewalttat fähig ist…<br />

• Mit meinen Schuldgefühlen fertig werden<br />

• Der 09.11. ist mein Geburtstag! Wie soll ich je wie<strong>der</strong> normal<br />

Geburtstag feiern können?<br />

• Ich möchte wie<strong>der</strong> über die Stelle gehen können, wo sie lag<br />

• Morgens ohne Angst das Schulhaus betreten können und angstfrei<br />

unterrichten<br />

• Nicht mehr so „neben mir stehen“, neutral dran denken können.<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 30


97<br />

Ziele <strong>der</strong> Schülergruppen<br />

• Wunsch nach Normalisierung des Verhältnisses zwischen<br />

Schülern und Lehrern (wie<strong>der</strong> aufeinan<strong>der</strong> eingehen können)<br />

• Vorwürfe von Lehrern und Außenstehenden sollen aufhören,<br />

dass sie <strong>der</strong> Lehrerin nicht geholfen haben<br />

• Die Klasse soll zusammen bleiben<br />

• Wunsch, mit Freunden über das Ereignis reden zu können<br />

• Wunsch, sich mit dem Täter auszutauschen, um dessen<br />

Motiv für die Tat zu verstehen<br />

• Wunsch, dass <strong>der</strong> Täter bestraft werde<br />

• Lernen, über das Ereignis und die eigenen Ängste reden<br />

und beides verarbeiten zu können<br />

• Konzentrationsschwierigkeiten und Lernprobleme überwinden<br />

• Keine Angst vor Verschlechterung <strong>der</strong> Leistung mehr haben müssen<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 31


98<br />

Ziele <strong>der</strong> Schülergruppen - Einzelziele<br />

• Die Angst verlieren, wenn jemand ins Zimmer kommt.<br />

• Ich will endlich mal wie<strong>der</strong> einen ganzen Schultag ohne Angst<br />

bewältigen.<br />

• Ich will nicht ständig die Tür im Blickfeld behalten müssen,<br />

und nicht ständig gedanklich abwesend sein.<br />

• Ich möchte, dass uns die Lehrer wie<strong>der</strong> vertrauen.<br />

• Dass meine Freunde auch weiterhin für mich da sind.<br />

• Ich möchte das Erlebte verarbeiten können. Allerdings<br />

möchte ich es nicht vergessen.<br />

• In Ruhe gelassen zu werden, zu vergessen.<br />

• Ich würde gerne etwas für ihre Eltern tun.<br />

• Rauchen einstellen (Anfang durch Vorfall).<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 32


99<br />

Teil 2:<br />

Der Amoklauf eines Schülers<br />

am Gutenberg-Gymnasium,<br />

Erfurt, 26. April 2002<br />

© ITB Pieper 33


100<br />

Traumatische Stressoren<br />

• Konfrontation mit dem Sterben und dem Tod einer<br />

großen Anzahl von Opfern<br />

• Schreie Sterben<strong>der</strong> und Verängstigter<br />

• Konfrontation mit Hinrichtungsszenen<br />

• Konfrontation mit furchtbaren Schußwunden<br />

• Eigene Todesangst, Hilf- und Wehrlosigkeit<br />

• Todesangst, Hilf- und Wehrlosigkeit an<strong>der</strong>er<br />

• Bedrohung durch „Unersättlichkeit“ und Willkür des Täters<br />

• Ungewissheit und Angst über eine Zeit von 4 – 5 Stunden<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 34


101<br />

Typische Reaktionen<br />

• Alle Betroffenen<br />

– direkt nach dem Ereignis: Schock, Zittern, Weinen,<br />

Apathie, Fassungslosigkeit<br />

– Blockade <strong>der</strong> Konzentrationsfähigkeit im Unterricht<br />

– gedanklich und emotional mehr mit sich selbst als mit<br />

dem Unterrichtsgeschehen befasst<br />

• Lehrer<br />

– Hoher Krankenstand<br />

– Zweifel, den Beruf weiter ausüben zu können<br />

• Schüler<br />

– Ständige Konfrontation mit einer großen Anzahl an Auslösereizen<br />

– breite Generalisisierung (Unterrichtsfach, Wochentag, Geräusche)<br />

– Angst- und Panikreaktionen<br />

– vielfältige Vermeidungsreaktionen (Fernbleiben vom Unterricht, …)<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 35


102<br />

Betroffenen-Gruppen<br />

1. Schüler des Gutenberg-Gymnasiums<br />

2. Lehrer des Gutenberg-Gymnasiums<br />

3. Eltern von Schülern<br />

4. Hausmeister und Schulangestellte des Gutenberg-Gymnasiums<br />

5. Angehörige <strong>der</strong> getöteten Lehrer und Schüler<br />

6. Die Familie des Täters<br />

7. Schüler an<strong>der</strong>er Schulen in Erfurt<br />

8. Lehrer an<strong>der</strong>er Schulen in Erfurt<br />

9. Einsatzpersonal (Polizei, Rettungsdienste)<br />

10.Psychologen und Ärzte, die am ersten Tag im Einsatz waren<br />

11.Bürgerinnen und Bürger <strong>der</strong> Stadt Erfurt<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 36


103<br />

Grundkonflikt nach Katastrophen und Ereignissen<br />

zielgerichteter Gewalt – Sichtweise A<br />

• Nach dem Trauma muss schnellstmöglich Normalität<br />

wie<strong>der</strong>hergestellt werden,<br />

• … indem sich je<strong>der</strong> auf seinen gewohnten Alltag konzentriert.<br />

• Manche Betroffenen kommen mit den Belastungen nicht<br />

zurecht und reagieren mit traumatischen Störungen.<br />

• Diese „Schwächsten“ müssen psychotherapeutisch für<br />

den Alltagsbetrieb repariert und reintegriert werden.<br />

• Das System, in dem es zu <strong>der</strong> Gewalttat gekommen ist,<br />

wird nicht in Frage gestellt.<br />

> Rein individualpsychologische Sichtweise.<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 37


104<br />

Grundkonflikt nach Katastrophen und Ereignissen<br />

zielgerichteter Gewalt – Sichtweise B<br />

• Das Trauma hat zu einem allgemeinen Ausnahmezustand geführt.<br />

• Die Rückkehr zur Normalität dauert länger und ist aktiv anzugehen.<br />

• Normalität bedeutet nicht, wie<strong>der</strong> den gleichen Zustand wie früher<br />

erreichen zu können.<br />

• Die Verletzungen aller Betroffenen müssen psychologisch aufgearbeitet<br />

werden.<br />

• Ursachenanalysen müssen die gesamte betroffene Gemeinschaft<br />

(o<strong>der</strong> sogar die ganze Gesellschaft) einbeziehen.<br />

• Es ist die Aufgabe aller Betroffenen, bei <strong>der</strong> Aufarbeitung und<br />

Bewältigung zu helfen.<br />

> Dieser Ansatz schließt eine psychologische, soziale und gesellschaftspolitische<br />

Sichtweise mit ein.<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 38


105<br />

Erhebungsinstrumente<br />

… in den Klassen 8 bis 12<br />

• PDS – Fragebogen zur Erfassung <strong>der</strong> PTB-Symptomatik (Steil, 1996)<br />

• BDI – Fragebogen zur Erfassung <strong>der</strong> Depressivität und<br />

Einschätzung eventueller Suizidalität (Beck et al., 1995)<br />

• SCL-90-R – Fragebogen zur Erfassung allgemeiner<br />

Psychopathologie (Franke, 1995)<br />

… in den Klassen 5 bis 7<br />

• Clinician Administered PTSD Scale for Children,<br />

deutsche Version (CAPS-C; Steil et al., 1998)<br />

• Child Behaviour Checklist – deutsche Version<br />

(CBCL; Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist, 1998)<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 39


106<br />

Tabelle 2-1: Schülerinnen und Schüler<br />

mit PTB-Diagnose nach DSM-IV<br />

Klassenstufe<br />

PTB-Diagnose – N (%)<br />

weiblich männlich<br />

Gesamt<br />

5 25 (58%) 16 (51%) 41 (55%)<br />

6 18 (44%) 13 (36%) 31 (40%)<br />

7 22 (48%) 6 (18%) 28 (35%)<br />

8 29 (63%) 9 (26%) 38 (48%)<br />

9 17 (68%) 8 (29%) 25 (47%)<br />

10 25 (66%) 17 (44%) 42 (55%)<br />

11 40 (54%) 18 (42%) 58 (50%)<br />

12 18 (45%) 4 (17%) 22 (35%)<br />

285 (46%)<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 40


107<br />

PTB-Diagnose bei den Schülern<br />

(nach DSM-IV)<br />

• Diagnosestellung <strong>der</strong> PTB nach DSM-IV konservativer<br />

als nach ICD-10<br />

• bei 46% aller Schüler PTB-Diagnose (nach DSM-IV)<br />

• keine Abhängigkeit <strong>der</strong> PTB-Diagnose vom Alter<br />

• bei Mädchen wurde öfter eine PTB diagnostiziert<br />

als bei Jungen (unabhängig von <strong>der</strong> Klassenstufe)<br />

• Wie<strong>der</strong>erleben und Erregung waren bei den Schülern<br />

stärker ausgeprägt als Vermeidungsverhalten<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 41


108<br />

Tabelle 2-2: Klinisch relevante Depressivität<br />

in den Klassen 8 – 12 (nach BDI)<br />

Klassenstufe<br />

weiblich männlich<br />

BDI > 17 = „klinisch relevant“ – N (%)<br />

Gesamt<br />

8 9 (20%) 1 (3%) 10 (13%)<br />

9 7 (28%) 2 (7%) 9 (17%)<br />

10 9 (23%) 2 (5%) 11 (14%)<br />

11 13 (18%) 1 (2%) 14 (12%)<br />

12 3 (7%) 1 (4%) 7 (6%)<br />

48 (12%)<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 42


109<br />

Klinisch relevante Depressivität<br />

bei den Schülern <strong>der</strong> Klassen 8 – 12 (nach BDI)<br />

• Gemessen mit dem BDI wurden 62% <strong>der</strong> Schüler<br />

als „unauffällig“ eingestuft<br />

• Ungefähr 1/4 <strong>der</strong> Schüler fiel in die Kategorie<br />

„mild bis mäßig“<br />

• 12% zeigten einen klinisch relevanten Wert<br />

• Auch hier: keine Abhängigkeit von <strong>der</strong> Klassenstufe<br />

• Deutlicher Geschlechtseffekt:<br />

Mädchen wiesen im Mittel höhere BDI-Werte auf als Jungen<br />

und fielen häufiger in die oberen Kategorien<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 43


110<br />

© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 44


111<br />

Maßnahmen auf politischer Ebene<br />

Mittwoch 09.03.2005 09:00– 11:00<br />

Antje Möller (MdHB)<br />

Der Vortrag war Auslöser einer (gewünschten) intensiven Debatte, die sich anhand<br />

einzelner Thesen <strong>der</strong> Referentin entspann. Diese Debatte ist nicht dokumentiert, <strong>der</strong><br />

nachfolgende Text kann deshalb nur als ein Gerüst dienen. A.M.<br />

Meine Damen und Herren,<br />

vorab herzlichen Dank für die Einladung, innerhalb <strong>der</strong> Seminarwoche des Instituts für<br />

Kriminologische Sozialforschung zu referieren.<br />

Sie alle, als Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Seminars sind vom Fach und ich<br />

schätze (und fürchte auch) Ihren Sachverstand. Und ich freue ich mich, über politische<br />

Maßnahmen, aber vor allem auch zu <strong>der</strong> Rolle, die <strong>der</strong> Politik bei dem Thema Gewalt<br />

in <strong>der</strong> Schule und <strong>der</strong> Gewaltprävention zukommt, mit Ihnen zu diskutieren.<br />

Perspektive <strong>der</strong> Politik<br />

Was kann ich denn aber als Politikerin, als Parlamentarierin, nun eigentlich beitragen<br />

zu dieser Studienwoche? Typischerweise wird das Thema von <strong>der</strong> Politik aus <strong>der</strong><br />

Position <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ation heraus bearbeitet. Da kann man denn einen Rundumschlag<br />

machen, die Medien ermahnen, die Fachleute for<strong>der</strong>n, für die Opfer Verständnis haben<br />

und die Täter und Täterinnen kategorisieren.<br />

An<strong>der</strong>erseits heißt Politik natürlich auch Legislative und Exekutive zu sein. Die<br />

Bürgerschaft (<strong>der</strong> Landtag) ist Geldgeberin für Maßnahmen, kann Schirmherrin für<br />

Projekte sein und in <strong>der</strong> Opposition sind die Fraktionen vor allem Fragende und<br />

Kritisierende gegenüber <strong>der</strong> Regierung. Politik kann natürlich auch die Verantwortung<br />

übernehmen!<br />

Ich meine aber, auch Letzteres kann nicht reichen, bei einem Thema, das lange vor<br />

dem Eintreten des Gewaltereignisses selber auch durch politisches Handeln<br />

beeinflusst werden muss. Die politischen Anknüpfungspunkte aus meiner Sicht habe<br />

ich im Folgenden einmal skizziert (Abb. 1):


112<br />

Den Aktionismus, ich nenne es bewusst so, in den Politik oft verfällt, wenn aktuelle<br />

Ereignisse es erfor<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> wenn die neueste polizeiliche Kriminalstatistik (PKS)<br />

vorgestellt wird, möchte ich eher am Rande betrachten. Ich will auch nicht groß mit<br />

Zahlen argumentieren, son<strong>der</strong>n mich eher mit <strong>der</strong> Situation auseinan<strong>der</strong>setzen, dass<br />

Gewalt in <strong>der</strong> Gesellschaft längst kein Tabu mehr ist. Die erfolgreichsten<br />

Werbekampagnen werben für den eigenen Vorteil („Geiz ist geil“) und soziale Kälte ist<br />

beinahe greifbar. In Hamburg verhungert ein Kind bei seinen Eltern und in Berlin<br />

klatschen Schüler dem „Ehrenmord“ an einer jungen Frau Beifall. Die Solidargemeinschaft<br />

ist längst aufgebrochen, Min<strong>der</strong>heitenschutz, aber auch Ethik und Moral<br />

scheinen einen sinkenden Stellenwert zu haben. Sie sind politischer Luxus geworden.<br />

Das beschreibt die Spannbreite <strong>der</strong> politischen Aufgabe aus meiner Sicht.<br />

I. Gewalt als Thema in <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

Definition, Motivsuche, Ursachen (Abb.2)<br />

An dieser Stelle lege ich Ihnen lediglich eine kleine Zusammenstellung über Definition<br />

und Motive vor, die sozialwissenschaftliche Literatur bietet hier eine Vielfalt von<br />

Ansätzen. Mir geht es um einen Einstieg in das Thema <strong>der</strong> politischen<br />

Handlungsmöglichkeiten.<br />

Aus <strong>der</strong> Lektüre beliebiger Zeitungen ergibt sich folgendes: Türkische Schüler<br />

klatschen Beifall, als in einer Berliner Haupt- und Realschule über den „Ehrenmord“ an<br />

einer jungen Türkin diskutiert wird, in einer Karlsruher Schule sammeln Siebentklässler<br />

Hunde und Katzenkot und beschmieren damit türkische MitschülerInnen.<br />

Das erste Beispiel ist aus dem Jahre 2005 und das zweite Beispiel aus dem Jahre<br />

1992.<br />

Deutlich wird dabei zweierlei: Das Thema ist nicht neu und mit den konventionellen<br />

Gewaltbegriffen kommen wir in <strong>der</strong> politischen Debatte um Prävention nicht mehr<br />

weiter.<br />

Der allgemeine gesellschaftliche Konsens, Gewalt zu ächten, ist längst an vielen<br />

Stellen durchbrochen. Vielleicht gab es ihn auch nie so, wie wir uns das gewünscht<br />

haben.


113<br />

Sozialwissenschaftliche Forschung hat ein an<strong>der</strong>es Erkenntnisinteresse als politische<br />

Erklärungsmuster, und die unterschiedlichen gesellschaftlichen Leitbil<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

politischen Parteien erleichtern den gegenseitigen Vorwurf „versagt“ zu haben. Grüner<br />

Politik wird eine Verklärung von Multi-Kulti vorgeworfen, konservativer Politik kann<br />

man das Eintreten für die Rechte muslimischer Frauen nur schwer glauben. Allerdings<br />

ist dringend eine offensive Diskussion <strong>der</strong> Gewaltphänomene in unserer Gesellschaft<br />

notwendig.<br />

Die Auseinan<strong>der</strong>setzung um althergebrachte patriarchaische Strukturen und<br />

Ehrbegriffe, traditionelle religiöse (meist muslimische) Regeln findet zu wenig mit <strong>der</strong><br />

betroffenen Bevölkerung satt, zu oft wird lediglich über sie geredet. Zum politischen<br />

Umgang mit dem Rassismus in <strong>der</strong> Mehrheitsgesellschaft an an<strong>der</strong>e Stelle mehr.<br />

Der Vollständigkeit halber sei auch ein Kritiker wie Freerk Huisken erwähnt, <strong>der</strong><br />

formuliert:<br />

Was lernt <strong>der</strong> Mensch in <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft? Er lernt mitnichten, dass<br />

Gewalt verboten ist. Er lernt, dass Gewalt erlaubt ist, wenn sie nur rechtens, wenn sie<br />

nur legalisiert ist. (in: z.B. Erfurt; 2002; VSA-Verlag; Hamburg; S.29) Auf den<br />

nächsten Seiten folgt eine Kritik staatlicher Gewalt und dass diese natürlich auch von<br />

Jugendlichen erlebt wird. Ich kann aber an<strong>der</strong>erseits in <strong>der</strong> Literatur nicht finden,<br />

inwieweit so Erlebtes, z.B. bei Demonstrationen o<strong>der</strong> durch polizeiliche Maßnahmen<br />

im familiären Umfeld, im sozialen Nahraum, zu Gewalttaten führt. Es sei denn, durch<br />

direktes sich wehren in <strong>der</strong> jeweiligen Situation.<br />

Kurz skizzieren will ich hier auch die Diskussion um die Ursachen:<br />

Videos, Fernsehen, Schießsport.<br />

Gewaltvideos, Nachrichten, brutale Fernsehfilme, spielen sie eine Rolle, bei<br />

Gewalttaten von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen?. Für mich ist <strong>der</strong> wissenschaftliche Streit<br />

bisher unentschieden und ich möchte mir nicht anmaßen, diesen zu entscheiden. Die<br />

Attraktivität <strong>der</strong>artiger Machwerke scheint ungebrochen und es ist sicherlich notwendig<br />

viel vehementer mit Aufklärung und Kritik auf Brutalität und Gewaltdarstellung als<br />

Freizeitvergnügen zu reagieren.<br />

Auch die Auseinan<strong>der</strong>setzung um die mögliche Rolle des Schießsports ist Ihnen sicher<br />

geläufig. Das Gleichsetzen mit dem Konsum von Gewaltvideos durch eine Überschrift<br />

ist angreifbar. An<strong>der</strong>erseits will ich nicht akzeptieren, nur weil das Wort „Sport“ hier


114<br />

vorkommt, das Schießen aus <strong>der</strong> Diskussion um Gewalt an Schulen herauszuhalten.<br />

Wie irrational die Diskussion um Waffenbesitz, um die Selbstverteidigung, aus meiner<br />

Sicht ist, erläutere ich später noch.<br />

Rassismus<br />

Welche Rolle spielen antidemokratische Politik, rechte Parteien und Parolen? Was ist<br />

mit fundamentalistischen Religionen, <strong>der</strong> Zwangsverheiratung und mit Ehrenmorden.<br />

Viel zu wenig findet die öffentliche Diskussion um die Gewalt, die sich dahinter verbirgt<br />

statt.<br />

Diese Gesellschaft tut sich schwer zusammenzuwachsen, die Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen<br />

müssen die Versäumnisse <strong>der</strong> Politik ausbaden. Fremdheit kann nur schwer<br />

überwunden werden.<br />

Der Rassismus in unserer Gesellschaft nimmt zu, er findet sich in unterschiedlichster<br />

Form und es ist eine <strong>der</strong> wichtigsten politischen Aufgaben ihn zu bekämpfen.<br />

Akademische Diskussionen um „Auslän<strong>der</strong>feindlichkeit“, in denen den Migranten und<br />

Migrantinnen auch noch eine Mitschuld zu gerechnet wird, ersetzen zu oft das<br />

durchfinanzierte Integrationskonzept.<br />

Waffen<br />

Am Beispiel <strong>der</strong> öffentlichen und parlamentarischen Debatte zum Thema Waffen, kann<br />

und konnte man schon immer die Unaufrichtigkeit <strong>der</strong> Diskussion deutlich machen o<strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>s gesagt, die Eindeutigkeit <strong>der</strong> Interessen. Und die geringe Durchsetzungskraft<br />

<strong>der</strong> Politik<br />

Ich möchte das an einem aktuellen Hamburger Beispiel erläutern:<br />

Mit <strong>der</strong> Einführung des sog. „Kleinen Waffenscheins“ im Frühjahr 2003 wurde das<br />

Tragen von Gas- und Schreckschusswaffen meldepflichtig. Die Hamburgische Polizei<br />

rechnete mit ca 80 000 Anmeldungen, herausgekommen sind bis heute rund 2500.<br />

Man schätzt den Bestand <strong>der</strong>artiger Waffen in Hamburg übrigens auf 400 000. Diese<br />

Waffen sind natürlich nicht in <strong>der</strong> Mehrzahl in den Händen von Jugendlichen und sie<br />

müssen selbstverständlich auch nur gemeldet werden, wenn sie getragen werden.<br />

Nicht wenn sie zu Hause in <strong>der</strong> Schublade liegen.<br />

Die Bremische Polizei hat allerdings aufgrund ähnlicher Erfahrungen im Sommer 2003<br />

eine Aktion gestartet, gemeinsam mit den Schulen eine straffreie Abgabe <strong>der</strong>artiger<br />

Waffen zu organisieren. Rund 1700 Waffen je<strong>der</strong> Art wurden dabei gesammelt. Das<br />

Thema „waffenfreies Bremen“ wurde unterstützt durch Sportverbände, in den Schulen<br />

im Unterricht diskutiert und von den Medien begleitet.


115<br />

Wir debattieren anhand eines GAL- und eines SPD- Antrages zur Zeit die<br />

Verschärfung des Waffenrechtes und auch stärkere Kontrollen an Diskotheken etc.<br />

sowie z.B. ein generelles Messerverbot. Das alles beschreibe ich so ausführlich, weil<br />

hierbei niemand bestreitet, dass Waffenbesitz Ursache von Gewalt sein kann, aber<br />

daraus lediglich repressive Konsequenzen gezogen werden. Verdachtsunabhängige<br />

Kontrollen werden als Lösung eingefor<strong>der</strong>t. Es gibt keine politischen Mehrheiten für<br />

öffentliche Kampagnen gegen die Bewaffnung <strong>der</strong> Bevölkerung o<strong>der</strong> die Werbung <strong>der</strong><br />

Waffenhersteller u.a. Trotz warnen<strong>der</strong> Worte <strong>der</strong> Polizei. Wir leben längst nicht im<br />

Michael-Moore-Land, aber es reicht nicht, den Zugang zu Waffen nur<br />

ordnungspolitisch zu reglementieren.<br />

II.Übernahme <strong>der</strong> Verantwortung<br />

Aus <strong>der</strong> Opposition heraus habe ich gut reden, mag man jetzt sagen, Gewaltprävention<br />

und Ursachenbekämpfung ist aber ja schon viele Jahre auf <strong>der</strong> politischen Agenda.<br />

Deshalb erlaube ich mir einen kleinen Rückblick in die Jahre 1997 bis 2000:<br />

1997 wurde, ausgelöst auch durch den Mord an Willi Dabelstein, eine Enquete-<br />

Kommission zu Jugendkriminalität eingesetzt. Deren Ergebnisse bilden für die<br />

nächsten Jahre die Grundlage für ein großes Maßnahmenbündel im Präventiven und<br />

repressiven Bereich. Im Überblick können Sie diese <strong>der</strong> Abbildung (Abb.3 u 4)<br />

entnehmen.<br />

Als aktuelle Ergänzung dann aus einer Anfrage des CDU-Abgeordneten Herrn Hesse:<br />

(Abb. 5)<br />

Vielen von Ihnen werden diese Konzepte und Maßnahmen bekannt sein, sie haben<br />

selber dran mitgewirkt.<br />

Wie misst man aber nun Erfolge o<strong>der</strong> Misserfolge? An <strong>der</strong> Kriminalstatistik, die in den<br />

letzten Jahren einen Rückgang <strong>der</strong> Jugendkriminalität verzeichnet, aber dafür einen<br />

Anstieg häuslicher Gewalt?<br />

So wie die Medien: (Abb.6)


116<br />

Die Wirksamkeit des Instrumentariums kann nur schwer überprüft werden,<br />

unterschiedliche Behörden sind für unterschiedliche Projekte zuständig. Der Austausch<br />

zwischen den Behörden ist in <strong>der</strong> Regel nicht organisiert.<br />

III. Prävention<br />

Opfer und Täter/in müssen unabhängig von <strong>der</strong> Herkunft in ihrem Leid gesehen bzw.<br />

für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden. Zur Gewaltprävention bedarf es<br />

allerdings eines Instrumentariums, das eben genau auch auf die Heterogenität <strong>der</strong><br />

betreffenden Gruppe zugeschnitten ist.<br />

Dabei sind zwei Tatsachen zu berücksichtigen:<br />

• Einerseits die, dass sich bis weit in die 90iger Jahre des letzten Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

hinein kaum eine wissenschaftliche Auseinan<strong>der</strong>setzung über Gewaltprävention<br />

findet, die kulturelle Hintergründe berücksichtigt. Soziale Probleme,<br />

Bildungsdefizite gehören zum Standard <strong>der</strong> Erklärungsmuster und dafür wurden<br />

Abwehrmechanismen entwickelt.<br />

• An<strong>der</strong>erseits die statistische und damit strukturelle Schwierigkeit, dass immer<br />

noch Staatsangehörigkeiten Grundlagen von Bewertungen o<strong>der</strong> auch z.B. <strong>der</strong><br />

Mittelvergabe darstellen. Die Problemlagen in Kita/Schule entwickeln sich aber<br />

völlig unabhängig davon. Hier spielen Staatsangehörigkeiten keine Rolle,<br />

son<strong>der</strong>n Gewaltmotive (siehe Abb.2) die jeweils kulturelle o<strong>der</strong> soziale<br />

Hintergründe haben können.<br />

Ich halte es für unabdingbar ein Instrumentarium zu entwickeln, das flexibel auf<br />

individuelle Situationen einzelner Standorte reagieren kann. Kin<strong>der</strong>gärten und Schulen<br />

genauso wie an<strong>der</strong>e Betreuungseinrichtungen müssen aus <strong>der</strong> individuellen Situation<br />

heraus in Zusammenarbeit mit den Eltern, dem Quartier o<strong>der</strong> betreuenden Behörden<br />

Lösungen entwickeln können.<br />

O<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s formuliert: Schulung und Supervision muss die zuständige Behörde<br />

gewährleisten, für die jeweiligen Einrichtungen jedoch brauchen Lehrende/Erziehende<br />

und Lernende „freie Hand“.


117<br />

IV. Repression<br />

• ist selbstverständlich ein gleichgewichtiges Element in den Handlungssträngen<br />

<strong>der</strong> Politik.<br />

• birgt immer die Gefahr des Aktionismus, des Handelns als Reaktion auf ein<br />

singuläres Ereignis.<br />

• ist Teil <strong>der</strong> Übernahme <strong>der</strong> Verantwortung und gehört an<strong>der</strong>erseits eingebunden<br />

in die oben beschriebene Kooperation zur Prävention.<br />

Die Details des politischen Streits sollen hier nicht weiter thematisiert werden<br />

(Stichwort: geschlossene Unterbringung). Einigkeit besteht bei dem Konzept <strong>der</strong><br />

schnellen, direkten Ansprache und Konsequenz für Täter/in.<br />

V. Medien<br />

Ganz bewusst kommen die Medien ans Ende dieses Referates. Wie Medien mit<br />

Gewalt umgehen und was sie mit Gewalt zu tun haben, wird an an<strong>der</strong>er Stelle referiert,<br />

Aber, aus langjähriger leidvoller Erfahrung als Politikerin, als Faktionsvorsitzende in<br />

<strong>der</strong> rot-grünen Legislatur und als Fachpolitikerin in Oppositionszeiten: ich konnte es<br />

den Medien nie recht machen! Die Medien haben eine zentrale Rolle in unserer<br />

Gesellschaft, gerade in Hamburg mit nur einem meinungsbildenden Blatt und natürlich<br />

(be)nutzen sie die Politik und die Politik tut das umgekehrt auch.<br />

Bei extremen Vorfällen wie in Erfurt for<strong>der</strong>t die öffentliche (Medien-)Empörung in <strong>der</strong><br />

Regel zwei Konsequenzen: <strong>der</strong>/die Täter/in muss zur Rechenschaft gezogen werden<br />

und die Schule bzw. das System werden in Frage gestellt. Fähigkeiten des Kollegiums<br />

o<strong>der</strong> auch Leistungsprinzip etc werden öffentlich diskutiert.<br />

Das aktuelle Beispiel (des qualvoll verhungerten Mädchens) macht auch wie<strong>der</strong><br />

deutlich wie sensibel politische Arbeit und Entscheidung bei <strong>der</strong>art öffentlicher Trauer<br />

und Wut sein muss. Ich halte die behördlichen Fehler für unstrittig und erwarte auch<br />

eine öffentliche Verantwortungsübernahme. Ich wünsche mir jedoch gleichzeitig auch<br />

eine öffentliche Diskussion über den Verlust von Werten in unserer Gesellschaft. Die<br />

Feuilletons <strong>der</strong> „Süddeutschen“ und <strong>der</strong> „Zeit“ dürfen das thematisieren, ich als<br />

Politikerin darf das nicht. Der Vorwurf, ich will mich aus <strong>der</strong> Verantwortung herausstehlen<br />

kommt dann schnell.


118<br />

Ich erwarte tatsächlich mehr Verantwortung von den Medien, die Beschreibung einer<br />

latenten Gewaltsituation allein durch einen hohen Anteil an Kin<strong>der</strong>n mit<br />

Migrationshintergrund in einer Schule o<strong>der</strong> einem städtischen Quartier erschwert die<br />

interkulturelle Arbeit massiv. Lehrende und Eltern, aber auch die Polizei z.B., sehen<br />

sich viel zu oft in <strong>der</strong> Rechtfertigungs- o<strong>der</strong> Verteidigungsposition, als dass über<br />

erfolgreiche Arbeit berichtet wird.<br />

Fazit:<br />

Jede einzelne Gewalttat muss selbstverständlich thematisiert werden, aber die<br />

politische Auseinan<strong>der</strong>setzung darf nicht an spektakulären Einzelfällen geführt<br />

werden, son<strong>der</strong>n es bedarf einer ständigen und dauerhaften Vernetzung und<br />

Kooperation <strong>der</strong> zuständigen Behörden, Institutionen und Einrichtungen.<br />

Politik und Gesellschaft sind verantwortlich für den Umgang mit dem Thema Gewalt<br />

unter Jugendlichen und in <strong>der</strong> Schule. Neben <strong>der</strong> Kooperation mit Polizei und<br />

Justiz stehen die Schüler/-innen und Schulen im Stadtteil selbst im Mittelpunkt.<br />

Die Notwendigkeit, <strong>der</strong> Gewalt in <strong>der</strong> Gesellschaft entgegenzutreten, ist größer denn<br />

je. Die kulturellen, sozialen und auch demographischen Herausfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong><br />

mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft müssen angenommen werden.


Abb.1<br />

119


120<br />

Abb.2<br />

Definition eines unscharfen <strong>Begriffe</strong>s“ (Helmut Wehrl 1996)<br />

• Historisch kann man mit dem Begriff des „Störens“ beginnen,<br />

• über verbalen Wi<strong>der</strong>stand gegen Autorität,<br />

• Vandalismus,<br />

• physische und psychische Gewalt gegenüber an<strong>der</strong>en,<br />

• verbale Aggressionen,<br />

• bis hin zur Autoaggression<br />

eine Linie ziehen und hat damit annähernd den Begriff umfasst.<br />

Bei <strong>der</strong> Definition <strong>der</strong> Motive kristallisiert sich ein Rahmen heraus,<br />

<strong>der</strong> 5 Punkte umfasst:<br />

• spielerische, ungestüme, expressive Aggression, fehlende<br />

Selbstkontrolle<br />

• Frustration, Rache, fehlendes Selbstvertrauen, fehlende<br />

konstruktive Handlungsmöglichkeiten<br />

• Angstreaktion, Abwehr von Bedrohung,<br />

• Wunsch nach Aufmerksamkeit,<br />

• Spontane Aggression, Grenzen austesten


121<br />

Abb. 3<br />

Auswahlchronologie:<br />

1982: Beginn <strong>der</strong> Zusammenarbeit von Schule und Polizei<br />

1997: Wahlkampf und gleichzeitig Einsetzung <strong>der</strong> Enquetekommission<br />

Jugendkriminalität<br />

1/1997:Suizid des Jugendlichen Mirco aus Neuwiedenthal (warf sich vor die S-Bahn)<br />

29.06.1997: Mord an Willi Dabelstein in Tonndorf durch zwei Jugendliche aus einer<br />

intensiv betreuten Jugendwohnung<br />

5/1997: Veröffentlichung des Gutachtens „Jugenddelinquenz und jugendstrafrechtliche<br />

Praxis“, das von <strong>der</strong> Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung beim<br />

Kriminologischen Forschungsinstitut Nie<strong>der</strong>sachsen e.V. in Auftrag gegeben wurde.<br />

Maßnahmen gegen Jugendkriminalität in Hamburg während und nach<br />

<strong>der</strong> Enquête-Kommission „Jugendkriminalität und ihre gesellschaftlichen<br />

Ursachen“ (Oktober 1997 bis Mai 2000)<br />

Repressive Maßnahmen:<br />

• Anti-Raub-Konzept (10/1997),<br />

• Leitlinien für den Umgang mit Jugendkriminalität:<br />

Wissen verbessern,<br />

Vernetzung von Prävention und Repression,<br />

Soziale Integration för<strong>der</strong>n,<br />

Schnelle und Normen verdeutlichende Reaktion (1998),<br />

• Einrichtung einer sozialtherapeutischen Abteilung in <strong>der</strong><br />

Jugendhaftanstalt (1998),<br />

• Ausweitung des Täter-Opfer-Ausgleichs (6/1999),<br />

• verstärkte Strafverfolgung jugendlicher und heranwachsen<strong>der</strong><br />

Gewalttäter (11/2000),<br />

• Verbesserung des Jugendarrestes durch bessere<br />

Ausstattung (2000/2001),<br />

• vermehrte Durchführung staatsanwaltlicher<br />

Ermahnungsgespräche, Überarbeitung <strong>der</strong><br />

Diversionsrichtlinie (1/2001),<br />

• Beschleunigung von Strafverfahren – Projekt + „!STOPP!“<br />

(1/2001),<br />

• bessere Ausstattung <strong>der</strong> Jugendstaatsanwaltschaft,<br />

Jugendgerichte, Jugendgerichtshilfe (3/2001),<br />

• Intensivierung von polizeilichen Präventionsmaßnahmen<br />

und von Normen verdeutlichenden Gesprächen (6/2001 –<br />

Verstärkung um 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter).


122<br />

Abb. 4<br />

Präventive Maßnahmen:<br />

• 11/1997: „Schüler – Gemeinsam gegen Angst und Gewalt“ – Aktionswoche des<br />

Amtes für Jugend, des Amtes für Schule und <strong>der</strong> Polizei in Kooperation mit<br />

MedienvertreterInnen und freien Trägern <strong>der</strong> Jugendhilfe im CinmaxX-<br />

Filmtheater statt.<br />

• 1999: Programm Polizeiliche Kriminalitätsvorbeugung unter Beteiligung <strong>der</strong><br />

Jugendbeauftragten „Gegen Gewalt für Fairplay“ – Street- und<br />

Basketballturniere<br />

• Maßnahmen gegen Gewalt an Schulen: u.a. Streitschlichterprogramme<br />

(5/1999),<br />

• För<strong>der</strong>ung von Zivilcourage und ziviler Konfliktfähigkeit (6/1999),<br />

• Einrichtung einer überregionalen Fachkommission „Jugendhilfe, Schule, Polizei,<br />

Justiz“ (7/2000),<br />

• Schulbehörde und Polizei starten Kampagne gegen Handyklau „Ich bin<br />

registriert“ 9/2000,<br />

• Filmtage in Hamburg zur „Jugendgewalt“ des Fachkreises<br />

Gewaltprävention(11/2000),<br />

• Erziehen ohne Gewalt – Verän<strong>der</strong>ungen im Verhältnis zwischen Eltern und<br />

Kin<strong>der</strong>n (9/2000),<br />

• Stärkere Sozialraumorientierung in <strong>der</strong> Jugendhilfe (u.a. Projekt Eimsbüttel),<br />

Kin<strong>der</strong>- und Familienzentren gibt es bereits seit 1996/1997 in jedem Hamburger<br />

Bezirk, stadtteilorientierte Familienhilfe: fünf Modellprojekte zur flexiblen<br />

Krisenintervention – För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Erziehung in <strong>der</strong> Familie(4/2001),<br />

• Ausbau <strong>der</strong> ambulanten Hilfen zur Erziehung (bereits seit 1996 eingeleitet),<br />

eine intensivere Zusammenarbeit zwischen Kin<strong>der</strong>- und Jugendpsychiatrie,<br />

Schule und Einrichtungen <strong>der</strong> Jugendhilfe, „Rund-um-die-Uhr-Betreuung“ in<br />

Jugendwohnungen für Jugendliche über 16 Jahre (1998),<br />

• Sicherheitskonferenzen (2002)<br />

Literatur:<br />

FHH – BSJB, Konflikte und Gewalt – praktische Konzepte, praktische Hilfe, Adressen,<br />

Hamburg 2001<br />

FHH, Wenn Jugendliche straffällig werden: Hinsehen, Handeln, Helfen, Hamburg<br />

BBS, Gewalt in <strong>der</strong> Schule – was ist zu tun?, Hamburg 2002. Erfreulich, dass viele<br />

unter rot-grün entstandenen Projekte fortgeführt werden.


123<br />

Abb. 5<br />

Zuweisung <strong>der</strong> polizeilichen Ermittlunqszuständiqkeit nach dem Wohnortprinzip<br />

Die Umstellung vom Tatort- auf das Wohnortprinzip in <strong>der</strong><br />

Jugendkriminalitätsbekämpfung wurde am 01.10.2002 vollzogen. Hiermit wird erreicht,<br />

dass jugendliche Tatverdächtige grundsätzlich immer demselben<br />

kriminalpolizeilichen Sachbearbeiter am Wohnort-Polizeikommissariat zugeordnet<br />

werden können. Informationen über den Täter werden an einer Stelle konzentriert und<br />

Straftaten gebündelt bearbeitet. Mögliche „kriminelle Karrieren" von Jugendlichen<br />

können so frühzeitig erkannt und gestoppt werden.<br />

Sachgebiete Jugend an allen Polizeikommissariaten (PK)<br />

An allen PK wurden in den dortigen Kriminal- und Ermittlungsdiensten (KED)<br />

Sachgebiete „Jugend/Prioritätsbereiche" eingerichtet, die das Wohnortprinzip vor Ort<br />

mit auf die<br />

Bekämpfung <strong>der</strong> Jugendkriminalität spezialisierten Sachbearbeitern umsetzen.<br />

„Cop4U“ als persönliche Ansprechpartner an allen Schulen<br />

Seit Herbst 2002 sind sog. „Cop4U" als polizeiliche Ansprechpartner für alle Schulen<br />

tätig. Durch das Programm Cop4U wird ein flächendecken<strong>der</strong> Standard <strong>der</strong><br />

Kooperation zwischen den Schulen und <strong>der</strong> Polizei erreicht. Ziel ist es, eine<br />

vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den Schulen und <strong>der</strong> Polizei zu för<strong>der</strong>n,<br />

regelmäßig in Schulen präsent zu sein und als Ansprechpartner zur Verfügung zu<br />

stehen sowie gemeinsam Maßnahmen zur Eindämmung <strong>der</strong> Jugendkriminalität zu<br />

verabreden und umzusetzen.<br />

Bekämpfung von Intensivtätern<br />

Durch eine Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> „Fachanweisung über die täterorientierte<br />

Verbrechensbekämpfung (Junge Intensivtäter)" am 01.03.2003 erfolgte eine<br />

Konzentration <strong>der</strong> polizeilichen Arbeit auf Junge Intensivtäter (JIT, unter 25 Jahre), die<br />

2004 fortgesetzt wurde. Hierbei legt die Polizei einen beson<strong>der</strong>en Fokus auf Täter, die<br />

an Gewalttaten beteiligt sind.<br />

Meldung über beson<strong>der</strong>e Gefährdungen Min<strong>der</strong>jähriger an das Familien-lnterventions-<br />

Team (FIT) <strong>der</strong> Behörde für Soziales und Familie<br />

Die Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern des FIT nach Aufnahme <strong>der</strong> Tätigkeit im<br />

Januar 2003 wurde 2004 durch intensive Kontakte fortgesetzt.<br />

Präventionsproqramm „Kin<strong>der</strong>- und Jugenddelinquenz"<br />

Dieses seit 1982 durchgeführte Kooperationsprogramm vom Amt für Schule (jetzt: Amt<br />

für Bildung in <strong>der</strong> Behörde für Bildung und Sport) und <strong>der</strong> Polizei wurde fortgeführt und<br />

weiter ausgebaut. Für dieses Programm stehen <strong>der</strong>zeit 90 Polizeibeamte zur<br />

Verfügung, von denen zurzeit 87 aktiv tätig sind. Sie nehmen ihre Aufgabe im<br />

Nebenamt wahr. Im Jahr 2004 konnten die geleisteten Unterrichtseinheiten und die<br />

Anzahl <strong>der</strong> erreichten Schüler weiter gesteigert werden.


124<br />

Norm- und hilfeverdeutlichende Gespräche<br />

Insbeson<strong>der</strong>e bei Erstauffälligkeiten min<strong>der</strong>jähriger Tatverdächtiger, hauptsächlich im<br />

Bereich <strong>der</strong> Gewaltkriminalität, führt die Polizei außerhalb <strong>der</strong> eigentlichen<br />

Ermittlungsarbeit mit diesen intensive Gespräche im Beisein <strong>der</strong><br />

Erziehungsberechtigten. Sie dienen dazu, dass sich <strong>der</strong> jugendliche Tatverdächtige mit<br />

seiner Tat und ihren Folgen auseinan<strong>der</strong>setzt. Polizeiliches Ziel ist dabei die<br />

Verhin<strong>der</strong>ung einer erneuten Straffälligkeit. Mit min<strong>der</strong>jährigen Opfern jugendlicher<br />

Tatverdächtiger werden hilfeverdeutlichende Gespräche geführt, bei denen die<br />

Hilfsmöglichkeiten für das Opfer im Vor<strong>der</strong>grund stehen.<br />

Interbehördliche Kooperation<br />

Unter zentraler Steuerung und Koordinierung durch den Landesjugendbeauftragten<br />

<strong>der</strong> Polizei beteiligt sich diese an regelmäßigen Behörden übergreifenden Gesprächen,<br />

um die effektive Zusammenarbeit mit abgestimmten Maßnahmen zur nachhaltigen<br />

Bekämpfung <strong>der</strong> Jugendkriminalität zu för<strong>der</strong>n. (Kl. Anfrage 18/1801, S. 1-2)


Abb.6<br />

125


126<br />

Torsten Schubert<br />

Schulgewalt und Medien<br />

1. Wir haben die Medien, die wir verdienen!<br />

Nutzen und verän<strong>der</strong>n wir sie!<br />

2. Wettbewerb und Geschäft<br />

Mo<strong>der</strong>ne Medien im Spannungsfeld<br />

3. Information ist eine Ware<br />

4. „Mach`, dass sie nicht mehr schlecht über<br />

mich schreiben!“<br />

5. Das Ereignis ist <strong>der</strong> Grund, eine<br />

Geschichte zu erzählen<br />

6. Sinnvolle Angebote für eine präventive<br />

Berichterstattung


127<br />

Wir haben die Medien, die wir verdienen<br />

Gewaltdarstellung ist einfacher zu vermitteln und stößt auf größeres Interesse als<br />

Hintergrundberichte über Gewaltursachen. Public Relations können helfen, das<br />

Bewusstsein von Journalisten für die eigene Berichterstattung zu schärfen und eine<br />

Diskussion über den Umgang <strong>der</strong> Medien mit Gewalt auszulösen.<br />

Über nichts liest <strong>der</strong> Mensch lieber als über Menschen. Das lernt je<strong>der</strong> angehende<br />

Journalist schon während seiner Ausbildung. Nur was möchte <strong>der</strong> Mensch über<br />

an<strong>der</strong>e Menschen lesen? „Sex sells“ lautet die Antwort – und sie könnte ergänzt<br />

werden durch „violence, too“. Also Sex und Gewalt für die Auflage: Funktioniert das<br />

wirklich? Bestes Beispiel ist die „Bild“. Die „tägliche Nackte“ erreicht über die Jahre<br />

gesehen wohl mehr Menschen als die Bibel und auch die erschreckenden Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Tsunami-Katastrophe haben ihre Betrachter gefunden. Wird das alles ergänzt durch<br />

ein wenig Gemeinschaftsgefühl („Wir sind Papst!“), ist die Mischung perfekt, die<br />

Auflage gemacht.<br />

Ist Journalismus wirklich so berechnend und so einfach? Nicht nach den Worten von<br />

Egon Erwin Kisch, <strong>der</strong> auch heute noch als großes Vorbild für Journalisten betrachtet<br />

wird: „Der gute Reporter hat ein Schriftsteller <strong>der</strong> Wahrheit zu sein, <strong>der</strong> durch die<br />

Wahl von Farbe und Perspektive seine Reportage zu einem anklägerischen<br />

Kunstwerk macht.“ Doch welcher Leser<br />

hat heute beim Durchblättern seiner Zeitung das Gefühl, ein Kunstwerk in Händen zu<br />

halten?<br />

Wettbewerb und Geschäft<br />

Die mo<strong>der</strong>nen Medien befinden sich im Spannungsfeld zwischen Informationspflicht,<br />

Wettbewerb und Geschäft. Mit Privatfernsehen und Internet hat sich das<br />

Informations-Umfeld dramatisch verän<strong>der</strong>t und mit ihm die Gewohnheiten <strong>der</strong><br />

Menschen, sich zu informieren. Der klassischen Zeitung o<strong>der</strong> dem Magazin kommt<br />

nicht mehr die herausragende Rolle zu, die sie noch vor vielleicht zehn Jahren<br />

hatten. Das Schlagwort, das diese Verän<strong>der</strong>ungen begleitet hat, lautet „Infotainment“<br />

– die unterhaltende Information, kurz, schnell, amüsant und zeitsparend. Neue<br />

Formate entstanden: Talkshows, Soap-Serien, Reality-TV. Was die Macher dieser<br />

Sendungen dabei immer im Blick behalten haben: Über nichts liest (o<strong>der</strong> sieht) <strong>der</strong><br />

Mensch lieber als über an<strong>der</strong>e Menschen. Das Prinzip ist geblieben, nur die Technik


128<br />

ist mo<strong>der</strong>ner und das hat eine eindeutige Konsequenz: Viel weniger Platz für<br />

erläuternde Hintergrundberichte. Um es flapsig auszudrücken: Gewalt ist, wenn es<br />

knallt. Erklärt man präventiv die Ursachen von Gewalt, knallt es nicht – und das will<br />

keiner lesen.<br />

Was ist <strong>der</strong> Motor dieser Entwicklung? Wettbewerb und Geschäft. Früher gab es in<br />

Deutschland drei Fernsehprogramme, die sich nur zum Teil selbst finanzieren<br />

mussten. Sie hatten einen öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrag und sendeten in <strong>der</strong><br />

Woche höchstens bis Mitternacht. Auch <strong>der</strong> Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt war<br />

überschaubar. Bis Anfang <strong>der</strong> 90er Jahre gab es „Spiegel“, „Stern“ und „Zeit“ als<br />

wichtigste Wochenblätter, niemand konnte sich damals vorstellen, dass sich daneben<br />

noch weitere Titel etablieren könnten. Dann kam „Focus“ und verän<strong>der</strong>te die<br />

Magazinlandschaft radikal. Die an<strong>der</strong>en mussten reagieren, <strong>der</strong> Wettbewerb um die<br />

Leser war entbrannt und damit <strong>der</strong> Kampf um Anzeigenkunden.<br />

Seit Ende des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts ein Verleger in den Vereinigten Staaten die Idee<br />

hatte, seine Zeitung hauptsächlich durch Anzeigen zu finanzieren, sind die Leser nur<br />

noch mittelbar wichtig für die Verlage. Die Höhe <strong>der</strong> Auflage bestimmt den<br />

Anzeigenpreis. Das heißt, wer für die Masse produziert, verdient gut. Umgekehrt:<br />

Wer Randthemen aufgreift, seine Leser überfor<strong>der</strong>t o<strong>der</strong> langweilt, verliert sehr<br />

schnell Anzeigen, weil die Unternehmen ihre Zielgruppe nicht mehr erreichen. Im<br />

Zeitalter des Infotainments erreicht die Masse, wer unterhält. Ehrgeizige Projekte wie<br />

das Zeit-Magazin o<strong>der</strong> das Magazin <strong>der</strong> Süddeutschen Zeitung sind dieser neuen<br />

Ausrichtung genauso zum Opfer gefallen, wie längere Reportagen in Tageszeitungen<br />

und <strong>der</strong>en Wochenendausgaben.<br />

Information ist eine Ware<br />

Gleichzeitig führt eine Entwicklung, die in den 50er Jahren begonnen hat, zu einem<br />

immer größeren Informationsmonopol: Die Konzentration <strong>der</strong> Verlage. Nur noch<br />

wenige Unternehmen steuern heute die Medienlandschaft. Deren Ziel ist<br />

Gewinnmaximierung. Der journalistische Auftrag, die Information wird zur Ware. Die<br />

Redaktionen, eigentlich von verlegerischen Entscheidungen weitgehend unabhängig,<br />

aber angesichts <strong>der</strong> wirtschaftlichen Macht keineswegs frei, produzieren, was am<br />

Markt nachgefragt wird: Infotainment.<br />

Natürlich gibt es noch eine Informationspflicht <strong>der</strong> Medien. Sie kommen ihr auch<br />

nach durch Meldungen und Berichte. Doch <strong>der</strong> Stil hat sich verän<strong>der</strong>t. Vergleicht man<br />

einen „Spiegel“ von heute mit einer älteren Ausgabe, stellt man fest, dass nicht nur


129<br />

die Fotos farbig geworden sind, son<strong>der</strong>n die Artikel oberflächlicher und reißerischer.<br />

Hinterfragt man einen Artikel aus <strong>der</strong> „Zeit“, bemerkt man, dass manches an<br />

Informationen auf die gewollte Aussage hin ein wenig passend gemacht wurde.<br />

Äußeres Merkmal vieler Zeitungen, an dem sich das unternehmerische Denken <strong>der</strong><br />

Gewinnmaximierung zulasten <strong>der</strong> Qualität erkennen lässt: Die Anzahl <strong>der</strong><br />

Rechtschreibfehler und grammatikalisch falschen Sätze. Hier wird offensichtlich an<br />

<strong>der</strong> Schlussredaktion auf Kosten <strong>der</strong> Leser gespart.<br />

Aber noch ein an<strong>der</strong>er Punkt ist wichtig für das Verständnis, was Medien ihren<br />

Nutzern mitteilen. Das Schlüsselwort ist Information. Was bedeutet es? Journalisten<br />

sollen Leser, Zuhörer o<strong>der</strong> Zuschauer an dem Geschehen um sie herum teilhaben<br />

lassen. Dazu müssen sie selbst wissen, was aktuell geschieht, sie benötigen<br />

Informationen, die sie aufarbeiten und weitergeben können. Doch diese<br />

Informationen sind heute so vielseitig, dass Journalisten geradezu einer Flut von<br />

Mitteilungen ausgesetzt sind: Sie bekommen Pressemeldungen, Einladungen,<br />

Anrufe, nehmen an Pressekonferenzen, Hintergrundgesprächen und Vorträgen teil.<br />

Inszeniert von einer Dienstleistungsindustrie, die sich darauf spezialisiert hat, für<br />

Wirtschaft, Politik, Verbände und Institutionen professionelle Kommunikation zu<br />

organisieren. Public Relations (PR) sollen die öffentliche Meinung zu Gunsten ihrer<br />

Auftraggeber beeinflussen. Die Journalisten sind das Werkzeug dazu, dessen sich<br />

die PR-Spezialisten bedienen. Denn ein Artikel in einer renommierten Zeitung ist in<br />

<strong>der</strong> Meinung <strong>der</strong> Öffentlichkeit immer noch glaubwürdiger als die beste<br />

Marketingkampagne. So produzieren Pressesprecher und Agenturen Informationen,<br />

die nur ein Ziel haben: einen Raum in den Zeitungen o<strong>der</strong> Sendezeit im Radio und<br />

Fernsehen für sich zu gewinnen. Informationen sind damit auch auf Seiten <strong>der</strong><br />

Informanten eine Ware und ein nicht zu unterschätzendes Machtmittel, mit dem auf<br />

allen Ebenen <strong>der</strong> Gesellschaft Politik gemacht wird. Die Frage hinter je<strong>der</strong><br />

Information muss also lauten: Wer hat warum und an wen welche Information<br />

gegeben o<strong>der</strong> durchsickern lassen? Vieles kommt nur an die Öffentlichkeit, weil<br />

damit ein hinter <strong>der</strong> Information verborgener Zweck erreicht werden soll.<br />

„Mach’, dass sie nicht mehr schlecht über mich schreiben!“<br />

Was sind diese Informationen wert? Sie sind subjektiv gefärbt. Dennoch helfen sie<br />

den Journalisten eventuell dabei, die richtigen Themen zu finden und die richtigen<br />

Fragen zu stellen. Wenn sie dafür Zeit haben und wenn dies gewollt ist. Doch Zeit ist<br />

auch für Journalisten ein knappes Gut. Sie müssen die Vielzahl an Informationen


130<br />

strukturieren – und zwar nach dem Gesichtspunkt des Lesernutzens. Die Fragen<br />

lauten für sie: Wer sind unsere Nutzer und was wollen sie in ihrer Zeitung lesen?<br />

Dagegen lautet die Frage für die Anzeigenabteilungen: Wie können wir die Wünsche<br />

unserer Kunden umsetzen? Und die Kunden, die Anzeigen schalten und<br />

Pressearbeit machen, möchten ihre Informationen und Texte natürlich veröffentlicht<br />

sehen. Ein Spannungsfeld also zwischen freier Berichterstattung und Geschäft.<br />

Wobei die Medien unterschiedlich damit umgehen. Um bei den Zeitungen zu bleiben:<br />

Die Bild-Hamburg beschäftigt allein drei Redakteure, die nur für die<br />

Anzeigenabteilung schreiben. Dagegen hält das Hamburger Abendblatt noch<br />

weitgehend am Prinzip <strong>der</strong> Trennung von Redaktion und Anzeigenabteilung fest.<br />

Doch auch ohne den Druck aus <strong>der</strong> Anzeigenabteilung kann professionelle<br />

Pressearbeit den Inhalt <strong>der</strong> Medien beeinflussen. Das ist sinnvoll und legitim, da die<br />

Redaktionen von vielfältigen Informationen leben. Als erster hat das vor über<br />

einhun<strong>der</strong>t Jahren <strong>der</strong> amerikanische Ölbaron John Rockefeller erkannt. Er heuerte<br />

einen arbeitslosen Journalisten mit den Worten an: „Mach’, dass sie nicht mehr<br />

schlecht über mich schreiben!“ Die Geburtsstunde <strong>der</strong> Public Relations - von denen<br />

Pressearbeit ein wichtiger Teil ist – begann also mit einem klaren, subjektiv gefärbten<br />

Auftrag. Daran hat sich bis heute nichts geän<strong>der</strong>t, PR beeinflusst die öffentliche<br />

Meinung durch gezielte Aktionen und Informationen. Dabei nutzen Unternehmen,<br />

Initiativen und Verbände die Möglichkeiten <strong>der</strong> PR immer häufiger, gezielter und<br />

professioneller, so dass sich für die Journalisten daraus ein großer Informationspool<br />

gebildet hat, <strong>der</strong> insgesamt dazu beitragen könnte, die Qualität ihrer Arbeit zu<br />

verbessern.<br />

Das Ereignis ist <strong>der</strong> Grund, eine Geschichte zu erzählen<br />

Doch warum werden manche Informationen von den Medien mehr genutzt als<br />

an<strong>der</strong>e? Warum wird über manche Themen häufiger berichtet? Warum gibt es zum<br />

Beispiel ausführliche Berichte über Gewalt an Schulen, wenn gerade etwas passiert<br />

ist, nicht aber zur präventiven Aufklärung über Gewaltphänomene? Informationen<br />

sind eine Ware und wie bei je<strong>der</strong> Ware zählt die Verkaufbarkeit. Was verkauft<br />

werden kann, entscheidet sich nach verschiedenen Kriterien: Relevanz für die<br />

Käufer, Aktualität und Brisanz eines Themas, gesellschaftliche Trends,<br />

Lesegewohnheiten <strong>der</strong> Käufer, Aufmachung und Bedeutung eines Themas für<br />

bestimmte gesellschaftliche Gruppen. Wie Eingangs bereits geschrieben, sind<br />

Gewalt und Verbrechen ein Bereich, <strong>der</strong> viele Menschen interessiert. Deshalb


131<br />

kommen sie häufig in <strong>der</strong> Berichterstattung vor und deshalb entsteht <strong>der</strong> Eindruck,<br />

die Medien berichten immer nur über das Schlechte. Diese Themen sind aber erst<br />

dann spannende, wenn wirklich etwas passiert ist, erst dann kann <strong>der</strong> Journalist mit<br />

Opfern, Augenzeugen, Angehörigen, Polizei, Ärzten, Seelsorgern, Psychologen,<br />

Nachbarn sprechen. Erst dann kann er aus einem Anlass heraus zum Beispiel das<br />

Leben einer Dorfgemeinschaft schil<strong>der</strong>n, die vielleicht erst ein spezielles Verbrechen<br />

ermöglicht o<strong>der</strong> begünstigt hat. Erst dann fokussiert sich das alltägliche Leben in<br />

einem so kleinen Ausschnitt, dass es exemplarisch vorgeführt werden kann. Das<br />

Ereignis ist <strong>der</strong> Grund, eine Geschichte zu erzählen. Je atemberauben<strong>der</strong> das<br />

Ereignis, desto größer das Interesse für die Geschichte. Aus demselben Grund sind<br />

Krimis so beliebt: Der Leser verliert nie den einfachen roten Faden <strong>der</strong> Handlung aus<br />

den Augen und er nimmt zusätzlich teil an den Schicksalen, über die darum herum<br />

berichtet wird.<br />

Wenn die Medien für ihre Nutzer interessant sein wollen, um die Auflage zu erhöhen<br />

o<strong>der</strong> zumindest zu halten und sich an den Vorlieben ihrer Kunden orientieren, haben<br />

sie keine an<strong>der</strong>e Möglichkeit, als über Gewalt und Verbrechen ausführlich im<br />

nachhinein zu berichten, nämlich dann, wenn tatsächlich etwas passiert ist.<br />

Sinnvolle Angebote für eine präventive Berichterstattung<br />

Können sie darüber hinaus präventiv und aufklärerisch Ursachen und Möglichkeiten<br />

<strong>der</strong> Verhin<strong>der</strong>ung von Gewalt beschreiben? Ja, das können sie. Allerdings müssen<br />

sie sich wie<strong>der</strong>um fragen, wie groß das Interesse ihrer Nutzer an solchen Berichten<br />

ist. Dabei werden sie zum Schluss kommen, dass nur ein kleiner Teil ihrer Kunden<br />

sich mit dem Phänomen Gewalt auseinan<strong>der</strong>setzt. Folglich wird den Themen<br />

Ursachen von Gewalt und Gewaltprävention nur wenig Platz in <strong>der</strong> Berichterstattung<br />

eingeräumt.<br />

Gewalt ist genauso ein gesellschaftliches Phänomen, wie die Lese- und<br />

Fernsehgewohnheiten <strong>der</strong> Bevölkerung. Sie schreckt ab und fasziniert Menschen<br />

gleichermaßen. Vielleicht ist deshalb ein Verständnis des Gewaltphänomens nicht<br />

nur intellektuell, son<strong>der</strong>n auch emotional schwierig. Eine Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />

Berichterstattung in den Medien zum Thema Gewalt muss genau an diesem Punkt<br />

ansetzen. Wie können Menschen dafür interessiert werden, sich von den Medien<br />

nicht nur „schaurig schöne“ Geschichten erzählen zu lassen, son<strong>der</strong>n sich mit Gewalt<br />

auseinan<strong>der</strong> zu setzen?


132<br />

Dabei könnte den Medien eine Schlüsselrolle zufallen, weil sie die Masse <strong>der</strong><br />

Bevölkerung erreichen. Doch wie sie davon überzeugen? Die Relevanz des<br />

Problems dürfte vielen Journalisten bewusst sein. Was sie benötigen, sind sinnvolle<br />

Angebote, wie sie eine interessante Berichterstattung aufziehen könnten. Hier spielt<br />

die PR als Werkzeug <strong>der</strong> professionellen Kommunikation eine wichtige Rolle.<br />

Journalisten erwarten, dass sie über Neuigkeiten, Ereignisse und Ideen informiert<br />

werden und die Informationen bereits zu ihrer Verwendung aufbereitet sind. Gute PR<br />

nimmt Journalisten Zeit ab und erreicht damit eine stärkere Berücksichtigung ihrer<br />

lancierten Themen. Das beginnt bei <strong>der</strong> Überlegung, welche Themen für die Medien<br />

überhaupt geeignet sind, führt über eine gut geschriebene Presseinformation, eine<br />

aussagekräftige Pressemappe und eine adäquate Kontaktaufnahme zu den<br />

Journalisten und kann bis zur Weiterbildung ausgewählter Journalisten in dem<br />

Themenbereich reichen. Es gilt, Journalisten die interessanten Aspekte eines<br />

Themas aufzuzeigen, das kann auch auf unkonventionelle Art und Weise<br />

geschehen, zum Beispiel, indem ein Journalist referiert, <strong>der</strong> selbst schon einmal<br />

Opfer von Gewalt geworden ist und sich nun vielleicht mit diesem Thema verstärkt<br />

beschäftigt. Eine Zusammenarbeit mit dem Deutschen Journalistenverband o<strong>der</strong><br />

Reporter ohne Grenzen, die sich auch immer wie<strong>der</strong> mit dem Thema Gewalt<br />

gegenüber Journalisten auseinan<strong>der</strong>setzen, könnte dabei zu neuen Ansätzen führen,<br />

die vielleicht mehr als eine Tür in die Redaktionen öffnen.<br />

Journalisten wählen, wie viele Menschen, gerne den einfachen Weg. Über ein<br />

geschehenes Gewaltverbrechen zu berichten ist sehr viel leichter, als sich mit dem<br />

Phänomen Gewalt in allen seinen Facetten tatsächlich auseinan<strong>der</strong>zusetzen. PR<br />

kann Journalisten helfen, einen Einstieg in die Thematik zu finden und ihnen den<br />

Weg zu ebnen, indem sie das große Thema in immer wie<strong>der</strong> neue, überschaubare<br />

Aspekte glie<strong>der</strong>t. So kann sie dabei helfen, Journalisten zu überzeugen, dass auch<br />

viele ihrer Leser o<strong>der</strong> Zuschauer sich mit dem Thema Gewalt beschäftigen würden,<br />

wenn es nur verständlich und interessant genug aufbereitet wird. PR kann vor allem<br />

dabei helfen, die Relevanz des Themas zu betonen und die Menschen, Institutionen<br />

und Gruppen, die daran arbeiten, in <strong>der</strong> Öffentlichkeit bekannt zu machen.<br />

Im so genannten Informationszeitalter hat nur noch das eine ausreichend große<br />

Bedeutung, um aufzuklären und Verän<strong>der</strong>ungen im Bewusstsein <strong>der</strong> Menschen zu<br />

bewirken, was irgendwie im öffentlichen Gespräch ist. Medien bringen Themen nach<br />

vorne o<strong>der</strong> verhin<strong>der</strong>n sie. Dabei gilt: Wir haben die Medien, die wir verdienen.<br />

Nutzen und verän<strong>der</strong>n wir sie!


133<br />

Jugendschutz und Indizierungspraxis –<br />

Die Aufgaben <strong>der</strong> Bundesprüfstelle<br />

Vortrag an <strong>der</strong> Universität Hamburg, 09.03.2005<br />

Kriminologische Studienwoche „Gewalt in <strong>der</strong> Schule“<br />

Geschichte <strong>der</strong> BPjM:<br />

Nach den Erfahrungen während des Dritten Reiches, als Medien nur veröffentlicht<br />

werden durften, wenn eine Genehmigung des NS-Regimes vorlag, wollte man in <strong>der</strong><br />

neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland keinerlei Zensur dulden. In Artikel 5<br />

Abs. 1 Grundgesetz (GG) wurde daher festgeschrieben, dass eine Zensur nicht stattfindet.<br />

Gemeint war damit die so genannte „Vorzensur“, d.h. ein Verbot vor Veröffentlichung.<br />

Sehr schnell merkte man jedoch, dass in einer grenzenlos freien Medienlandschaft<br />

auch solche Medien veröffentlicht wurden, <strong>der</strong>en Inhalt zumindest auf Kin<strong>der</strong> und<br />

Jugendliche eine bedenkliche Wirkung ausüben konnte. Insbeson<strong>der</strong>e handelte es<br />

sich um Berichte ehemaliger Soldaten o<strong>der</strong> SS-Angehöriger, die in höchsten Tönen<br />

von ihren Erlebnissen während des Zweiten Weltkrieges schwärmten.<br />

Daher trat am 14. Juli 1953 das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährden<strong>der</strong><br />

Schriften (GjS) in Kraft, <strong>der</strong> Vorläufer des seit 01.04.2003 geltenden Jugendschutzgesetzes<br />

(JuSchG). Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (seit<br />

01.04.2003: Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien) hatte ihre erste konstituierende<br />

Sitzung am 14. Mai 1954.<br />

Das GjS sah vor, dass die Bundesprüfstelle nur auf Antrag tätig werden konnte.<br />

Grund hierfür ist, dass – um eine Vorzensur zu vermeiden – alle Medien zunächst auf<br />

den Markt gebracht werden dürfen. Außerdem sollte aus <strong>der</strong> Bevölkerung heraus<br />

eine Beschwerde über ein Medium erhoben werden, d.h. aus <strong>der</strong> Gesellschaft heraus<br />

sollte <strong>der</strong> Bundesprüfstelle ein Signal gegeben werden, dass ein bestimmter Inhalt<br />

für jugendgefährdend gehalten wird. Die Bundesprüfstelle sollte also nicht nach<br />

ihrem eigenen Gutdünken Medien zur Prüfung auswählen dürfen.<br />

Zu den Berechtigten, die einen Indizierungsantrag stellen konnten, zählten zunächst<br />

nur die Obersten Landesjugendbehörden. 1978 wurden alle Jugendämter (ca. 500<br />

Stellen) in den Kreis <strong>der</strong> Antragsberechtigten aufgenommen, nach <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung<br />

konnten somit ca. 800 Stellen Indizierungsanträge stellen.<br />

Seit dem 01.04.2003 gibt es nun zusätzlich die so genannten Anregungsberechtigten.<br />

Dazu zählen diejenigen Behörden, die nicht schon als Antragsberechtigte genannt<br />

sind, sowie alle anerkannten Träger <strong>der</strong> freien Jugendhilfe.<br />

Am 07.12.2004 feierte die Bundesprüfstelle ihr 50-jähriges Bestehen mit einem Festakt,<br />

an dem auch die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,<br />

Renate Schmidt, teilnahm und mit Jugendlichen diskutierte.


134<br />

2<br />

Gremien <strong>der</strong> BPjM:<br />

Über Indizierungen von Medien o<strong>der</strong> über Streichungen aus <strong>der</strong> Liste <strong>der</strong> jugendgefährdenden<br />

Medien entscheidet ein Gremium von 12 Personen. Die Entscheidung<br />

muss mit 2/3 Mehrheit ergehen. Das 12er-Gremium setzt sich wie folgt zusammen:<br />

• die/<strong>der</strong> Vorsitzende <strong>der</strong> BPjM<br />

• 8 Beisitzerinnen und Beisitzer, entsandt aus den Gruppen<br />

Kunst,<br />

Literatur,<br />

Buchhandel und Verleger,<br />

Anbieter von Bildträgern und Telemedien,<br />

Träger <strong>der</strong> freien Jugendhilfe,<br />

Träger <strong>der</strong> öffentlichen Jugendhilfe,<br />

Lehrerschaft,<br />

Kirchen,<br />

• 3 Beisitzerinnen und Beisitzer <strong>der</strong> Län<strong>der</strong><br />

In Fällen <strong>der</strong> offensichtlichen Jugendgefährdung (§ 23 I JuSchG) kann die BPjM mit<br />

einem 3er-Gremium im vereinfachten Verfahren entscheiden, allerdings muss die<br />

Entscheidung hier einstimmig ergehen. Das 3er-Gremium besteht aus:<br />

• <strong>der</strong>/dem Vorsitzenden <strong>der</strong> BPjM<br />

• zwei Beisitzerinnen bzw. Beisitzern, wobei eine/r von diesen aus den Gruppen 1<br />

bis 4 (Kunst / Literatur / Buchhandel und Verleger / Anbieter von Bildträgern und<br />

Telemedien) entsandt sein muss.<br />

„Jugendgefährdung“<br />

§ 18 Abs. 1 S. 1 JuSchG definiert die Jugendgefährdung als „Gefährdung <strong>der</strong> Entwicklung<br />

von Kin<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> Jugendlichen o<strong>der</strong> ihrer Erziehung zu einer eigenverantwortlichen<br />

und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“.<br />

Unter diesen Begriff fallen Medien, die befürchten lassen, dass durch ihre Lektüre<br />

das sittliche Verhalten des Kindes o<strong>der</strong> Jugendlichen im Denken, Fühlen, Reden<br />

o<strong>der</strong> Handeln von den Normen des Erziehungszieles wesentlich abweicht.<br />

Das Erziehungsziel ist vor allem dem Grundgesetz, insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Menschenwürde<br />

und den Grundrechten zu entnehmen, aber auch den mit dem Grundgesetz übereinstimmenden<br />

pädagogischen Erkenntnissen und Wertmaßstäben, über die in <strong>der</strong><br />

Gesellschaft Einigkeit besteht.<br />

„unsittliche Medien“<br />

Der Begriff „unsittlich“ bezieht sich auf Medien mit sexuell-erotischem Inhalt. Die untere<br />

Schwelle <strong>der</strong> Unsittlichkeit liegt nicht bei schlichten Nacktaufnahmen, son<strong>der</strong>n es<br />

müssen weitere Umstände hinzukommen, z.B. Hervorhebung <strong>der</strong> Geschlechtsmerkmale.<br />

Die obere Schwelle liegt unterhalb <strong>der</strong> Pornographie (die immer schwer jugendgefährdend<br />

ist, siehe unten).


135<br />

3<br />

Die Bundesprüfstelle hat im Verlauf ihrer Spruchpraxis mehrere Kriterien zu diesem<br />

Begriff entwickelt und nimmt ein Vorliegen <strong>der</strong> Unsittlichkeit u.a. in diesen Fällen an:<br />

• Menschen (Frauen wie Männer) werden zum sexuellen Konsumartikel o<strong>der</strong> je<strong>der</strong>zeit<br />

benutzbaren Gegenstand degradiert o<strong>der</strong> sie werden unter Hervorhebung ihrer<br />

Geschlechtsmerkmale als Lustobjekt dargestellt.<br />

• Es wird <strong>der</strong> Eindruck erweckt, das menschliche Leben sei auf Sexualgenuss zentriert<br />

und sexuelle Befriedigung sei <strong>der</strong> einzige, das menschliche Leben beherrschende<br />

Wert.<br />

• Prostitution o<strong>der</strong> Promiskuität werden verherrlicht bzw. verharmlost<br />

• Die sexuellen Darstellungen sind mit dem Element <strong>der</strong> Gewalt verknüpft.<br />

„verrohend wirkende Medien“<br />

„zu Gewalttätigkeit, Verbrechen anreizende Medien“<br />

Als verrohend gelten Medien, die geeignet sind, rohe Instinkte zu wecken, eine gefühllose,<br />

gegen Schicksal und Leiden an<strong>der</strong>er abgestumpfte Gesinnung hervorzurufen<br />

o<strong>der</strong> zu intensivieren<br />

Als zu Gewalttätigkeit o<strong>der</strong> Verbrechen anreizende Medien gelten solche, die bei objektiver<br />

Betrachtung befürchten lassen, dass junge Rezipienten durch sie zur Begehung<br />

von Gewalttätigkeiten, Verbrechen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Straftaten verführt werden,<br />

weil sie ein solches Verhalten herrlich, vorbildlich o<strong>der</strong> nachahmenswert finden.<br />

Die Bundesprüfstelle nimmt eine verrohende Wirkung bzw. einen zu Gewalttätigkeit<br />

anreizenden Inhalt u.a. in folgenden Fällen an:<br />

• Gewalt wird selbstzweckhaft, in epischer Breite dargestellt.<br />

• Gewalt wird als vorrangiges Konfliktlösungsmittel präsentiert.<br />

• Die Anwendung von Gewalt im Namen des Gesetzes o<strong>der</strong> im Dienst einer angeblich<br />

guten Sache wird als völlig selbstverständlich und üblich dargestellt, in Wahrheit<br />

jedoch werden Recht und Ordnung negiert.<br />

• Selbstjustiz wird als einzig probates Mittel zur Durchsetzung <strong>der</strong> vermeintlichen<br />

Gerechtigkeit dargestellt.<br />

„zum Rassenhass anreizend“<br />

Unter diesen Begriff fallen Medien, die durch Einwirkung auf die Leidenschaft eine<br />

feindselige Haltung gegenüber an<strong>der</strong>en Rassen angehörigen Personen, Bevölkerungsteilen<br />

o<strong>der</strong> Völkern hervorzurufen geeignet sind und damit den Nährboden für<br />

Hass, öffentliche Äußerungen, Kampagnen o<strong>der</strong> sogar Ausschreitungen gegen die<br />

betroffenen Kreise zu bereiten geeignet sind.


136<br />

4<br />

„NS-verherrlichend und -verharmlosend“<br />

Medien mit diesen Inhalten sind nicht als Regelbeispiel im § 18 Abs. 1 JuSchG aufgeführt.<br />

Nach ständiger Spruchpraxis, bestätigt durch höchstrichterliche Rechtsprechung,<br />

geht die Bundesprüfstelle jedoch auch hier von einer Jugendgefährdung aus.<br />

- Medien, die insbeson<strong>der</strong>e Jugendlichen als Verteidigung und damit als Werbung<br />

für die Ideologie des Nationalsozialismus, seine Rassenlehre, seine Führung, sein<br />

Erziehungsprogramm und seine Kriegsführung erscheinen<br />

- Medien, die das NS-Regime und damit zugleich dessen Ideologie durch Geschichtsklitterung<br />

aufzuwerten und zu rehabilitieren versuchen und bei jugendlichen<br />

Lesern eine entsprechende Fehlorientierung auslösen können<br />

-<br />

Jugendaffinität / Erreichbarkeit für Jugendliche<br />

Bei den Entscheidungen <strong>der</strong> Bundesprüfstelle spielt auch eine Rolle, ob das jeweilige<br />

Medium bzw. sein Inhalt auf Kin<strong>der</strong> und Jugendliche interessant wirkt.<br />

Die Gremien <strong>der</strong> Bundesprüfstelle haben auch den Umstand zu berücksichtigen, ob<br />

das Medium für Kin<strong>der</strong> und Jugendliche erreichbar ist. Ein beson<strong>der</strong>s hoher Preis<br />

kann z.B. dazu führen, dass sich Kin<strong>der</strong> und Jugendliche das Medium nicht kaufen<br />

(können).<br />

Kunstfreiheit / Meinungsfreiheit<br />

Die Bundesprüfstelle hat bei ihren Entscheidungen den Schutzbereich <strong>der</strong> Grundrechte<br />

zu beachten. So kann ein jugendgefährdendes Medium ein Kunstwerk sein<br />

o<strong>der</strong> es kann eine bestimmte Meinung mithilfe des Mediums verbreitet werden. Die<br />

Belange des Jugendschutzes müssen daher gegen einen möglichen Eingriff in ein<br />

Grundrecht abgewogen werden.<br />

Folgen <strong>der</strong> Indizierung (§ 15 JuSchG)<br />

• Das Medium darf Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen nicht angeboten, überlassen o<strong>der</strong><br />

sonst zugänglich gemacht werden.<br />

• Es darf nicht an einem Ort, <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen zugänglich ist, ausgestellt,<br />

angeschlagen o<strong>der</strong> vorgeführt werden.<br />

• Es darf nicht im Einzelhandel außerhalb von Geschäftsräumen o<strong>der</strong> im Versandhandel<br />

angeboten o<strong>der</strong> überlassen werden.<br />

• Es darf nicht im Wege des Versandhandels eingeführt werden.<br />

• Die Liste <strong>der</strong> jugendgefährdenden Medien darf nicht zum Zweck <strong>der</strong> geschäftlichen<br />

Werbung abgedruckt werden.<br />

• Bei geschäftlicher Werbung darf nicht auf ein Indizierungsverfahren hingewiesen<br />

werden.<br />

• Ein indiziertes Medium darf nicht angepriesen, d.h. beworben, werden.


137<br />

5<br />

„Schwere Jugendgefährdung“ (§ 15 Abs. 2 JuSchG)<br />

Schwer jugendgefährdende Medien unterliegen auch ohne Aufnahme in die Liste<br />

den Beschränkungen des § 15 JuSchG. Folgende Fälle nennt das Gesetz:<br />

• Der Inhalt verstößt gegen §§ 86, 130, 130a, 131 o<strong>der</strong> 184 StGB<br />

• Kriegsverherrlichung<br />

• Die Menschenwürde verletzende Darstellung von Menschen, die sterben o<strong>der</strong><br />

schweren körperlichen Leiden ausgesetzt sind o<strong>der</strong> waren<br />

• Darstellungen von Kin<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> Jugendlichen in unnatürlicher, geschlechtsbetonter<br />

Körperhaltung<br />

• Offensichtliche schwere Jugendgefährdung<br />

Listenstreichungen<br />

Nach 25 Jahren entfällt die Wirkung <strong>der</strong> Indizierung. Die Vorsitzende <strong>der</strong> BPjM kann<br />

jedoch ein neues Verfahren einleiten, wenn die Voraussetzungen für die Aufnahme<br />

in die Liste weiterhin vorliegen.<br />

Bereits nach 10 Jahren kann die Listenstreichung im vereinfachten Verfahren beantragt<br />

werden.<br />

Liste <strong>der</strong> jugendgefährdenden Medien (§ 18 Abs. 2 JuSchG)<br />

Nach dem seit 01.04.2003 geltenden Jugendschutzgesetz hat die Bundesprüfstelle<br />

die Liste <strong>der</strong> jugendgefährdenden Medien in vier Teilen zu führen:<br />

Öffentliche Liste<br />

Teil A: Trägermedien<br />

Teil B: Trägermedien mit strafrechtsrelevantem Inhalt (nach Einschätzung <strong>der</strong> BPjM),<br />

die einem absoluten Verbreitungsverbot unterliegen<br />

Nichtöffentliche Liste<br />

Teil C: Telemedien (= Online-Medien) und solche Trägermedien, die nur „online“<br />

verbreitet werden o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en Nennung in <strong>der</strong> öffentlichen Liste <strong>der</strong> Wahrung<br />

des Jugendschutzes schaden würde<br />

Teil D: Telemedien mit strafrechtsrelevantem Inhalt (nach Einschätzung <strong>der</strong> BPjM)<br />

und ebensolche Trägermedien, <strong>der</strong>en Nennung in <strong>der</strong> öffentlichen Liste <strong>der</strong><br />

Wahrung des Jugendschutzes schaden würde<br />

Die Liste <strong>der</strong> indizierten Telemedien (= Internetangebote) ist somit nicht länger öffentlich.<br />

Handelt es sich um ausländische Internetangebote, auf die die deutschen Strafverfolgungs-<br />

und Ordnungsbehörden keinen Zugriff haben, wird die Adresse zur Einarbeitung<br />

in Filtersoftware weitergegeben.


138<br />

6<br />

Vor <strong>der</strong> Indizierung von Telemedien hat die BPjM die Stellungnahme <strong>der</strong> Kommission<br />

für Jugendmedienschutz (KJM) einzuholen. Diese Stellungnahme hat die BPjM<br />

bei ihrer Entscheidung „maßgeblich zu berücksichtigen“.<br />

Indizierungsantrag bzw. -anregung<br />

Die Stellung eines Indizierungsantrags bzw. einer Indizierungsanregung kann formlos<br />

geschehen. Da <strong>der</strong> Antrag bzw. die Anregung dem betroffenen Vertreiber o<strong>der</strong> Autor<br />

zugestellt werden muss (rechtliches Gehör), sollte das Schreiben aber eine kurze<br />

Begründung enthalten, aus <strong>der</strong> hervorgeht, weshalb das Medium als jugendgefährdend<br />

angesehen wird.<br />

Das Medium ist dem Antrag beizufügen, wobei auch eine Kopie ausreicht.<br />

Seit November 2004 ist es auch möglich, die Indizierung „online“ zu beantragen o<strong>der</strong><br />

anzuregen, direkt über die Homepage <strong>der</strong> Bundesprüfstelle<br />

Weitere Informationen und Hinweise zur Antragsstellung bzw. zur Anregung finden<br />

sich auf <strong>der</strong> Internetseite <strong>der</strong> BPjM, www.bundespruefstelle.de.<br />

Petra Meier<br />

Stellvertretende Vorsitzende <strong>der</strong> BPjM<br />

Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM)<br />

Rochusstrasse 10, 53123 Bonn<br />

Postfach 14 01 65, 53056 Bonn<br />

Allgemeine E-Mail: info@bpjm.bund.de<br />

Persönliche E-Mail: petra.meier@bpjm.bund.de<br />

Internet: www.bundespruefstelle.de<br />

Tel.: 0228-962103-0<br />

Fax: 0228-379014<br />

Anhang


139<br />

7<br />

Indizierungsgründe nach <strong>der</strong> Spruchpraxis <strong>der</strong> Bundesprüfstelle<br />

1. Im Bereich Gewaltdarstellung<br />

Mediale Gewaltdarstellungen wirken nach <strong>der</strong> Spruchpraxis <strong>der</strong> Bundesprüfstelle u.a.<br />

dann verrohend,<br />

• wenn Gewalt in großem Stil und epischer Breite geschil<strong>der</strong>t wird;<br />

• wenn Gewalt als vorrangiges Konfliktlösungsmittel propagiert wird, wobei in diesen<br />

Fällen überwiegend auch auf die Brutalität <strong>der</strong> Gewaltdarstellung abgestellt wird;<br />

• wenn die Anwendung von Gewalt im Namen des Gesetzes o<strong>der</strong> im Dienste einer angeblich<br />

guten Sache als völlig selbstverständlich und üblich dargestellt wird, die Gewalt<br />

jedoch in Wahrheit Recht und Ordnung negiert;<br />

• wenn Selbstjustiz als einzig probates Mittel zur Durchsetzung <strong>der</strong> vermeintlichen Gerechtigkeit<br />

dargestellt wird;<br />

• wenn Mord und Metzelszenen selbstzweckhaft und detailliert geschil<strong>der</strong>t werden.<br />

2. Im Bereich <strong>der</strong> Verherrlichung <strong>der</strong> NS-Ideologie, Rassenhass<br />

Jugendgefährdende Propagierung <strong>der</strong> NS-Ideologie liegt vor,<br />

• wenn für die Idee des Nationalsozialismus, seine Rassenlehre, sein autoritäres Führerprinzip,<br />

sein Volkserziehungsprogramm, seine Kriegsbereitschaft und seine Kriegsführung<br />

geworben wird;<br />

• wenn die Tötung von Millionen Menschen, insbeson<strong>der</strong>e die systematische Ausrottung<br />

jüdischer Menschen im sogenannten 3. Reich geleugnet wird;<br />

• wenn das NS-Regime durch verfälschte o<strong>der</strong> unvollständige Information aufgewertet<br />

und rehabilitiert werden soll, insbeson<strong>der</strong>e wenn Adolf Hitler und seine Parteigenossen<br />

als Vorbil<strong>der</strong> (o<strong>der</strong> tragische Helden) dargestellt werden.<br />

Zum Rassenhass stachelt ein Medium an,<br />

• wenn Menschen wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer an<strong>der</strong>en Rasse, Nation, Glaubensgemeinschaft<br />

o<strong>der</strong> ähnlichem als min<strong>der</strong>wertig und verächtlich dargestellt o<strong>der</strong> diskriminiert<br />

werden.<br />

3. Sexualethisch desorientierende Medien<br />

Ein Medium ist nach <strong>der</strong> Spruchpraxis <strong>der</strong> Bundesprüfstelle als sexualethisch desorientierend<br />

einzustufen,<br />

• wenn es Menschen auf entwürdigende Art zu sexuell willfährigen Objekten degradiert,<br />

indem es z.B. Frauen zu Sexualobjekten herabwürdigt;<br />

• wenn es Frauen o<strong>der</strong> Männer diskriminierende Praktiken anpreist;<br />

• wenn es sadistische Vorgehensweisen als luststeigernd propagiert;<br />

• wenn Vergewaltigung als Lusterlebnis dargestellt wird.<br />

4. Indizierungsgründe im Hinblick auf Computerspiele<br />

Die Bundesprüfstelle indiziert Computerspiele dann,<br />

• wenn Gewaltanwendung gegen Menschen als einzig mögliche Spielhandlung dargeboten<br />

wird;<br />

• wenn Gewalttaten gegen Menschen deutlich visualisiert bzw. akustisch untermalt werden<br />

(blutende Wunden, zerberstende Körper, Todesschreie);


140<br />

8<br />

• wenn Gewaltanwendung (insbeson<strong>der</strong>e Waffengebrauch) durch aufwendige Inszenierung<br />

ästhetisiert wird;<br />

• wenn Verletzungs- und Tötungsvorgänge zusätzlich zynisch o<strong>der</strong> vermeintlich komisch<br />

kommentiert werden;<br />

• wenn Gewalttaten gegen Menschen dargeboten werden, wobei die Gewaltanwendung<br />

"belohnt" wird (z.B. Punktegewinn, erfolgreiches Durchspielen des Computerspiels nur<br />

bei Anwendung von Gewalt).<br />

Der Gewalt gegen Menschen ist die gegen menschenähnliche Wesen gleichgestellt,<br />

sofern diese im Verletzungs- o<strong>der</strong> Tötungsfalle "menschlich" reagieren.<br />

5. Gründe für die Nichtindizierung<br />

Neben <strong>der</strong> Entscheidung, was indiziert wird, stellt sich für die Gremien die Frage, welche<br />

Medieninhalte nicht indiziert werden. Basierend auf Entscheidungen des Zwölfergremiums,<br />

in denen eine Indizierung abgelehnt wurde, sind dies im Bereich<br />

Computerspiele<br />

• Spiele, bei denen die Verletzung und/o<strong>der</strong> Tötung von Menschen eine unter mehreren<br />

möglichen Spielhandlungen darstellt und das Ergebnis <strong>der</strong> Kampfhandlung unblutig präsentiert<br />

wird;<br />

• Spiele, in denen an<strong>der</strong>e Elemente als Gewalttaten gegen Menschen eine wesentliche<br />

Rolle spielen;<br />

• Spiele, in denen Tötungsvorgänge gegen Menschen verfremdet dargestellt werden und<br />

zwar in einer Form, die Parallelen zur Realität nicht nahe legt;<br />

• Spiele, in denen Tötungsvorgänge ausschließlich gegen solche Wesen dargestellt werden,<br />

die Menschen eher nicht ähneln;<br />

• Spiele, in denen auch Horror- und Splatterelemente enthalten sind, in denen jedoch<br />

nicht gewalthaltige Anteile spielbestimmend sind, wobei die Horrorelemente nicht so gestaltet<br />

sein dürfen, dass auf Grund <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Brutalität die an<strong>der</strong>en Spielelemente in<br />

den Hintergrund treten;<br />

Videofilme<br />

In ähnlicher Weise ist die Bundesprüfstelle auch bei <strong>der</strong> Nichtindizierung von Videofilmen<br />

verfahren. Der Bundesprüfstelle wurden in den letzten Jahren diverse Videofilme vorgelegt,<br />

die von <strong>der</strong> FSK das Kennzeichen "Nicht geeignet unter 18 Jahren" erhalten haben.<br />

Dieses Kennzeichen haben die Beisitzerinnen und Beisitzer in bestimmten Fällen als ausreichend<br />

angesehen.<br />

Dies war insbeson<strong>der</strong>e dann <strong>der</strong> Fall,<br />

• wenn <strong>der</strong> Inhalt <strong>der</strong> Videofilme als nicht jugendaffin angesehen wurde;<br />

• wenn <strong>der</strong> Inhalt <strong>der</strong> Videofilme so gestaltet war, dass sich die Hauptfigur nicht als I-<br />

dentifikationsmuster anbietet;<br />

• wenn Nachahmungseffekte nicht zu vermuten waren;<br />

• wenn Gewalttaten als übertrieben aufgesetzt, unrealistisch, abschreckend und irreal<br />

eingestuft werden können;<br />

• wenn die Anwendung von Gewalt als nicht gerechtfertigt eingestuft wird bzw. Gewaltanwendung<br />

im Prinzip abgelehnt wird.<br />

Eine Beeinträchtigung des körperlichen Wohls ist kein Indizierungsgrund.


141<br />

Die Beratungsstelle<br />

Gewaltprävention<br />

Landesinstitut für<br />

Lehrerbildung und<br />

Schulentwicklung<br />

bietet allen Hamburger Schulen Beratung und<br />

Unterstützung bei <strong>der</strong> Bearbeitung von massiven<br />

Gewaltfällen und beim Aufbau einer friedfertigen<br />

Schulkultur.<br />

Unser Ziel ist es, allen Beteiligten schnelle,<br />

fachkundige und lösungsorientierte Hilfestellung<br />

zu geben, die in <strong>der</strong> Praxis umsetzbar ist.


142<br />

Angebote <strong>der</strong> BSG<br />

1. Krisenintervention bei akuten Vorfällen<br />

2. Unterstützung bei <strong>der</strong> Arbeit mit<br />

gewaltbereiten Jugendlichen<br />

3. Systemische und nachhaltige<br />

Gewaltprävention an Schulen<br />

4. Fortbildungen für den Umgang mit Gewalt<br />

und Konflikten


143<br />

1. Krisenintervention<br />

Sofortige Unterstützung vor Ort<br />

Bearbeitung <strong>der</strong> akuten Krise<br />

Lösungen für den zugrundeliegenden<br />

Konflikt aufzeigen; Hilfsangebote<br />

organisieren<br />

Koordination <strong>der</strong> einzuleitenden<br />

Maßnahmen


144<br />

2. Arbeit mit gewaltbereiten<br />

Jugendlichen<br />

Die BSG unterstützt Eltern, Schüler und<br />

Lehrkräfte bei andauernden<br />

Gewaltproblematiken. Grundhaltung dabei ist,<br />

den Jugendlichen einerseits zu zeigen, dass sie<br />

erst aus <strong>der</strong> Beobachtung herauskommen,<br />

wenn sie ihr Verhalten än<strong>der</strong>n,<br />

aber an<strong>der</strong>erseits auch aktive<br />

Unterstützungsangebote dabei erhalten.


145<br />

2. Arbeit mit gewaltbereiten<br />

Jugendlichen<br />

In Kooperation mit den Betroffenen, sowie<br />

<strong>der</strong> Schule und <strong>der</strong> Schulaufsicht, REBUS, den<br />

Familien, dem bezirklichen Jugendamt (ASD), <strong>der</strong><br />

Polizei, dem Familieninterventionsteam (FIT) <strong>der</strong><br />

Jugendgerichtshilfe (JGH) und freien Trägern<br />

werden die Maßnahmen koordiniert und durchgeführt.


146<br />

Quelle: vgl. Tillmann, 1999; Schubarth,<br />

2000; Melzer, Schubarth, Ehninger, 2004<br />

3. Gewaltprävention<br />

Leitlinien<br />

frühzeitig und<br />

zielgruppenbezogen<br />

För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> sozialen<br />

Identitätsentwicklung<br />

Regeln etablieren und<br />

Grenzen setzen<br />

Qualität <strong>der</strong> Lehrer-Schüler-Beziehung<br />

entwickeln<br />

demokratische und<br />

motivierende Lern- und<br />

Schulkultur<br />

Praktische Umsetzung/Beispiele<br />

Präventionsarbeit in Elternhaus, Kin<strong>der</strong>garten und<br />

(Grund-)Schule<br />

soziale Kompetenz entwickeln,<br />

beim reflexiven Erwerb <strong>der</strong> Geschlechterrolle helfen<br />

verbindliche Verhaltensnormen und konsequente Einhaltung,<br />

„Kultur des Hinsehens“, Opferschutz<br />

partnerschaftlichen, diskursiven Interaktionsstil för<strong>der</strong>n,<br />

Etikettierungen vermeiden, „Kultur <strong>der</strong> Anerkennung“<br />

Vermittlung eines positiven Leistungs- und Selbstkonzepts,<br />

gerechte Chancenstruktur, handlungsorientierter Unterricht<br />

Sozialklima för<strong>der</strong>n, Partizipation und Verantwortung<br />

Kooperationsbeziehungen<br />

entwickeln<br />

Präventionsmaßnahmen<br />

evaluieren<br />

mit Eltern, Jugendhilfe, Stadtteil/Kommune<br />

Selbst- und Fremdevaluation


147<br />

Beispiele schulischer<br />

Gewaltprävention<br />

Hamburger Schulen verankern Streitschlichtung in ihrem Schulalltag – als<br />

“Streitschlichter” ausgebildete Kin<strong>der</strong> und Jugendliche schlichten die<br />

Konflikte ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler.<br />

Gemeinsam von Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften und Eltern<br />

erarbeitete Klassenregeln, Schulverträge o<strong>der</strong> Hausordnungen bilden<br />

die solide Basis für einen sozialen Umgang miteinan<strong>der</strong>.<br />

Verantwortungsübernahme und Beteiligung von Schülerinnen und<br />

Schülern werden durch Klassenräte, Etagenkonferenzen o<strong>der</strong><br />

Schulkonferenzen geför<strong>der</strong>t.<br />

Mo<strong>der</strong>ne Konzepte zum Sozialen Lernen und zum Umgang mit Konflikten<br />

werden mit Schulklassen im Rahmen von Projekttagen erprobt.<br />

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter <strong>der</strong> Beratungsstelle informieren,<br />

koordinieren und begleiten diese Maßnahmen und Projekte und erarbeiten<br />

neue Ansätze, z.B. mit Kulturvermittlern, Konzepten<br />

geschlechtsspezifischer Gewaltprävention und Keep-Cool-Gruppen im<br />

schulischen Kontext.


148<br />

4. Fortbildungsangebote<br />

Informations-<br />

Verantaltungen<br />

(4 Std.)<br />

Basiskurse<br />

(1-2 Tage)<br />

Soziales Lernen,<br />

Zivilcourage<br />

- Soziales Lernen 1<br />

- Spiel- und<br />

theaterpädagogische<br />

Ansätze<br />

- Zivilcourage – ein<br />

didaktisches Training<br />

Streitschlichtung an<br />

Schulen<br />

- Neutral vermitteln in<br />

Konflikten<br />

- Streitschlichter in <strong>der</strong><br />

Grundschule ausbilden<br />

Gewalt,<br />

Deeskalation und<br />

Krisenintervention<br />

• Beratung von Eltern<br />

(gewalt-) auffälliger<br />

Schüler<br />

- Deeskalationstraining für<br />

Lehrkräfte<br />

- Konfrontative Pädagogik<br />

- Maßnahmen nach<br />

Gewalthandlungen an<br />

Schulen (Sek1)<br />

Aufbaukurse<br />

(1-3 Tage)<br />

Multiplika-torenfortbildung<br />

Schulinterne<br />

Lehrerfortbildung<br />

(Beispiele)<br />

- Soziales Lernen 2 - Supervisionstreffen für<br />

Streitschlichter-Lehrkräfte<br />

(Grundschule, Haupt-<br />

/Realschule,<br />

Gesamtschule<br />

Gymnasium)<br />

- Multiplikatorenfortbildung<br />

„Soziales Lernen“ (Sek1)<br />

(ca. 60 Stunden)<br />

- SchiLF, z.B.<br />

Pädagogische<br />

Jahreskonferenzen<br />

„Soziales Lernen“,<br />

„Zivilcourage“<br />

- Projekttage für Schüler<br />

(z.B. Fachkreis<br />

Gewaltprävention)<br />

- Multiplikatorenfortbildung<br />

Streitschlichtung (Sek1)<br />

(ca. 60 Stunden)<br />

- SchiLF, z.B.<br />

Pädagogische<br />

Jahreskonferenzen<br />

„Streitschlichtung<br />

verankern“<br />

- Sicherheit in <strong>der</strong> Schule –<br />

Erfurt und die Folgen<br />

(Schulleitungen,<br />

Funktionsträger)<br />

-<br />

- SchiLF, z.B.<br />

Pädagogische<br />

Jahreskonferenzen<br />

„Umgang mit<br />

schwerwiegenden<br />

Gewalthandlungen“


149<br />

Mitarbeiter <strong>der</strong> BSG<br />

Dr. Christian Böhm (Leitung) Tel.: 428 89 6140<br />

Peer Kaeding (Stellv. Leitung) Tel.: 428 89 6160<br />

Karin Gottwald Tel.: 428 89 6120<br />

Christina Großmann Tel.: 428 89 6130<br />

Kai Preußer Tel.: 428 89 6150<br />

Faruk Süren Tel.: 428 89 6120<br />

Edda Bargmann (Geschäftszimmer) Tel.: 428 89 6100<br />

Fax: 428 89 6170<br />

gewaltpraevention@li-hamburg.de www.li-hamburg.de<br />

Anschrift<br />

Beratungsstelle Gewaltprävention<br />

Grabenstraße 32<br />

20357 Hamburg<br />

LZ: 743/5014


150<br />

Leitbild <strong>der</strong> Beratungsstelle<br />

Gewaltprävention I<br />

An Schulen lernen und arbeiten Menschen<br />

unterschiedlicher Kulturen, Altersstufen, Religionen und<br />

Herkunft. Ein friedfertiges Miteinan<strong>der</strong> ist dabei<br />

Voraussetzung für eine erfolgreiche Bewältigung <strong>der</strong><br />

gemeinsamen Aufgaben. Alle Beteiligten sind<br />

aufgerufen, ihren Betrag für einen fairen und<br />

konstruktiven Umgang miteinan<strong>der</strong> beizutragen.<br />

Die Beratungsstelle Gewaltprävention bietet Beratung<br />

und Unterstützung bei <strong>der</strong> Bearbeitung von Gewaltfällen<br />

und beim Aufbau einer friedfertigen Schulkultur. Unser<br />

Ziel ist es, allen Beteiligten schnelle, fachkundige und<br />

lösungsorientierte Hilfestellung zu geben, die sich an<br />

den Bedarfen und Ressourcen <strong>der</strong> Schulstandorte<br />

orientiert und gleichzeitig langfristigen<br />

Schulentwicklungsplanungen Rechung trägt.


151<br />

Leitbild <strong>der</strong> Beratungsstelle<br />

Gewaltprävention II<br />

Deshalb möchten wir<br />

Bei Gewaltfällen schnell handeln<br />

alle Beteiligten einbinden<br />

nach einem erprobten, transparenten und systemischen Modell<br />

handeln<br />

ungewohnte Ideen und kreative Lösungsvorschläge einbringen<br />

nicht nur reagieren, son<strong>der</strong>n bereits im Vorfeld Kompetenzen<br />

stärken, Verantwortungsübernahme för<strong>der</strong>n und Bedingungen<br />

für eine friedliche Schulkultur entwickeln helfen<br />

Gewaltprävention als Aufgabe aller an Schule beteiligten<br />

verstehen<br />

Die Kompetenzen <strong>der</strong> Erwachsenen stärken, damit sie als<br />

Modell und Vorbild für Kin<strong>der</strong> und Jugendliche sind


152<br />

Dieter Lünse<br />

Jugendliche im Stadtteil und <strong>der</strong> konstruktive Umgang mit Konflikten – kurz KuK<br />

Der Boom <strong>der</strong> Streitschlichtung an Schulen ist sicher dem festen Rahmen <strong>der</strong> Institution Schule zu verdanken.<br />

Konfliktvermittlung in <strong>der</strong> Clique und sich wehren gegen Gewalt im Stadtteil ist ein relativ neues Gebiet. Der<br />

Stadtteil hat an<strong>der</strong>e Voraussetzungen und ist kein abgeschlossenes System wie eine Schule. Es fehlen die<br />

genauen Grenzen, die Rollen <strong>der</strong> Erwachsenen sind vielfältiger, und das „Wegsehen“ ist Bestandteil <strong>der</strong><br />

Anonymität von Großstädten. Wie sich jedoch schon an den Fachgesprächen zeigte, haben auch Stadtteile, so<br />

genannte Sozialräume, ihre je eigene Kultur im Umgang mit Konflikten und Gewalt. Die Zusammenarbeit <strong>der</strong><br />

verschiedenen Institutionen wird von unterschiedlichen Menschen geprägt und ist mal lebendiger und auch<br />

manchmal weniger dynamisch. Die Bewohnerstruktur, die Geschäfte und Wirtschaftsbetriebe haben ebenfalls<br />

ihren Anteil, ob eher Unsicherheit als Sicherheit vorherrscht bzw. wahrgenommen wird. Jugendliche in diesem<br />

Rahmen zu stärken ist <strong>der</strong> Ansatz von KuK.<br />

Jugendliche und ihre Gewalterfahrungen im Stadtteil<br />

Inzwischen haben 2001 und 2002 Trainings für Jugendliche in Hamburger Stadtteilen stattgefunden. Die<br />

Jugendlichen wurden durch KuK befähigt, eigene Konflikte in ihrem sozialen Umfeld in die Hand zu nehmen.<br />

Sie erfuhren, wie sie bei Konflikten in ihrer Clique vermitteln können. Sie beleuchteten selbst ihren Alltag und<br />

stellten fest, dass es relativ oft Konfliktsituationen gibt und häufig Gewalt im Spiel ist. Eine kleine Anmache<br />

kann sich schnell hochschaukeln. Aus einer Rangelei entwickelt sich leicht ein Faustkampf, und niemand ist da,<br />

<strong>der</strong> zum Einlenken verhelfen könnte. Gesichtsverlust durch Beleidigungen, Machtkämpfe, leichte körperliche<br />

Attacken sind oft <strong>der</strong> Ausgangspunkt für einen Kampf o<strong>der</strong> für die Verfolgung eines Gegners hinter wenig<br />

beobachtete Ecken und dunkle Räume im Stadtteil. Deutlich wurde in den zwei Jahren Stadtteiltrainings, dass<br />

Hilfe von außen kaum zugegen ist und zu allererst die Kompetenz unter den Jugendlichen selbst hilft,<br />

Eskalationen abzuwenden. Auf einer neuen Grundlage kann dann gestritten werden, ohne dass die Angst vor<br />

dem Gesichtsverlust jeden in <strong>der</strong> Deckung hält und alle darauf warten, wann sie am besten zurückschlagen<br />

können. Und: Solange ein Mindestmaß an Öffentlichkeit in Situationen <strong>der</strong> Gewalt unter Jugendlichen da ist,<br />

min<strong>der</strong>t sich das Maß <strong>der</strong> Gewalt erheblich. Viele Erwachsene halten sich jedoch automatisch fern, weil sie nicht<br />

hinein gezogen werden wollen o<strong>der</strong> solche Situationen ganz an<strong>der</strong>s einschätzen. Manchmal bemerken sie gar<br />

nicht, wie ein Opfer bedrängt und in Not gebracht wird.<br />

Für Jugendliche ist es auch schwer diese Situationen einzuschätzen, jedoch aus ganz an<strong>der</strong>en Gründen. Ihnen<br />

fehlt die Erfahrung und die Stärke, eine Situation auszuhalten o<strong>der</strong> konstruktiv standzuhalten. Jugendliche<br />

können diesen Situationen zudem kaum ausweichen, da sie oft keine an<strong>der</strong>e Wahl bezüglich desWeges zu ihrem<br />

Wohn- Schul- Arbeit- o<strong>der</strong> Freizeitbereich haben. Sie fahren kein Auto und sind auf öffentliche Verkehrsmittel<br />

angewiesen. So sind sie für an<strong>der</strong>e Jugendliche leichtere Angriffspunkte, weil sie schwächer wirken und die<br />

erwartete Gegenwehr ganz an<strong>der</strong>s prognostiziert wird.<br />

Vermittlung von Kompetenzen durch KuK<br />

KuK hat gezeigt, dass Jugendliche lernen können, im Sozialraum Gewaltsituationen besser einzuschätzen, zu<br />

deeskalieren und eigenständig zu vermitteln. Sie lernen „Stand zu halten“ und nicht allein in die Opferhaltung zu<br />

gehen. Wenn Jugendliche Zeugen gewalttätiger Auseinan<strong>der</strong>setzungen werden, lernen sie durch KuK, wie sie<br />

am besten Hilfe holen können.<br />

Dabei gehen wir in den Trainings von fünf Stufen aus, nach denen sich das zuerst erfor<strong>der</strong>liche zivilcouragierte<br />

Verhalten aufbaut:<br />

1. Wahrnehmung Hier stimmt etwas nicht!<br />

2. Interpretation Jemand benötigt Hilfe.<br />

3. Übernahme von Verantwortung Die Hilfe soll geleistet werden.<br />

4. Mittelwahl Wie mache ich es?<br />

5. Praktische Umsetzung So kann geholfen werden.<br />

Die Erweiterung zu Zivilcourage-Trainings in Projektwochen besteht darin, dass auf den Sozialraum bezogen<br />

geübt wird, wie jemand darüber hinaus in Konflikten vermitteln kann. Nicht nur das Abwenden <strong>der</strong> Gefahr ist<br />

von Bedeutung, son<strong>der</strong>n die Frage und Aufgabe von KuK ist: Wo kann ich sinnvoll streiten und dazu beitragen,<br />

eine konstruktive Streitkultur zu etablieren?<br />

Die Trainings richteten sich an Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren. Die Jugendlichen wurden von<br />

MitarbeiterInnen in Schulen, Häusern <strong>der</strong> Jugend sowie in Kirchengemeinden angesprochen. Aufgabe war es,<br />

dass die PädagogInnen vor Ort den Jugendlichen die erfor<strong>der</strong>lichen sozialen Kompetenzen zusprechen, um an<br />

dem Training erfolgreich teilnehmen zu können. Weiterhin war erfor<strong>der</strong>lich, dass Jugendliche ausgewählt<br />

wurden, die im Sozialraum auch eine Rolle spielen und Einfluss haben. Dies war nur leistbar, weil in den


153<br />

jeweiligen Stadtteilen bereits eine gute Vernetzung bestand, die unter an<strong>der</strong>em durch die regionalen<br />

Fachgespräche gerade bezogen auf Konflikt- und Gewaltsituation gelegt war.<br />

Die Trainings wurden in sechs Tagen an zwei Wochenenden und einem Folge-Termin nach sechs Wochen o<strong>der</strong><br />

auch an einzelnen Tagen im Block (??? – also innerhalb einer Woche???) durchgeführt.<br />

Den Jugendlichen wurde an Themen u.a. vermittelt:<br />

- die Dynamik von Konflikten mit ihren typischen Eskalationsstufen erkennen,<br />

- Empathie, Kooperation und solidarisches Verhalten,<br />

- Argumentationshilfen bei Provokationen,<br />

- ein konstruktiver Umgang mit Wut und Aggression,<br />

- Grenzen wahrnehmen und setzen,<br />

- das Senden von Ich-Botschaften in Konflikten sowie Aktives Zuhören<br />

- die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Vorbil<strong>der</strong>n für couragiertes Verhalten<br />

- die Verantwortung für den konkreten Lebensraum (z.B. Jugendhaus, Jugendraum <strong>der</strong> Kirchengemeinde<br />

o<strong>der</strong> des Sportvereins) übernehmen<br />

Die Schwierigkeiten von KuK bestanden darin, dass das Angebot von KuK neu ist und nicht unbedingt zur<br />

Tradition <strong>der</strong> offenen Jugendarbeit zählt. Kuk ist nicht so leicht anzubieten wie ein attraktives Fußballturnier.<br />

Trotz <strong>der</strong> aufgebauten Kommunikation unter den verschiedenen Trägern waren die Akteure oft ungeübt, selbst<br />

für KUK zu werben. Eine vermittelnde Instanz und geübte TrainerInnen waren nötig, dieses Angebot zu<br />

etablieren, die Sache selbst vor Ort bekannt zu machen und persönlich für KuK zu stehen. Anfänglich wurde<br />

KuK aus eigenen Mitteln aufgebaut. Inzwischen wird KuK über das EU-Programm „entimon“ geför<strong>der</strong>t. Aus <strong>der</strong><br />

praktischen Arbeit heraus ist ein eigenes Handbuch zum Training entstanden, das die gesamten Erfahrungen<br />

bündelt (ikm e.V. „Das Programm zum konstruktiven Umgang mit Konflikten – kurz KuK“, Hamburg 2003, 110<br />

Seiten, zu bestellen gegen Spende: www.ikm-hamburg.de)


154<br />

Dieter Lünse<br />

Gewalt im Stadtteil – das kann sich än<strong>der</strong>n<br />

Die Teilhabe an <strong>der</strong> Regelung von Konflikten als ganze Person und <strong>der</strong> Schritt sich persönlich gegen die<br />

Eskalation von Gewalt zu stellen, führt zur „nachhaltigen“ Verän<strong>der</strong>ung von Gewaltstrukturen. Diese<br />

Erkenntnis folgt aus <strong>der</strong> Arbeit des Instituts für konstruktive Konfliktaustragung und Mediation (ikm),<br />

welches sich seit drei Jahren gegen Gewalt und für Zivilcourage und Mediation stark macht. Regionale<br />

Netzwerke sind ein Modell, um dem Individuum in seinem Sozialraum die nötige Unterstützung zu geben.<br />

Modell <strong>der</strong> regionalen Netzwerke in Hamburg<br />

Mit dem Modell <strong>der</strong> regionalen Netzwerke konnten inzwischen 16 Stadtteile in Hamburg erreicht werden. Da es<br />

sich um Ballungszentren handelt und je<strong>der</strong> Stadtteil zwischen 10.000 bis 15.000 EinwohnerInnen hat, führt diese<br />

Arbeit bisher zur qualitativen För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> psycho-sozialen Versorgung von ca. 14% <strong>der</strong> Hamburger Bevölkerung<br />

und damit zu einem Ausbau des Sicherheitsgefühls in den Stadtteilen.<br />

Analyse<br />

Unsicherheit und Gewalteskalation stehen in einem Zusammenhang. Es fehlt oft an <strong>der</strong> Sicherheit sich Hilfe zu<br />

organisieren und kompetente MediatorInnen einzusetzen. Dies spiegeln Umfragen wie<strong>der</strong>. Die Erfahrung <strong>der</strong><br />

Fachgespräche in den letzten drei Jahren macht aber deutlich, dass die Probleme real in den Griff zu bekommen<br />

sind. Die subjektiven und zum Teil irrealen Vorstellungen müssen jedoch in den Köpfen und durch Kommunikation<br />

bewegt werden, damit sie nicht Teil des Eskalationsprozesses werden. Eine Gewalteskalation in den Köpfen<br />

ist eine ernst zu nehmende Größe. So wie die Medienresonanz auf Gewalt einen eigenen Teil <strong>der</strong> Wahrnehmung<br />

ausmacht, gibt es weitere Faktoren, die zur subjektiven Einschätzung und persönlichen Wahrnehmung führen.<br />

Neben den eindeutigen Zahlen <strong>der</strong> Polizeikriminalstatistik wird das große Dunkelfeld nicht angezeigter Delikte<br />

und Gewalttaten durch äußere Faktoren gemessen, wie zum Beispiel Ordnung, Unordnung, Zerstörungen im<br />

Nahbereich, Schmutz und Lärm im Wohnumfeld - und natürlich das öffentliche Auftreten von Jugendlichen,<br />

welches als störend gesehen wird.<br />

Eine Kriminalitätsfurcht bildet sich aus Erfahrungen, die oft diffus sind. Allgemeine Einschätzungen zur Moral,<br />

Angst vor einem an<strong>der</strong>en Verhalten (gerade Jugendliche, die lautstark auf sich aufmerksam machen, können auf<br />

Erwachsene sehr gewalttätig wirken) und die mangelnde Fähigkeit, Irritationen im Zuge eines sozialen Wandels<br />

anzusprechen, machen diese Erfahrungen aus. Wenn im Stadtviertel die Sauberkeit nachlässt, mehr Graffiti die<br />

Wände zieren, Jugendliche betteln, dann sind viele Menschen Stück für Stück irritiert. 1 Eine Reaktion ist, sich<br />

mehr und mehr in die eigenen vier Wände zurückzuziehen o<strong>der</strong> auf alles Abweichende zu schimpfen o<strong>der</strong> die<br />

Schuld sozialen Wandels bei bestimmten Gruppen zu suchen und diese zu stigmatisieren. Diese Reaktionen treffen<br />

auf eine öffentliche Debatte, bei <strong>der</strong> fast nur <strong>der</strong> Präventionsgedanke im Vor<strong>der</strong>grund steht und weniger das<br />

Verstehen, an welchen Punkten sich Gewalt festmacht und wo die Gründe dafür liegen. Wie sollen jedoch Lösungen<br />

für Konflikte und Perspektiven gegen Gewalt erarbeitet werden, wenn Hintergründe einer subjektiv festgestellten<br />

Zunahme von Gewalt unklar bleiben? Prävention, „härteres Durchgreifen” werden nur in einem Maßnahmenbündel<br />

Sicherheit bringen, wenn Gewaltphänomene und Vorfälle klar analysiert wurden. Aus <strong>der</strong> Analyse<br />

lassen sich umfassende Maßnahmen erarbeiten und das gemeinsame Handeln gegen Eskalationen zum Schutz<br />

<strong>der</strong> Jugendlichen und an<strong>der</strong>en BewohnerInnen eines Stadtteils durchführen.<br />

Debatte<br />

Nachdem die praktische Zusammenarbeit von landesweit arbeitenden Hamburger Institutionen in politischer<br />

Bildung, Grundausbildungen und berufsbegleitenden Weiterbildungen eine positive Resonanz erhielt, wurden in<br />

Zusammenarbeit mit den Landesämtern für Jugend und Schule regionale Fachgespräche organisiert. Ziel dieser<br />

Fachgespräche ist, den direkten Umgang mit Gewalt zu verbessern.<br />

Die Fachgespräche haben für die jeweilige Region einen öffentlichen Charakter, um möglichst verschiedene<br />

Gruppen einzubeziehen, gemeinsam mögliche Lösungen zu entwickeln und erste Handlungsideen zu entwerfen.<br />

Lange Zeit bestand Angst vor <strong>der</strong> Debatte über Gewalt in einer Einrichtung o<strong>der</strong> in einer Region, weil ein<br />

„schlechtes Image“ befürchtet wurde. Diese Angst ist weitgehend <strong>der</strong> Erkenntnis gewichen, dass <strong>der</strong> Austausch<br />

über konkrete Vorfälle und Gewaltphänomene schon einen Teil <strong>der</strong> Lösung darstellt.<br />

Herstellung von Öffentlichkeit<br />

In allen Fachgesprächen stand eine zweitägige Veranstaltung im Zentrum. Konkrete Probleme <strong>der</strong> Region wurde<br />

erarbeitet. Durch Informations- und Fachaustausch mit ReferentInnen aus an<strong>der</strong>en Regionen konnten Impulse<br />

1 Stangl, Wolfgang, Wien – Sichere Stadt – Ein bewohnerzentriertes Präventionsprojekt, aus Kriminologisches<br />

Journal 1996, Heft 1, S. 48-68


155<br />

konstruktiver Konfliktaustragung und konkrete Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit Gewalt weiter gegeben<br />

werden.<br />

Über Öffentlichkeitsarbeit lässt sich für die Region Transparenz über die Analyse und die getroffenen bzw. zu<br />

treffenden Maßnahmen herstellen. Durch Transparenz kann ein Teil <strong>der</strong> Kriminalitätsfurcht abgeschwächt werden,<br />

so dass sich neue Handlungsoptionen ergeben.<br />

För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Selbstorganisation<br />

Neben <strong>der</strong> Analyse, <strong>der</strong> Debatte und <strong>der</strong> Herstellung <strong>der</strong> Öffentlichkeit ist ein weiteres Ziel die För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />

Selbstorganisation <strong>der</strong> Institutionen und aller Interessierten durch die Unterstützung externer Beratung und Mo<strong>der</strong>ation.<br />

Es soll ein Prozess entstehen, <strong>der</strong> langfristig alle am Thema Beteiligten in die Lage versetzt, die Probleme<br />

<strong>der</strong> Region im Umgang mit Gewalt und Konflikten selbst in die Hand zu nehmen. Die damit verbundene<br />

Mehrarbeit wird getragen, wenn eigene Vorteile frühzeitig antizipiert werden. Eine ausschließlich von außen<br />

heran getragene Idee ist für die Arbeit in einer Region selten so beständig, wie eine aus eigener Kraft und Überzeugung<br />

entwickelte Veranstaltung. Dies bestätigt auch die vom Amt für Jugend in Auftrag gegebene Arbeitshilfe<br />

zur Gestaltung solcher Prozesse 2 . Dort wird die „lernende Beratung und Qualifizierung“ in Fachtagungen<br />

empfohlen und darauf aufmerksam gemacht, dass zusätzlicher Aufwand und Mehrarbeit ein Problem darstellen<br />

können. Bei vergangenen Veranstaltungen hat sich jedoch erwiesen, dass durch den Problem- und Handlungsdruck<br />

in den jeweiligen Einrichtungen und <strong>der</strong> Region die Bereitschaft wächst, nach an<strong>der</strong>en als den alltäglichen<br />

Lösungen zu suchen.<br />

Einbeziehung Externer<br />

Darüber hinaus ist bei den bisherigen Fachgesprächen die Bereitschaft gestiegen, an<strong>der</strong>e Institutionen anzusprechen,<br />

sowie auch BürgerInnen und Jugendliche mit einzubinden. Der Blick „über den Tellerrand“ soll zusätzlich<br />

durch die angebotene Hilfe von außen erreicht werden. In Einrichtungen und Regionen werden manchmal mögliche<br />

Partner nicht gesehen, weil sie entwe<strong>der</strong> zu bekannt sind und / o<strong>der</strong> nicht als för<strong>der</strong>lich erachtet werden,<br />

o<strong>der</strong> weil sie trotz regionaler Nähe gänzlich unbekannt sind.<br />

Verbesserung <strong>der</strong> Vernetzung durch Fachveranstaltungen<br />

Ziel ist es, mit den Fachveranstaltungen die Vernetzung möglichst aufgabenorientiert zu verbessern und erste<br />

Handlungsideen zu entwickeln. Ein weiteres Ziel ist es, in den Fachveranstaltungen an <strong>der</strong> Sache orientiert zu<br />

arbeiten und neue Modelle zum Umgang mit Konflikten und Gewalt zu erproben. Dazu liefert die erwähnte Arbeitshilfe<br />

gute Anregungen.<br />

In 16 Hamburger Regionen haben bisher Fachgespräche stattgefunden. Gemeinsam wird die Durchführung einer<br />

Mehrtagesveranstaltung im Stadtteil geplant, und durch die weitere Begleitung und Betreuung werden konkrete<br />

Maßnahmen umgesetzt.<br />

Beteiligt waren und sind die Berufsgruppen <strong>der</strong> LehrerInnen, SozialarbeiterInnen, PolizistInnen und JugendgruppenleiterInnen<br />

aus verschiedenen Institutionen <strong>der</strong> Region. Verknüpft werden die Maßnahmen mit bereits<br />

laufenden Projekten wie <strong>der</strong> Mediation an Schulen, Projektwochen und Sportangeboten, so dass im Laufe <strong>der</strong><br />

Durchführung ein beachtlicher Maßnahmenkatalog entsteht. Der Austausch <strong>der</strong> Berufsgruppen bzw. beteiligten<br />

Personen för<strong>der</strong>t die Zusammenarbeit für die Region. Direkte Gewaltfälle können aktueller und effektiver bearbeitet<br />

werden. Die genannten Faktoren <strong>der</strong> Kriminalitätsfurcht werden in die Analyse von Gewalt und Konflikten<br />

einbezogen, so dass die Chance enorm erhöht wird, auch im Dunkelfeld einen an<strong>der</strong>en Umgang mit Gewalt<br />

und Konflikten regional zu etablieren. Die Öffentlichkeit wird über die Stadtteilkonferenz und die regionalen<br />

Medien hergestellt, so dass eine Transparenz und infolge dessen auch eine Verpflichtung für die Beteiligten entsteht,<br />

„am Ball zu bleiben“.<br />

Verän<strong>der</strong>ung von Gewaltstrukturen<br />

Mit <strong>der</strong> Arbeit des ikm in den regionalen Fachgesprächen wird ein umfassen<strong>der</strong> Ansatz verfolgt, bereits vor <strong>der</strong><br />

Gewalteskalation anzusetzen, um die konstruktive Austragung von Konflikten zu stärken. Die Chancen, <strong>der</strong> Gewalt<br />

früh zu begegnen, sind mit dieser Arbeit sehr groß. Und auf Gewaltfälle kann durch die übergreifende Zusammenarbeit<br />

konsequenter reagiert werden. Beson<strong>der</strong>e Schwierigkeiten liegen im Bereich <strong>der</strong> Entstehung von<br />

Konflikten durch strukturelle Ursachen (Arbeitslosigkeit, Erziehung usw.). Und die Schwierigkeit besteht, ob<br />

Programme zum konstruktiven Umgang mit Gewalt und Konflikten weiter ausgebaut und geför<strong>der</strong>t werden.<br />

Gemeint sind hier langfristige Programme, die zum Beispiel Bestandteil von Ausbildungen sind. Sehr deutlich<br />

ist, dass in <strong>der</strong> schulischen Ausbildung die Vermittlung von sozialer Kompetenz eine zunehmende Rolle spielt.<br />

Mit <strong>der</strong> Stärkung aller genannten Bereiche kann die Basis für konstruktive Konfliktaustragung gelegt werden<br />

und mit Mediation weiter darauf aufgebaut werden. Erst wenn bewusster wird, dass Konflikte durch ihre konstruktive<br />

Bearbeitung för<strong>der</strong>lich für das Zusammenleben sind und nicht ausgesessen o<strong>der</strong> mit Gewalt ausgetra-<br />

2 „Realisierung und Qualifizierung sozialräumlicher und an die Lebenswelt orientierte offene Kin<strong>der</strong>- und Jugendarbeit<br />

in Hamburg“, W. Klawe, Hamburg 1999.


156<br />

gen werden müssen, senken wir die gesellschaftlichen Kosten von Konflikten und können mit einem Stück mehr<br />

Zivilgesellschaft rechnen.<br />

Die 16 Hamburger Regionen, in denen bisher sozialräumliche Fachgespräche stattfanden, haben sich eine Fülle<br />

von Maßnahmen überlegt und in 800 Seiten Dokumentation den zuständigen Gremien dargelegt. In <strong>der</strong> Folge<br />

wurde das Programm um vier Fachgespräche erweitert. Die Maßnahmen betreffen unter an<strong>der</strong>em die verbesserte<br />

Koordination <strong>der</strong> Zusammenarbeit, Sportangebote, den Aufbau von Sozialer Kompetenz, Kurse im Konstruktiven<br />

Umgang mit Konflikten (KUK, siehe auch den Artikel in diesem Rea<strong>der</strong>), und die stärkere Beachtung <strong>der</strong><br />

Elternarbeit und Min<strong>der</strong>ung häuslicher Gewalt. Die Maßnahmen und Projekte in den Regionen sind sehr ortsbezogen<br />

und dementsprechend unterschiedlich. Organisiert wurde jedoch, dass positive Erfahrungen aus an<strong>der</strong>en<br />

Stadtteilen Impulse für das eigene Denken und Handeln geben können. Das Ergebnis ist durchweg, dass <strong>der</strong> eher<br />

kurzfristige Aufwand sich lohnt, um im Anschluss effektiver und mit mehr Mut ausgestattet weiter zu arbeiten.<br />

Auf einer Veranstaltung im Sommer 2002 wurden die ersten Ergebnisse den Behördenleitungen von Schule, Jugend<br />

und Polizei wie auch einem Fachpublikum von 170 Zuschauenden im Malersaal des Deutschen Schauspielhauses<br />

vorgeführt. Dabei bestätigte sich, dass ein Nebeneinan<strong>der</strong>her <strong>der</strong> verschiedenen Einrichtungen Kin<strong>der</strong>n<br />

und Jugendlichen im Umgang mit Gewalt und Konflikten nicht weiter hilft. Das konzentrierte Vorgehen<br />

dieser Einrichtungen bei aller Unterschiedlichkeit in ihrer jeweiligen Ausrichtung aber bewirkt ein geschlossenes<br />

Bild und damit den konstruktiven Umgang mit den Problemen.<br />

Literatur<br />

W. Klawe u.a., Realisierung und Qualifizierung sozialräumlicher und lebensweltorientierter offener Kin<strong>der</strong>- und<br />

Jugendarbeit in Hamburg, Amt für Jugend, Hamburg 1999<br />

Legge, Ingeborg, Jugendkriminalität - Episode o<strong>der</strong> Karriere?, aus Krim-Info, Kriminologische Intiative Hamburg<br />

e.V., Son<strong>der</strong>ausgabe zum Jugendgerichtstag September 1998, S. 20<br />

Lehne, Werner; Kriminalstatistik und Kriminalpolitik, aus: antimilitarismus information, Berlin 12/1997, S. 65-<br />

72<br />

Ostermann, Änne, Zivilcourage - eine demokratische Tugend, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung<br />

- Standpunkte, Frankfurt April 1998<br />

Stangl, Wolfgang, Wien – Sichere Stadt – Ein bewohnerzentriertes Präventionsprojekt, aus Kriminologisches<br />

Journal 1996, Heft 1, S. 48-68<br />

Tillmann, Klaus-Jürgen, u.a., Schülergewalt als Schulproblem, Weinheim 1999<br />

Ulrich, Adama; Pannen, Stefan; USA, New York, heißes Pflaster - wo Bürger sich wie<strong>der</strong> sicher fühlen, Arte<br />

12.3. 98


157<br />

Hintergründe und Bedeutung des zivilcouragierten o<strong>der</strong> ohnmächtigen<br />

Verhaltens beistehen<strong>der</strong> Dritter (Bystan<strong>der</strong>) in Konflikt- und Gewaltsituationen<br />

von<br />

Sybille Lany<br />

Bei <strong>der</strong> Betrachtung von ausgeübter und erlittener Gewalt, gleich in welcher<br />

Erscheinungsform, liegt <strong>der</strong> Fokus in <strong>der</strong> Regel bei den Täter/-innen und Opfern.<br />

Seltener rücken die beistehenden Dritten (Bystan<strong>der</strong>) in den Mittelpunkt des Interesses, und<br />

wenn dies geschieht, häufig in Form von Klagen über fehlende Zivilcourage, ignorantes<br />

Wegschauen und unterlassene Hilfeleistungen.<br />

Mutiges Helfen, Retten o<strong>der</strong> Eingreifen, spontan o<strong>der</strong> geplant, von sog. unbeteiligten Dritten<br />

wird oft nur beiläufig registriert. Obwohl dieser dritten Größe zwischen Täter/-innen und<br />

Opfern eine so entscheidende Rolle zukommen kann. Dies gilt gerade für viele Formen von<br />

öffentlicher Gewaltausübung. Gewalt ist in diesem Zusammenhang nicht nur als physische<br />

Erscheinensform zu denken, gleichwohl als seelische Gewalt, als das Abschneiden vom<br />

Zugang zu bestimmten Ressourcen, Verwehrung von Teilhabe an Information,<br />

Entscheidungsgewalt usw.<br />

Eine öffentliche Diskussion über Gründe und Ursachen wie und warum Menschen aktiv in<br />

Unrechtsgeschehnisse eingreifen o<strong>der</strong> in einer passiven Bystan<strong>der</strong>rolle verharren gibt es<br />

kaum.<br />

Dabei können sowohl sozialpsychologische Erkenntnisse, als auch die Analyse von<br />

Motivations- und Handlungsstrukturen von Menschen die z. B. im Dritten Reich unter <strong>der</strong><br />

Drohung schwerster Konsequenzen Verfolgten Schutz und Hilfe gewährten, wertvolle<br />

Anregungen für eine gesellschaftliche und individuelle Auseinan<strong>der</strong>setzung bezüglich <strong>der</strong><br />

Entwicklung zivilcouragierter Persönlichkeiten geben.<br />

Was ist Zivilcourage, welche Bedeutung hat sie?<br />

Eine gängige Definition von Zivilcourage ist „<strong>der</strong> Mut, überall unerschrocken seine eigene<br />

Meinung zu vertreten“ (Das Fremdwörterbuch 1982, S. 810). Diese Lesart wollen jedoch<br />

viele mit dem Thema Vertrauen erweitert wissen, wie z. B Änne Ostermann von <strong>der</strong><br />

Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung:


158<br />

„Die Ziele, zu <strong>der</strong>en Durchsetzung Zivilcourage aufgerufen ist, sind keine privaten, son<strong>der</strong>n<br />

sie orientieren sich am Gemeinwohl, am Recht und an <strong>der</strong> Moral. Zivilcourage darf nicht dazu<br />

dienen, eigene Interessen durchzusetzen.“ (Ostermann 1998, S. 3)<br />

Zivilcourage ist keine private Angelegenheit, wohl aber eine sehr persönliche. Persönlich,<br />

weil <strong>der</strong> unerschrockene Einsatz für eigene Überzeugungen, das Recht und die Gerechtigkeit<br />

mitunter zu Konflikten mit einem, zumindest scheinbar, (über-)mächtigen Gegenpart führen<br />

kann und somit jede/r mit eigenen Ängsten und Unsicherheiten konfrontiert wird:<br />

„Viele Bürgerinnen und Bürger würden sich gerne einmischen, statt wegzuschauen. Zum<br />

Beispiel am Arbeitsplatz, innerhalb <strong>der</strong> Hausgemeinschaft o<strong>der</strong> des Bekanntenkreises, in <strong>der</strong><br />

Gemeinde und Schule, in <strong>der</strong> politischen Partei o<strong>der</strong> Bürgerinitiative. Aber sie befürchten, ihr<br />

Protest könne ihnen Schaden. Aus Autoritätsangst heraus schweigen sie o<strong>der</strong> passen sich an;<br />

das macht sie unzufrieden und verletzt in ihrer Selbstachtung.“ (Singer 1997, S. 9)<br />

Zivilcouragiertes Verhalten als handlungsleitende Alltagsstrategie dient nicht nur <strong>der</strong><br />

Sicherheit und Gerechtigkeit in <strong>der</strong> Umwelt, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Achtung vor sich selbst.<br />

Zivilcourage ist zwar, zumindest primär, keine genuin Konflikt und Gewalt verhin<strong>der</strong>nde<br />

Handlungsstrategie, jedoch eine Strategie zur Vermeidung von Konflikt- und<br />

Gewalteskalation.<br />

Wer hilft, rettet und ergreift Partei und warum tun es viele nicht?<br />

Menschen neigen prinzipiell eher dazu sich Autoritäten und Mehrheiten anzupassen, ihnen zu<br />

gehorchen, als sich ihnen zu wi<strong>der</strong>setzten. Die Ursache hierfür sieht Erich Fromm in <strong>der</strong><br />

Tatsache, dass Folgsamkeit und Gehorsam einem Menschen Sicherheit und Anteil an <strong>der</strong><br />

Macht geben, <strong>der</strong> sie sich unterwerfen (vgl. Fromm1985).<br />

Dadurch entsteht das Gefühl von Stärke und Zugehörigkeit, und die Angst vor den Folgen<br />

und Fehlern des eigenen Handelns schwindet, da scheinbar eine höhere Instanz die<br />

Verantwortung für dieses Handeln übernimmt.<br />

Hingegen braucht man für angemessenen Ungehorsam o<strong>der</strong> das Auflehnen gegenüber einer<br />

Mehrheit den Mut, Verantwortung zu übernehmen, zu irren und zu sündigen und die<br />

Konsequenzen seines Handelns zu (er-)tragen (vgl. Ostermann1998, S. 7).<br />

Es ist nicht leicht zu beantworten welche Eigenschaften, Erlebnisse o<strong>der</strong> Umstände Menschen<br />

in <strong>der</strong> Angst halten o<strong>der</strong> sie mutig werden lassen.<br />

Zwei nie<strong>der</strong>ländische Wissenschaftler, die sich mit dem Phänomen und den Ursachen von<br />

zuweilen bedingungsloser Gehorsambereitschaft auseinan<strong>der</strong>setzten, analysierten und


159<br />

kommentierten das berühmte Milgram – Experiment. Laut ihnen lässt sich „keine soziale<br />

Gruppenzugehörigkeit, keine Charaktereigenschaft und keine weltanschauliche Richtung<br />

fassen, die ihre Vertreter gegen destruktive Gehorsambereitschaft feit. Rasse, Glaube,<br />

Bildungsniveau, Alter, Einkommen, Geschlecht, moralische Reife und die durch Tests<br />

bestimmbaren Persönlichkeitszüge (…) haben offenbar keinerlei Einfluß auf das Verhalten in<br />

<strong>der</strong> Testsituation.“ (Degen 1998).<br />

Die Neigung sich einem mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong> starken Gruppendruck zu beugen, wurde auch in<br />

vergleichsweise harmlosen Testsituationen belegt. So neigten Menschen in einem Versuch<br />

beispielsweise dazu, als sie in einem verdunkelten Raum die Länge eines Leuchtstabes<br />

schätzen sollen, sich <strong>der</strong> Gruppenmehrheit anzuschließen, obwohl die Gruppenmehrheit aus<br />

Komplizen des Versuchsleiters bestand und bewusst falsche Schätzungen abgab (vgl.<br />

Ostermann 1998, S. 7).<br />

Doch bei genauer Betrachtung erweisen sich solche Situationen für ein schwaches Ich eben<br />

doch als bedrohlich. Nicht mit einer Gruppenmehrheit konform zu sein, erzeugt die Angst vor<br />

sozialem Ausschluss und Einsamkeit.<br />

So gesehen ist es kaum verwun<strong>der</strong>lich, dass an<strong>der</strong>e Studien ergaben, dass „schon früh (…) die<br />

meisten Retter eine intellektuelle und psychische Unabhängigkeit erreicht (haben). Sie waren<br />

gewohnt, sich ein eigenes Urteil zu bilden, und es auszuhalten, nicht zu einer Mehrheit zu<br />

gehören.“ (Bastian 1996, S. 26).<br />

Der Rabbi Schulweiß regte in den sechziger Jahren eine Studie in Amerika an, die später von<br />

Oliner/Oliner fortgeführt wurde, die herausfinden wollte, was Helfer/innen und<br />

Zuschauer/innen unterscheidet. Ergebnis dieser Studie war, dass we<strong>der</strong> Intelligenz noch<br />

soziale Kompetenz ausschlaggebende Momente sind, son<strong>der</strong>n vielmehr Eigenschaften wie<br />

Abenteuerlust, <strong>der</strong> Wunsch nach Aufregung, <strong>der</strong> Wunsch nach Berühmtheit und eine Starke<br />

Bindung an die Familie (Vgl. Bastian 1996, S. 25).<br />

Eva Fogelman kam bei ihren Untersuchungen und Recherchen zu ihrem Buch “Wir waren<br />

keine Helden. Lebensretter im Angesicht des Holocaust“ zu dem Ergebnis, dass zwar kein<br />

eindeutiger Erziehungsstil in den Lebensgeschichten von Retter/-innen zu isolieren ist, „aber<br />

ihr fiel auf, daß die Erziehung fast immer von zwei Prinzipien bestimmt war: Liebe und<br />

Festigkeit, letzteres nicht zu verwechseln mit dem beson<strong>der</strong>s in Deutschland üblichen<br />

Befehls- und Gehorsams-Gehabe.“ (Ernst 1994).<br />

Ein wesentlicher Grundstein eine autonom, nach eigenen Überzeugungen Handelnde<br />

Persönlichkeit, auch gegen den Gruppendruck und an<strong>der</strong>e äußere Einflüsse, zu werden,<br />

scheint die Erziehung in <strong>der</strong> frühen Kindheit zu sein.


160<br />

Mit dem Lernen von Geboten und Verboten im Alter zwischen ca. 2 bis 4 Jahren entscheidet<br />

sich, ob Trotz und Ungehorsam schlicht und einfach nur gebrochen, o<strong>der</strong> mit viel Geduld und<br />

Verstand in freiwillige, reflektierte Leistung überführt werden. In <strong>der</strong> Kindheit „entsteht hier<br />

die tiefe Grundlage dafür, ob ein Mensch später ein gesundes Selbstbewusstsein, gesunden<br />

Eigenwillen und Zivilcourage besitzt, o<strong>der</strong> ob er Autoritäten gegenüber sich trotzig auflehnt,<br />

o<strong>der</strong> geringfügig anpasst, und damit bereits die Ansätze einer später zwanghaften<br />

Persönlichkeit erwirbt.“ (Riemann 1998, S. 132).<br />

Gesellschaftliche und individuelle Lernebenen<br />

Um Zivilcourage stärker als Tugend in <strong>der</strong> demokratischen, rechtstaatlichen Kultur und dem<br />

persönlichen Umfeld zu verankern, ist es wichtig bei <strong>der</strong> Betrachtung von Unrecht, im<br />

Großen und Kleinen, den Blick über Täter/-innen und Opfer hinaus auf die Helfer- und<br />

Retter/-innen zu richten, bzw. sich konstruktiv mit passiven Bystan<strong>der</strong>n zu beschäftigen.<br />

Schulweiß kam bei seiner Forschung über Helfermenschen zu einer moralischen For<strong>der</strong>ung:<br />

„Weisheit, Glaube und Wahrheit nötigen uns, diese Taten <strong>der</strong> Gerechten in Erfahrung zu<br />

bringen, aufzuzeichnen und zu würdigen. In welchem Moralkodex steht, daß das Böse das<br />

Gute verdunkeln darf? Welche ver<strong>der</strong>bte Logik bringt uns dazu, die Erinnerung an das Noble<br />

im Menschen auszulöschen, um die Erinnerung an seine Entartung zu bewahren? Wenn wir<br />

die verbrecherischen Schandtaten ausgraben, dürfen wir die Tugenden <strong>der</strong> Menschheit noch<br />

lange nicht begraben.“ (Schulweiß 1962 in: Fogelman 1995: 30)<br />

Über eine öffentliche Betrachtung, Würdigung und Diskussion kommt das Individuum aus<br />

<strong>der</strong> persönlichen Isolation. Die Herstellung von Öffentlichkeit und damit die Erfahrung von<br />

Gemeinsamkeit erweist sich immer wie<strong>der</strong> als Schlüssel zur Auflösung bedrohlicher<br />

Situationen. Dies gilt bei gewalttätigen Übergriffen in U-Bahnen, wie bei großen<br />

Bürgerrechtsbewegungen, z. B in <strong>der</strong> ehemaligen DDR.<br />

Gehen Einzelne an die Öffentlichkeit und kommunizieren ihre Positionen folgen zumeist<br />

viele, die im Verborgenen ähnliche Überzeugungen hegen.<br />

Diesen Schritt jedoch gegen eine bereits öffentliche Gruppenmehrheit als Erste/r zu wagen,<br />

löst häufig Ängste und Unsicherheiten aus. Über <strong>der</strong>en Thematisierung und den Austausch<br />

mit An<strong>der</strong>en ist es jedoch möglich eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit sich zu führen, an <strong>der</strong>en Ende<br />

ein freieres und authentischeres Handeln und somit eine größere Selbstachtung und<br />

Selbstzufriedenheit steht.


161<br />

Darüber hinaus muss <strong>der</strong> öffentliche Raum ein freier und sicherer Raum für alle Bürger/-<br />

innen sein. Für die Starken und Schwachen, für die Lauten und Leisen, „dafür hat je<strong>der</strong><br />

Bürger einzustehen.“ (Ostermann 1998, S. 12)<br />

Literatur<br />

Bastian, T.: Zivilcourage: von <strong>der</strong> Banalität des Guten. Rotbuch Verlag, Hamburg, 1996<br />

Degen, R.: Der Folterknecht in je<strong>der</strong>mann. IN: Die Zeit 1998/ 38<br />

Ernst, H.: Mut und Gewissen. Das Psychogramm <strong>der</strong> Judenretter. In: Psychologie Heute<br />

1994/ 7<br />

Fogelman, E.: „Wir waren keine Helden“. Lebensretter im Angesicht des Holocaust. Motive,<br />

Geschichten, Hintergründe. Frankfurt/M./New York, 1995<br />

Fromm, E.: Über den Ungehorsam. München, 1985<br />

Habermas, J.: Ziviler Ungehorsam - Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. In: Glotz,<br />

P. (Hrsg.): Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. Frankfurt/ M., 1983<br />

Müller, W. (Bearb.): Das Fremdwörterbuch, Dudenverlag, Mannheim/ Wien/ Zürich, 1982<br />

Ostermann, Ä.: Zivilcourage - eine demokratische Tugend. Test für die Demokratiefähigkeit<br />

einer Gesellschaft. In: HSFK - Standpunkte 1998/ 1<br />

Riemann, F.: Grundformen <strong>der</strong> Angst. Eine tiefenpsychologische Studie. Ernst Reinhardt<br />

Verlag, München/ Basel, 1998<br />

Singer, K.: Zivilcourage wagen. Wie man lernt sich einzumischen. Piper Verlag<br />

GmbH, München, 1997<br />

Weiter Literaturempfehlungen


162<br />

Lünse, D., Rohwed<strong>der</strong>, J., Baisch, V. (Hrsg.): Zivilcourage: Anleitung zum kreativen<br />

Umgang mit Gewalt. agenda Verlag, Münster, 1995<br />

Meyer, G.: Lebendige Demokratie: Zivilcourage und Mut im Alltag. Nomos<br />

Verlaggesellschaft, Baden-Baden, 2004<br />

Hamburg, Januar 2005


163<br />

1<br />

Ergebnisse <strong>der</strong> Podiumsdiskussion:<br />

„Konkrete Erscheinungsformen von schulischer Gewalt“<br />

Leitfragen: Worüber sprechen wir, wenn wir von Prävention sprechen?<br />

Sind konkrete Phänomene <strong>der</strong> Auslöser für pädagogisches Handeln o<strong>der</strong> die Angst<br />

vor ihnen?<br />

Vorab möchten wir darauf hinweisen, dass hier nicht eine chronologische Wie<strong>der</strong>gabe<br />

<strong>der</strong> Diskussion versucht wird. Dies war von vornherein nicht möglich, da ein Einverständnis<br />

über eine Aufzeichnung auf Tonträger nicht erreicht werden konnte. Es<br />

wird auf Basis <strong>der</strong> vorliegenden Stichworte versucht, wichtige Gedanken zur späteren<br />

Auswertung festzuhalten. Die Ergebnisse dieser Podiumsdiskussion finden sich<br />

auch in den Protokollen <strong>der</strong> Arbeitsgruppen wie<strong>der</strong>.<br />

Wir haben die Schulstufen:<br />

- Grundschule,<br />

- Mittelstufe und<br />

- Oberstufe<br />

in abgeschlossenen Kapiteln behandelt.<br />

Schwerpunkt Grundschule<br />

Als 1996 in einer Hamburger Grundschule ein Schulprogramm erarbeitet wurde, definierte<br />

man dafür Regeln unter dem Schwerpunkt För<strong>der</strong>ung, um in kurzer Zeit und<br />

mit einer einheitlichen Strategie auf Störungen reagieren zu können:<br />

- Übernahme <strong>der</strong> Regeln für die Pause aus <strong>der</strong> Vorschule in die erste Klasse:<br />

a) Geh zur Aufsicht (wenn Du erwachsene Unterstützung brauchst). !!<br />

b) Regeln definieren für Streitigkeiten: z.B. „Stop muss eingehalten werden“<br />

c) Einzelpaten schaffen<br />

d) alle Äußerungen von Kin<strong>der</strong>n ernst nehmen<br />

e) Äußerungen nicht als „Petzen“ einordnen


164<br />

2<br />

- Nach <strong>der</strong> Pause muss (vor dem Fortsetzen des Unterrichts) auf eventuelle<br />

Konflikte eingegangen werden, um eine angemessene Arbeitsatmosphäre zu<br />

schaffen.<br />

- Ritualisierte Tage bringen große Ruhe ( Gefährdung durch Zeitmangel !)<br />

- Die ersten Klassen haben Patenklassen (3. u. 4. Klasse)<br />

- Gemeinsamer Unterricht <strong>der</strong> verschiedenen Klassenstufen<br />

- Das Ziel För<strong>der</strong>ung wurde aufgeteilt in die För<strong>der</strong>ung sozialen Lernens und die<br />

För<strong>der</strong>ung im Schriftsprachbereich.<br />

- In einem interkulturellen deutsch-spanischen Zug können Kin<strong>der</strong> ihre<br />

individuellen Stärken auch unter dem Aspekt <strong>der</strong> Mehrsprachigkeit erfahren.<br />

- Räumliche Enge begünstigt Gewalt; dieser Aspekt ist auch bei <strong>der</strong><br />

Gestaltung <strong>der</strong> Schule bzw. <strong>der</strong> Schulhöfe Wert berücksichtigt zu werden<br />

(Umgestaltung des äußeren Umfeldes).<br />

- Ängste <strong>der</strong> Eltern <strong>der</strong> Erstklässler vor <strong>der</strong> „neuen“ Schule abbauen<br />

Lernziel für Elternrat/Lehrer/Arbeitsgruppen: Kulturelle Unterschiede akzeptieren,<br />

Jede/r hat unabhängig von den Fachleistungen seine individuellen Stärken und<br />

Schwächen.<br />

Lehrer/Eltern sollten ein „offenes Ohr“ für die Probleme <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite und <strong>der</strong><br />

Kin<strong>der</strong> haben.<br />

Das Ziel muss sein, die Betroffenen in die Lage zu versetzen, Konflikte konstruktiv<br />

unter sich zu lösen.<br />

Zur Rolle des Lehrers als Teil staatlicher Erziehungsgewalt bei <strong>der</strong> Umsetzung von<br />

Programmen zur Verhin<strong>der</strong>ung von Gewalt:<br />

Da die Lehrer (außer den Beratungslehrern) nicht speziell für den Umgang mit Konflikten<br />

ausgebildet sind, können ihre eigenen Erfahrungen mit Konflikten diesen<br />

schwierig machen. Immer wie<strong>der</strong> sind sie mit dem angemessenen Umgang vieler<br />

Schulkonflikte überfor<strong>der</strong>t. In <strong>der</strong> Ausbildung muss mehr Wert auf Konfliktmanagement<br />

gelegt werden, u.a. auch auf die Reflektion des eigenen Verhaltens und des<br />

eigenen Anteils an Konflikten. Die Rolle <strong>der</strong> Lehrer ist zudem gespalten, sie erfor<strong>der</strong>t<br />

einen ständigen Spagat zwischen Bewerten (Distanz) und Vertrauen (Nähe).


165<br />

3<br />

Klimaverän<strong>der</strong>ungen an den Schulen, d.h. Verbesserungen <strong>der</strong> Rahmenbedingungen,<br />

sind notwendig, um die Rolle <strong>der</strong> Lehrerin /des Lehrers so zu verän<strong>der</strong>n,<br />

dass sie diese Aufgaben bewältigen können; die Polizei mit ihrem Beratungsangebot<br />

in <strong>der</strong> Schule kann nur eine zeitweilige Notmaßnahme sein.<br />

Die Kommunikation unter den Lehrern und zu Eltern muss verbessert werden, um bei<br />

Problemen den Schülern einheitlich ( = „an einem Strang ziehend“ ) gegenübertreten<br />

zu können. Das wäre erfolgreiches Konfliktmanagement.<br />

Es ist aber schwierig, unterschiedliche Lehrerpersönlichkeiten auf einen gemeinsamen<br />

Level im Ringen um einen Konsens zu bringen.<br />

Damit sich in den Schulen etwas än<strong>der</strong>n kann, muss soziales Lernen in je<strong>der</strong> Unterrichtsstunde<br />

mitlaufen.<br />

Der Bildungsauftrag muss von allen an Schulen Beteiligten auch als Erziehungsauftrag<br />

verstanden und angenommen werden. Da ein Teil <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> mit Sozialisationsdefiziten<br />

in die Schule kommt, muss diese immer wie<strong>der</strong> therapeutische Bedingungen<br />

für diese Kin<strong>der</strong> schaffen. Nur so kann im Unterricht effektiv gearbeitet werden.<br />

Für alle gilt: Werte aus dem Alltag in die Schule mitnehmen, z.B. Rücksichtnahme,<br />

Höflichkeit, Zivilcourage.<br />

In <strong>der</strong> Mittelstufe<br />

Raufereien auf dem Schulhof hat es gegeben, seit es Schulen gibt. Aus Sicht <strong>der</strong><br />

Oberstufenschülerinnen ist die Grenze bei einer Auseinan<strong>der</strong>setzung erreicht, sobald<br />

jemand Angst bekommt, sich bedroht fühlt, empfinden sie das als Gewalt, erst recht<br />

wenn dabei Waffen im Spiel sind.<br />

Angst wird erzeugt durch Drohungen, Druck und Ausgrenzung. Aber auch durch Androhung<br />

von „kleiner Gewalt“, die als psychische Drohung während des Unterrichts<br />

angekündigt wird. Oft mündet diese dann in große (harte) Gewalt, die dann nach<br />

dem Unterricht außerhalb <strong>der</strong> Schule auch unter Einsatz von Waffen stattfindet. Dies<br />

gilt beson<strong>der</strong>s für die Mittelstufe, in <strong>der</strong> Oberstufe ist es dann ruhiger.


166<br />

4<br />

Oberstufe<br />

Die Schülerinnen sehen neben ihren MitschülerInnen, in erster Linie die LehrerInnen<br />

als ihre Ansprechpartner an, wenn sie Probleme mit Gewalt haben. Das setzt jedoch<br />

ein Vertrauensverhältnis voraus.<br />

Anglizismen wie „cop4you“ allein schaffen kein Vertrauen bei den SchülerInnen. Die<br />

Lösung des Problems sind nicht eine vermeintliche Jugendsprache o<strong>der</strong> Polizeipräsenz<br />

an den Schulen.<br />

Eine Vertrauensbasis zwischen SchülerInnen und Staatsgewalt muss an<strong>der</strong>weitig<br />

aufgebaut werden und setzt voraus, dass <strong>der</strong> Polizei Respekt entgegengebracht<br />

wird. Die SchülerInnen wollen selbst entscheiden, ob ein Polizist an <strong>der</strong> Schule ist.<br />

Präsenz kann aber gut sein, wenn gewährleistet ist, dass die SchülerInnen dabei<br />

ernst genommen werden und nicht als Täter (Jugend = Sicherheitsrisiko) vorverurteilt<br />

werden.<br />

Das zu schaffende Vertrauensverhältnis ist die Voraussetzung für die Entstehung<br />

eines Sicherheitsgefühls innerhalb <strong>der</strong> Schule. Auch um das Bewusstsein zu schaffen,<br />

daß zu Zivilcourage auch das Anzeigen von Gewalttätern gehört, ist ein Vertrauensverhältnis<br />

zwischen Schülern und Polizei notwendig.<br />

Menschliche Nähe muss stattfinden, dann kann auch Sicherheitsgefühl stattfinden.<br />

Polizisten müssen auch außerhalb <strong>der</strong> Schule ansprechbar sein, es muss die Möglichkeit<br />

<strong>der</strong> Anzeige gegen Gewalttäter geben.<br />

Die SchülerInnen haben auch das Konfliktschlichtungsmodell „Konfliktlotsen“ kritisch<br />

betrachtet und bewerten es so: Das Konzept ist eine gute Grundlage, um Gewalt innerhalb<br />

<strong>der</strong> Schule einzudämmen. Wünschenswert wäre jedoch eine für jede/n SchülerIn<br />

verbindliche Grundausbildung zum Thema Konfliktlösung mit dem Ziel, Hilfe zur<br />

Selbsthilfe zu för<strong>der</strong>n. Die spezielle Ausbildung <strong>der</strong> Konfliktlotsen sollte eine Vertiefung<br />

<strong>der</strong> Grundkenntnisse darstellen. Die Posten <strong>der</strong> Konfliktlotsen sollten vorwiegend<br />

von älteren SchülerInnen besetzt werden, da grundsätzlich die Gefahr besteht, dass<br />

Konfliktlotsen selbst ins Schussfeuer geraten.<br />

Gewaltprävention in Schulen aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> Elternvertretung:<br />

Zunächst einmal muss akzeptiert werden: wir haben Gewalt. Erst dann können Strategien<br />

gegen Gewalt entwickelt werden und greifen. Das kann mit einem verstärkten<br />

Blick auf soziales Lernen und Intensivierung <strong>der</strong> Zusammenarbeit mit <strong>der</strong> Schülervertretung<br />

geschehen.


167<br />

5<br />

Die Vernetzung verschiedener Einrichtungen soll angestrebt werden, dazu stellen<br />

sich im Vorwege noch folgende Fragen:<br />

• wen ziehen wir ins Boot?<br />

• welche Hin<strong>der</strong>nisse sind zu überwinden?<br />

• wo ist eine Kooperation möglich?<br />

-----------------------------------------------------------------------------------------------------------------<br />

Wir bedanken uns bei <strong>der</strong> Lehrerin, den Schülerinnen und <strong>der</strong> Elternvertreterin für die<br />

mutige und offene Diskussion.<br />

Stefan Dierbach<br />

Ursula Kisse

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!