1 Klärung der Begriffe 1.1. Konfliktbereitschaft - Fachbereich ...
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Kriminologische Studienwoche <strong>der</strong> Universität Hamburg<br />
7. – 11. März 2005<br />
Gewalt in <strong>der</strong> Schule –<br />
Ausprägung, Erklärung, Prävention<br />
Angela Sack-Hauchwitz, Diplom-Soziologin<br />
Zu männlicher und weiblicher <strong>Konfliktbereitschaft</strong>, Gen<strong>der</strong>aspekten und Diversity,<br />
Inhalt<br />
1 Klärung <strong>der</strong> <strong>Begriffe</strong><br />
<strong>1.1.</strong> <strong>Konfliktbereitschaft</strong> - Konfliktfähigkeit<br />
1.2. Gewaltbereitschaft<br />
1.3. Gen<strong>der</strong> Aspekte<br />
1.4. Diversity<br />
2 Jungen – das starke Geschlecht?<br />
2.1. Wie verhalten sich Jungen?<br />
2.2. Wie ist die öffentliche Wahrnehmung von Jungen?<br />
2.3. Die Folgen einer „gelernten Männlichkeit“ auf die Gewaltbereitschaft<br />
2.4. Persönlichkeitsprofil aggressiver junger Männer<br />
2.5. Der kulturelle Hintergrund und die Gewaltbereitschaft bei Jungen<br />
3 Mädchen – die sanfte Hälfte <strong>der</strong> Jugend?<br />
3.1. Wie verhalten sich Mädchen?<br />
3.2. Werteorientierungen<br />
3.3. Mädchen und Gewaltbereitschaft<br />
3.4. Mobbing in <strong>der</strong> Klasse<br />
4 Geschlechtsspezifische Gewaltprävention und Diversity<br />
4.1. Wo sind die Potentiale <strong>der</strong> Jungen?<br />
4.2. Wo sind die Potentiale <strong>der</strong> Mädchen?<br />
5 Ausblick<br />
6 Literaturliste<br />
7 Kurzbiografie<br />
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Kriminologische Studienwoche <strong>der</strong> Universität Hamburg<br />
7. – 11. März 2005<br />
Gewalt in <strong>der</strong> Schule –<br />
Ausprägung, Erklärung, Prävention<br />
Angela Sack-Hauchwitz, Diplom-Soziologin<br />
Zu männlicher und weiblicher <strong>Konfliktbereitschaft</strong>, Gen<strong>der</strong>aspekten und Diversity,<br />
Klärung <strong>der</strong> <strong>Begriffe</strong><br />
<strong>1.1.</strong> <strong>Konfliktbereitschaft</strong> - Konfliktfähigkeit<br />
<strong>Konfliktbereitschaft</strong> hat nichts mit Gewaltbereitschaft zu tun. Die Bereitschaft, sich auf<br />
Konflikte einzulassen, hängt von den individuellen Erfahrungen mit dem Ablauf von<br />
Konflikten ab. Konflikte können Nie<strong>der</strong>lagen auslösen o<strong>der</strong> das Gefühl geben,<br />
Interessen durchsetzen zu können. Sie können als emotional belastend o<strong>der</strong><br />
befreiend erlebt werden. Es spielt eine entscheidende Rolle, ob jemand als Dritter bei<br />
Konflikten An<strong>der</strong>er dabei ist o<strong>der</strong> ob man selbst Beteiligter in einem Konflikt ist.<br />
Der Grad <strong>der</strong> eigenen <strong>Konfliktbereitschaft</strong> hat aber einen Einfluss auf unsere<br />
Bewertung von Situationen, in denen Gewalt ausgeübt und erlitten wird. Die eigene<br />
<strong>Konfliktbereitschaft</strong> hat auch Einfluss auf die persönliche Bewertung <strong>der</strong> Motive <strong>der</strong><br />
Täter und Opfer und auf persönlich bevorzugte Strategien zur Gewaltprävention.<br />
Deshalb macht es Sinn, sich über die eigene Bereitschaft, sich auf Konflikte<br />
einzulassen, klar zu werden.<br />
Konfliktfähigkeit meint eine komplexe soziale Kompetenz. Konfliktfähige Menschen<br />
sind in <strong>der</strong> Lage, einen drohenden o<strong>der</strong> aufgebrochenen Konflikt zu erkennen, die<br />
unterschiedlichen Ebenen des Konfliktes wahrzunehmen und zu differenzieren, den<br />
Konflikt zu klären und angemessen zu lösen, beziehungsweise zu einer angemessenen<br />
Lösung beizutragen. Mit steigen<strong>der</strong> Konfliktfähigkeit steigt die Bereitschaft,<br />
sich auf Konflikte einlassen zu können, ohne dass Gewalt ausgeübt wird.<br />
1.2. Gewaltbereitschaft<br />
Viele Theorien machen individuelle Defizite in <strong>der</strong> frühen Kindheit wie zum Beispiel<br />
Gewalterfahrungen und eine lieblose Erziehung für die erhöhte Gewaltbereitschaft<br />
eines jungen Menschen verantwortlich. Auch ökonomische und soziale Defizite, <strong>der</strong><br />
Zerfall gesellschaftlicher Normen und Werte, <strong>der</strong> Zerfall <strong>der</strong> traditionellen Familie,<br />
Armut und Arbeitslosigkeit werden als Gründe für eine erhöhte Gewaltbereitschaft<br />
angeführt. Aber Gewalt allein als Folge von Defiziten zu begreifen, greift für den<br />
Bereich Schule zu kurz, vor allem wenn wir präventiv handeln wollen. Da sowohl<br />
Jungen als auch Mädchen unter den oben genannten Defiziten gleichermaßen zu<br />
leiden haben, erklären diese Theorien auch nicht, warum die Gewaltbereitschaft bei<br />
Jungen signifikant höher als bei Mädchen ist.<br />
Das Bild, dass sich ein Junge, ein junger Mann, von sich selbst in seinem sozialen<br />
Umfeld macht – in seiner Familie, in <strong>der</strong> Schule, in <strong>der</strong> Freizeit,– dieses Bild hat<br />
Einfluss auf das „Umkippen“ von Gewaltbereitschaft zur Gewalt. Auch das Bild, dass<br />
sich die Personen seines sozialen Umfeldes – seine Eltern, Brü<strong>der</strong> und Schwestern,<br />
seine Freunde, Schulkameraden, Lehrer, die Mädchen – von ihm machen, haben<br />
einen Einfluss auf sein Selbstwertgefühl und sein Handeln, also auch auf die<br />
Bereitschaft, seine Interessen mit Gewalt durchzusetzen.<br />
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Angela Sack-Hauchwitz, Diplom-Soziologin<br />
Zu männlicher und weiblicher <strong>Konfliktbereitschaft</strong>, Gen<strong>der</strong>aspekten und Diversity,<br />
Für ein Mädchen, eine junge Frau gilt dies entsprechend. Sowohl das Bild, das sich<br />
das Mädchen, die junge Frau von sich selbst im sozialen Umfeld – in ihrer Familie, in<br />
<strong>der</strong> Schule - macht, als auch das Bild, das sich die Menschen in ihrer Umgebung von<br />
ihr machen - ihre Eltern und Geschwister, Freundinnen, Lehrer, die Jungen - haben<br />
Einfluss auf ihre Gefühle und Handlungen.<br />
These: Das Selbstbild eines Mädchens o<strong>der</strong> eines Jungen hat Einfluss auf die<br />
Konflikt- und Gewaltbereitschaft ebenso wie das Fremdbild, dass die Menschen des<br />
sozialen Umfeldes sich von dieser Person machen. Der Einfluss des Selbstbildes<br />
und des Fremdbildes ist bei heranwachsenden Jugendlichen, die noch auf <strong>der</strong> Suche<br />
nach ihrer Identität sind, beson<strong>der</strong>s zu beachten. Eine Erziehung zur Konfliktfähigkeit<br />
kann nur gelingen, wenn ein männlicher Jugendlicher für die Entwicklung seiner<br />
Identität als Mann auf ein breiteres Rollenrepertoire zurückzugreifen lernt. Auch<br />
Mädchen brauchen für die Entwicklung ihrer Identität als Frau einen breiteren<br />
Verhaltenskanon, als sie bisher nutzen, beziehungsweise nutzen dürfen. 1<br />
1.3. Gen<strong>der</strong> Aspekte<br />
Gen<strong>der</strong> bedeutet „soziales Geschlecht“, im Gegensatz zum „biologischen Geschlecht“,<br />
das im englischen „sex“ heißt. Da wir im Deutschen nur das eine Wort<br />
„Geschlecht“ haben, sind die Definitionen etwas umständlich. Wenn Sie<br />
„Geschlechtergerechtigkeit“ hören, ist damit gemeint, dass in unserem Zusammenhang<br />
Jungen und Mädchen zum Beispiel in ihrem sozialen Umfeld Schule<br />
gleiche Rechte und Pflichten haben. Da Mädchen und Jungen aber immer noch<br />
unterschiedlich erzogen und sozialisiert werden, ist es wichtig, Benachteiligungen<br />
auszugleichen, um die Fähigkeiten so zu för<strong>der</strong>n, dass Mädchen und Jungen die<br />
gleichen Chancen haben, einen zufriedenstellenden Berufs- und Lebensplan für sich<br />
zu entwickeln. Das heißt nicht unbedingt, dass sie gleich behandelt werden müssen.<br />
Wenn Sie „Gen<strong>der</strong> Mainstreaming“ hören, so bedeutet das in unserem<br />
Zusammenhang, dass alle politischen und pädagogischen Entscheidungen schon im<br />
Vorwege darauf abgeklopft werden müssen, ob Benachteiligungen „aufgrund des<br />
sozialen Geschlechts“ aufgefangen und ausgeglichen werden können.<br />
1.4. Diversity<br />
Diversity heißt „Vielfalt“ „Mannigfaltigkeit“ und umfasst neben dem "sozialen<br />
Geschlecht" auch an<strong>der</strong>e Unterschiede wie Alter, Kulturhintergrund, Lebensentwürfe,<br />
gesellschaftlichen Status. Der Fokus richtet sich weniger auf die normierten<br />
Schwächen o<strong>der</strong> Benachteiligungen einer gesellschaftlichen Gruppe, son<strong>der</strong>n<br />
1 Die These, dass es einer konkreten Situation bedarf, um Gewaltbereitschaft in Gewalt umschlagen<br />
zu lassen, wird hier vernachlässigt, da an<strong>der</strong>e Seminarteile sich mit diesem Schwerpunkt befassen.<br />
Wichtig ist zu berücksichtigen, dass es nicht die Situation selbst ist, die zu Gewalt führt, son<strong>der</strong>n die<br />
individuelle Bewertung dieser Situation durch eine gewaltbereite Person, und die Bewertung dieser<br />
Situation durch an<strong>der</strong>e Beteiligte.<br />
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Zu männlicher und weiblicher <strong>Konfliktbereitschaft</strong>, Gen<strong>der</strong>aspekten und Diversity,<br />
vielmehr auf die Potentiale, die sich aus <strong>der</strong> Vielfalt ihrer vielleicht noch zu wenig<br />
genutzten Fähigkeiten ergeben. Wenn Sie hören, dass große Konzerne „Diversity<br />
Management“ betreiben, heißt das, diese entwickeln Strategien, um die Potentiale<br />
ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen für das Wohl <strong>der</strong> Firma optimal zu nutzen, um<br />
qualifiziertes Personal zu halten. Sie schaffen zum Beispiel für Mütter (und Väter)<br />
Rahmenbedingungen zur Kin<strong>der</strong>betreuung und för<strong>der</strong>n Frauen und Männer gezielt<br />
für Führungspositionen.<br />
Diversity bedeutet auch, die individuellen Unterschiede werden nicht normiert,<br />
(Jungen sind nun mal so) son<strong>der</strong>n sie werden zum gegenseitigen Nutzen anerkannt<br />
und aktiviert. (Dieses Mädchen ist so, jenes an<strong>der</strong>s. Was können die einen, was die<br />
an<strong>der</strong>en, was uns allen weiterhilft.) In unserem Zusammenhang bedeutet Diversity<br />
auch, den Blick nicht nur auf die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen als etwas<br />
Negatives zu richten, son<strong>der</strong>n auch die konstruktiven Möglichkeiten zu sehen, die in<br />
Risikobereitschaft, Mut und Kühnheit liegen können. Es heißt aber auch, sogenannte<br />
„weiche“ Fähigkeiten von Jungen, die die Gewaltbereitschaft senken helfen, positiv<br />
zu bewerten und gezielt zu för<strong>der</strong>n.<br />
2. Jungen – das starke Geschlecht?<br />
2.1. Wie verhalten sich Jungen?<br />
Jungen können grundsätzlich alles sein. Jungen können lärmend und leise –<br />
aggressiv und ängstlich – egoistisch und hilfsbereit - sexistisch und einfühlsam sein.<br />
Sie können den Unterricht stören und konzentriert mitarbeiten. Sie können sich<br />
prügeln und sie können Streitereien schlichten.<br />
2.1. Wie ist die öffentliche Wahrnehmung von Jungen?<br />
Jungen gelten landläufig als laut, aggressiv, störend, beleidigend. O<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s<br />
ausgedrückt: Jungen sollen durchsetzungsstark und kämpferisch sein, wenn sie<br />
richtige Männer werden wollen. In unserer Gesellschaft, die männlich dominiert ist,<br />
muss ein Junge, <strong>der</strong> eine „männliche Identität“ anstrebt, sich ständig beweisen, dass<br />
er stark und überlegen ist. Kein „richtiger“Junge will ein „Looser“ sein.<br />
2.2. Die Folgen einer „gelernten Männlichkeit“ auf die Gewaltbereitschaft<br />
Merken Sie, was hier passiert?<br />
Die Potentiale <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Jungen, <strong>der</strong> leisen, hilfsbereiten, einfühlsamen,<br />
konzentriert arbeitenden Jungen werden nicht nur nicht genutzt, son<strong>der</strong>n sie werden<br />
sogar diskreditiert. Auch die sogenannten „starken“ Jungen, die ja auch ihre weichen<br />
Seiten haben, werden nur einseitig in Richtung auf das Starksein hin unterstützt. Ihre<br />
sicher auch mal vorhandenen „weichen“ Kompetenzen, zum Beispiel die Fähigkeit<br />
zuhören zu können, werden als unmännlich abgetan. Welcher Junge will schon<br />
Gefühle wie Traurigkeit o<strong>der</strong> Angst zeigen, wenn diese Gefühle als unmännlich<br />
gelten.<br />
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Zu männlicher und weiblicher <strong>Konfliktbereitschaft</strong>, Gen<strong>der</strong>aspekten und Diversity,<br />
Zu viele Jungen werden also auch heute noch zu wenig dahingehend erzogen und<br />
unterstützt, Konflikte auf sozial verträgliche Weise zu lösen. Denn dazu bräuchte<br />
man soziale Kompetenzen. Ein „richtiger“ Junge löst den Konflikt lieber, indem er<br />
siegt. Bis zu gewalttätigem Handeln ist es hier oft nur ein kleiner Schritt. Sogenannte<br />
„männliche Attribute“ wie Durchsetzungsvermögen und Stark-Sein erfor<strong>der</strong>n, eigene<br />
Gefühle auszuklammern und die Gefühle an<strong>der</strong>er nicht zur Kenntnis zu nehmen.<br />
Viele Jungen lernen also früh, ihre Gefühle und die Signale ihres Körpers nicht<br />
wichtig zu nehmen. Viele junge Männer erleben sich selbst und ihr Gegenüber wenig<br />
über Gefühle, seien sie angenehm o<strong>der</strong> unangenehm.<br />
Wo können Jungen (und Mädchen) heute noch ihre aktiven Potentiale wie Abenteuerlust,<br />
Energie und Tatendrang ausleben? Im Alltag doch nur noch sehr eingeschränkt.<br />
Der Unterschied zwischen Jungen und Mädchen hier aber ist, dass<br />
Jungen offenbar generell schlechter als Mädchen mit den Verän<strong>der</strong>ungen unserer<br />
Welt in den letzten 20 bis 30 Jahren zurechtkommen. Dann sollten wir noch berücksichtigen,<br />
dass Jungen zum Beispiel in einer durchschnittlichen 8. o<strong>der</strong> 9. Klasse bis<br />
zu einem Jahr in <strong>der</strong> körperlichen und mentalen Entwicklung hinter den Mädchen<br />
zurückliegen. Wen wun<strong>der</strong>t es da, dass zahlreiche Untersuchungen belegen, dass<br />
Jungen in ihren Leistungen auffällig hinter den Mädchen zurückfallen, dass Jungen<br />
häufiger krank sind, häufiger Sprech- Konzentrations- Schreibstörungen haben,<br />
häufiger an dem berüchtigten Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom leiden.<br />
Für unser Thema „Gewaltbereitschaft“ hat das zur Folge, dass sich viele Jungen - in<br />
ihrem Tatendrang nicht ausgelastet und qua Rolle ständig stark sein zu müssen, in<br />
latenter Gefühl- und Sprachlosigkeit – dran gewöhnen, ohne Rücksicht auf eigene<br />
Emotionen und die Interessen an<strong>der</strong>er ihre Machtinteressen mit Gewalttätigkeiten<br />
durchzusetzen.<br />
2.3. Persönlichkeitsprofil aggressiver junger Männer<br />
Wen wun<strong>der</strong>t es da auch, dass die Lebenshypothese gewaltbereiter Jugendlicher<br />
heißt: Gewalt macht stark und unangreifbar. Friedfertigkeit dagegen heißt, feige und<br />
schwach zu sein. Für das Selbstbild aggressiver Jungen und junger Männer sind<br />
zwei Persönlichkeitsbezüge entscheidend, die sie ihre Gewalttätigkeit aufrecht halten<br />
und ausleben lassen. Gewaltbereite Jungen rechtfertigen ihr (auch mieses) Verhalten<br />
ständig zu ihren Gunsten und rücken auch Gewalttätigkeiten in ein positives<br />
heldenhaftes Licht. „Ich wollte Gerechtigkeit“. Sie sind außerdem kaum bereit o<strong>der</strong><br />
fähig, sich in das Opfer einzufühlen. „Selbst schuld, warum kommt er mir komisch.“<br />
An diesen beiden Stellen, die Rechtfertigungen zu knacken und Empathie, Mitgefühl<br />
zu wecken, liegen die Anknüpfungspunkte zur Arbeit mit gewaltbereiten<br />
Jugendlichen. Wer Mitgefühl mit einem Opfer entwickelt, verliert den Spaß an<br />
Gewalt.<br />
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2.4. Der kulturelle Hintergrund kann die Gewaltbereitschaft bei Jungen<br />
verstärken<br />
Das Bild von Männlichkeit wird bei Jungen türkischer Herkunft meist noch entscheidend<br />
durch die Familie geprägt. Die Interessen <strong>der</strong> Familie stehen über denen<br />
des Einzelnen. Die Männer <strong>der</strong> Familie haben mehr Rechte und Freiheiten als die<br />
Frauen. An diesen traditionellen Werten halten türkische Familien in Deutschland<br />
noch viel stärker fest als türkische Familien in <strong>der</strong> heutigen Türkei. In einer sich<br />
verän<strong>der</strong>nden westlichen Gesellschaft bezieht sich die hoch gehaltene Ehre <strong>der</strong><br />
Familie heute mehr und mehr nur noch auf Äußerlichkeiten. Diesen Werte, die in<br />
einer Dorfgemeinschaft in Anatolien früher ihren Sinn gemacht haben, werden heute<br />
in <strong>der</strong> Großstadt zu einer leeren Hülle. Der türkische Vater hat oft keine echte<br />
Autorität mehr, son<strong>der</strong>n kompensiert seine Ohnmacht durch autoritäres Gehabe und<br />
Gewalt. Die Jungen haben nicht Respekt vor <strong>der</strong> Autorität des Vaters, son<strong>der</strong>n Angst<br />
vor Gewalt. Die Erziehung in 20 Prozent <strong>der</strong> türkischen Familien wird auch heute<br />
noch durch Gewalt geprägt, dass heißt, je<strong>der</strong> 5. türkische Junge wird zu Hause<br />
geschlagen.<br />
In Deutschland prallen für türkische Jungen ihre familiäre Tradition und die mo<strong>der</strong>ne<br />
Schule auf einan<strong>der</strong>, eine Schule, die das Individuum betont und individuelle<br />
Leistungen for<strong>der</strong>t. Für Jungen hat dieser kulturelle Bruch vor allem negative Folgen.<br />
Sie sind verunsichert, sie haben nicht gelernt, sich als Individuum mit persönlichen<br />
Wünschen und Vorstellungen und persönlichen Leistungen zu entwickeln. Sie haben<br />
zu wenige männliche Lehrer, die ihnen außer dem Vater eine wirkliche männliche<br />
Autorität sind. Sie haben Schwierigkeiten, in einer Lehrerin eine Fachautorität zu<br />
sehen. Da Frauen in ihrer altertümlichen Werteskala „unter dem Mann“ stehen,<br />
lassen sie sich oft nichts sagen und Lehrerinnen müssen sich oft üble sexistische<br />
Beschimpfungen anhören.<br />
Erkennen Sie den Teufelskreis? Wenn sprachliche Probleme und schlechte<br />
schulische Leistungen dazukommen, sind diese Jungen in <strong>der</strong> Falle ihrer<br />
Männerrolle. Sie haben nicht gelernt, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen,<br />
Frauen und Mädchen als gleichwertig anzuerkennen, geschweige denn, ihre eigenen<br />
Gefühle ernst zu nehmen und Gefühle an<strong>der</strong>er wahrzunehmen und zu respektieren.<br />
Sie retten sich in Gruppen von gleichaltrigen Jungen und bestätigen sich gegenseitig<br />
in ihrer männlichen Überlegenheit. Der Gewalttätige ist <strong>der</strong> Held, das Opfer hat selbst<br />
Schuld.<br />
Bei aus Russland eingewan<strong>der</strong>ten Familien stellt sich die familiäre Situation zwar<br />
an<strong>der</strong>s da, allerdings ist das Ergebnis, was die Gewaltbereitschaft <strong>der</strong> männlichen<br />
Jugendlichen betrifft, lei<strong>der</strong> ähnlich gravierend. Die Gleichberechtigung von Frauen<br />
und Männern wurde bereits 1917 in <strong>der</strong> sowjetischen Verfassung verankert. Frauen<br />
fanden Zugang zu fast allen qualifizierten Berufen. Aber irgendwas ging mit <strong>der</strong><br />
Gleichverpflichtung bei<strong>der</strong> Geschlechter schief. Frauen hatten fast die gesamte<br />
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Zu männlicher und weiblicher <strong>Konfliktbereitschaft</strong>, Gen<strong>der</strong>aspekten und Diversity,<br />
Doppelbelastung <strong>der</strong> Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu tragen und gaben die<br />
Kin<strong>der</strong>erziehung oft bei <strong>der</strong> Großmutter ab.<br />
Die repressiven gesellschaftlichen Strukturen im Beruf wurden in <strong>der</strong> Familie nach<br />
schon überholt geglaubten Traditionen kompensiert. Die Männer wurden als Paschas<br />
verwöhnt, neigten zu Alkoholkonsum, verhielten sich anspruchsvoll, egoistisch, zu<br />
Gewalt neigend. Die Frauen (Ehefrau, Mutter und Töchter) ordneten sich zu Haus<br />
sanft und anschmiegsam unter. Die Kin<strong>der</strong>, vor allem die Jungen wurden verwöhnt,<br />
gehegt, gepflegt und überbeschützt gehalten.<br />
Diese Jungen kommen als 12- bis 16-jährige Jugendliche nach Deutschland, oft<br />
gegen ihren Willen, ohne ausreichende Sprachkenntnisse, sozial nicht akzeptiert,<br />
ohne zufriedenstellende berufliche Perspektiven. Wenn sie keinen Rückhalt in <strong>der</strong><br />
Familie haben, was bleibt ihnen zu tun, um ihre vermeintliche Ehre und Männlichkeit<br />
zu retten? Gewalttätigkeit und Bandenbildung.<br />
3. Mädchen – die sanfte Hälfte <strong>der</strong> Jugend?<br />
3.1. Wie verhalten sich Mädchen?<br />
Mädchen können wie Jungen grundsätzlich alles sein. Sie können leise und<br />
ängstlich, laut und aggressiv, intelligent und kooperativ, egoistisch und sexistisch,<br />
hilfsbereit und einfühlsam sein. Sie können den Unterricht stören und konzentriert<br />
mitarbeiten.<br />
3.2. Werteorientierungen<br />
Die sogenannte Shell-Studie hat die Werteorientierung von Mädchen und Jungen<br />
analysiert und festgestellt, dass Mädchen bei zwei Drittel <strong>der</strong> Werte, die sie für ihre<br />
Lebensgestaltung wichtig finden, mit den Jungen übereinstimmen. Dem Wert<br />
„Selbstdurchsetzung“ hatten zum Beispiel beide auf einer Skala von 1 bis 7 im<br />
Durchschnitt denselben Wert 4.8 angegeben.<br />
Es gibt aber auch Unterschiede, die bei 0.3 Punkten Unterschied als signifikant<br />
bezeichnet werden. „Macht und Einfluss“ ist Jungen wichtiger, 4.1 (Jungen) zu 3.8<br />
Punkten (Mädchen. Mädchen halten Eigenverantwortlichkeit mit 5.8 zu 5.6 für<br />
wichtiger, ebenso sind ihnen Gefühle, 5.5 zu 5.1., und soziales Engagement, 4.8 zu<br />
4.5 wichtiger als Jungen. Jungen sind Gesetz und Ordnung nicht so wichtig wie<br />
Mädchen, 5.4 (Jungen) zu 5.7 (Mädchen). Obgleich auch hier ein hohes Maß an<br />
Übereinstimmung deutlich ist, bestätigen diese Befunde die Aussagen über die<br />
Jungen.<br />
3.3. Mädchen und Gewaltbereitschaft<br />
Das Bild eines gewaltbereiten Mädchens ist ungewohnt. Es ist zwar erwiesen, dass<br />
Gewalt vor allem von männlichen Jugendlichen ausgeht, aber was machen Mädchen<br />
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Zu männlicher und weiblicher <strong>Konfliktbereitschaft</strong>, Gen<strong>der</strong>aspekten und Diversity,<br />
mit ihrer Wut? Denn Mädchen sind grundsätzlich keineswegs weniger zornig als<br />
Jungen. Während Jungen durch Gewalt Macht und Kontrolle über An<strong>der</strong>e ausüben<br />
wollen, definieren Mädchen physische Gewalt als Kontrollverlust. Das soziale Umfeld<br />
toleriert außerdem physische Gewalt bei Mädchen viel weniger als bei Jungen,<br />
dieses Verhalten gilt landläufig als „unweiblich“.<br />
Mädchen neigen also eher dazu, Gefühle wie Wut und Ärger zu unterdrücken. O<strong>der</strong><br />
sie demütigen ihre Opfer verbal durch „Nie<strong>der</strong>reden“ durch Beleidigungen,<br />
Ausgrenzung und Missachtung. Wie bei Jungen ist die Ursache häufig ein unsicheres<br />
Selbstbild, Angst vor Ablehnung und auch Angst, selbst Opfer von Gewalt zu werden.<br />
Die Gewaltbereitschaft bei Mädchen sollte nicht per se „männlich“ genannt werden.<br />
Da das soziale Geschlecht nicht statisch ist, son<strong>der</strong>n sich dynamisch entwickelt,<br />
verän<strong>der</strong>n sich auch die traditionellen Verhältnisse <strong>der</strong> Geschlechter zueinan<strong>der</strong>. Die<br />
Bedeutung <strong>der</strong> Unterscheidung von Männlichkeit und Weiblichkeit verwischt sich<br />
trotz aller bestehenden Stereotypen. Es wird in Zukunft eine größere Bandbreite<br />
männlicher und weiblicher Lebensentwürfe geben. Auf unser Thema bezogen<br />
können sich auch gewaltbereite Mädchen durchaus in an<strong>der</strong>en Situationen<br />
normgerecht weiblich verhalten. Die These, dass Mädchen eher verbal aggressiv<br />
seien, kann auch so interpretiert werden, dass sich Mädchen in Konfliktsituationen<br />
zunächst mit reden durchzusetzen versuchen und erst später zuschlagen..<br />
3.4. Mobbing in <strong>der</strong> Klasse<br />
Mobbing ist eine konfliktbelastete Kommunikation. Typisch für Mobbing ist, dass es<br />
sich gegen „als unterlegen empfundene Einzelpersonen“ richtet, und zwar<br />
systematisch und über einen längeren Zeitraum hinweg. Mobbing ist ein typisches<br />
Problem im Klassenverband. Täter sind – ausdrücklich angemerkt – Jungen und<br />
Mädchen. Etwa die Hälfte <strong>der</strong> Mobbingvorfälle fallen unter „verbale Gewalt“. Eine<br />
Person wird ständig unterbrochen, es werden ständig Abwertungen und<br />
Diskriminierungen geäußert o<strong>der</strong> diese Person wird „wie Luft“ behandelt, ausgelacht,<br />
ungerechtfertigt beschuldigt. Für eine gezielte Klärung und Lösung dieser Konflikte<br />
gibt es erprobte Strategien. An Anti-Mobbing-Programmen und solchen zur<br />
Gewaltprävention sollten sowohl Mädchen als auch Jungen teilnehmen können.<br />
Auch Mädchen brauchen hier die gezielte För<strong>der</strong>ung brachliegen<strong>der</strong> kommunikativer<br />
Kompetenzen. Ihre Gefühle und Motive müssen erkannt und ernst genommen<br />
werden.<br />
3.5. Der Einfluss des kulturellen Hintergrunds auf das Verhalten von<br />
Mädchen<br />
Mädchen mit einem traditionellen türkischen Familienhintergrund blühen in <strong>der</strong><br />
Schule oft auf, da Schule <strong>der</strong> Ort ist, an dem sie sich als Individuum geachtet und<br />
geför<strong>der</strong>t sehen. Dennoch haben türkische Mädchen oft ein gering ausgeprägtes<br />
Selbstbewusstsein. Die Angst zu versagen führt aber – an<strong>der</strong>s als bei ihren Brü<strong>der</strong>n<br />
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Zu männlicher und weiblicher <strong>Konfliktbereitschaft</strong>, Gen<strong>der</strong>aspekten und Diversity,<br />
– oft zu psychosomatischen Beschwerden, richtet sich also gegen sie selbst und<br />
nicht als Aggression nach außen.<br />
Für Mädchen mit Migrationshintergund gilt verstärkt, was auch für viele deutsche<br />
Mädchen heute noch gilt. Ihre intellektuellen Kapazitäten werden – vor allem, wenn<br />
Sprachprobleme dazukommen - oft und nicht nur bei <strong>der</strong> Berufswahl übersehen.<br />
„Weibliche“ Fähigkeiten wie Empathie und Teamgeist werden oft negativ als „zu<br />
emotional“ bewertet. Wenn diese Mädchen in <strong>der</strong> Entwicklung ihrer Selbstständigkeit,<br />
Ausdrucks- und Durchsetzungsfähigkeit geför<strong>der</strong>t werden, bieten sie ein großes,<br />
noch zu wenig genutztes Potential an Kompetenzen, die einer Klasse gut tun.<br />
4. Geschlechtsspezifische Gewaltprävention und Diversity<br />
4.1. Wo sind die Potentiale <strong>der</strong> Jungen?<br />
Wir haben in <strong>der</strong> Einleitung schon davon gesprochen, dass Diversity den Fokus nicht<br />
so sehr auf die Benachteiligungen richtet, son<strong>der</strong>n auf die Potentiale, die entwe<strong>der</strong><br />
nicht genutzt o<strong>der</strong> fehlgenutzt werden.<br />
Jungen brauchen eigene positiv besetzte Inhalte, eigene Freiräume und eigene<br />
Methoden, die sie unterstützen, ihre Ängste und negativen Gefühle wie Wut und<br />
Verzweiflung und auch positive Gefühle wie Zuneigung und Mitleid bei sich und<br />
an<strong>der</strong>en wahrzunehmen und zuzulassen. Jungen brauchen die Möglichkeit, unter<br />
einan<strong>der</strong> Wünsche, Probleme, Stärken, Schwächen auszutauschen und ohne Angst<br />
vor Diskriminierung wirklich eigene Interessen zu entwickeln. Die positive Bewertung<br />
kommunikativer, sozialer Kompetenzen und Fähigkeiten zur Konfliktlösung durch das<br />
soziale Umfeld macht es Jungen leichter, sich mit diesen Fähigkeiten auch als<br />
zukünftiger Mann zu identifizieren.<br />
Aber auch die in unserem Zusammenhang oft gescholtenen „männlichen“<br />
Eigenschaften sollten, neu bewertet, zur Identitätsfindung <strong>der</strong> Jungen beitragen.<br />
Prahlen, Coolness und Wettbewerbstreben können eine Form von Selbstmotivation<br />
sein, um „große Projekte“ zu entwerfen. Schule könnte Jungen ein Jungenprojekt<br />
entwerfen lassen. Leistung schafft Selbstwertgefühl, ein hohler Ehrbegriff ist weniger<br />
wichtig.<br />
In Cliquen herumziehen kann ein Zeichen sein für „ich bin in <strong>der</strong> Gruppe handlungsfähiger“<br />
sein. Schule könnte einer Clique eine größere Aufgabe zur<br />
verantwortungsvollen Erledigung übertragen? Verantwortung übernehmen schafft<br />
Autorität, autoritäres Gehabe verliert an Bedeutung.<br />
Bewegungsdrang, Kampfgeist, lautstarkes Verhalten kann ein Zeichen für<br />
Einsatzfreude sein. Schule könnte mit Jungen eine Kampfsportart wie Rugby „Mann<br />
gegen Mann“ trainieren. Regeln einhalten, sich und an<strong>der</strong>en Grenzen setzen und<br />
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Zu männlicher und weiblicher <strong>Konfliktbereitschaft</strong>, Gen<strong>der</strong>aspekten und Diversity,<br />
nach Regeln siegen und verlieren schafft Fairness und Genugtuung. Gewalttätigkeit<br />
ist dann vielleicht nicht mehr nötig.<br />
Eine Jungengruppe muss – bei aller Anerkennung <strong>der</strong> Koedukation - auch häufiger<br />
allein mit einem männlichen Lehrer arbeiten können. Ohne Balz- und Imponiergehabe<br />
können sicher auch Jungen zielgerichteter und konzentrierter arbeiten.<br />
4.2. Wo sind die Potentiale <strong>der</strong> Mädchen?<br />
Viele Mädchen haben ein gutes Potential an sozialen und kommunikativen<br />
Fähigkeiten. Fähigkeiten, Konflikte zu erkennen, zu klären und zu lösen müssen aber<br />
von <strong>der</strong> Gesellschaft, hier von <strong>der</strong> Schule ausdrücklich positiv bewertet werden. In<br />
einem Schulprojekt zur Schulung von Konfliktschlichtern ergab die Ergebnisanalyse,<br />
dass die Aufwertung sprachlicher Fertigkeiten die Position <strong>der</strong> Mädchen deutlich<br />
verbesserte. Im Laufe des Projektes ließen sich ein Drittel <strong>der</strong> Schüler eines<br />
Jahrgangs zu Schlichtern ausbilden, die Hälfte davon Jungen.<br />
Mädchen werden bereits unterstützt und geför<strong>der</strong>t, ihre kognitiven Fähigkeiten, ihre<br />
Leistungsbereitschaft, ihre Energie und Vitalität besser zu nutzen. Durch diese<br />
För<strong>der</strong>programme wurde in den letzten 10 bis 15 Jahre viel erreicht. Dennoch nutzen<br />
immer noch viele Mädchen, vor allem auch Mädchen aus islamischen Elternhäusern,<br />
ihre intellektuellen Fähigkeiten nicht genügend für ihre eigene Lebensplanung.<br />
Auch Mädchen tut es gut, hin und wie<strong>der</strong> ohne Jungen unterrichtet zu werden. In<br />
einer reinen Mädchengruppe entfaltet sich erfahrungsgemäß ein weiteres Spektrum<br />
an Interessen, Bedürfnissen und Fähigkeiten, als <strong>der</strong> koedukative Alltag vermuten<br />
ließe.<br />
5. Ausblick<br />
Eine Erziehung zur Konfliktfähigkeit und zur Gewaltprävention sollte die beson<strong>der</strong>e<br />
Lebenssituation von Jungen und Mädchen berücksichtigen, ebenso ihre ethnischen<br />
Hintergründe. Mädchen und Jungen sollten auch in geschlechtshomogenen Gruppen<br />
lernen können. Stereotype Rollenbil<strong>der</strong> von Jungen und Mädchen sollten durch<br />
vielfältige und offene Lebensentwürfe ersetzt werden, damit kein Jugendlicher für<br />
seinen Lebenspläne hinter seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten zurückbleiben<br />
muss. Die Pädagogik sollte weniger an den Defiziten, son<strong>der</strong>n vielmehr an den<br />
Potentialen ansetzen, um Fähigkeiten zu för<strong>der</strong>n und zu trainieren, die aus Gründen<br />
noch zu starrer o<strong>der</strong> überholter Rollenbil<strong>der</strong> bislang nicht zufriedenstellend genutzt<br />
werden können.<br />
Wir stehen hier nicht etwa am Anfang einer Entwicklung. Es gibt seit Jahren<br />
zahlreiche Projekte, schulintern und län<strong>der</strong>übergreifend, die sich mit Gewaltprävention,<br />
Konfliktlösungsstrategien und inhaltlichen und methodischen Ansätzen<br />
zur Verän<strong>der</strong>ung und Erweiterung <strong>der</strong> Kompetenzen von Jungen und Mädchen<br />
10
11<br />
Kriminologische Studienwoche <strong>der</strong> Universität Hamburg<br />
7. – 11. März 2005<br />
Gewalt in <strong>der</strong> Schule –<br />
Ausprägung, Erklärung, Prävention<br />
Angela Sack-Hauchwitz, Diplom-Soziologin<br />
Zu männlicher und weiblicher <strong>Konfliktbereitschaft</strong>, Gen<strong>der</strong>aspekten und Diversity,<br />
befassen. Wichtig ist hier, mehr als bisher geschehen, dass zur Auswertung und<br />
Analyse <strong>der</strong> Ergebnisse Daten zum sozialen Geschlecht, zum Alter, zum<br />
Kulturhintergrund u.ä. erhoben werden, damit Verän<strong>der</strong>ungen professionell begleitet<br />
werden können.<br />
Die Akteure, die in diesem Feld zum Teil unter schwierigen Umständen arbeiten,<br />
brauchen den Kontakt und die Vernetzung untereinan<strong>der</strong>, den Erfahrungsaustausch,<br />
Anregungen. Sie brauchen nicht nur eine kritische Begleitung, son<strong>der</strong>n auch eine<br />
ausdrückliche Anerkennung ihrer Arbeit.<br />
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen interessanten Verlauf <strong>der</strong> Studienwoche.<br />
11
12<br />
Kriminologische Studienwoche <strong>der</strong> Universität Hamburg<br />
7. – 11. März 2005<br />
Gewalt in <strong>der</strong> Schule –<br />
Ausprägung, Erklärung, Prävention<br />
Angela Sack-Hauchwitz, Diplom-Soziologin<br />
Zu männlicher und weiblicher <strong>Konfliktbereitschaft</strong>, Gen<strong>der</strong>aspekten und Diversity,<br />
6. Literaturhinweise<br />
Sammelbände<br />
Detlev Gause, Heike Schlottau, Hrsg. Jugendgewalt ist männlich, Gewaltbereitschaft<br />
von Mädchen und Jungen, Hamburg 2002<br />
Heike Schlottau, Klaus Waldmann, Hrsg. Mehr als Karriere und Konsum, Jugendliche<br />
auf <strong>der</strong> Suche nach moralischer Orientierung, Bad Segeberg 1995<br />
Jens Weidner, Rainer Kilb, Dieter Kreft, Hrsg., Gewalt im Griff 1: Neue Formen des<br />
Anti-Aggressions-Trainings, Weinheim, 4. Aufl. 2004<br />
Jugend 2002, 14. Shell-Studie, 4. Auflage 2003<br />
Fachzeitschriften<br />
Durchblick, Zeitschrift für Ausbildung, Weiterbildung und berufliche Integration, Heft<br />
Gen<strong>der</strong> Mainstreaming, Nr. 4, 2002, Heidelberger Institut Beruf und Arbeit<br />
Switchboard, Zeitschrift für Männer- und Jungenarbeit, Verlag Männerwege<br />
Heft Gen<strong>der</strong> und Gewalt Nr. 163, 2004,<br />
Heft Gen<strong>der</strong> Mainstreaming, Nr. 153, 2002<br />
Pädagogik, Heft Hilfen gegen Gewalt, Weinheim,Nr. 1, 1999<br />
Maria Lindner u.a. Schulschlichtung – Schlichterschulung, in Die Ganztagsschule,<br />
Heft 4, 1998<br />
Artikel aus Zeitungen<br />
Das Fleisch ist deins, Interview mit Haci Halil Uslucan,<br />
TAZ v. 13.1.2003<br />
Ehre und hohle Männlichkeit, Interview mit Hakan Aslan, TAZ v. 10.2.2003<br />
Mehmet Daigamüler, Türkische Männer müssen umdenken, Die Welt, ohne Datum<br />
Uwe Buse, Aufstand <strong>der</strong> Hormone, Der S-Bahn Schubser,<br />
Der Spiegel Nr. 37/ 2004<br />
Jugendbanden gibt es hier nicht, Osdorfer Born,<br />
Klönschnack Nr. 11/2004<br />
12
13<br />
Kriminologische Studienwoche <strong>der</strong> Universität Hamburg<br />
7. – 11. März 2005<br />
Gewalt in <strong>der</strong> Schule –<br />
Ausprägung, Erklärung, Prävention<br />
Angela Sack-Hauchwitz, Diplom-Soziologin<br />
Zu männlicher und weiblicher <strong>Konfliktbereitschaft</strong>, Gen<strong>der</strong>aspekten und Diversity,<br />
Jochen Bölsche, „Mann, sind die Sterne geil“, Böse Buben, kranke Knaben, Spiegelonline<br />
v.11.10.2002<br />
Broschüren und Handreichungen<br />
Hinweise zu Gewaltvorfällen in Schulen, interne Handreichung <strong>der</strong> Behörde für<br />
Bildung und Sport, o.J.<br />
Zur Verbesserung <strong>der</strong> Streitkultur in den Schulen, För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Konfliktfähigkeit,<br />
Gesamtschule Grellkamp, o.J.<br />
Gewalt in <strong>der</strong> Schule, Behörde für Bildung und Sport, Hamburg 2002<br />
Günther Gugel, Mobbing, Themenblätter zum Unterricht, Bundeszentrale für<br />
politischen Unterricht, Bonn 2002<br />
13
14<br />
Kriminologische Studienwoche <strong>der</strong> Universität Hamburg<br />
7. – 11. März 2005<br />
Gewalt in <strong>der</strong> Schule –<br />
Ausprägung, Erklärung, Prävention<br />
Angela Sack-Hauchwitz, Diplom-Soziologin<br />
Zu männlicher und weiblicher <strong>Konfliktbereitschaft</strong>, Gen<strong>der</strong>aspekten und Diversity,<br />
7. Kurzlebenslauf<br />
Angela Sack-Hauchwitz<br />
Diplom-Soziologin (Universität Hamburg 1972)<br />
Studiendirektorin in <strong>der</strong> Erwachsenenbildung (seit 1993)<br />
Erstes Standbein<br />
Zweites Standbein<br />
1972 – 1977<br />
Leiterin des <strong>Fachbereich</strong>s Deutsch als<br />
Fremdsprache an <strong>der</strong> Hamburger<br />
Volkshochschule<br />
1977 – 1994<br />
Leiterin <strong>der</strong> Volkshochschule West in Hamburg<br />
1994 – heute<br />
1970 – 1977<br />
Kursleiterin für Deutsch als Fremdsprache<br />
1977 – 1995<br />
Seminarleiterin zu den Themenbereichen<br />
Kommunikation, Konfliktlösung<br />
Hamburger Volkshochschule, Friedrich-Ebert-<br />
Stiftung Ahrensburg, Ev. Akademie Bad Segeberg<br />
und 1991 - 1992 Volkshochschule Schwerin<br />
1985 – 1998<br />
Referentin in <strong>der</strong> Behörde für Bildung und Sport,<br />
zuständig unter an<strong>der</strong>em für Konzepte und<br />
Projekte zur Stadtteilentwicklung und zur<br />
Berufsorientierung, zu Fragen von Gen<strong>der</strong><br />
Mainstreaming und Diversity<br />
Lehrbeauftragte an <strong>der</strong> Fachhochschule für<br />
Elektrotechnik und Elektronik Hamburg im<br />
Wahlpflichtbereich zu den Themenbereichen<br />
Kommunikation und Projektmanagement<br />
2003<br />
Gründung <strong>der</strong> Agentur für kulturelle<br />
Kommunikation mit den Ziel, die Aktivitäten zu<br />
Gen<strong>der</strong> / Diversity im Hamburger Raum zu<br />
vernetzen - siehe http://www.arbeitskreis-gen<strong>der</strong>diversity.de<br />
- und den Lernbereich Kommunikation<br />
durch neue Blended Learning Konzepte zu<br />
ergänzen.<br />
14
15<br />
Der Teufelskreis <strong>der</strong> Gewalt<br />
Dr. med. Hubertus Adam<br />
Klinik für Kin<strong>der</strong>- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
16<br />
Peter Fonagy, 1998<br />
‣ Es wird allgemein anerkannt, dass Aggression<br />
nicht von sich aus pathologisch ist und<br />
durchaus Teil eines gesunden mentalen<br />
Zustandes sein kann. Sie hat durchdringenden<br />
Einfluss auf viele alltägliche Handlungen<br />
‣ auf das Konkurrenzverhalten<br />
‣ auf die Humorentwicklung<br />
‣ auf das Verhalten beim Sport<br />
‣ auf die Phantasietätigkeit<br />
tigkeit<br />
‣ Aggression kann auch beschützend wirken
17<br />
Gewalt<br />
‣ Schiprowski, , 1993<br />
‣ Physische Gewalt<br />
‣ Psychische Gewalt<br />
‣ Verbale Gewalt<br />
‣ Vernachlässigung<br />
‣ Sexuelle Gewalt<br />
‣ Frauenfeindliche Gewalt<br />
‣ Fremdenfeindliche Gewalt<br />
‣ Ratzke et al., 1997<br />
‣ Gewaltbereites Verhalten als „soziale Krankheit“<br />
‣ Ursprungsort <strong>der</strong> Konflikte nicht identisch mit dem Ort <strong>der</strong> Gewaltäußerung<br />
erung<br />
‣ Gewaltbereites Verhalten als Möglichkeit M<br />
<strong>der</strong> Konfliktlösung
18<br />
Die kindliche Entwicklungslinie<br />
Symptomatik Intervention<br />
Entwicklungsschwierigkeiten<br />
Bewältigungsversuche<br />
Traumatische<br />
Situationen<br />
Entwicklungsaufgaben<br />
Schule und Beruf<br />
Peer group<br />
Eltern und Familie<br />
Säugling<br />
Kleinkind<br />
Vorschulkind<br />
Schulkind<br />
Jugendliche/r<br />
junge/r<br />
Erwachsene/r
19<br />
Neue Ergebnisse <strong>der</strong> Neurobiologie und<br />
Entwicklungspsychologie zu Aggressivität und<br />
Konfliktfähigkeit<br />
‣ In <strong>der</strong> ersten Hälfte H<br />
des ersten Lebensjahres (ab<br />
ca. dem 2. Monat) können k<br />
Zeichen von Ärger<br />
–<br />
mit dem Ziel <strong>der</strong> Überwindung eines<br />
Hin<strong>der</strong>nisses, das im Wege steht, d.h. also als<br />
Folge einer Frustration zielgerichteter<br />
Handlungen – beobachtet werden.<br />
‣ Hass = intrapsychische, stabile Konfiguration<br />
chronischer Feindseligkeit (erst ab ca. 18<br />
Monaten)
20<br />
Neue Ergebnisse <strong>der</strong> Neurobiologie und<br />
Entwicklungspsychologie zu Aggressivität und<br />
Konfliktfähigkeit<br />
‣ Zwischen dem 9. und 18. Monat wird <strong>der</strong> Ärger<br />
(Kratzen, Schlagen, Treten, Schubsen,<br />
Spielzeug-Wegnehmen) objektgerichteter.<br />
‣ Ärger ist meist situativ (d.h. reaktiv auf<br />
Frustration o<strong>der</strong> Schmerz) determiniert.<br />
Verletzungsabsichten stellen keinen integralen<br />
Bestandteil dieser Handlungen dar, können k<br />
aber<br />
beobachtet werden.
21<br />
Neue Ergebnisse <strong>der</strong> Neurobiologie und<br />
Entwicklungspsychologie zu Aggressivität und<br />
Konfliktfähigkeit<br />
‣ Zwischen dem 12. und dem 18. Monat können k<br />
sich in den aggressiven Handlungen auch erste<br />
absichts- und lustvolle sadistische Komponenten<br />
zeigen.<br />
‣ Zwischen dem 18. und 36. Monat steht <strong>der</strong><br />
Besitz von Gegenständen nden o<strong>der</strong> die in<br />
Anspruchnahme von Zuwendung bei den<br />
meisten Auseinan<strong>der</strong>setzungen im Zentrum.<br />
‣ Jungen reagieren physisch aggressiver als<br />
Mädchen.
22<br />
Neue Ergebnisse <strong>der</strong> Neurobiologie und<br />
Entwicklungspsychologie zu Aggressivität und<br />
Konfliktfähigkeit<br />
‣ Feindselige Aggressivität t als charakterliche<br />
Eigenschaft existiert bereits im 2. Lebensjahr,<br />
verfestigt sich und zeigt eine hohe Persistenz im<br />
Laufe <strong>der</strong> weiteren Entwicklung.<br />
‣ Es besteht ein weitgehen<strong>der</strong> Konsens darüber,<br />
dass feindselig-destruktives destruktives Verhalten wie auch<br />
dessen Chronifizierung das Ergebnis eines mehr<br />
o<strong>der</strong> weniger lieblosen Umgangs mit dem Kind<br />
ist.
23<br />
Neue Ergebnisse <strong>der</strong> Neurobiologie und<br />
Entwicklungspsychologie zu Aggressivität und<br />
Konfliktfähigkeit<br />
‣ Angeboren dürfte d<br />
allenfalls die Möglichkeit M<br />
sein,<br />
destruktive Impulse zu entwickeln.<br />
Beziehungserfahrungen in <strong>der</strong> Kindheit legen<br />
diesbezüglich weitgehend fest, wie viel feindselig-<br />
destruktives Potential entwickelt wird.<br />
‣ Sicher gebundene Kin<strong>der</strong> sind weniger aggressiv,<br />
desorganisierte zeigen mehr Feindseligkeit.<br />
‣ Der Zusammenhang zwischen Erziehung und<br />
Aggressivitätsentwicklung tsentwicklung hat sowohl bei gesunden<br />
als bei kranken Kin<strong>der</strong>n Gültigkeit. G
24<br />
Neue Ergebnisse <strong>der</strong> Neurobiologie und<br />
Entwicklungspsychologie zu Aggressivität und<br />
Konfliktfähigkeit<br />
‣ Aggessives Handeln vermittelt ein gehobenes Gefühl<br />
, eine Art narzisstischer Lust.<br />
‣ Destruktive Aggressivität, t, lustvolle Feindseligkeit und<br />
sadistisch gefärbte Handlungen sind erheblich von<br />
sozialen und situativen Umständen abhängig.<br />
Es gibt soziale Determinanten, atmosphärische<br />
‣ Es gibt soziale Determinanten, atmosph<br />
Beson<strong>der</strong>heiten und Klimata<br />
Klimata, , die Gewalt beför<strong>der</strong>n. 5<br />
Jahre nach einem Krieg liegen die Zahlen für f<br />
Gewaltverbrechen klar höher h her als 5 Jahre vor dem<br />
Krieg<br />
Krieg (Lore / Schultz, 1993).
25<br />
Schlussfolgerung<br />
Hintergrund<br />
generelle Einstellung <strong>der</strong> Eltern zum Kind<br />
Psychische und körperliche Verfassung <strong>der</strong> Eltern<br />
Sozioökonomische Bedingungen<br />
Temperament des Kindes<br />
Vor<strong>der</strong>grund<br />
aktuelles Geschehen<br />
befriedigende +<br />
frustrierende Erfahrungen
26<br />
Risikofaktoren<br />
Äußere Risikofaktoren<br />
Kindliche<br />
Risikofaktoren<br />
Schlussfolgerung<br />
„missing link“ Manifestierung<br />
psychischer Störung<br />
Beziehungserfahrung<br />
Beziehungsgestaltung
27<br />
Schlussfolgerung<br />
‣ Die meisten psychischen Fehlentwicklungen sind<br />
verknüpft mit einer unzureichenden Fähigkeit F<br />
zu<br />
innerseelischen und interpersonalen<br />
Konfliktlösungen, d.h. solchen, die an<strong>der</strong>e Ich-<br />
Funktionen wesentlich beeinträchtigen.<br />
‣ Psychotherapie erleichtert die Umwandlung<br />
primitiv-aggressiver Strebungen in differenziertere<br />
Formen.
28<br />
Traumatische Situation<br />
Primäre Schutzmechanismen eines Kindes versagen,<br />
es entsteht eine bedrohliche Hilflosigkeit,<br />
schließlich:<br />
• psychobiologisch sinnvolle Alarmreaktionen<br />
• Symptome als Bewältigungsversuch
29<br />
Definition: psychisches Trauma<br />
„Vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen<br />
Situationsfaktoren und individuellen<br />
Bewältigungsmöglichkeiten, welches mit dem<br />
Gefühl <strong>der</strong> Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe<br />
einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung<br />
von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.“<br />
(Fischer und Riedesser, 1999)
30<br />
… dann ist das<br />
Dach kaputt!<br />
Suher, 12 Jahre, Kosovo
31<br />
Prädiktoren I: Art des Traumas<br />
Zunahme<br />
des<br />
pathogenen<br />
Effekts<br />
A. Naturkatastrophen<br />
B. von Menschen induziert<br />
1. technische Katastrophen<br />
2. organisierte Gewalt<br />
3. familiäre Gewalt<br />
(McNally, 1992; Yule, 1994)
32<br />
Prädiktoren II<br />
Unmittelbare Reaktion und spätere pathogene<br />
Effekte hängen ab von:<br />
• <strong>der</strong> Gefahr für die eigene Person und dem Grad <strong>der</strong><br />
Involviertheit (Yule, 1990)<br />
• <strong>der</strong> Nähe zu Tod und Verletzung an<strong>der</strong>er (Kaplan, 1994)<br />
• <strong>der</strong> Dauer <strong>der</strong> traumatischen Situation (Terr, 1983)<br />
• den individuellen Coping-Ressourcen (Pynoos, 1995)
33<br />
Folgen von<br />
Krieg<br />
Karole, 9 Jahre,<br />
Elfenbeinküste
34<br />
Symptome I<br />
Posttraumatische Belastungsstörung:<br />
• Arousal (Hypervigilanz, übermäßige Schreckreaktion,<br />
motorische Hyperaktivität, Schlafstörungen, Albträume)<br />
• Intrusion (Einbrechen von traumatischen Erinnerungen in das<br />
Bewusstsein, getriggert durch Schlüsselreize)<br />
• Numbing (Abstumpfung, Dissoziation, Vermeidung)
35<br />
Der Vulkan<br />
Edrin, 10 Jahre,<br />
Bosnien
36<br />
Symptome II<br />
Störungen von Basisfunktionen<br />
• funktionelle Störungen, Essstörungen<br />
„Kulturwechselsyndrome“<br />
• Anpassungsstörungen, Mutismus, „Nostalgia“<br />
Verhaltensstörungen<br />
• regressives, aggressives Verhalten<br />
Intrapsychische Konflikte<br />
• Schuldgefühle, archaische Abwehrmechanismen
37<br />
Therapeutische Aspekte<br />
Sicherheit und Schutz<br />
Neugier + Selbstkritik des Therapeuten<br />
Integration in das altersgemäße kindliche<br />
Weltbild<br />
Korrektive therapeutische Beziehungserfahrung<br />
Ressourcenorientiertes Arbeiten mit Umwelt +<br />
Familie<br />
Anbindung an prätraumatische positive<br />
Erfahrungen<br />
Versöhnungsarbeit
38<br />
Supermann<br />
Ramin, 10 Jahre,<br />
Afghanistan
39<br />
Vielen Dank
40<br />
Jugendliche Amokläufer aus entwicklungspsychologisch<br />
-psychiatrischer Perspektive<br />
Prof. Dr. Dr. Reinhart Lempp<br />
(Stuttgart)<br />
Amokläufer sind lt. Wörterbuch :<br />
Malayiische Inseln – plötzliche Bewegungsstörung mit<br />
Mordtrieb – Epilepsie, Katatonie<br />
Neuere Kriminologie – keine Eintragung<br />
Handbuch <strong>der</strong> forensischen Psychiatrie (Göppinger, Witter)<br />
1972: unter psychogene Ausnahmezustände.<br />
Definition Lothar Adler – ref. S.Schildbach –<br />
Serienmör<strong>der</strong> – in zeitl. Abstand, an verschiedenen<br />
Orten – <strong>der</strong> erste oft zufällig, ungeplant, aus Affekt. Die<br />
weiteren<br />
Massenmör<strong>der</strong> – am gleichen Ort u. gleichzeitig –<br />
wahllose Opfer<br />
Amokläufer- keine Kurzschlusshandlung – Kränkung –<br />
Depression - in dissoziativem Zustand – wie im „Trance“ –<br />
Suicid o<strong>der</strong>e langer SchlaF – keine Erinnerung<br />
Bezeichnung „Amokläufer“ – erweitert – ungenau:<br />
Plötzliche, unmotivierte, wahllose Tötung zufällig<br />
Anwesen<strong>der</strong> – oft Suicid
41<br />
2<br />
Gilt so nicht für School Shotings!<br />
Überraschend – aber klar motiviert, geplant - gezielte<br />
Tötung – oft Suicid<br />
Es gibt auch Amoktaten: außerhalb <strong>der</strong> Schule<br />
- 1.11.99 Bad Reichenhall Martin Peyerl 16. Vater hat 20<br />
Schusswaffen<br />
Hauskatze, Schwester, 43 Schüsse aus dem Fenster 2<br />
Tote , 8 verletzt – Suicid<br />
- 12.2.02 „Maskenmör<strong>der</strong>“ Gersthofen durch den<br />
Jugendlichen Michael Weinhold<br />
Opfer. Das ihm unbekannte 12 jährige Kind Vanessa<br />
durch Messerstiche<br />
In <strong>der</strong> Schule : gezielter Aggression gegen Lehrer –<br />
Lehrerinnen<br />
Mitschüler – Sekretärin – eher „Kollateralschaden“.<br />
Was ist Aggressivität?<br />
Das lateinische aggredi umfasst das freundliche auf jemand<br />
zugehen, in Angriff nehmen sich zuwenden ebenso wie<br />
das feindliche Angreifen<br />
aggressiv - in Psychologie und umgangssprachlich weit<br />
gefasst,<br />
von Haltung – Sprechen - .Sport mit Regeln bis<br />
Schlagen und Töten
42<br />
3<br />
Bei <strong>der</strong> Suche nach dem Motiv <strong>der</strong> Aggressivität ist eine<br />
Einschränkung des Begriffs nötig –<br />
Handlung mit Schädigungsabsicht: - körperlicher<br />
Schädigung.<br />
Dann gilt: Die Ursache je<strong>der</strong> so definierten Aggression ist<br />
Angst.<br />
Analogie zum Säugetier. Bei konkreter Gefahr (einschl.<br />
Hunger)<br />
– Flucht o<strong>der</strong> Aggression<br />
Beispiel: stärkerer Feind - Platzhirsch gegen Rivalen –<br />
= Angst um Existenz – (kritischer Abstand) –<br />
Angst vor Machtsverlust.<br />
Beim Menschen ist es ebenso<br />
Unterschied. Er kann sich seine Zukunft vorstellen –<br />
virtuelle Gefahr<br />
- keine Fluchtmöglichkeit – nur Aggression gegen schwächere<br />
–Vandalismus<br />
Entwicklung von Nebenrealität und Hauptrealität<br />
Kindl. Egozentrismus – Überstieg<br />
Bedeutung <strong>der</strong> NR – Entlastung, vorübergehende<br />
Wunschtraumerfüllung<br />
Aber auch – Angst und Bedrohung<br />
- auch Voraussetzung für Kunst
43<br />
4<br />
Leben in zwei Realitätsebenen<br />
Vor dieser Angst ist keine Flucht möglich – nur Drogen, NR –<br />
Suicid<br />
NR geeignet um Selbstwertschwäche auszugleichen<br />
Vorstellungen von eigener Macht, Stärke und Fahigkeit<br />
Narzismus – Selbstverliebt, eigene Mängel überdecken<br />
Stabilisierung <strong>der</strong> NR durch Video-Medien<br />
Beson<strong>der</strong>e Wirksamkeit und Prägung visueller Eindrücke<br />
gegenüber verbalen (gehörten. Gelesenen) Videokunst -<br />
suchtartig<br />
Überstieg nach emot. Film<br />
Individuelle Neigung zu Überstiegsverlust –<br />
Realitätsverlust<br />
Bor<strong>der</strong>line ? – pubertär – nachpubertär ?<br />
Die subjektiv erlebte Situation jugendlicher Amokläufer<br />
Kränkung – subj. Ausweglose Situation<br />
Selbstwertunsicherheit – Zukunftsängste Angst ⇒<br />
Aggression
44<br />
5<br />
Robert Steinhäuser – von <strong>der</strong> Schule gewiesen – Eltern<br />
wissen nichts davon – Verbot, es den Eltern mitzuteilen<br />
(inzwischen durch höchstrichterl.Position fixiert)<br />
Eine subjektiv auswegslose Situation<br />
Selbstwertkrise besteht schon lange<br />
Schon lange Pflege <strong>der</strong> selbstwerterhöhenden<br />
Nebenrealität<br />
Schießverein – Aggressionsfantasien gegen <strong>der</strong> Bösen<br />
Der Böse ist die Schule – die Lehrer<br />
Diese Pflege macht kein schlechtes Gewissen – ist ja nur<br />
Fantasie<br />
An<strong>der</strong>e Beispiele. Friedensflieger Manfred Rust<br />
Nach Amoklauf erweckt diese lang zurückreichende Pflege<br />
den<br />
Verdacht auf systematische Vorbereitung <strong>der</strong> Tat –<br />
Irrtum<br />
Plötzlicher – o<strong>der</strong> allmählicher ?? Verlust des<br />
Realitätsbezugs – <strong>der</strong> Fähigkeit zum Überstieg<br />
Ebenso plötzliche Rückkehr zur Realität - Grund zum<br />
Suicid – nicht zu bewältigende Situation<br />
Beispiel Robert Steinhäuser – Lehrlinge? – Polizist<br />
?– Lehrer Heise?
45<br />
6<br />
Das gilt für alle (jugendlichen? ) Amokläufer:<br />
Anhaltende Selbstwertkrise – mit o<strong>der</strong> ohne<br />
Narzismus – Training in NR<br />
- Sich zuspitzende nicht zu bewältigende Situation –<br />
- Plötzlicher Realitätsbezugsverlust – Plötzliche<br />
Rückkehr in die HR –<br />
Endgültig nicht zu bewältigende Situation – möglicher<br />
Suicid<br />
Beson<strong>der</strong>e Bedingung <strong>der</strong> Tat zu zweit – gleiches Muster –<br />
aber gegenseitige Verstärkung – gemeinsame NR –folie a<br />
deux<br />
Eigene Einstellung zur Tat<br />
Eigentliche psychotische - schizophrene Handlung<br />
Können sich mit <strong>der</strong> eigenen Tat nicht identifizieren –<br />
möchten nicht akzeptieren, das sie etwas tun, was sie – realiter<br />
- nicht tun wollen<br />
Verstehen ihre eigene Handlung nicht –<br />
Fall versuchter Bru<strong>der</strong>mord – Romeo u. Julia-<br />
Überidentifikation<br />
Wahrscheinlich sind solche NR-Handlungen viel häufiger –<br />
werden nur bekannt, wenn etwas Kriminelles –<br />
Aufsehenerregendes - geschieht.-
46<br />
7<br />
Zwei Typen – sich überschneidend:<br />
Bor<strong>der</strong>line Typ - spezielle Persönlichkeitsstörung ICD 10<br />
F.60.31<br />
Gibt es puberal – postpuberal passager<br />
- Tat steht im Wi<strong>der</strong>spruch zum bisherigen Verhalten des<br />
Täters<br />
- Tat ist auch für den Täter nicht verständlich<br />
- Täter distanziert sich nachdrücklich von seiner Tat ohne<br />
sie zu bestreiten (Splitting)<br />
- Täter ist nach <strong>der</strong> Tat psychisch unauffällig (abgesehen<br />
von <strong>der</strong> Reaktion auf seine Tat)<br />
- Verdeckungshandlungen sind möglich (z.B., sekundärer<br />
Raub)<br />
- Unerzwungene Vermeidung <strong>der</strong> letzten Konsequenz <strong>der</strong><br />
Tat (Mordversuch statt Mord).<br />
Von Bildmedien inspirierte Täter<br />
- Tat ist Antwort auf vermeintliche o<strong>der</strong> tatsächliche<br />
Selbstwertkränkung<br />
- Tat geht eine längere Zeit <strong>der</strong> Identifizierung mit einer<br />
selbstwerterhöhenden Rolle, unterstützt durch<br />
Bildmedien, voraus<br />
- Tat wird – zunächst spielerisch - geplant und vorbereitet<br />
- Tat hat ein offensichtliches Motiv, ist aber<br />
unverhältnismäßig<br />
- Tat ist nicht persönlichkeitsfremd<br />
- Tat endet meist mit Selbstmord<br />
Was ist zu tun? Gibt es eine Prophylaxe?
47<br />
8<br />
Im Einzelfall:<br />
Sich um mögliche Problemfälle kümmern - Hilfe<br />
anbieten – damit NR unnötig – Aggressionen abbauen<br />
Amoktendenzen unmöglich machen.<br />
Fiktive Vorbereitungen aufspüren<br />
- Psychotherapie<br />
Schwierig, da <strong>der</strong> Betroffene verdrängt – sich gut fühlt<br />
s. Gersthofen – bekam einen Preis vor <strong>der</strong> Tat.<br />
Im Allgemeinen:<br />
Schulsozialarbeit (Beispiel USA NY)<br />
Einschlägige Videospiele verbieten – Stop to teach our<br />
kids to kill<br />
-Argumentation <strong>der</strong> Hersteller. Seltene Einzelfälle –<br />
Pharmakologie!<br />
Verbot nicht durchsetzbar – beson<strong>der</strong>er Anreiz<br />
Selbstbewußtsein stärken<br />
Individuelle Fähigkeiten aufspüren - entwickeln<br />
Bildungssystem kränkt den Selbstwert eines Drittels <strong>der</strong><br />
Kin<strong>der</strong> durch Zeugnishierarchie – fehlende<br />
Erfolgserfahrungen<br />
Angstabbau – in Schule wie in Politik
48<br />
9<br />
Gewalt in <strong>der</strong> Schule<br />
Im Übrigen:<br />
Prof. Pfeiffer, Hannover<br />
– Aggression Jugendlicher geht seit 1997 zurück<br />
Kulturelle Unterschiede – daheim mehr Gewalt als<br />
iun <strong>der</strong> Schule<br />
Das Klassenzimmer ist <strong>der</strong> sicherste Ort<br />
Lösel: Wenige, die mehr Aggressionen zeigen.
67<br />
Auswirkungen von Schulschießereien<br />
auf Opfer und Umfeld<br />
Georg Pieper<br />
ITB<br />
Institut für Traumabewältigung<br />
© ITB Pieper 1
68<br />
Auswirkungen von Schulschießereien<br />
auf Opfer und Umfeld<br />
… an zwei Beispielen<br />
• Der Lehrerinnenmord in Meissen vom 9. November 1999<br />
• Der Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium<br />
vom 26. April 2002<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 2
69<br />
Teil 1:<br />
Der Mord an einer Lehrerin<br />
des Gymnasiums Franziskaneum,<br />
Meissen, 9. November 1999<br />
© ITB Pieper 3
70<br />
Betroffenen-Gruppen<br />
• Die Schüler <strong>der</strong> Klasse 9, die direkte Zeugen des Mordes waren<br />
• Die Lehrer, die direkt mit <strong>der</strong> sterbenden Kollegin konfrontiert waren<br />
• Schüler <strong>der</strong> Schule, die auf dem Flur mit <strong>der</strong> getöteten Lehrerin<br />
konfrontiert worden waren<br />
• Hausmeister, die das Blut des Opfers im Klassenzimmer und auf<br />
dem Flur wegwischen mussten<br />
• Das gesamte Lehrerkollegium des Gymnasiums Franziskaneum<br />
• Die Eltern <strong>der</strong> Schüler aus Klasse 9<br />
• Die Familie des Täters<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 4
71<br />
Betroffenen-Gruppe 1: Schüler <strong>der</strong> Klasse 9,<br />
die Augenzeugen des Mordes waren<br />
• Traumatische Stressoren<br />
(A) Konfrontation mit <strong>der</strong> Tat<br />
– Eindringen des Täters in die Klasse<br />
– Maskierung des Täters<br />
– Die Messer<br />
– An die Tafel spritzendes Blut<br />
– Schreie <strong>der</strong> Lehrerin<br />
– Konfrontation mit <strong>der</strong> stark blutenden sterbenden Lehrerin<br />
– Entsetzen, Panik, Todesangst, selber angegriffen zu werden<br />
(B) Konfrontation mit den Folgen <strong>der</strong> Tat<br />
– lange Blutspur auf dem Flur<br />
– zugedeckte Leiche<br />
– Konfrontation mit fassungslosen, weinenden, hilflosen Lehrern<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 5
72<br />
Betroffenen-Gruppe 1: Schüler <strong>der</strong> Klasse 9,<br />
die Augenzeugen des Mordes waren (Forts.)<br />
• Typische Reaktionen<br />
– Angst und Verunsicherung in <strong>der</strong> Schule; sich dort nicht<br />
mehr sicher fühlen<br />
– Wie<strong>der</strong>kehrende quälende Bil<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Tat, z.B. von <strong>der</strong><br />
verletzten, schreienden Lehrerin<br />
– Ein- und Durchschlafstörungen, Albträume, Konzentrationsstörungen<br />
und Leistungsabfall<br />
– Hypervigilanz, starke Anspannung, Unruhe<br />
– Starke Schreckreaktionen bei plötzlichem Öffnen <strong>der</strong> Klassentür<br />
– Emotionale und physiologische Reaktionen bei Konfrontation mit<br />
schwarz gekleideten Personen<br />
– Schuldgefühle, nicht auf die Ankündigungen des Mitschülers<br />
reagiert und das Ereignis verhin<strong>der</strong>t zu haben<br />
– Gefühl, niemandem mehr trauen zu können<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 6
73<br />
Betroffenen-Gruppe 2: Lehrer, die mit<br />
<strong>der</strong> sterbenden Kollegin konfrontiert waren<br />
• Traumatische Stressoren<br />
– Hören von lauten Schreien<br />
– Konfrontation mit <strong>der</strong> stark blutenden sterbenden Kollegin<br />
– Hilflosigkeit beim Versuch, sie zu retten<br />
– Konfrontation mit dem Täter, <strong>der</strong> nah an ihnen vorbeilief<br />
– lange Blutspur auf dem Flur<br />
– fassungslos, verwirrt und voller Angst, wie<strong>der</strong> vor die Klasse<br />
treten zu müssen<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 7
74<br />
Betroffenen-Gruppe 2: Lehrer, die mit<br />
<strong>der</strong> sterbenden Kollegin konfrontiert waren (Forts.)<br />
• Typische Reaktionen<br />
– Ängste in die Schule zu gehen und vor <strong>der</strong> Klasse zu stehen<br />
– Ängste vor Schülern, sich in <strong>der</strong> Schule nicht mehr sicher fühlen<br />
– Überlegungen, welcher Schüler zu einer solchen Tat fähig wäre<br />
– Schuldgefühle, <strong>der</strong> Kollegin nicht geholfen zu haben<br />
– Schlafstörungen, Albträume, Konzentrationsstörungen<br />
– Hypervigilanz, dauernde Anspannung, Schreckhaftigkeit<br />
– Vermeidung <strong>der</strong> Stelle im Flur, an <strong>der</strong> die Kollegin verstarb<br />
– Körperliche Beschwerden (Herz-Kreislaufprobleme, Magenbeschwerden,<br />
Kopfschmerzen, allgemeine Kraftlosigkeit)<br />
– in Frage stellen <strong>der</strong> eigenen Berufstätigkeit („ein Lehrerleben<br />
scheint nichts wert zu sein“)<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 8
75<br />
Betroffenen-Gruppe 3: Schüler, die mit<br />
<strong>der</strong> getöteten Lehrerin konfrontiert waren<br />
• Traumatische Stressoren<br />
– Hören von lauten Schreien<br />
– Konfrontation mit <strong>der</strong> stark blutenden sterbenden Lehrerin<br />
– Konfrontation mit fassungslosen, weinenden, hilflosen Lehrern<br />
– Konfrontation mit dem Täter, <strong>der</strong> nah an ihnen vorbeilief<br />
– lange Blutspur auf dem Flur<br />
• Typische Reaktionen<br />
– Ängste, in die Schule zu gehen<br />
– Misstrauen gegenüber Mitschülern;<br />
Fragen, wer zu einer solchen Tat fähig wäre<br />
– Schuldgefühle<br />
– Wut auf die Schüler, die über die Tat informiert waren<br />
– Schlafstörungen, Albträume, Konzentrationsstörungen<br />
– Hypervigilanz, dauernde Anspannung<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 9
76<br />
Betroffenen-Gruppe 4: Hausmeister, die den<br />
Tatort reinigen mussten<br />
• Traumatische Stressoren<br />
– Hören von lauten Schreien<br />
– Konfrontation mit fassungslosen, weinenden, hilflosen<br />
Lehrern und Schülern<br />
– Aufgabe, die lange Blutspur auf dem Flur wegwischen<br />
und das Klassenzimmer reinigen zu müssen<br />
• Typische Reaktionen<br />
– Sich unwohl und bedroht fühlen in <strong>der</strong> Schule<br />
– Misstrauen gegenüber den Schülern<br />
– Wut auf die Schüler, die über die Tat informiert waren<br />
– Schlafstörungen, Albträume, Konzentrationsstörungen<br />
– Hypervigilanz, dauernde Anspannung, erhöhter Alkoholkonsum<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 10
77<br />
Betroffenen-Gruppe 5: Das Lehrerkollegium<br />
des Gymnasiums<br />
• Traumatische Stressoren<br />
– Indirekte Konfrontation mit dem Ereignis durch den Aufruhr<br />
in <strong>der</strong> Schule<br />
– Indirekte Konfrontation mit dem Ereignis über die Medien<br />
– Konfrontation mit erschütterten Kollegen, und verstörten<br />
Schülern, die das Ereignis direkt miterlebt hatten<br />
• Typische Reaktionen<br />
– Ängste, in die Schule zu gehen; Unsicherheit gegenüber Schülern<br />
– Wut auf die Schüler, die über die Tat informiert waren<br />
– Schlafstörungen, Albträume, Konzentrationsstörungen<br />
– Hypervigilanz, dauernde Anspannung<br />
– Angst, es könne wie<strong>der</strong> etwas passieren in <strong>der</strong> Schule<br />
– Hinterfragen <strong>der</strong> eigenen Rolle als Lehrer, <strong>der</strong> von <strong>der</strong><br />
Gesellschaft nicht genügend geschützt wird<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 11
78<br />
Betroffenen-Gruppe 6: Die Eltern <strong>der</strong><br />
Schüler <strong>der</strong> Klasse 9<br />
• Traumatische Stressoren<br />
– Indirekte Konfrontation mit dem Ereignis über die Medien<br />
– Konfrontation mit ihren verstörten Kin<strong>der</strong>n, die das Ereignis<br />
direkt miterlebt hatten<br />
• Typische Reaktionen<br />
– Ängste um das Wohlergehen ihrer Kin<strong>der</strong><br />
– Verunsicherung wegen <strong>der</strong>en Mitwisserschaft und Angst<br />
vor Konsequenzen<br />
– Angst, es könne wie<strong>der</strong> etwas passieren in <strong>der</strong> Schule<br />
– Verunsicherung über den richtigen Umgang mit ihren<br />
(traumatisierten) Kin<strong>der</strong>n<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 12
79<br />
Betroffenen-Gruppe 7: Die Familie des Täters<br />
• Traumatische Stressoren<br />
– Indirekte Konfrontation mit dem Ereignis über die Polizei<br />
– Bedrängung durch die Medien<br />
• Typische Reaktionen<br />
– Unverständnis ihrem eigenen Sohn gegenüber<br />
– Schuldgefühle, Verzweiflung<br />
– Verleugnung <strong>der</strong> Verantwortlichkeit<br />
– sozialer Rückzug, Ablehnung von Hilfsangeboten<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 13
80<br />
Gruppeninterventionen für Lehrer & Angestellte<br />
• Beginn zwei Monate nach dem Ereignis<br />
• kognitive Aufarbeitung des Ereignisses<br />
• Wi<strong>der</strong>stand gegen Bearbeitung <strong>der</strong> emotionalen Ebene<br />
in <strong>der</strong> Gruppe<br />
• keine über Monate bestehende Gruppe – Auflösung<br />
nach fünf Sitzungen<br />
> Grund: Exponierte Position<br />
(Angst vor Souveränitätsverlust gegenüber Kollegen &<br />
Schülern; Problem Schulleitung & Schulbehörde;<br />
DDR-Sozialisation)<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 14
81<br />
Gruppeninterventionen für Schüler<br />
• Klasse, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Mord geschehen war, am stärksten<br />
betroffen<br />
• starkes Bedürfnis <strong>der</strong> Schüler, über einzelne Aspekte des<br />
Ereignisses ausführlicher zu sprechen<br />
• große Breitschaft, im Klassenverband offen über die<br />
eigene Betroffenheit zu reden (erlebte Hilflosigkeit,<br />
Ängste, Fassungslosigkeit)<br />
> Gründe: Selbstversicherung und gegenseitige Entlastung<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 15
82<br />
Gruppeninterventionen<br />
Lehrer & Angestellte vs. Schüler<br />
Phase Lehrer Schüler<br />
1. Faktenphase 2 Sitzungen 3 Sitzungen<br />
2. Reaktionsphase I 1 Sitzung 1 Sitzung<br />
3. Reaktionsphase II 1 Sitzung 1 Sitzung<br />
4. Reaktionsphase III entfällt 1 Sitzung<br />
5. Symptomphase entfällt 1 Sitzung<br />
6. Psychoedukation 1 Sitzung 1 Sitzung<br />
7. Trauerarbeit entfällt 1 Sitzung<br />
8. Voneinan<strong>der</strong> lernen entfällt 3-4 Sitzungen<br />
9. Symptombehandlung entfällt 2 Sitzungen<br />
10.Umgang mit Krisen & Belastungen entfällt 1 Sitzung<br />
11.Zukunftsperspektive entfällt 3-4 Sitzungen<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 16
83<br />
Neigungsgruppen für Schüler<br />
• Konzept & Aufbau<br />
– unterschiedliche Interessen- & Bedürfnislagen bei den Schülern<br />
– Formulierung von Schwerpunktthemen für Untergruppen<br />
– jeweils 5 – 10 Schüler<br />
– hohes Maß an Intimität, Vertrautheit und Motivation<br />
– verhaltenstherapeutische Hausaufgaben<br />
• Themen<br />
– Umgang mit Ängsten und Schlafstörungen<br />
– Erlernen von Entspannungsmethoden<br />
– Umgang mit dem Prozess gegen den Ex-Mitschüler, Zeugenrolle<br />
– Vorbereitung des Jahrestages des Ereignisses<br />
– Hilfen für die Eltern <strong>der</strong> ermordeten Lehrerin<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 17
84<br />
„Sehr geehrter Herr Pieper,<br />
… deshalb schreibe ich Ihnen jetzt, um Ihnen zu erzählen, ob Ihre Tipps geholfen<br />
haben. […] Mein Problem war, dass ich wahnsinnige Angst im Dunkeln und allein<br />
hatte – auch in unserer Wohnung. […] Und nun war es ja auch so, dass ich in den<br />
Sommerferien 10 Tage ganz allein zuhause war, nur, dass ich tagsüber noch arbeiten<br />
gegangen bin.<br />
Sie hatten mir gesagt, dass ich mir immer wie<strong>der</strong> Sätze wie „Ich bin hier völlig sicher“<br />
o<strong>der</strong> „Die Angst […] ist nur eine Erinnerung an den 09.11.1999“ aufsagen soll, damit<br />
sich endlich wie<strong>der</strong> ein kleines Stück heile Welt um mich entwickelt und damit ich<br />
wie<strong>der</strong> Vertrauen fasse. Ich habe es dann im Sommer so gemacht, dass ich einen<br />
großen A4-Zettel genommen habe und ganz groß darauf geschrieben habe:<br />
Ich bin hier völlig sicher, die Angst ist nur ein Überbleibsel des 9.11.<br />
und hier völlig fehl am Platz! – SEI STARK!<br />
Das Blatt habe ich auf meinen Nachttisch neben mein Bett gestellt und mir mindestens<br />
jeden Abend und in „brenzligen“ Situationen, wo wie<strong>der</strong> Angst hochkam,<br />
durchgelesen. Und: Es hat geholfen! Ich will nicht behaupten, dass ich völlig<br />
angstfrei gelebt habe […], aber es ist jeden Tag etwas weniger geworden, bis ich am<br />
Ende richtig gut damit klar kam.<br />
[…] bedanken – ich meine dafür, dass Sie mir geholfen haben, wie<strong>der</strong> in einer<br />
halbwegs heilen Welt zu leben, auch wenn ich genau weiß, dass sie trotzdem nie<br />
wie<strong>der</strong> so sein wird, wie vor dem 09.11.1999. Aber das ist auch gut so, ansonsten<br />
würde es ja bedeuten, dass ich nichts daraus gelernt habe….“<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 18
85<br />
Einzeltherapeutische Interventionen<br />
bei Schülern und Lehrern<br />
• Kontrollierte Traumaexposition (KTE)<br />
• Exposition in sensu<br />
• Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR)<br />
• Exposition in vivo<br />
• Hausaufgaben<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 19
86<br />
Brief einer Schülerin nach EMDR-Behandlung<br />
Meißen, 28.06.00<br />
Hallo Herr Pieper,<br />
von Freitag bis heute ist überhaupt nichts<br />
Außergewöhnliches passiert. Alles ist wie immer – obwohl<br />
ich mich immer noch wun<strong>der</strong>e, wie durch ein bisschen<br />
„Augen-hin-und-her-bewegen“ das Bild fast verschwinden<br />
konnte.<br />
Es besteht nur noch aus Schatten und Umrissen, und wenn<br />
ich nicht wüsste, wie es aussah – ich könnte es mir kaum<br />
noch vor dem inneren Auge vorstellen.<br />
Einen schönen Urlaub!<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 20
87<br />
Tabelle 1-1: Betreute Lehrer und Schüler,<br />
gruppierte Häufigkeiten (N = 35)<br />
Gruppierung k. Einzeltherapie Einzeltherapie Gesamt<br />
Betroffenengruppe<br />
Lehrer 11 (31,4%) 6 (17,1%) 17 (48,6%)<br />
Schüler 8 (22,9%) 10 (28,6%) 18 (51,4%)<br />
Gesamt 19 (54,3%) 16 (45,7%) 35 (100,0%)<br />
Geschlecht<br />
männlich 5 (14,3%) 4 (11,4%) 9 (25,7%)<br />
weiblich 14 (40,0%) 12 (34,3%) 26 (74,3%)<br />
Gesamt 19 (54,3%) 16 (45,7%) 35 (100,0%)<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 21
88<br />
Erhebungsinstrumente<br />
• B-L/B-L' – Beschwerden-Liste, Erfassung allgemeiner<br />
psychophysischer Belastung und Überfor<strong>der</strong>ung (von<br />
Zerssen, 1976)<br />
• IES-R – Impact of Event Scale, revidierte Version, zur<br />
Erfassung <strong>der</strong> traumatischen Belastung (deutsch von<br />
Maercker und Schützwohl, 1998)<br />
• Fragen zur Qualität sozialer Beziehungen – Itemsammlung<br />
zur Erfassung interpersonaler Beziehungen im schulischen<br />
Kontext (Pieper, 2000)<br />
• Zielerreichung – Befragungsbögen zur Formulierung persönlicher<br />
(Bewältigungs-) Ziele und zur Einschätzung des<br />
Erfolgs (Pieper, 2000)<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 22
89<br />
Tabelle 1-2: Häufigkeitsverteilungen <strong>der</strong><br />
Belastung nach <strong>der</strong> IES-R (N = 35)<br />
Schüler Lehrer gesamt<br />
IES R – Messzeitpunkt 1<br />
schwere Belastung (Score > 0) 6 (17,1%) 5 (14,3%) 11 (31,4%)<br />
mittlere Belastung (0 bis - 0.99) 5 (14,3%) 5 (14,3%) 10 (28,6%)<br />
leichte Belastung (Score ≤ -1.0) 7 (20,0%) 7 (20,0%) 14 (40,0%)<br />
IES R – Messzeitpunkt 2<br />
schwere Belastung (Score > 0) 3 (8,6%) 5 (14,3%) 8 (22,9%)<br />
mittlere Belastung (0 bis - 0.99) 2 (5,7%) 1 (2,9%) 3 (8,6%)<br />
leichte Belastung (Score ≤ -1.0) 13 (37,1%) 11 (31,4%) 24 (68,6%)<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 23
90<br />
Tabelle 1-3: Häufigkeitsverteilungen <strong>der</strong><br />
Belastung nach <strong>der</strong> B-L (N = 35)<br />
Schüler Lehrer gesamt<br />
B-L – Messzeitpunkt 1<br />
schwer belastet (Score ≥ 22) 11 (31,4%) 11 (31,4%) 22 (62,9%)<br />
leicht belastet (Score < 22) 7 (20,0%) 6 (17,1%) 13 (37,1%)<br />
B-L – Messzeitpunkt 2<br />
schwer belastet (Score ≥ 22) 7 (20,0%) 6 (17,1%) 13 (37,1%)<br />
leicht belastet (Score < 22) 11 (31,4%) 11 (31,4%) 22 (62,9%)<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 24
91<br />
Abb. 1-1: Belastungsmittelwerte <strong>der</strong> zweifachen<br />
Messwie<strong>der</strong>holung (N = 35)<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 25
92<br />
Abb. 1-2: Belastungsmittelwerte <strong>der</strong> dreifachen<br />
Messwie<strong>der</strong>holung (N = 10)<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 26
93<br />
Tabelle 1-4: Belastung in Zusammenhang mit<br />
Kontakt zum Täter und zum Opfer<br />
Item N IES-R I IES-R V IES-R Ü IES-R G<br />
1. Messzeitpunkt<br />
Kontakt zum Opfer 29 -.154 .432* -.094 .014<br />
Kontakt zum Täter 30 .124 -.364* .183 .037<br />
2. Messzeitpunkt<br />
Kontakt zum Opfer 29 -.381* .211 -.207 -.081<br />
Kontakt zum Täter 30 .433* .000 .330 .243<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 27
94<br />
Belastung in Zusammenhang mit Kontakt<br />
zum Täter und zum Opfer<br />
• IES-R Vermeidung – Vermeidungswerte sind um so höher …<br />
… je schlechter <strong>der</strong> Kontakt zum Opfer war<br />
… je besser <strong>der</strong> Kontakt zum Täter war<br />
> Schuld- & Schamgefühle, psychisches Ausweichen<br />
Dieser Zusammenhang aus Messzeitpunkt 1 verschwindet bis<br />
Messzeitpunkt 2<br />
• IES-R Intrusion – Intrusionswerte sind um so höher …<br />
… je besser <strong>der</strong> Kontakt zum Opfer war<br />
… je schlechter <strong>der</strong> Kontakt zum Täter war<br />
> Mitgefühl mit dem Opfer, anhaltende Trauer; Furcht vor dem Täter<br />
Dieser Zusammenhang taucht erst zum Messzeitpunkt 2, aber noch<br />
nicht zum Messzeitpunkt 1 auf<br />
(starke Initialbelastung, Deckeneffekt)<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 28
95<br />
Ziele <strong>der</strong> Lehrergruppe<br />
• Ruhe und Gelassenheit wie<strong>der</strong> finden<br />
• Sich wie<strong>der</strong> entspannen können, wie<strong>der</strong> loslassen können<br />
• Abstand zu dem Ereignis bekommen<br />
• Wunsch nach Verständnis und Toleranz zwischen<br />
den Lehrern<br />
• Angst überwinden, vor <strong>der</strong> Klasse zu unterrichten<br />
• Wunsch, dass das Lehrer-Schüler-Verhältnis wie<strong>der</strong><br />
so werde, wie es vor dem Ereignis war<br />
• Gemeinsam mit den Kollegen Wege zur gewaltfreien<br />
Konfliktlösung finden<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 29
96<br />
Ziele <strong>der</strong> Lehrergruppe - Einzelziele<br />
• An das Grab gehen können<br />
• Fitnesstraining machen, weil S.L. es machte, seit dem Mord kann ich<br />
es nicht mehr, weil es mich an sie so stark erinnert<br />
• Nachts ohne Albträume durchschlafen, ausgeruht aufstehen<br />
• Einen Schüler erkennen können, <strong>der</strong> zu so einer Gewalttat fähig ist…<br />
• Mit meinen Schuldgefühlen fertig werden<br />
• Der 09.11. ist mein Geburtstag! Wie soll ich je wie<strong>der</strong> normal<br />
Geburtstag feiern können?<br />
• Ich möchte wie<strong>der</strong> über die Stelle gehen können, wo sie lag<br />
• Morgens ohne Angst das Schulhaus betreten können und angstfrei<br />
unterrichten<br />
• Nicht mehr so „neben mir stehen“, neutral dran denken können.<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 30
97<br />
Ziele <strong>der</strong> Schülergruppen<br />
• Wunsch nach Normalisierung des Verhältnisses zwischen<br />
Schülern und Lehrern (wie<strong>der</strong> aufeinan<strong>der</strong> eingehen können)<br />
• Vorwürfe von Lehrern und Außenstehenden sollen aufhören,<br />
dass sie <strong>der</strong> Lehrerin nicht geholfen haben<br />
• Die Klasse soll zusammen bleiben<br />
• Wunsch, mit Freunden über das Ereignis reden zu können<br />
• Wunsch, sich mit dem Täter auszutauschen, um dessen<br />
Motiv für die Tat zu verstehen<br />
• Wunsch, dass <strong>der</strong> Täter bestraft werde<br />
• Lernen, über das Ereignis und die eigenen Ängste reden<br />
und beides verarbeiten zu können<br />
• Konzentrationsschwierigkeiten und Lernprobleme überwinden<br />
• Keine Angst vor Verschlechterung <strong>der</strong> Leistung mehr haben müssen<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 31
98<br />
Ziele <strong>der</strong> Schülergruppen - Einzelziele<br />
• Die Angst verlieren, wenn jemand ins Zimmer kommt.<br />
• Ich will endlich mal wie<strong>der</strong> einen ganzen Schultag ohne Angst<br />
bewältigen.<br />
• Ich will nicht ständig die Tür im Blickfeld behalten müssen,<br />
und nicht ständig gedanklich abwesend sein.<br />
• Ich möchte, dass uns die Lehrer wie<strong>der</strong> vertrauen.<br />
• Dass meine Freunde auch weiterhin für mich da sind.<br />
• Ich möchte das Erlebte verarbeiten können. Allerdings<br />
möchte ich es nicht vergessen.<br />
• In Ruhe gelassen zu werden, zu vergessen.<br />
• Ich würde gerne etwas für ihre Eltern tun.<br />
• Rauchen einstellen (Anfang durch Vorfall).<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 32
99<br />
Teil 2:<br />
Der Amoklauf eines Schülers<br />
am Gutenberg-Gymnasium,<br />
Erfurt, 26. April 2002<br />
© ITB Pieper 33
100<br />
Traumatische Stressoren<br />
• Konfrontation mit dem Sterben und dem Tod einer<br />
großen Anzahl von Opfern<br />
• Schreie Sterben<strong>der</strong> und Verängstigter<br />
• Konfrontation mit Hinrichtungsszenen<br />
• Konfrontation mit furchtbaren Schußwunden<br />
• Eigene Todesangst, Hilf- und Wehrlosigkeit<br />
• Todesangst, Hilf- und Wehrlosigkeit an<strong>der</strong>er<br />
• Bedrohung durch „Unersättlichkeit“ und Willkür des Täters<br />
• Ungewissheit und Angst über eine Zeit von 4 – 5 Stunden<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 34
101<br />
Typische Reaktionen<br />
• Alle Betroffenen<br />
– direkt nach dem Ereignis: Schock, Zittern, Weinen,<br />
Apathie, Fassungslosigkeit<br />
– Blockade <strong>der</strong> Konzentrationsfähigkeit im Unterricht<br />
– gedanklich und emotional mehr mit sich selbst als mit<br />
dem Unterrichtsgeschehen befasst<br />
• Lehrer<br />
– Hoher Krankenstand<br />
– Zweifel, den Beruf weiter ausüben zu können<br />
• Schüler<br />
– Ständige Konfrontation mit einer großen Anzahl an Auslösereizen<br />
– breite Generalisisierung (Unterrichtsfach, Wochentag, Geräusche)<br />
– Angst- und Panikreaktionen<br />
– vielfältige Vermeidungsreaktionen (Fernbleiben vom Unterricht, …)<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 35
102<br />
Betroffenen-Gruppen<br />
1. Schüler des Gutenberg-Gymnasiums<br />
2. Lehrer des Gutenberg-Gymnasiums<br />
3. Eltern von Schülern<br />
4. Hausmeister und Schulangestellte des Gutenberg-Gymnasiums<br />
5. Angehörige <strong>der</strong> getöteten Lehrer und Schüler<br />
6. Die Familie des Täters<br />
7. Schüler an<strong>der</strong>er Schulen in Erfurt<br />
8. Lehrer an<strong>der</strong>er Schulen in Erfurt<br />
9. Einsatzpersonal (Polizei, Rettungsdienste)<br />
10.Psychologen und Ärzte, die am ersten Tag im Einsatz waren<br />
11.Bürgerinnen und Bürger <strong>der</strong> Stadt Erfurt<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 36
103<br />
Grundkonflikt nach Katastrophen und Ereignissen<br />
zielgerichteter Gewalt – Sichtweise A<br />
• Nach dem Trauma muss schnellstmöglich Normalität<br />
wie<strong>der</strong>hergestellt werden,<br />
• … indem sich je<strong>der</strong> auf seinen gewohnten Alltag konzentriert.<br />
• Manche Betroffenen kommen mit den Belastungen nicht<br />
zurecht und reagieren mit traumatischen Störungen.<br />
• Diese „Schwächsten“ müssen psychotherapeutisch für<br />
den Alltagsbetrieb repariert und reintegriert werden.<br />
• Das System, in dem es zu <strong>der</strong> Gewalttat gekommen ist,<br />
wird nicht in Frage gestellt.<br />
> Rein individualpsychologische Sichtweise.<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 37
104<br />
Grundkonflikt nach Katastrophen und Ereignissen<br />
zielgerichteter Gewalt – Sichtweise B<br />
• Das Trauma hat zu einem allgemeinen Ausnahmezustand geführt.<br />
• Die Rückkehr zur Normalität dauert länger und ist aktiv anzugehen.<br />
• Normalität bedeutet nicht, wie<strong>der</strong> den gleichen Zustand wie früher<br />
erreichen zu können.<br />
• Die Verletzungen aller Betroffenen müssen psychologisch aufgearbeitet<br />
werden.<br />
• Ursachenanalysen müssen die gesamte betroffene Gemeinschaft<br />
(o<strong>der</strong> sogar die ganze Gesellschaft) einbeziehen.<br />
• Es ist die Aufgabe aller Betroffenen, bei <strong>der</strong> Aufarbeitung und<br />
Bewältigung zu helfen.<br />
> Dieser Ansatz schließt eine psychologische, soziale und gesellschaftspolitische<br />
Sichtweise mit ein.<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 38
105<br />
Erhebungsinstrumente<br />
… in den Klassen 8 bis 12<br />
• PDS – Fragebogen zur Erfassung <strong>der</strong> PTB-Symptomatik (Steil, 1996)<br />
• BDI – Fragebogen zur Erfassung <strong>der</strong> Depressivität und<br />
Einschätzung eventueller Suizidalität (Beck et al., 1995)<br />
• SCL-90-R – Fragebogen zur Erfassung allgemeiner<br />
Psychopathologie (Franke, 1995)<br />
… in den Klassen 5 bis 7<br />
• Clinician Administered PTSD Scale for Children,<br />
deutsche Version (CAPS-C; Steil et al., 1998)<br />
• Child Behaviour Checklist – deutsche Version<br />
(CBCL; Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist, 1998)<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 39
106<br />
Tabelle 2-1: Schülerinnen und Schüler<br />
mit PTB-Diagnose nach DSM-IV<br />
Klassenstufe<br />
PTB-Diagnose – N (%)<br />
weiblich männlich<br />
Gesamt<br />
5 25 (58%) 16 (51%) 41 (55%)<br />
6 18 (44%) 13 (36%) 31 (40%)<br />
7 22 (48%) 6 (18%) 28 (35%)<br />
8 29 (63%) 9 (26%) 38 (48%)<br />
9 17 (68%) 8 (29%) 25 (47%)<br />
10 25 (66%) 17 (44%) 42 (55%)<br />
11 40 (54%) 18 (42%) 58 (50%)<br />
12 18 (45%) 4 (17%) 22 (35%)<br />
285 (46%)<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 40
107<br />
PTB-Diagnose bei den Schülern<br />
(nach DSM-IV)<br />
• Diagnosestellung <strong>der</strong> PTB nach DSM-IV konservativer<br />
als nach ICD-10<br />
• bei 46% aller Schüler PTB-Diagnose (nach DSM-IV)<br />
• keine Abhängigkeit <strong>der</strong> PTB-Diagnose vom Alter<br />
• bei Mädchen wurde öfter eine PTB diagnostiziert<br />
als bei Jungen (unabhängig von <strong>der</strong> Klassenstufe)<br />
• Wie<strong>der</strong>erleben und Erregung waren bei den Schülern<br />
stärker ausgeprägt als Vermeidungsverhalten<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 41
108<br />
Tabelle 2-2: Klinisch relevante Depressivität<br />
in den Klassen 8 – 12 (nach BDI)<br />
Klassenstufe<br />
weiblich männlich<br />
BDI > 17 = „klinisch relevant“ – N (%)<br />
Gesamt<br />
8 9 (20%) 1 (3%) 10 (13%)<br />
9 7 (28%) 2 (7%) 9 (17%)<br />
10 9 (23%) 2 (5%) 11 (14%)<br />
11 13 (18%) 1 (2%) 14 (12%)<br />
12 3 (7%) 1 (4%) 7 (6%)<br />
48 (12%)<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 42
109<br />
Klinisch relevante Depressivität<br />
bei den Schülern <strong>der</strong> Klassen 8 – 12 (nach BDI)<br />
• Gemessen mit dem BDI wurden 62% <strong>der</strong> Schüler<br />
als „unauffällig“ eingestuft<br />
• Ungefähr 1/4 <strong>der</strong> Schüler fiel in die Kategorie<br />
„mild bis mäßig“<br />
• 12% zeigten einen klinisch relevanten Wert<br />
• Auch hier: keine Abhängigkeit von <strong>der</strong> Klassenstufe<br />
• Deutlicher Geschlechtseffekt:<br />
Mädchen wiesen im Mittel höhere BDI-Werte auf als Jungen<br />
und fielen häufiger in die oberen Kategorien<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 43
110<br />
© ITB Pieper Auswirkungen von Schulschießereien auf Opfer und Umfeld 44
111<br />
Maßnahmen auf politischer Ebene<br />
Mittwoch 09.03.2005 09:00– 11:00<br />
Antje Möller (MdHB)<br />
Der Vortrag war Auslöser einer (gewünschten) intensiven Debatte, die sich anhand<br />
einzelner Thesen <strong>der</strong> Referentin entspann. Diese Debatte ist nicht dokumentiert, <strong>der</strong><br />
nachfolgende Text kann deshalb nur als ein Gerüst dienen. A.M.<br />
Meine Damen und Herren,<br />
vorab herzlichen Dank für die Einladung, innerhalb <strong>der</strong> Seminarwoche des Instituts für<br />
Kriminologische Sozialforschung zu referieren.<br />
Sie alle, als Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Seminars sind vom Fach und ich<br />
schätze (und fürchte auch) Ihren Sachverstand. Und ich freue ich mich, über politische<br />
Maßnahmen, aber vor allem auch zu <strong>der</strong> Rolle, die <strong>der</strong> Politik bei dem Thema Gewalt<br />
in <strong>der</strong> Schule und <strong>der</strong> Gewaltprävention zukommt, mit Ihnen zu diskutieren.<br />
Perspektive <strong>der</strong> Politik<br />
Was kann ich denn aber als Politikerin, als Parlamentarierin, nun eigentlich beitragen<br />
zu dieser Studienwoche? Typischerweise wird das Thema von <strong>der</strong> Politik aus <strong>der</strong><br />
Position <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ation heraus bearbeitet. Da kann man denn einen Rundumschlag<br />
machen, die Medien ermahnen, die Fachleute for<strong>der</strong>n, für die Opfer Verständnis haben<br />
und die Täter und Täterinnen kategorisieren.<br />
An<strong>der</strong>erseits heißt Politik natürlich auch Legislative und Exekutive zu sein. Die<br />
Bürgerschaft (<strong>der</strong> Landtag) ist Geldgeberin für Maßnahmen, kann Schirmherrin für<br />
Projekte sein und in <strong>der</strong> Opposition sind die Fraktionen vor allem Fragende und<br />
Kritisierende gegenüber <strong>der</strong> Regierung. Politik kann natürlich auch die Verantwortung<br />
übernehmen!<br />
Ich meine aber, auch Letzteres kann nicht reichen, bei einem Thema, das lange vor<br />
dem Eintreten des Gewaltereignisses selber auch durch politisches Handeln<br />
beeinflusst werden muss. Die politischen Anknüpfungspunkte aus meiner Sicht habe<br />
ich im Folgenden einmal skizziert (Abb. 1):
112<br />
Den Aktionismus, ich nenne es bewusst so, in den Politik oft verfällt, wenn aktuelle<br />
Ereignisse es erfor<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> wenn die neueste polizeiliche Kriminalstatistik (PKS)<br />
vorgestellt wird, möchte ich eher am Rande betrachten. Ich will auch nicht groß mit<br />
Zahlen argumentieren, son<strong>der</strong>n mich eher mit <strong>der</strong> Situation auseinan<strong>der</strong>setzen, dass<br />
Gewalt in <strong>der</strong> Gesellschaft längst kein Tabu mehr ist. Die erfolgreichsten<br />
Werbekampagnen werben für den eigenen Vorteil („Geiz ist geil“) und soziale Kälte ist<br />
beinahe greifbar. In Hamburg verhungert ein Kind bei seinen Eltern und in Berlin<br />
klatschen Schüler dem „Ehrenmord“ an einer jungen Frau Beifall. Die Solidargemeinschaft<br />
ist längst aufgebrochen, Min<strong>der</strong>heitenschutz, aber auch Ethik und Moral<br />
scheinen einen sinkenden Stellenwert zu haben. Sie sind politischer Luxus geworden.<br />
Das beschreibt die Spannbreite <strong>der</strong> politischen Aufgabe aus meiner Sicht.<br />
I. Gewalt als Thema in <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
Definition, Motivsuche, Ursachen (Abb.2)<br />
An dieser Stelle lege ich Ihnen lediglich eine kleine Zusammenstellung über Definition<br />
und Motive vor, die sozialwissenschaftliche Literatur bietet hier eine Vielfalt von<br />
Ansätzen. Mir geht es um einen Einstieg in das Thema <strong>der</strong> politischen<br />
Handlungsmöglichkeiten.<br />
Aus <strong>der</strong> Lektüre beliebiger Zeitungen ergibt sich folgendes: Türkische Schüler<br />
klatschen Beifall, als in einer Berliner Haupt- und Realschule über den „Ehrenmord“ an<br />
einer jungen Türkin diskutiert wird, in einer Karlsruher Schule sammeln Siebentklässler<br />
Hunde und Katzenkot und beschmieren damit türkische MitschülerInnen.<br />
Das erste Beispiel ist aus dem Jahre 2005 und das zweite Beispiel aus dem Jahre<br />
1992.<br />
Deutlich wird dabei zweierlei: Das Thema ist nicht neu und mit den konventionellen<br />
Gewaltbegriffen kommen wir in <strong>der</strong> politischen Debatte um Prävention nicht mehr<br />
weiter.<br />
Der allgemeine gesellschaftliche Konsens, Gewalt zu ächten, ist längst an vielen<br />
Stellen durchbrochen. Vielleicht gab es ihn auch nie so, wie wir uns das gewünscht<br />
haben.
113<br />
Sozialwissenschaftliche Forschung hat ein an<strong>der</strong>es Erkenntnisinteresse als politische<br />
Erklärungsmuster, und die unterschiedlichen gesellschaftlichen Leitbil<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
politischen Parteien erleichtern den gegenseitigen Vorwurf „versagt“ zu haben. Grüner<br />
Politik wird eine Verklärung von Multi-Kulti vorgeworfen, konservativer Politik kann<br />
man das Eintreten für die Rechte muslimischer Frauen nur schwer glauben. Allerdings<br />
ist dringend eine offensive Diskussion <strong>der</strong> Gewaltphänomene in unserer Gesellschaft<br />
notwendig.<br />
Die Auseinan<strong>der</strong>setzung um althergebrachte patriarchaische Strukturen und<br />
Ehrbegriffe, traditionelle religiöse (meist muslimische) Regeln findet zu wenig mit <strong>der</strong><br />
betroffenen Bevölkerung satt, zu oft wird lediglich über sie geredet. Zum politischen<br />
Umgang mit dem Rassismus in <strong>der</strong> Mehrheitsgesellschaft an an<strong>der</strong>e Stelle mehr.<br />
Der Vollständigkeit halber sei auch ein Kritiker wie Freerk Huisken erwähnt, <strong>der</strong><br />
formuliert:<br />
Was lernt <strong>der</strong> Mensch in <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft? Er lernt mitnichten, dass<br />
Gewalt verboten ist. Er lernt, dass Gewalt erlaubt ist, wenn sie nur rechtens, wenn sie<br />
nur legalisiert ist. (in: z.B. Erfurt; 2002; VSA-Verlag; Hamburg; S.29) Auf den<br />
nächsten Seiten folgt eine Kritik staatlicher Gewalt und dass diese natürlich auch von<br />
Jugendlichen erlebt wird. Ich kann aber an<strong>der</strong>erseits in <strong>der</strong> Literatur nicht finden,<br />
inwieweit so Erlebtes, z.B. bei Demonstrationen o<strong>der</strong> durch polizeiliche Maßnahmen<br />
im familiären Umfeld, im sozialen Nahraum, zu Gewalttaten führt. Es sei denn, durch<br />
direktes sich wehren in <strong>der</strong> jeweiligen Situation.<br />
Kurz skizzieren will ich hier auch die Diskussion um die Ursachen:<br />
Videos, Fernsehen, Schießsport.<br />
Gewaltvideos, Nachrichten, brutale Fernsehfilme, spielen sie eine Rolle, bei<br />
Gewalttaten von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen?. Für mich ist <strong>der</strong> wissenschaftliche Streit<br />
bisher unentschieden und ich möchte mir nicht anmaßen, diesen zu entscheiden. Die<br />
Attraktivität <strong>der</strong>artiger Machwerke scheint ungebrochen und es ist sicherlich notwendig<br />
viel vehementer mit Aufklärung und Kritik auf Brutalität und Gewaltdarstellung als<br />
Freizeitvergnügen zu reagieren.<br />
Auch die Auseinan<strong>der</strong>setzung um die mögliche Rolle des Schießsports ist Ihnen sicher<br />
geläufig. Das Gleichsetzen mit dem Konsum von Gewaltvideos durch eine Überschrift<br />
ist angreifbar. An<strong>der</strong>erseits will ich nicht akzeptieren, nur weil das Wort „Sport“ hier
114<br />
vorkommt, das Schießen aus <strong>der</strong> Diskussion um Gewalt an Schulen herauszuhalten.<br />
Wie irrational die Diskussion um Waffenbesitz, um die Selbstverteidigung, aus meiner<br />
Sicht ist, erläutere ich später noch.<br />
Rassismus<br />
Welche Rolle spielen antidemokratische Politik, rechte Parteien und Parolen? Was ist<br />
mit fundamentalistischen Religionen, <strong>der</strong> Zwangsverheiratung und mit Ehrenmorden.<br />
Viel zu wenig findet die öffentliche Diskussion um die Gewalt, die sich dahinter verbirgt<br />
statt.<br />
Diese Gesellschaft tut sich schwer zusammenzuwachsen, die Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen<br />
müssen die Versäumnisse <strong>der</strong> Politik ausbaden. Fremdheit kann nur schwer<br />
überwunden werden.<br />
Der Rassismus in unserer Gesellschaft nimmt zu, er findet sich in unterschiedlichster<br />
Form und es ist eine <strong>der</strong> wichtigsten politischen Aufgaben ihn zu bekämpfen.<br />
Akademische Diskussionen um „Auslän<strong>der</strong>feindlichkeit“, in denen den Migranten und<br />
Migrantinnen auch noch eine Mitschuld zu gerechnet wird, ersetzen zu oft das<br />
durchfinanzierte Integrationskonzept.<br />
Waffen<br />
Am Beispiel <strong>der</strong> öffentlichen und parlamentarischen Debatte zum Thema Waffen, kann<br />
und konnte man schon immer die Unaufrichtigkeit <strong>der</strong> Diskussion deutlich machen o<strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>s gesagt, die Eindeutigkeit <strong>der</strong> Interessen. Und die geringe Durchsetzungskraft<br />
<strong>der</strong> Politik<br />
Ich möchte das an einem aktuellen Hamburger Beispiel erläutern:<br />
Mit <strong>der</strong> Einführung des sog. „Kleinen Waffenscheins“ im Frühjahr 2003 wurde das<br />
Tragen von Gas- und Schreckschusswaffen meldepflichtig. Die Hamburgische Polizei<br />
rechnete mit ca 80 000 Anmeldungen, herausgekommen sind bis heute rund 2500.<br />
Man schätzt den Bestand <strong>der</strong>artiger Waffen in Hamburg übrigens auf 400 000. Diese<br />
Waffen sind natürlich nicht in <strong>der</strong> Mehrzahl in den Händen von Jugendlichen und sie<br />
müssen selbstverständlich auch nur gemeldet werden, wenn sie getragen werden.<br />
Nicht wenn sie zu Hause in <strong>der</strong> Schublade liegen.<br />
Die Bremische Polizei hat allerdings aufgrund ähnlicher Erfahrungen im Sommer 2003<br />
eine Aktion gestartet, gemeinsam mit den Schulen eine straffreie Abgabe <strong>der</strong>artiger<br />
Waffen zu organisieren. Rund 1700 Waffen je<strong>der</strong> Art wurden dabei gesammelt. Das<br />
Thema „waffenfreies Bremen“ wurde unterstützt durch Sportverbände, in den Schulen<br />
im Unterricht diskutiert und von den Medien begleitet.
115<br />
Wir debattieren anhand eines GAL- und eines SPD- Antrages zur Zeit die<br />
Verschärfung des Waffenrechtes und auch stärkere Kontrollen an Diskotheken etc.<br />
sowie z.B. ein generelles Messerverbot. Das alles beschreibe ich so ausführlich, weil<br />
hierbei niemand bestreitet, dass Waffenbesitz Ursache von Gewalt sein kann, aber<br />
daraus lediglich repressive Konsequenzen gezogen werden. Verdachtsunabhängige<br />
Kontrollen werden als Lösung eingefor<strong>der</strong>t. Es gibt keine politischen Mehrheiten für<br />
öffentliche Kampagnen gegen die Bewaffnung <strong>der</strong> Bevölkerung o<strong>der</strong> die Werbung <strong>der</strong><br />
Waffenhersteller u.a. Trotz warnen<strong>der</strong> Worte <strong>der</strong> Polizei. Wir leben längst nicht im<br />
Michael-Moore-Land, aber es reicht nicht, den Zugang zu Waffen nur<br />
ordnungspolitisch zu reglementieren.<br />
II.Übernahme <strong>der</strong> Verantwortung<br />
Aus <strong>der</strong> Opposition heraus habe ich gut reden, mag man jetzt sagen, Gewaltprävention<br />
und Ursachenbekämpfung ist aber ja schon viele Jahre auf <strong>der</strong> politischen Agenda.<br />
Deshalb erlaube ich mir einen kleinen Rückblick in die Jahre 1997 bis 2000:<br />
1997 wurde, ausgelöst auch durch den Mord an Willi Dabelstein, eine Enquete-<br />
Kommission zu Jugendkriminalität eingesetzt. Deren Ergebnisse bilden für die<br />
nächsten Jahre die Grundlage für ein großes Maßnahmenbündel im Präventiven und<br />
repressiven Bereich. Im Überblick können Sie diese <strong>der</strong> Abbildung (Abb.3 u 4)<br />
entnehmen.<br />
Als aktuelle Ergänzung dann aus einer Anfrage des CDU-Abgeordneten Herrn Hesse:<br />
(Abb. 5)<br />
Vielen von Ihnen werden diese Konzepte und Maßnahmen bekannt sein, sie haben<br />
selber dran mitgewirkt.<br />
Wie misst man aber nun Erfolge o<strong>der</strong> Misserfolge? An <strong>der</strong> Kriminalstatistik, die in den<br />
letzten Jahren einen Rückgang <strong>der</strong> Jugendkriminalität verzeichnet, aber dafür einen<br />
Anstieg häuslicher Gewalt?<br />
So wie die Medien: (Abb.6)
116<br />
Die Wirksamkeit des Instrumentariums kann nur schwer überprüft werden,<br />
unterschiedliche Behörden sind für unterschiedliche Projekte zuständig. Der Austausch<br />
zwischen den Behörden ist in <strong>der</strong> Regel nicht organisiert.<br />
III. Prävention<br />
Opfer und Täter/in müssen unabhängig von <strong>der</strong> Herkunft in ihrem Leid gesehen bzw.<br />
für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden. Zur Gewaltprävention bedarf es<br />
allerdings eines Instrumentariums, das eben genau auch auf die Heterogenität <strong>der</strong><br />
betreffenden Gruppe zugeschnitten ist.<br />
Dabei sind zwei Tatsachen zu berücksichtigen:<br />
• Einerseits die, dass sich bis weit in die 90iger Jahre des letzten Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
hinein kaum eine wissenschaftliche Auseinan<strong>der</strong>setzung über Gewaltprävention<br />
findet, die kulturelle Hintergründe berücksichtigt. Soziale Probleme,<br />
Bildungsdefizite gehören zum Standard <strong>der</strong> Erklärungsmuster und dafür wurden<br />
Abwehrmechanismen entwickelt.<br />
• An<strong>der</strong>erseits die statistische und damit strukturelle Schwierigkeit, dass immer<br />
noch Staatsangehörigkeiten Grundlagen von Bewertungen o<strong>der</strong> auch z.B. <strong>der</strong><br />
Mittelvergabe darstellen. Die Problemlagen in Kita/Schule entwickeln sich aber<br />
völlig unabhängig davon. Hier spielen Staatsangehörigkeiten keine Rolle,<br />
son<strong>der</strong>n Gewaltmotive (siehe Abb.2) die jeweils kulturelle o<strong>der</strong> soziale<br />
Hintergründe haben können.<br />
Ich halte es für unabdingbar ein Instrumentarium zu entwickeln, das flexibel auf<br />
individuelle Situationen einzelner Standorte reagieren kann. Kin<strong>der</strong>gärten und Schulen<br />
genauso wie an<strong>der</strong>e Betreuungseinrichtungen müssen aus <strong>der</strong> individuellen Situation<br />
heraus in Zusammenarbeit mit den Eltern, dem Quartier o<strong>der</strong> betreuenden Behörden<br />
Lösungen entwickeln können.<br />
O<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s formuliert: Schulung und Supervision muss die zuständige Behörde<br />
gewährleisten, für die jeweiligen Einrichtungen jedoch brauchen Lehrende/Erziehende<br />
und Lernende „freie Hand“.
117<br />
IV. Repression<br />
• ist selbstverständlich ein gleichgewichtiges Element in den Handlungssträngen<br />
<strong>der</strong> Politik.<br />
• birgt immer die Gefahr des Aktionismus, des Handelns als Reaktion auf ein<br />
singuläres Ereignis.<br />
• ist Teil <strong>der</strong> Übernahme <strong>der</strong> Verantwortung und gehört an<strong>der</strong>erseits eingebunden<br />
in die oben beschriebene Kooperation zur Prävention.<br />
Die Details des politischen Streits sollen hier nicht weiter thematisiert werden<br />
(Stichwort: geschlossene Unterbringung). Einigkeit besteht bei dem Konzept <strong>der</strong><br />
schnellen, direkten Ansprache und Konsequenz für Täter/in.<br />
V. Medien<br />
Ganz bewusst kommen die Medien ans Ende dieses Referates. Wie Medien mit<br />
Gewalt umgehen und was sie mit Gewalt zu tun haben, wird an an<strong>der</strong>er Stelle referiert,<br />
Aber, aus langjähriger leidvoller Erfahrung als Politikerin, als Faktionsvorsitzende in<br />
<strong>der</strong> rot-grünen Legislatur und als Fachpolitikerin in Oppositionszeiten: ich konnte es<br />
den Medien nie recht machen! Die Medien haben eine zentrale Rolle in unserer<br />
Gesellschaft, gerade in Hamburg mit nur einem meinungsbildenden Blatt und natürlich<br />
(be)nutzen sie die Politik und die Politik tut das umgekehrt auch.<br />
Bei extremen Vorfällen wie in Erfurt for<strong>der</strong>t die öffentliche (Medien-)Empörung in <strong>der</strong><br />
Regel zwei Konsequenzen: <strong>der</strong>/die Täter/in muss zur Rechenschaft gezogen werden<br />
und die Schule bzw. das System werden in Frage gestellt. Fähigkeiten des Kollegiums<br />
o<strong>der</strong> auch Leistungsprinzip etc werden öffentlich diskutiert.<br />
Das aktuelle Beispiel (des qualvoll verhungerten Mädchens) macht auch wie<strong>der</strong><br />
deutlich wie sensibel politische Arbeit und Entscheidung bei <strong>der</strong>art öffentlicher Trauer<br />
und Wut sein muss. Ich halte die behördlichen Fehler für unstrittig und erwarte auch<br />
eine öffentliche Verantwortungsübernahme. Ich wünsche mir jedoch gleichzeitig auch<br />
eine öffentliche Diskussion über den Verlust von Werten in unserer Gesellschaft. Die<br />
Feuilletons <strong>der</strong> „Süddeutschen“ und <strong>der</strong> „Zeit“ dürfen das thematisieren, ich als<br />
Politikerin darf das nicht. Der Vorwurf, ich will mich aus <strong>der</strong> Verantwortung herausstehlen<br />
kommt dann schnell.
118<br />
Ich erwarte tatsächlich mehr Verantwortung von den Medien, die Beschreibung einer<br />
latenten Gewaltsituation allein durch einen hohen Anteil an Kin<strong>der</strong>n mit<br />
Migrationshintergrund in einer Schule o<strong>der</strong> einem städtischen Quartier erschwert die<br />
interkulturelle Arbeit massiv. Lehrende und Eltern, aber auch die Polizei z.B., sehen<br />
sich viel zu oft in <strong>der</strong> Rechtfertigungs- o<strong>der</strong> Verteidigungsposition, als dass über<br />
erfolgreiche Arbeit berichtet wird.<br />
Fazit:<br />
Jede einzelne Gewalttat muss selbstverständlich thematisiert werden, aber die<br />
politische Auseinan<strong>der</strong>setzung darf nicht an spektakulären Einzelfällen geführt<br />
werden, son<strong>der</strong>n es bedarf einer ständigen und dauerhaften Vernetzung und<br />
Kooperation <strong>der</strong> zuständigen Behörden, Institutionen und Einrichtungen.<br />
Politik und Gesellschaft sind verantwortlich für den Umgang mit dem Thema Gewalt<br />
unter Jugendlichen und in <strong>der</strong> Schule. Neben <strong>der</strong> Kooperation mit Polizei und<br />
Justiz stehen die Schüler/-innen und Schulen im Stadtteil selbst im Mittelpunkt.<br />
Die Notwendigkeit, <strong>der</strong> Gewalt in <strong>der</strong> Gesellschaft entgegenzutreten, ist größer denn<br />
je. Die kulturellen, sozialen und auch demographischen Herausfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong><br />
mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft müssen angenommen werden.
Abb.1<br />
119
120<br />
Abb.2<br />
Definition eines unscharfen <strong>Begriffe</strong>s“ (Helmut Wehrl 1996)<br />
• Historisch kann man mit dem Begriff des „Störens“ beginnen,<br />
• über verbalen Wi<strong>der</strong>stand gegen Autorität,<br />
• Vandalismus,<br />
• physische und psychische Gewalt gegenüber an<strong>der</strong>en,<br />
• verbale Aggressionen,<br />
• bis hin zur Autoaggression<br />
eine Linie ziehen und hat damit annähernd den Begriff umfasst.<br />
Bei <strong>der</strong> Definition <strong>der</strong> Motive kristallisiert sich ein Rahmen heraus,<br />
<strong>der</strong> 5 Punkte umfasst:<br />
• spielerische, ungestüme, expressive Aggression, fehlende<br />
Selbstkontrolle<br />
• Frustration, Rache, fehlendes Selbstvertrauen, fehlende<br />
konstruktive Handlungsmöglichkeiten<br />
• Angstreaktion, Abwehr von Bedrohung,<br />
• Wunsch nach Aufmerksamkeit,<br />
• Spontane Aggression, Grenzen austesten
121<br />
Abb. 3<br />
Auswahlchronologie:<br />
1982: Beginn <strong>der</strong> Zusammenarbeit von Schule und Polizei<br />
1997: Wahlkampf und gleichzeitig Einsetzung <strong>der</strong> Enquetekommission<br />
Jugendkriminalität<br />
1/1997:Suizid des Jugendlichen Mirco aus Neuwiedenthal (warf sich vor die S-Bahn)<br />
29.06.1997: Mord an Willi Dabelstein in Tonndorf durch zwei Jugendliche aus einer<br />
intensiv betreuten Jugendwohnung<br />
5/1997: Veröffentlichung des Gutachtens „Jugenddelinquenz und jugendstrafrechtliche<br />
Praxis“, das von <strong>der</strong> Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung beim<br />
Kriminologischen Forschungsinstitut Nie<strong>der</strong>sachsen e.V. in Auftrag gegeben wurde.<br />
Maßnahmen gegen Jugendkriminalität in Hamburg während und nach<br />
<strong>der</strong> Enquête-Kommission „Jugendkriminalität und ihre gesellschaftlichen<br />
Ursachen“ (Oktober 1997 bis Mai 2000)<br />
Repressive Maßnahmen:<br />
• Anti-Raub-Konzept (10/1997),<br />
• Leitlinien für den Umgang mit Jugendkriminalität:<br />
Wissen verbessern,<br />
Vernetzung von Prävention und Repression,<br />
Soziale Integration för<strong>der</strong>n,<br />
Schnelle und Normen verdeutlichende Reaktion (1998),<br />
• Einrichtung einer sozialtherapeutischen Abteilung in <strong>der</strong><br />
Jugendhaftanstalt (1998),<br />
• Ausweitung des Täter-Opfer-Ausgleichs (6/1999),<br />
• verstärkte Strafverfolgung jugendlicher und heranwachsen<strong>der</strong><br />
Gewalttäter (11/2000),<br />
• Verbesserung des Jugendarrestes durch bessere<br />
Ausstattung (2000/2001),<br />
• vermehrte Durchführung staatsanwaltlicher<br />
Ermahnungsgespräche, Überarbeitung <strong>der</strong><br />
Diversionsrichtlinie (1/2001),<br />
• Beschleunigung von Strafverfahren – Projekt + „!STOPP!“<br />
(1/2001),<br />
• bessere Ausstattung <strong>der</strong> Jugendstaatsanwaltschaft,<br />
Jugendgerichte, Jugendgerichtshilfe (3/2001),<br />
• Intensivierung von polizeilichen Präventionsmaßnahmen<br />
und von Normen verdeutlichenden Gesprächen (6/2001 –<br />
Verstärkung um 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter).
122<br />
Abb. 4<br />
Präventive Maßnahmen:<br />
• 11/1997: „Schüler – Gemeinsam gegen Angst und Gewalt“ – Aktionswoche des<br />
Amtes für Jugend, des Amtes für Schule und <strong>der</strong> Polizei in Kooperation mit<br />
MedienvertreterInnen und freien Trägern <strong>der</strong> Jugendhilfe im CinmaxX-<br />
Filmtheater statt.<br />
• 1999: Programm Polizeiliche Kriminalitätsvorbeugung unter Beteiligung <strong>der</strong><br />
Jugendbeauftragten „Gegen Gewalt für Fairplay“ – Street- und<br />
Basketballturniere<br />
• Maßnahmen gegen Gewalt an Schulen: u.a. Streitschlichterprogramme<br />
(5/1999),<br />
• För<strong>der</strong>ung von Zivilcourage und ziviler Konfliktfähigkeit (6/1999),<br />
• Einrichtung einer überregionalen Fachkommission „Jugendhilfe, Schule, Polizei,<br />
Justiz“ (7/2000),<br />
• Schulbehörde und Polizei starten Kampagne gegen Handyklau „Ich bin<br />
registriert“ 9/2000,<br />
• Filmtage in Hamburg zur „Jugendgewalt“ des Fachkreises<br />
Gewaltprävention(11/2000),<br />
• Erziehen ohne Gewalt – Verän<strong>der</strong>ungen im Verhältnis zwischen Eltern und<br />
Kin<strong>der</strong>n (9/2000),<br />
• Stärkere Sozialraumorientierung in <strong>der</strong> Jugendhilfe (u.a. Projekt Eimsbüttel),<br />
Kin<strong>der</strong>- und Familienzentren gibt es bereits seit 1996/1997 in jedem Hamburger<br />
Bezirk, stadtteilorientierte Familienhilfe: fünf Modellprojekte zur flexiblen<br />
Krisenintervention – För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Erziehung in <strong>der</strong> Familie(4/2001),<br />
• Ausbau <strong>der</strong> ambulanten Hilfen zur Erziehung (bereits seit 1996 eingeleitet),<br />
eine intensivere Zusammenarbeit zwischen Kin<strong>der</strong>- und Jugendpsychiatrie,<br />
Schule und Einrichtungen <strong>der</strong> Jugendhilfe, „Rund-um-die-Uhr-Betreuung“ in<br />
Jugendwohnungen für Jugendliche über 16 Jahre (1998),<br />
• Sicherheitskonferenzen (2002)<br />
Literatur:<br />
FHH – BSJB, Konflikte und Gewalt – praktische Konzepte, praktische Hilfe, Adressen,<br />
Hamburg 2001<br />
FHH, Wenn Jugendliche straffällig werden: Hinsehen, Handeln, Helfen, Hamburg<br />
BBS, Gewalt in <strong>der</strong> Schule – was ist zu tun?, Hamburg 2002. Erfreulich, dass viele<br />
unter rot-grün entstandenen Projekte fortgeführt werden.
123<br />
Abb. 5<br />
Zuweisung <strong>der</strong> polizeilichen Ermittlunqszuständiqkeit nach dem Wohnortprinzip<br />
Die Umstellung vom Tatort- auf das Wohnortprinzip in <strong>der</strong><br />
Jugendkriminalitätsbekämpfung wurde am 01.10.2002 vollzogen. Hiermit wird erreicht,<br />
dass jugendliche Tatverdächtige grundsätzlich immer demselben<br />
kriminalpolizeilichen Sachbearbeiter am Wohnort-Polizeikommissariat zugeordnet<br />
werden können. Informationen über den Täter werden an einer Stelle konzentriert und<br />
Straftaten gebündelt bearbeitet. Mögliche „kriminelle Karrieren" von Jugendlichen<br />
können so frühzeitig erkannt und gestoppt werden.<br />
Sachgebiete Jugend an allen Polizeikommissariaten (PK)<br />
An allen PK wurden in den dortigen Kriminal- und Ermittlungsdiensten (KED)<br />
Sachgebiete „Jugend/Prioritätsbereiche" eingerichtet, die das Wohnortprinzip vor Ort<br />
mit auf die<br />
Bekämpfung <strong>der</strong> Jugendkriminalität spezialisierten Sachbearbeitern umsetzen.<br />
„Cop4U“ als persönliche Ansprechpartner an allen Schulen<br />
Seit Herbst 2002 sind sog. „Cop4U" als polizeiliche Ansprechpartner für alle Schulen<br />
tätig. Durch das Programm Cop4U wird ein flächendecken<strong>der</strong> Standard <strong>der</strong><br />
Kooperation zwischen den Schulen und <strong>der</strong> Polizei erreicht. Ziel ist es, eine<br />
vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den Schulen und <strong>der</strong> Polizei zu för<strong>der</strong>n,<br />
regelmäßig in Schulen präsent zu sein und als Ansprechpartner zur Verfügung zu<br />
stehen sowie gemeinsam Maßnahmen zur Eindämmung <strong>der</strong> Jugendkriminalität zu<br />
verabreden und umzusetzen.<br />
Bekämpfung von Intensivtätern<br />
Durch eine Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> „Fachanweisung über die täterorientierte<br />
Verbrechensbekämpfung (Junge Intensivtäter)" am 01.03.2003 erfolgte eine<br />
Konzentration <strong>der</strong> polizeilichen Arbeit auf Junge Intensivtäter (JIT, unter 25 Jahre), die<br />
2004 fortgesetzt wurde. Hierbei legt die Polizei einen beson<strong>der</strong>en Fokus auf Täter, die<br />
an Gewalttaten beteiligt sind.<br />
Meldung über beson<strong>der</strong>e Gefährdungen Min<strong>der</strong>jähriger an das Familien-lnterventions-<br />
Team (FIT) <strong>der</strong> Behörde für Soziales und Familie<br />
Die Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern des FIT nach Aufnahme <strong>der</strong> Tätigkeit im<br />
Januar 2003 wurde 2004 durch intensive Kontakte fortgesetzt.<br />
Präventionsproqramm „Kin<strong>der</strong>- und Jugenddelinquenz"<br />
Dieses seit 1982 durchgeführte Kooperationsprogramm vom Amt für Schule (jetzt: Amt<br />
für Bildung in <strong>der</strong> Behörde für Bildung und Sport) und <strong>der</strong> Polizei wurde fortgeführt und<br />
weiter ausgebaut. Für dieses Programm stehen <strong>der</strong>zeit 90 Polizeibeamte zur<br />
Verfügung, von denen zurzeit 87 aktiv tätig sind. Sie nehmen ihre Aufgabe im<br />
Nebenamt wahr. Im Jahr 2004 konnten die geleisteten Unterrichtseinheiten und die<br />
Anzahl <strong>der</strong> erreichten Schüler weiter gesteigert werden.
124<br />
Norm- und hilfeverdeutlichende Gespräche<br />
Insbeson<strong>der</strong>e bei Erstauffälligkeiten min<strong>der</strong>jähriger Tatverdächtiger, hauptsächlich im<br />
Bereich <strong>der</strong> Gewaltkriminalität, führt die Polizei außerhalb <strong>der</strong> eigentlichen<br />
Ermittlungsarbeit mit diesen intensive Gespräche im Beisein <strong>der</strong><br />
Erziehungsberechtigten. Sie dienen dazu, dass sich <strong>der</strong> jugendliche Tatverdächtige mit<br />
seiner Tat und ihren Folgen auseinan<strong>der</strong>setzt. Polizeiliches Ziel ist dabei die<br />
Verhin<strong>der</strong>ung einer erneuten Straffälligkeit. Mit min<strong>der</strong>jährigen Opfern jugendlicher<br />
Tatverdächtiger werden hilfeverdeutlichende Gespräche geführt, bei denen die<br />
Hilfsmöglichkeiten für das Opfer im Vor<strong>der</strong>grund stehen.<br />
Interbehördliche Kooperation<br />
Unter zentraler Steuerung und Koordinierung durch den Landesjugendbeauftragten<br />
<strong>der</strong> Polizei beteiligt sich diese an regelmäßigen Behörden übergreifenden Gesprächen,<br />
um die effektive Zusammenarbeit mit abgestimmten Maßnahmen zur nachhaltigen<br />
Bekämpfung <strong>der</strong> Jugendkriminalität zu för<strong>der</strong>n. (Kl. Anfrage 18/1801, S. 1-2)
Abb.6<br />
125
126<br />
Torsten Schubert<br />
Schulgewalt und Medien<br />
1. Wir haben die Medien, die wir verdienen!<br />
Nutzen und verän<strong>der</strong>n wir sie!<br />
2. Wettbewerb und Geschäft<br />
Mo<strong>der</strong>ne Medien im Spannungsfeld<br />
3. Information ist eine Ware<br />
4. „Mach`, dass sie nicht mehr schlecht über<br />
mich schreiben!“<br />
5. Das Ereignis ist <strong>der</strong> Grund, eine<br />
Geschichte zu erzählen<br />
6. Sinnvolle Angebote für eine präventive<br />
Berichterstattung
127<br />
Wir haben die Medien, die wir verdienen<br />
Gewaltdarstellung ist einfacher zu vermitteln und stößt auf größeres Interesse als<br />
Hintergrundberichte über Gewaltursachen. Public Relations können helfen, das<br />
Bewusstsein von Journalisten für die eigene Berichterstattung zu schärfen und eine<br />
Diskussion über den Umgang <strong>der</strong> Medien mit Gewalt auszulösen.<br />
Über nichts liest <strong>der</strong> Mensch lieber als über Menschen. Das lernt je<strong>der</strong> angehende<br />
Journalist schon während seiner Ausbildung. Nur was möchte <strong>der</strong> Mensch über<br />
an<strong>der</strong>e Menschen lesen? „Sex sells“ lautet die Antwort – und sie könnte ergänzt<br />
werden durch „violence, too“. Also Sex und Gewalt für die Auflage: Funktioniert das<br />
wirklich? Bestes Beispiel ist die „Bild“. Die „tägliche Nackte“ erreicht über die Jahre<br />
gesehen wohl mehr Menschen als die Bibel und auch die erschreckenden Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Tsunami-Katastrophe haben ihre Betrachter gefunden. Wird das alles ergänzt durch<br />
ein wenig Gemeinschaftsgefühl („Wir sind Papst!“), ist die Mischung perfekt, die<br />
Auflage gemacht.<br />
Ist Journalismus wirklich so berechnend und so einfach? Nicht nach den Worten von<br />
Egon Erwin Kisch, <strong>der</strong> auch heute noch als großes Vorbild für Journalisten betrachtet<br />
wird: „Der gute Reporter hat ein Schriftsteller <strong>der</strong> Wahrheit zu sein, <strong>der</strong> durch die<br />
Wahl von Farbe und Perspektive seine Reportage zu einem anklägerischen<br />
Kunstwerk macht.“ Doch welcher Leser<br />
hat heute beim Durchblättern seiner Zeitung das Gefühl, ein Kunstwerk in Händen zu<br />
halten?<br />
Wettbewerb und Geschäft<br />
Die mo<strong>der</strong>nen Medien befinden sich im Spannungsfeld zwischen Informationspflicht,<br />
Wettbewerb und Geschäft. Mit Privatfernsehen und Internet hat sich das<br />
Informations-Umfeld dramatisch verän<strong>der</strong>t und mit ihm die Gewohnheiten <strong>der</strong><br />
Menschen, sich zu informieren. Der klassischen Zeitung o<strong>der</strong> dem Magazin kommt<br />
nicht mehr die herausragende Rolle zu, die sie noch vor vielleicht zehn Jahren<br />
hatten. Das Schlagwort, das diese Verän<strong>der</strong>ungen begleitet hat, lautet „Infotainment“<br />
– die unterhaltende Information, kurz, schnell, amüsant und zeitsparend. Neue<br />
Formate entstanden: Talkshows, Soap-Serien, Reality-TV. Was die Macher dieser<br />
Sendungen dabei immer im Blick behalten haben: Über nichts liest (o<strong>der</strong> sieht) <strong>der</strong><br />
Mensch lieber als über an<strong>der</strong>e Menschen. Das Prinzip ist geblieben, nur die Technik
128<br />
ist mo<strong>der</strong>ner und das hat eine eindeutige Konsequenz: Viel weniger Platz für<br />
erläuternde Hintergrundberichte. Um es flapsig auszudrücken: Gewalt ist, wenn es<br />
knallt. Erklärt man präventiv die Ursachen von Gewalt, knallt es nicht – und das will<br />
keiner lesen.<br />
Was ist <strong>der</strong> Motor dieser Entwicklung? Wettbewerb und Geschäft. Früher gab es in<br />
Deutschland drei Fernsehprogramme, die sich nur zum Teil selbst finanzieren<br />
mussten. Sie hatten einen öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrag und sendeten in <strong>der</strong><br />
Woche höchstens bis Mitternacht. Auch <strong>der</strong> Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt war<br />
überschaubar. Bis Anfang <strong>der</strong> 90er Jahre gab es „Spiegel“, „Stern“ und „Zeit“ als<br />
wichtigste Wochenblätter, niemand konnte sich damals vorstellen, dass sich daneben<br />
noch weitere Titel etablieren könnten. Dann kam „Focus“ und verän<strong>der</strong>te die<br />
Magazinlandschaft radikal. Die an<strong>der</strong>en mussten reagieren, <strong>der</strong> Wettbewerb um die<br />
Leser war entbrannt und damit <strong>der</strong> Kampf um Anzeigenkunden.<br />
Seit Ende des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts ein Verleger in den Vereinigten Staaten die Idee<br />
hatte, seine Zeitung hauptsächlich durch Anzeigen zu finanzieren, sind die Leser nur<br />
noch mittelbar wichtig für die Verlage. Die Höhe <strong>der</strong> Auflage bestimmt den<br />
Anzeigenpreis. Das heißt, wer für die Masse produziert, verdient gut. Umgekehrt:<br />
Wer Randthemen aufgreift, seine Leser überfor<strong>der</strong>t o<strong>der</strong> langweilt, verliert sehr<br />
schnell Anzeigen, weil die Unternehmen ihre Zielgruppe nicht mehr erreichen. Im<br />
Zeitalter des Infotainments erreicht die Masse, wer unterhält. Ehrgeizige Projekte wie<br />
das Zeit-Magazin o<strong>der</strong> das Magazin <strong>der</strong> Süddeutschen Zeitung sind dieser neuen<br />
Ausrichtung genauso zum Opfer gefallen, wie längere Reportagen in Tageszeitungen<br />
und <strong>der</strong>en Wochenendausgaben.<br />
Information ist eine Ware<br />
Gleichzeitig führt eine Entwicklung, die in den 50er Jahren begonnen hat, zu einem<br />
immer größeren Informationsmonopol: Die Konzentration <strong>der</strong> Verlage. Nur noch<br />
wenige Unternehmen steuern heute die Medienlandschaft. Deren Ziel ist<br />
Gewinnmaximierung. Der journalistische Auftrag, die Information wird zur Ware. Die<br />
Redaktionen, eigentlich von verlegerischen Entscheidungen weitgehend unabhängig,<br />
aber angesichts <strong>der</strong> wirtschaftlichen Macht keineswegs frei, produzieren, was am<br />
Markt nachgefragt wird: Infotainment.<br />
Natürlich gibt es noch eine Informationspflicht <strong>der</strong> Medien. Sie kommen ihr auch<br />
nach durch Meldungen und Berichte. Doch <strong>der</strong> Stil hat sich verän<strong>der</strong>t. Vergleicht man<br />
einen „Spiegel“ von heute mit einer älteren Ausgabe, stellt man fest, dass nicht nur
129<br />
die Fotos farbig geworden sind, son<strong>der</strong>n die Artikel oberflächlicher und reißerischer.<br />
Hinterfragt man einen Artikel aus <strong>der</strong> „Zeit“, bemerkt man, dass manches an<br />
Informationen auf die gewollte Aussage hin ein wenig passend gemacht wurde.<br />
Äußeres Merkmal vieler Zeitungen, an dem sich das unternehmerische Denken <strong>der</strong><br />
Gewinnmaximierung zulasten <strong>der</strong> Qualität erkennen lässt: Die Anzahl <strong>der</strong><br />
Rechtschreibfehler und grammatikalisch falschen Sätze. Hier wird offensichtlich an<br />
<strong>der</strong> Schlussredaktion auf Kosten <strong>der</strong> Leser gespart.<br />
Aber noch ein an<strong>der</strong>er Punkt ist wichtig für das Verständnis, was Medien ihren<br />
Nutzern mitteilen. Das Schlüsselwort ist Information. Was bedeutet es? Journalisten<br />
sollen Leser, Zuhörer o<strong>der</strong> Zuschauer an dem Geschehen um sie herum teilhaben<br />
lassen. Dazu müssen sie selbst wissen, was aktuell geschieht, sie benötigen<br />
Informationen, die sie aufarbeiten und weitergeben können. Doch diese<br />
Informationen sind heute so vielseitig, dass Journalisten geradezu einer Flut von<br />
Mitteilungen ausgesetzt sind: Sie bekommen Pressemeldungen, Einladungen,<br />
Anrufe, nehmen an Pressekonferenzen, Hintergrundgesprächen und Vorträgen teil.<br />
Inszeniert von einer Dienstleistungsindustrie, die sich darauf spezialisiert hat, für<br />
Wirtschaft, Politik, Verbände und Institutionen professionelle Kommunikation zu<br />
organisieren. Public Relations (PR) sollen die öffentliche Meinung zu Gunsten ihrer<br />
Auftraggeber beeinflussen. Die Journalisten sind das Werkzeug dazu, dessen sich<br />
die PR-Spezialisten bedienen. Denn ein Artikel in einer renommierten Zeitung ist in<br />
<strong>der</strong> Meinung <strong>der</strong> Öffentlichkeit immer noch glaubwürdiger als die beste<br />
Marketingkampagne. So produzieren Pressesprecher und Agenturen Informationen,<br />
die nur ein Ziel haben: einen Raum in den Zeitungen o<strong>der</strong> Sendezeit im Radio und<br />
Fernsehen für sich zu gewinnen. Informationen sind damit auch auf Seiten <strong>der</strong><br />
Informanten eine Ware und ein nicht zu unterschätzendes Machtmittel, mit dem auf<br />
allen Ebenen <strong>der</strong> Gesellschaft Politik gemacht wird. Die Frage hinter je<strong>der</strong><br />
Information muss also lauten: Wer hat warum und an wen welche Information<br />
gegeben o<strong>der</strong> durchsickern lassen? Vieles kommt nur an die Öffentlichkeit, weil<br />
damit ein hinter <strong>der</strong> Information verborgener Zweck erreicht werden soll.<br />
„Mach’, dass sie nicht mehr schlecht über mich schreiben!“<br />
Was sind diese Informationen wert? Sie sind subjektiv gefärbt. Dennoch helfen sie<br />
den Journalisten eventuell dabei, die richtigen Themen zu finden und die richtigen<br />
Fragen zu stellen. Wenn sie dafür Zeit haben und wenn dies gewollt ist. Doch Zeit ist<br />
auch für Journalisten ein knappes Gut. Sie müssen die Vielzahl an Informationen
130<br />
strukturieren – und zwar nach dem Gesichtspunkt des Lesernutzens. Die Fragen<br />
lauten für sie: Wer sind unsere Nutzer und was wollen sie in ihrer Zeitung lesen?<br />
Dagegen lautet die Frage für die Anzeigenabteilungen: Wie können wir die Wünsche<br />
unserer Kunden umsetzen? Und die Kunden, die Anzeigen schalten und<br />
Pressearbeit machen, möchten ihre Informationen und Texte natürlich veröffentlicht<br />
sehen. Ein Spannungsfeld also zwischen freier Berichterstattung und Geschäft.<br />
Wobei die Medien unterschiedlich damit umgehen. Um bei den Zeitungen zu bleiben:<br />
Die Bild-Hamburg beschäftigt allein drei Redakteure, die nur für die<br />
Anzeigenabteilung schreiben. Dagegen hält das Hamburger Abendblatt noch<br />
weitgehend am Prinzip <strong>der</strong> Trennung von Redaktion und Anzeigenabteilung fest.<br />
Doch auch ohne den Druck aus <strong>der</strong> Anzeigenabteilung kann professionelle<br />
Pressearbeit den Inhalt <strong>der</strong> Medien beeinflussen. Das ist sinnvoll und legitim, da die<br />
Redaktionen von vielfältigen Informationen leben. Als erster hat das vor über<br />
einhun<strong>der</strong>t Jahren <strong>der</strong> amerikanische Ölbaron John Rockefeller erkannt. Er heuerte<br />
einen arbeitslosen Journalisten mit den Worten an: „Mach’, dass sie nicht mehr<br />
schlecht über mich schreiben!“ Die Geburtsstunde <strong>der</strong> Public Relations - von denen<br />
Pressearbeit ein wichtiger Teil ist – begann also mit einem klaren, subjektiv gefärbten<br />
Auftrag. Daran hat sich bis heute nichts geän<strong>der</strong>t, PR beeinflusst die öffentliche<br />
Meinung durch gezielte Aktionen und Informationen. Dabei nutzen Unternehmen,<br />
Initiativen und Verbände die Möglichkeiten <strong>der</strong> PR immer häufiger, gezielter und<br />
professioneller, so dass sich für die Journalisten daraus ein großer Informationspool<br />
gebildet hat, <strong>der</strong> insgesamt dazu beitragen könnte, die Qualität ihrer Arbeit zu<br />
verbessern.<br />
Das Ereignis ist <strong>der</strong> Grund, eine Geschichte zu erzählen<br />
Doch warum werden manche Informationen von den Medien mehr genutzt als<br />
an<strong>der</strong>e? Warum wird über manche Themen häufiger berichtet? Warum gibt es zum<br />
Beispiel ausführliche Berichte über Gewalt an Schulen, wenn gerade etwas passiert<br />
ist, nicht aber zur präventiven Aufklärung über Gewaltphänomene? Informationen<br />
sind eine Ware und wie bei je<strong>der</strong> Ware zählt die Verkaufbarkeit. Was verkauft<br />
werden kann, entscheidet sich nach verschiedenen Kriterien: Relevanz für die<br />
Käufer, Aktualität und Brisanz eines Themas, gesellschaftliche Trends,<br />
Lesegewohnheiten <strong>der</strong> Käufer, Aufmachung und Bedeutung eines Themas für<br />
bestimmte gesellschaftliche Gruppen. Wie Eingangs bereits geschrieben, sind<br />
Gewalt und Verbrechen ein Bereich, <strong>der</strong> viele Menschen interessiert. Deshalb
131<br />
kommen sie häufig in <strong>der</strong> Berichterstattung vor und deshalb entsteht <strong>der</strong> Eindruck,<br />
die Medien berichten immer nur über das Schlechte. Diese Themen sind aber erst<br />
dann spannende, wenn wirklich etwas passiert ist, erst dann kann <strong>der</strong> Journalist mit<br />
Opfern, Augenzeugen, Angehörigen, Polizei, Ärzten, Seelsorgern, Psychologen,<br />
Nachbarn sprechen. Erst dann kann er aus einem Anlass heraus zum Beispiel das<br />
Leben einer Dorfgemeinschaft schil<strong>der</strong>n, die vielleicht erst ein spezielles Verbrechen<br />
ermöglicht o<strong>der</strong> begünstigt hat. Erst dann fokussiert sich das alltägliche Leben in<br />
einem so kleinen Ausschnitt, dass es exemplarisch vorgeführt werden kann. Das<br />
Ereignis ist <strong>der</strong> Grund, eine Geschichte zu erzählen. Je atemberauben<strong>der</strong> das<br />
Ereignis, desto größer das Interesse für die Geschichte. Aus demselben Grund sind<br />
Krimis so beliebt: Der Leser verliert nie den einfachen roten Faden <strong>der</strong> Handlung aus<br />
den Augen und er nimmt zusätzlich teil an den Schicksalen, über die darum herum<br />
berichtet wird.<br />
Wenn die Medien für ihre Nutzer interessant sein wollen, um die Auflage zu erhöhen<br />
o<strong>der</strong> zumindest zu halten und sich an den Vorlieben ihrer Kunden orientieren, haben<br />
sie keine an<strong>der</strong>e Möglichkeit, als über Gewalt und Verbrechen ausführlich im<br />
nachhinein zu berichten, nämlich dann, wenn tatsächlich etwas passiert ist.<br />
Sinnvolle Angebote für eine präventive Berichterstattung<br />
Können sie darüber hinaus präventiv und aufklärerisch Ursachen und Möglichkeiten<br />
<strong>der</strong> Verhin<strong>der</strong>ung von Gewalt beschreiben? Ja, das können sie. Allerdings müssen<br />
sie sich wie<strong>der</strong>um fragen, wie groß das Interesse ihrer Nutzer an solchen Berichten<br />
ist. Dabei werden sie zum Schluss kommen, dass nur ein kleiner Teil ihrer Kunden<br />
sich mit dem Phänomen Gewalt auseinan<strong>der</strong>setzt. Folglich wird den Themen<br />
Ursachen von Gewalt und Gewaltprävention nur wenig Platz in <strong>der</strong> Berichterstattung<br />
eingeräumt.<br />
Gewalt ist genauso ein gesellschaftliches Phänomen, wie die Lese- und<br />
Fernsehgewohnheiten <strong>der</strong> Bevölkerung. Sie schreckt ab und fasziniert Menschen<br />
gleichermaßen. Vielleicht ist deshalb ein Verständnis des Gewaltphänomens nicht<br />
nur intellektuell, son<strong>der</strong>n auch emotional schwierig. Eine Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />
Berichterstattung in den Medien zum Thema Gewalt muss genau an diesem Punkt<br />
ansetzen. Wie können Menschen dafür interessiert werden, sich von den Medien<br />
nicht nur „schaurig schöne“ Geschichten erzählen zu lassen, son<strong>der</strong>n sich mit Gewalt<br />
auseinan<strong>der</strong> zu setzen?
132<br />
Dabei könnte den Medien eine Schlüsselrolle zufallen, weil sie die Masse <strong>der</strong><br />
Bevölkerung erreichen. Doch wie sie davon überzeugen? Die Relevanz des<br />
Problems dürfte vielen Journalisten bewusst sein. Was sie benötigen, sind sinnvolle<br />
Angebote, wie sie eine interessante Berichterstattung aufziehen könnten. Hier spielt<br />
die PR als Werkzeug <strong>der</strong> professionellen Kommunikation eine wichtige Rolle.<br />
Journalisten erwarten, dass sie über Neuigkeiten, Ereignisse und Ideen informiert<br />
werden und die Informationen bereits zu ihrer Verwendung aufbereitet sind. Gute PR<br />
nimmt Journalisten Zeit ab und erreicht damit eine stärkere Berücksichtigung ihrer<br />
lancierten Themen. Das beginnt bei <strong>der</strong> Überlegung, welche Themen für die Medien<br />
überhaupt geeignet sind, führt über eine gut geschriebene Presseinformation, eine<br />
aussagekräftige Pressemappe und eine adäquate Kontaktaufnahme zu den<br />
Journalisten und kann bis zur Weiterbildung ausgewählter Journalisten in dem<br />
Themenbereich reichen. Es gilt, Journalisten die interessanten Aspekte eines<br />
Themas aufzuzeigen, das kann auch auf unkonventionelle Art und Weise<br />
geschehen, zum Beispiel, indem ein Journalist referiert, <strong>der</strong> selbst schon einmal<br />
Opfer von Gewalt geworden ist und sich nun vielleicht mit diesem Thema verstärkt<br />
beschäftigt. Eine Zusammenarbeit mit dem Deutschen Journalistenverband o<strong>der</strong><br />
Reporter ohne Grenzen, die sich auch immer wie<strong>der</strong> mit dem Thema Gewalt<br />
gegenüber Journalisten auseinan<strong>der</strong>setzen, könnte dabei zu neuen Ansätzen führen,<br />
die vielleicht mehr als eine Tür in die Redaktionen öffnen.<br />
Journalisten wählen, wie viele Menschen, gerne den einfachen Weg. Über ein<br />
geschehenes Gewaltverbrechen zu berichten ist sehr viel leichter, als sich mit dem<br />
Phänomen Gewalt in allen seinen Facetten tatsächlich auseinan<strong>der</strong>zusetzen. PR<br />
kann Journalisten helfen, einen Einstieg in die Thematik zu finden und ihnen den<br />
Weg zu ebnen, indem sie das große Thema in immer wie<strong>der</strong> neue, überschaubare<br />
Aspekte glie<strong>der</strong>t. So kann sie dabei helfen, Journalisten zu überzeugen, dass auch<br />
viele ihrer Leser o<strong>der</strong> Zuschauer sich mit dem Thema Gewalt beschäftigen würden,<br />
wenn es nur verständlich und interessant genug aufbereitet wird. PR kann vor allem<br />
dabei helfen, die Relevanz des Themas zu betonen und die Menschen, Institutionen<br />
und Gruppen, die daran arbeiten, in <strong>der</strong> Öffentlichkeit bekannt zu machen.<br />
Im so genannten Informationszeitalter hat nur noch das eine ausreichend große<br />
Bedeutung, um aufzuklären und Verän<strong>der</strong>ungen im Bewusstsein <strong>der</strong> Menschen zu<br />
bewirken, was irgendwie im öffentlichen Gespräch ist. Medien bringen Themen nach<br />
vorne o<strong>der</strong> verhin<strong>der</strong>n sie. Dabei gilt: Wir haben die Medien, die wir verdienen.<br />
Nutzen und verän<strong>der</strong>n wir sie!
133<br />
Jugendschutz und Indizierungspraxis –<br />
Die Aufgaben <strong>der</strong> Bundesprüfstelle<br />
Vortrag an <strong>der</strong> Universität Hamburg, 09.03.2005<br />
Kriminologische Studienwoche „Gewalt in <strong>der</strong> Schule“<br />
Geschichte <strong>der</strong> BPjM:<br />
Nach den Erfahrungen während des Dritten Reiches, als Medien nur veröffentlicht<br />
werden durften, wenn eine Genehmigung des NS-Regimes vorlag, wollte man in <strong>der</strong><br />
neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland keinerlei Zensur dulden. In Artikel 5<br />
Abs. 1 Grundgesetz (GG) wurde daher festgeschrieben, dass eine Zensur nicht stattfindet.<br />
Gemeint war damit die so genannte „Vorzensur“, d.h. ein Verbot vor Veröffentlichung.<br />
Sehr schnell merkte man jedoch, dass in einer grenzenlos freien Medienlandschaft<br />
auch solche Medien veröffentlicht wurden, <strong>der</strong>en Inhalt zumindest auf Kin<strong>der</strong> und<br />
Jugendliche eine bedenkliche Wirkung ausüben konnte. Insbeson<strong>der</strong>e handelte es<br />
sich um Berichte ehemaliger Soldaten o<strong>der</strong> SS-Angehöriger, die in höchsten Tönen<br />
von ihren Erlebnissen während des Zweiten Weltkrieges schwärmten.<br />
Daher trat am 14. Juli 1953 das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährden<strong>der</strong><br />
Schriften (GjS) in Kraft, <strong>der</strong> Vorläufer des seit 01.04.2003 geltenden Jugendschutzgesetzes<br />
(JuSchG). Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (seit<br />
01.04.2003: Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien) hatte ihre erste konstituierende<br />
Sitzung am 14. Mai 1954.<br />
Das GjS sah vor, dass die Bundesprüfstelle nur auf Antrag tätig werden konnte.<br />
Grund hierfür ist, dass – um eine Vorzensur zu vermeiden – alle Medien zunächst auf<br />
den Markt gebracht werden dürfen. Außerdem sollte aus <strong>der</strong> Bevölkerung heraus<br />
eine Beschwerde über ein Medium erhoben werden, d.h. aus <strong>der</strong> Gesellschaft heraus<br />
sollte <strong>der</strong> Bundesprüfstelle ein Signal gegeben werden, dass ein bestimmter Inhalt<br />
für jugendgefährdend gehalten wird. Die Bundesprüfstelle sollte also nicht nach<br />
ihrem eigenen Gutdünken Medien zur Prüfung auswählen dürfen.<br />
Zu den Berechtigten, die einen Indizierungsantrag stellen konnten, zählten zunächst<br />
nur die Obersten Landesjugendbehörden. 1978 wurden alle Jugendämter (ca. 500<br />
Stellen) in den Kreis <strong>der</strong> Antragsberechtigten aufgenommen, nach <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung<br />
konnten somit ca. 800 Stellen Indizierungsanträge stellen.<br />
Seit dem 01.04.2003 gibt es nun zusätzlich die so genannten Anregungsberechtigten.<br />
Dazu zählen diejenigen Behörden, die nicht schon als Antragsberechtigte genannt<br />
sind, sowie alle anerkannten Träger <strong>der</strong> freien Jugendhilfe.<br />
Am 07.12.2004 feierte die Bundesprüfstelle ihr 50-jähriges Bestehen mit einem Festakt,<br />
an dem auch die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,<br />
Renate Schmidt, teilnahm und mit Jugendlichen diskutierte.
134<br />
2<br />
Gremien <strong>der</strong> BPjM:<br />
Über Indizierungen von Medien o<strong>der</strong> über Streichungen aus <strong>der</strong> Liste <strong>der</strong> jugendgefährdenden<br />
Medien entscheidet ein Gremium von 12 Personen. Die Entscheidung<br />
muss mit 2/3 Mehrheit ergehen. Das 12er-Gremium setzt sich wie folgt zusammen:<br />
• die/<strong>der</strong> Vorsitzende <strong>der</strong> BPjM<br />
• 8 Beisitzerinnen und Beisitzer, entsandt aus den Gruppen<br />
Kunst,<br />
Literatur,<br />
Buchhandel und Verleger,<br />
Anbieter von Bildträgern und Telemedien,<br />
Träger <strong>der</strong> freien Jugendhilfe,<br />
Träger <strong>der</strong> öffentlichen Jugendhilfe,<br />
Lehrerschaft,<br />
Kirchen,<br />
• 3 Beisitzerinnen und Beisitzer <strong>der</strong> Län<strong>der</strong><br />
In Fällen <strong>der</strong> offensichtlichen Jugendgefährdung (§ 23 I JuSchG) kann die BPjM mit<br />
einem 3er-Gremium im vereinfachten Verfahren entscheiden, allerdings muss die<br />
Entscheidung hier einstimmig ergehen. Das 3er-Gremium besteht aus:<br />
• <strong>der</strong>/dem Vorsitzenden <strong>der</strong> BPjM<br />
• zwei Beisitzerinnen bzw. Beisitzern, wobei eine/r von diesen aus den Gruppen 1<br />
bis 4 (Kunst / Literatur / Buchhandel und Verleger / Anbieter von Bildträgern und<br />
Telemedien) entsandt sein muss.<br />
„Jugendgefährdung“<br />
§ 18 Abs. 1 S. 1 JuSchG definiert die Jugendgefährdung als „Gefährdung <strong>der</strong> Entwicklung<br />
von Kin<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> Jugendlichen o<strong>der</strong> ihrer Erziehung zu einer eigenverantwortlichen<br />
und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“.<br />
Unter diesen Begriff fallen Medien, die befürchten lassen, dass durch ihre Lektüre<br />
das sittliche Verhalten des Kindes o<strong>der</strong> Jugendlichen im Denken, Fühlen, Reden<br />
o<strong>der</strong> Handeln von den Normen des Erziehungszieles wesentlich abweicht.<br />
Das Erziehungsziel ist vor allem dem Grundgesetz, insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Menschenwürde<br />
und den Grundrechten zu entnehmen, aber auch den mit dem Grundgesetz übereinstimmenden<br />
pädagogischen Erkenntnissen und Wertmaßstäben, über die in <strong>der</strong><br />
Gesellschaft Einigkeit besteht.<br />
„unsittliche Medien“<br />
Der Begriff „unsittlich“ bezieht sich auf Medien mit sexuell-erotischem Inhalt. Die untere<br />
Schwelle <strong>der</strong> Unsittlichkeit liegt nicht bei schlichten Nacktaufnahmen, son<strong>der</strong>n es<br />
müssen weitere Umstände hinzukommen, z.B. Hervorhebung <strong>der</strong> Geschlechtsmerkmale.<br />
Die obere Schwelle liegt unterhalb <strong>der</strong> Pornographie (die immer schwer jugendgefährdend<br />
ist, siehe unten).
135<br />
3<br />
Die Bundesprüfstelle hat im Verlauf ihrer Spruchpraxis mehrere Kriterien zu diesem<br />
Begriff entwickelt und nimmt ein Vorliegen <strong>der</strong> Unsittlichkeit u.a. in diesen Fällen an:<br />
• Menschen (Frauen wie Männer) werden zum sexuellen Konsumartikel o<strong>der</strong> je<strong>der</strong>zeit<br />
benutzbaren Gegenstand degradiert o<strong>der</strong> sie werden unter Hervorhebung ihrer<br />
Geschlechtsmerkmale als Lustobjekt dargestellt.<br />
• Es wird <strong>der</strong> Eindruck erweckt, das menschliche Leben sei auf Sexualgenuss zentriert<br />
und sexuelle Befriedigung sei <strong>der</strong> einzige, das menschliche Leben beherrschende<br />
Wert.<br />
• Prostitution o<strong>der</strong> Promiskuität werden verherrlicht bzw. verharmlost<br />
• Die sexuellen Darstellungen sind mit dem Element <strong>der</strong> Gewalt verknüpft.<br />
„verrohend wirkende Medien“<br />
„zu Gewalttätigkeit, Verbrechen anreizende Medien“<br />
Als verrohend gelten Medien, die geeignet sind, rohe Instinkte zu wecken, eine gefühllose,<br />
gegen Schicksal und Leiden an<strong>der</strong>er abgestumpfte Gesinnung hervorzurufen<br />
o<strong>der</strong> zu intensivieren<br />
Als zu Gewalttätigkeit o<strong>der</strong> Verbrechen anreizende Medien gelten solche, die bei objektiver<br />
Betrachtung befürchten lassen, dass junge Rezipienten durch sie zur Begehung<br />
von Gewalttätigkeiten, Verbrechen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Straftaten verführt werden,<br />
weil sie ein solches Verhalten herrlich, vorbildlich o<strong>der</strong> nachahmenswert finden.<br />
Die Bundesprüfstelle nimmt eine verrohende Wirkung bzw. einen zu Gewalttätigkeit<br />
anreizenden Inhalt u.a. in folgenden Fällen an:<br />
• Gewalt wird selbstzweckhaft, in epischer Breite dargestellt.<br />
• Gewalt wird als vorrangiges Konfliktlösungsmittel präsentiert.<br />
• Die Anwendung von Gewalt im Namen des Gesetzes o<strong>der</strong> im Dienst einer angeblich<br />
guten Sache wird als völlig selbstverständlich und üblich dargestellt, in Wahrheit<br />
jedoch werden Recht und Ordnung negiert.<br />
• Selbstjustiz wird als einzig probates Mittel zur Durchsetzung <strong>der</strong> vermeintlichen<br />
Gerechtigkeit dargestellt.<br />
„zum Rassenhass anreizend“<br />
Unter diesen Begriff fallen Medien, die durch Einwirkung auf die Leidenschaft eine<br />
feindselige Haltung gegenüber an<strong>der</strong>en Rassen angehörigen Personen, Bevölkerungsteilen<br />
o<strong>der</strong> Völkern hervorzurufen geeignet sind und damit den Nährboden für<br />
Hass, öffentliche Äußerungen, Kampagnen o<strong>der</strong> sogar Ausschreitungen gegen die<br />
betroffenen Kreise zu bereiten geeignet sind.
136<br />
4<br />
„NS-verherrlichend und -verharmlosend“<br />
Medien mit diesen Inhalten sind nicht als Regelbeispiel im § 18 Abs. 1 JuSchG aufgeführt.<br />
Nach ständiger Spruchpraxis, bestätigt durch höchstrichterliche Rechtsprechung,<br />
geht die Bundesprüfstelle jedoch auch hier von einer Jugendgefährdung aus.<br />
- Medien, die insbeson<strong>der</strong>e Jugendlichen als Verteidigung und damit als Werbung<br />
für die Ideologie des Nationalsozialismus, seine Rassenlehre, seine Führung, sein<br />
Erziehungsprogramm und seine Kriegsführung erscheinen<br />
- Medien, die das NS-Regime und damit zugleich dessen Ideologie durch Geschichtsklitterung<br />
aufzuwerten und zu rehabilitieren versuchen und bei jugendlichen<br />
Lesern eine entsprechende Fehlorientierung auslösen können<br />
-<br />
Jugendaffinität / Erreichbarkeit für Jugendliche<br />
Bei den Entscheidungen <strong>der</strong> Bundesprüfstelle spielt auch eine Rolle, ob das jeweilige<br />
Medium bzw. sein Inhalt auf Kin<strong>der</strong> und Jugendliche interessant wirkt.<br />
Die Gremien <strong>der</strong> Bundesprüfstelle haben auch den Umstand zu berücksichtigen, ob<br />
das Medium für Kin<strong>der</strong> und Jugendliche erreichbar ist. Ein beson<strong>der</strong>s hoher Preis<br />
kann z.B. dazu führen, dass sich Kin<strong>der</strong> und Jugendliche das Medium nicht kaufen<br />
(können).<br />
Kunstfreiheit / Meinungsfreiheit<br />
Die Bundesprüfstelle hat bei ihren Entscheidungen den Schutzbereich <strong>der</strong> Grundrechte<br />
zu beachten. So kann ein jugendgefährdendes Medium ein Kunstwerk sein<br />
o<strong>der</strong> es kann eine bestimmte Meinung mithilfe des Mediums verbreitet werden. Die<br />
Belange des Jugendschutzes müssen daher gegen einen möglichen Eingriff in ein<br />
Grundrecht abgewogen werden.<br />
Folgen <strong>der</strong> Indizierung (§ 15 JuSchG)<br />
• Das Medium darf Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen nicht angeboten, überlassen o<strong>der</strong><br />
sonst zugänglich gemacht werden.<br />
• Es darf nicht an einem Ort, <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen zugänglich ist, ausgestellt,<br />
angeschlagen o<strong>der</strong> vorgeführt werden.<br />
• Es darf nicht im Einzelhandel außerhalb von Geschäftsräumen o<strong>der</strong> im Versandhandel<br />
angeboten o<strong>der</strong> überlassen werden.<br />
• Es darf nicht im Wege des Versandhandels eingeführt werden.<br />
• Die Liste <strong>der</strong> jugendgefährdenden Medien darf nicht zum Zweck <strong>der</strong> geschäftlichen<br />
Werbung abgedruckt werden.<br />
• Bei geschäftlicher Werbung darf nicht auf ein Indizierungsverfahren hingewiesen<br />
werden.<br />
• Ein indiziertes Medium darf nicht angepriesen, d.h. beworben, werden.
137<br />
5<br />
„Schwere Jugendgefährdung“ (§ 15 Abs. 2 JuSchG)<br />
Schwer jugendgefährdende Medien unterliegen auch ohne Aufnahme in die Liste<br />
den Beschränkungen des § 15 JuSchG. Folgende Fälle nennt das Gesetz:<br />
• Der Inhalt verstößt gegen §§ 86, 130, 130a, 131 o<strong>der</strong> 184 StGB<br />
• Kriegsverherrlichung<br />
• Die Menschenwürde verletzende Darstellung von Menschen, die sterben o<strong>der</strong><br />
schweren körperlichen Leiden ausgesetzt sind o<strong>der</strong> waren<br />
• Darstellungen von Kin<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> Jugendlichen in unnatürlicher, geschlechtsbetonter<br />
Körperhaltung<br />
• Offensichtliche schwere Jugendgefährdung<br />
Listenstreichungen<br />
Nach 25 Jahren entfällt die Wirkung <strong>der</strong> Indizierung. Die Vorsitzende <strong>der</strong> BPjM kann<br />
jedoch ein neues Verfahren einleiten, wenn die Voraussetzungen für die Aufnahme<br />
in die Liste weiterhin vorliegen.<br />
Bereits nach 10 Jahren kann die Listenstreichung im vereinfachten Verfahren beantragt<br />
werden.<br />
Liste <strong>der</strong> jugendgefährdenden Medien (§ 18 Abs. 2 JuSchG)<br />
Nach dem seit 01.04.2003 geltenden Jugendschutzgesetz hat die Bundesprüfstelle<br />
die Liste <strong>der</strong> jugendgefährdenden Medien in vier Teilen zu führen:<br />
Öffentliche Liste<br />
Teil A: Trägermedien<br />
Teil B: Trägermedien mit strafrechtsrelevantem Inhalt (nach Einschätzung <strong>der</strong> BPjM),<br />
die einem absoluten Verbreitungsverbot unterliegen<br />
Nichtöffentliche Liste<br />
Teil C: Telemedien (= Online-Medien) und solche Trägermedien, die nur „online“<br />
verbreitet werden o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en Nennung in <strong>der</strong> öffentlichen Liste <strong>der</strong> Wahrung<br />
des Jugendschutzes schaden würde<br />
Teil D: Telemedien mit strafrechtsrelevantem Inhalt (nach Einschätzung <strong>der</strong> BPjM)<br />
und ebensolche Trägermedien, <strong>der</strong>en Nennung in <strong>der</strong> öffentlichen Liste <strong>der</strong><br />
Wahrung des Jugendschutzes schaden würde<br />
Die Liste <strong>der</strong> indizierten Telemedien (= Internetangebote) ist somit nicht länger öffentlich.<br />
Handelt es sich um ausländische Internetangebote, auf die die deutschen Strafverfolgungs-<br />
und Ordnungsbehörden keinen Zugriff haben, wird die Adresse zur Einarbeitung<br />
in Filtersoftware weitergegeben.
138<br />
6<br />
Vor <strong>der</strong> Indizierung von Telemedien hat die BPjM die Stellungnahme <strong>der</strong> Kommission<br />
für Jugendmedienschutz (KJM) einzuholen. Diese Stellungnahme hat die BPjM<br />
bei ihrer Entscheidung „maßgeblich zu berücksichtigen“.<br />
Indizierungsantrag bzw. -anregung<br />
Die Stellung eines Indizierungsantrags bzw. einer Indizierungsanregung kann formlos<br />
geschehen. Da <strong>der</strong> Antrag bzw. die Anregung dem betroffenen Vertreiber o<strong>der</strong> Autor<br />
zugestellt werden muss (rechtliches Gehör), sollte das Schreiben aber eine kurze<br />
Begründung enthalten, aus <strong>der</strong> hervorgeht, weshalb das Medium als jugendgefährdend<br />
angesehen wird.<br />
Das Medium ist dem Antrag beizufügen, wobei auch eine Kopie ausreicht.<br />
Seit November 2004 ist es auch möglich, die Indizierung „online“ zu beantragen o<strong>der</strong><br />
anzuregen, direkt über die Homepage <strong>der</strong> Bundesprüfstelle<br />
Weitere Informationen und Hinweise zur Antragsstellung bzw. zur Anregung finden<br />
sich auf <strong>der</strong> Internetseite <strong>der</strong> BPjM, www.bundespruefstelle.de.<br />
Petra Meier<br />
Stellvertretende Vorsitzende <strong>der</strong> BPjM<br />
Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM)<br />
Rochusstrasse 10, 53123 Bonn<br />
Postfach 14 01 65, 53056 Bonn<br />
Allgemeine E-Mail: info@bpjm.bund.de<br />
Persönliche E-Mail: petra.meier@bpjm.bund.de<br />
Internet: www.bundespruefstelle.de<br />
Tel.: 0228-962103-0<br />
Fax: 0228-379014<br />
Anhang
139<br />
7<br />
Indizierungsgründe nach <strong>der</strong> Spruchpraxis <strong>der</strong> Bundesprüfstelle<br />
1. Im Bereich Gewaltdarstellung<br />
Mediale Gewaltdarstellungen wirken nach <strong>der</strong> Spruchpraxis <strong>der</strong> Bundesprüfstelle u.a.<br />
dann verrohend,<br />
• wenn Gewalt in großem Stil und epischer Breite geschil<strong>der</strong>t wird;<br />
• wenn Gewalt als vorrangiges Konfliktlösungsmittel propagiert wird, wobei in diesen<br />
Fällen überwiegend auch auf die Brutalität <strong>der</strong> Gewaltdarstellung abgestellt wird;<br />
• wenn die Anwendung von Gewalt im Namen des Gesetzes o<strong>der</strong> im Dienste einer angeblich<br />
guten Sache als völlig selbstverständlich und üblich dargestellt wird, die Gewalt<br />
jedoch in Wahrheit Recht und Ordnung negiert;<br />
• wenn Selbstjustiz als einzig probates Mittel zur Durchsetzung <strong>der</strong> vermeintlichen Gerechtigkeit<br />
dargestellt wird;<br />
• wenn Mord und Metzelszenen selbstzweckhaft und detailliert geschil<strong>der</strong>t werden.<br />
2. Im Bereich <strong>der</strong> Verherrlichung <strong>der</strong> NS-Ideologie, Rassenhass<br />
Jugendgefährdende Propagierung <strong>der</strong> NS-Ideologie liegt vor,<br />
• wenn für die Idee des Nationalsozialismus, seine Rassenlehre, sein autoritäres Führerprinzip,<br />
sein Volkserziehungsprogramm, seine Kriegsbereitschaft und seine Kriegsführung<br />
geworben wird;<br />
• wenn die Tötung von Millionen Menschen, insbeson<strong>der</strong>e die systematische Ausrottung<br />
jüdischer Menschen im sogenannten 3. Reich geleugnet wird;<br />
• wenn das NS-Regime durch verfälschte o<strong>der</strong> unvollständige Information aufgewertet<br />
und rehabilitiert werden soll, insbeson<strong>der</strong>e wenn Adolf Hitler und seine Parteigenossen<br />
als Vorbil<strong>der</strong> (o<strong>der</strong> tragische Helden) dargestellt werden.<br />
Zum Rassenhass stachelt ein Medium an,<br />
• wenn Menschen wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer an<strong>der</strong>en Rasse, Nation, Glaubensgemeinschaft<br />
o<strong>der</strong> ähnlichem als min<strong>der</strong>wertig und verächtlich dargestellt o<strong>der</strong> diskriminiert<br />
werden.<br />
3. Sexualethisch desorientierende Medien<br />
Ein Medium ist nach <strong>der</strong> Spruchpraxis <strong>der</strong> Bundesprüfstelle als sexualethisch desorientierend<br />
einzustufen,<br />
• wenn es Menschen auf entwürdigende Art zu sexuell willfährigen Objekten degradiert,<br />
indem es z.B. Frauen zu Sexualobjekten herabwürdigt;<br />
• wenn es Frauen o<strong>der</strong> Männer diskriminierende Praktiken anpreist;<br />
• wenn es sadistische Vorgehensweisen als luststeigernd propagiert;<br />
• wenn Vergewaltigung als Lusterlebnis dargestellt wird.<br />
4. Indizierungsgründe im Hinblick auf Computerspiele<br />
Die Bundesprüfstelle indiziert Computerspiele dann,<br />
• wenn Gewaltanwendung gegen Menschen als einzig mögliche Spielhandlung dargeboten<br />
wird;<br />
• wenn Gewalttaten gegen Menschen deutlich visualisiert bzw. akustisch untermalt werden<br />
(blutende Wunden, zerberstende Körper, Todesschreie);
140<br />
8<br />
• wenn Gewaltanwendung (insbeson<strong>der</strong>e Waffengebrauch) durch aufwendige Inszenierung<br />
ästhetisiert wird;<br />
• wenn Verletzungs- und Tötungsvorgänge zusätzlich zynisch o<strong>der</strong> vermeintlich komisch<br />
kommentiert werden;<br />
• wenn Gewalttaten gegen Menschen dargeboten werden, wobei die Gewaltanwendung<br />
"belohnt" wird (z.B. Punktegewinn, erfolgreiches Durchspielen des Computerspiels nur<br />
bei Anwendung von Gewalt).<br />
Der Gewalt gegen Menschen ist die gegen menschenähnliche Wesen gleichgestellt,<br />
sofern diese im Verletzungs- o<strong>der</strong> Tötungsfalle "menschlich" reagieren.<br />
5. Gründe für die Nichtindizierung<br />
Neben <strong>der</strong> Entscheidung, was indiziert wird, stellt sich für die Gremien die Frage, welche<br />
Medieninhalte nicht indiziert werden. Basierend auf Entscheidungen des Zwölfergremiums,<br />
in denen eine Indizierung abgelehnt wurde, sind dies im Bereich<br />
Computerspiele<br />
• Spiele, bei denen die Verletzung und/o<strong>der</strong> Tötung von Menschen eine unter mehreren<br />
möglichen Spielhandlungen darstellt und das Ergebnis <strong>der</strong> Kampfhandlung unblutig präsentiert<br />
wird;<br />
• Spiele, in denen an<strong>der</strong>e Elemente als Gewalttaten gegen Menschen eine wesentliche<br />
Rolle spielen;<br />
• Spiele, in denen Tötungsvorgänge gegen Menschen verfremdet dargestellt werden und<br />
zwar in einer Form, die Parallelen zur Realität nicht nahe legt;<br />
• Spiele, in denen Tötungsvorgänge ausschließlich gegen solche Wesen dargestellt werden,<br />
die Menschen eher nicht ähneln;<br />
• Spiele, in denen auch Horror- und Splatterelemente enthalten sind, in denen jedoch<br />
nicht gewalthaltige Anteile spielbestimmend sind, wobei die Horrorelemente nicht so gestaltet<br />
sein dürfen, dass auf Grund <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Brutalität die an<strong>der</strong>en Spielelemente in<br />
den Hintergrund treten;<br />
Videofilme<br />
In ähnlicher Weise ist die Bundesprüfstelle auch bei <strong>der</strong> Nichtindizierung von Videofilmen<br />
verfahren. Der Bundesprüfstelle wurden in den letzten Jahren diverse Videofilme vorgelegt,<br />
die von <strong>der</strong> FSK das Kennzeichen "Nicht geeignet unter 18 Jahren" erhalten haben.<br />
Dieses Kennzeichen haben die Beisitzerinnen und Beisitzer in bestimmten Fällen als ausreichend<br />
angesehen.<br />
Dies war insbeson<strong>der</strong>e dann <strong>der</strong> Fall,<br />
• wenn <strong>der</strong> Inhalt <strong>der</strong> Videofilme als nicht jugendaffin angesehen wurde;<br />
• wenn <strong>der</strong> Inhalt <strong>der</strong> Videofilme so gestaltet war, dass sich die Hauptfigur nicht als I-<br />
dentifikationsmuster anbietet;<br />
• wenn Nachahmungseffekte nicht zu vermuten waren;<br />
• wenn Gewalttaten als übertrieben aufgesetzt, unrealistisch, abschreckend und irreal<br />
eingestuft werden können;<br />
• wenn die Anwendung von Gewalt als nicht gerechtfertigt eingestuft wird bzw. Gewaltanwendung<br />
im Prinzip abgelehnt wird.<br />
Eine Beeinträchtigung des körperlichen Wohls ist kein Indizierungsgrund.
141<br />
Die Beratungsstelle<br />
Gewaltprävention<br />
Landesinstitut für<br />
Lehrerbildung und<br />
Schulentwicklung<br />
bietet allen Hamburger Schulen Beratung und<br />
Unterstützung bei <strong>der</strong> Bearbeitung von massiven<br />
Gewaltfällen und beim Aufbau einer friedfertigen<br />
Schulkultur.<br />
Unser Ziel ist es, allen Beteiligten schnelle,<br />
fachkundige und lösungsorientierte Hilfestellung<br />
zu geben, die in <strong>der</strong> Praxis umsetzbar ist.
142<br />
Angebote <strong>der</strong> BSG<br />
1. Krisenintervention bei akuten Vorfällen<br />
2. Unterstützung bei <strong>der</strong> Arbeit mit<br />
gewaltbereiten Jugendlichen<br />
3. Systemische und nachhaltige<br />
Gewaltprävention an Schulen<br />
4. Fortbildungen für den Umgang mit Gewalt<br />
und Konflikten
143<br />
1. Krisenintervention<br />
Sofortige Unterstützung vor Ort<br />
Bearbeitung <strong>der</strong> akuten Krise<br />
Lösungen für den zugrundeliegenden<br />
Konflikt aufzeigen; Hilfsangebote<br />
organisieren<br />
Koordination <strong>der</strong> einzuleitenden<br />
Maßnahmen
144<br />
2. Arbeit mit gewaltbereiten<br />
Jugendlichen<br />
Die BSG unterstützt Eltern, Schüler und<br />
Lehrkräfte bei andauernden<br />
Gewaltproblematiken. Grundhaltung dabei ist,<br />
den Jugendlichen einerseits zu zeigen, dass sie<br />
erst aus <strong>der</strong> Beobachtung herauskommen,<br />
wenn sie ihr Verhalten än<strong>der</strong>n,<br />
aber an<strong>der</strong>erseits auch aktive<br />
Unterstützungsangebote dabei erhalten.
145<br />
2. Arbeit mit gewaltbereiten<br />
Jugendlichen<br />
In Kooperation mit den Betroffenen, sowie<br />
<strong>der</strong> Schule und <strong>der</strong> Schulaufsicht, REBUS, den<br />
Familien, dem bezirklichen Jugendamt (ASD), <strong>der</strong><br />
Polizei, dem Familieninterventionsteam (FIT) <strong>der</strong><br />
Jugendgerichtshilfe (JGH) und freien Trägern<br />
werden die Maßnahmen koordiniert und durchgeführt.
146<br />
Quelle: vgl. Tillmann, 1999; Schubarth,<br />
2000; Melzer, Schubarth, Ehninger, 2004<br />
3. Gewaltprävention<br />
Leitlinien<br />
frühzeitig und<br />
zielgruppenbezogen<br />
För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> sozialen<br />
Identitätsentwicklung<br />
Regeln etablieren und<br />
Grenzen setzen<br />
Qualität <strong>der</strong> Lehrer-Schüler-Beziehung<br />
entwickeln<br />
demokratische und<br />
motivierende Lern- und<br />
Schulkultur<br />
Praktische Umsetzung/Beispiele<br />
Präventionsarbeit in Elternhaus, Kin<strong>der</strong>garten und<br />
(Grund-)Schule<br />
soziale Kompetenz entwickeln,<br />
beim reflexiven Erwerb <strong>der</strong> Geschlechterrolle helfen<br />
verbindliche Verhaltensnormen und konsequente Einhaltung,<br />
„Kultur des Hinsehens“, Opferschutz<br />
partnerschaftlichen, diskursiven Interaktionsstil för<strong>der</strong>n,<br />
Etikettierungen vermeiden, „Kultur <strong>der</strong> Anerkennung“<br />
Vermittlung eines positiven Leistungs- und Selbstkonzepts,<br />
gerechte Chancenstruktur, handlungsorientierter Unterricht<br />
Sozialklima för<strong>der</strong>n, Partizipation und Verantwortung<br />
Kooperationsbeziehungen<br />
entwickeln<br />
Präventionsmaßnahmen<br />
evaluieren<br />
mit Eltern, Jugendhilfe, Stadtteil/Kommune<br />
Selbst- und Fremdevaluation
147<br />
Beispiele schulischer<br />
Gewaltprävention<br />
Hamburger Schulen verankern Streitschlichtung in ihrem Schulalltag – als<br />
“Streitschlichter” ausgebildete Kin<strong>der</strong> und Jugendliche schlichten die<br />
Konflikte ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler.<br />
Gemeinsam von Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften und Eltern<br />
erarbeitete Klassenregeln, Schulverträge o<strong>der</strong> Hausordnungen bilden<br />
die solide Basis für einen sozialen Umgang miteinan<strong>der</strong>.<br />
Verantwortungsübernahme und Beteiligung von Schülerinnen und<br />
Schülern werden durch Klassenräte, Etagenkonferenzen o<strong>der</strong><br />
Schulkonferenzen geför<strong>der</strong>t.<br />
Mo<strong>der</strong>ne Konzepte zum Sozialen Lernen und zum Umgang mit Konflikten<br />
werden mit Schulklassen im Rahmen von Projekttagen erprobt.<br />
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter <strong>der</strong> Beratungsstelle informieren,<br />
koordinieren und begleiten diese Maßnahmen und Projekte und erarbeiten<br />
neue Ansätze, z.B. mit Kulturvermittlern, Konzepten<br />
geschlechtsspezifischer Gewaltprävention und Keep-Cool-Gruppen im<br />
schulischen Kontext.
148<br />
4. Fortbildungsangebote<br />
Informations-<br />
Verantaltungen<br />
(4 Std.)<br />
Basiskurse<br />
(1-2 Tage)<br />
Soziales Lernen,<br />
Zivilcourage<br />
- Soziales Lernen 1<br />
- Spiel- und<br />
theaterpädagogische<br />
Ansätze<br />
- Zivilcourage – ein<br />
didaktisches Training<br />
Streitschlichtung an<br />
Schulen<br />
- Neutral vermitteln in<br />
Konflikten<br />
- Streitschlichter in <strong>der</strong><br />
Grundschule ausbilden<br />
Gewalt,<br />
Deeskalation und<br />
Krisenintervention<br />
• Beratung von Eltern<br />
(gewalt-) auffälliger<br />
Schüler<br />
- Deeskalationstraining für<br />
Lehrkräfte<br />
- Konfrontative Pädagogik<br />
- Maßnahmen nach<br />
Gewalthandlungen an<br />
Schulen (Sek1)<br />
Aufbaukurse<br />
(1-3 Tage)<br />
Multiplika-torenfortbildung<br />
Schulinterne<br />
Lehrerfortbildung<br />
(Beispiele)<br />
- Soziales Lernen 2 - Supervisionstreffen für<br />
Streitschlichter-Lehrkräfte<br />
(Grundschule, Haupt-<br />
/Realschule,<br />
Gesamtschule<br />
Gymnasium)<br />
- Multiplikatorenfortbildung<br />
„Soziales Lernen“ (Sek1)<br />
(ca. 60 Stunden)<br />
- SchiLF, z.B.<br />
Pädagogische<br />
Jahreskonferenzen<br />
„Soziales Lernen“,<br />
„Zivilcourage“<br />
- Projekttage für Schüler<br />
(z.B. Fachkreis<br />
Gewaltprävention)<br />
- Multiplikatorenfortbildung<br />
Streitschlichtung (Sek1)<br />
(ca. 60 Stunden)<br />
- SchiLF, z.B.<br />
Pädagogische<br />
Jahreskonferenzen<br />
„Streitschlichtung<br />
verankern“<br />
- Sicherheit in <strong>der</strong> Schule –<br />
Erfurt und die Folgen<br />
(Schulleitungen,<br />
Funktionsträger)<br />
-<br />
- SchiLF, z.B.<br />
Pädagogische<br />
Jahreskonferenzen<br />
„Umgang mit<br />
schwerwiegenden<br />
Gewalthandlungen“
149<br />
Mitarbeiter <strong>der</strong> BSG<br />
Dr. Christian Böhm (Leitung) Tel.: 428 89 6140<br />
Peer Kaeding (Stellv. Leitung) Tel.: 428 89 6160<br />
Karin Gottwald Tel.: 428 89 6120<br />
Christina Großmann Tel.: 428 89 6130<br />
Kai Preußer Tel.: 428 89 6150<br />
Faruk Süren Tel.: 428 89 6120<br />
Edda Bargmann (Geschäftszimmer) Tel.: 428 89 6100<br />
Fax: 428 89 6170<br />
gewaltpraevention@li-hamburg.de www.li-hamburg.de<br />
Anschrift<br />
Beratungsstelle Gewaltprävention<br />
Grabenstraße 32<br />
20357 Hamburg<br />
LZ: 743/5014
150<br />
Leitbild <strong>der</strong> Beratungsstelle<br />
Gewaltprävention I<br />
An Schulen lernen und arbeiten Menschen<br />
unterschiedlicher Kulturen, Altersstufen, Religionen und<br />
Herkunft. Ein friedfertiges Miteinan<strong>der</strong> ist dabei<br />
Voraussetzung für eine erfolgreiche Bewältigung <strong>der</strong><br />
gemeinsamen Aufgaben. Alle Beteiligten sind<br />
aufgerufen, ihren Betrag für einen fairen und<br />
konstruktiven Umgang miteinan<strong>der</strong> beizutragen.<br />
Die Beratungsstelle Gewaltprävention bietet Beratung<br />
und Unterstützung bei <strong>der</strong> Bearbeitung von Gewaltfällen<br />
und beim Aufbau einer friedfertigen Schulkultur. Unser<br />
Ziel ist es, allen Beteiligten schnelle, fachkundige und<br />
lösungsorientierte Hilfestellung zu geben, die sich an<br />
den Bedarfen und Ressourcen <strong>der</strong> Schulstandorte<br />
orientiert und gleichzeitig langfristigen<br />
Schulentwicklungsplanungen Rechung trägt.
151<br />
Leitbild <strong>der</strong> Beratungsstelle<br />
Gewaltprävention II<br />
Deshalb möchten wir<br />
Bei Gewaltfällen schnell handeln<br />
alle Beteiligten einbinden<br />
nach einem erprobten, transparenten und systemischen Modell<br />
handeln<br />
ungewohnte Ideen und kreative Lösungsvorschläge einbringen<br />
nicht nur reagieren, son<strong>der</strong>n bereits im Vorfeld Kompetenzen<br />
stärken, Verantwortungsübernahme för<strong>der</strong>n und Bedingungen<br />
für eine friedliche Schulkultur entwickeln helfen<br />
Gewaltprävention als Aufgabe aller an Schule beteiligten<br />
verstehen<br />
Die Kompetenzen <strong>der</strong> Erwachsenen stärken, damit sie als<br />
Modell und Vorbild für Kin<strong>der</strong> und Jugendliche sind
152<br />
Dieter Lünse<br />
Jugendliche im Stadtteil und <strong>der</strong> konstruktive Umgang mit Konflikten – kurz KuK<br />
Der Boom <strong>der</strong> Streitschlichtung an Schulen ist sicher dem festen Rahmen <strong>der</strong> Institution Schule zu verdanken.<br />
Konfliktvermittlung in <strong>der</strong> Clique und sich wehren gegen Gewalt im Stadtteil ist ein relativ neues Gebiet. Der<br />
Stadtteil hat an<strong>der</strong>e Voraussetzungen und ist kein abgeschlossenes System wie eine Schule. Es fehlen die<br />
genauen Grenzen, die Rollen <strong>der</strong> Erwachsenen sind vielfältiger, und das „Wegsehen“ ist Bestandteil <strong>der</strong><br />
Anonymität von Großstädten. Wie sich jedoch schon an den Fachgesprächen zeigte, haben auch Stadtteile, so<br />
genannte Sozialräume, ihre je eigene Kultur im Umgang mit Konflikten und Gewalt. Die Zusammenarbeit <strong>der</strong><br />
verschiedenen Institutionen wird von unterschiedlichen Menschen geprägt und ist mal lebendiger und auch<br />
manchmal weniger dynamisch. Die Bewohnerstruktur, die Geschäfte und Wirtschaftsbetriebe haben ebenfalls<br />
ihren Anteil, ob eher Unsicherheit als Sicherheit vorherrscht bzw. wahrgenommen wird. Jugendliche in diesem<br />
Rahmen zu stärken ist <strong>der</strong> Ansatz von KuK.<br />
Jugendliche und ihre Gewalterfahrungen im Stadtteil<br />
Inzwischen haben 2001 und 2002 Trainings für Jugendliche in Hamburger Stadtteilen stattgefunden. Die<br />
Jugendlichen wurden durch KuK befähigt, eigene Konflikte in ihrem sozialen Umfeld in die Hand zu nehmen.<br />
Sie erfuhren, wie sie bei Konflikten in ihrer Clique vermitteln können. Sie beleuchteten selbst ihren Alltag und<br />
stellten fest, dass es relativ oft Konfliktsituationen gibt und häufig Gewalt im Spiel ist. Eine kleine Anmache<br />
kann sich schnell hochschaukeln. Aus einer Rangelei entwickelt sich leicht ein Faustkampf, und niemand ist da,<br />
<strong>der</strong> zum Einlenken verhelfen könnte. Gesichtsverlust durch Beleidigungen, Machtkämpfe, leichte körperliche<br />
Attacken sind oft <strong>der</strong> Ausgangspunkt für einen Kampf o<strong>der</strong> für die Verfolgung eines Gegners hinter wenig<br />
beobachtete Ecken und dunkle Räume im Stadtteil. Deutlich wurde in den zwei Jahren Stadtteiltrainings, dass<br />
Hilfe von außen kaum zugegen ist und zu allererst die Kompetenz unter den Jugendlichen selbst hilft,<br />
Eskalationen abzuwenden. Auf einer neuen Grundlage kann dann gestritten werden, ohne dass die Angst vor<br />
dem Gesichtsverlust jeden in <strong>der</strong> Deckung hält und alle darauf warten, wann sie am besten zurückschlagen<br />
können. Und: Solange ein Mindestmaß an Öffentlichkeit in Situationen <strong>der</strong> Gewalt unter Jugendlichen da ist,<br />
min<strong>der</strong>t sich das Maß <strong>der</strong> Gewalt erheblich. Viele Erwachsene halten sich jedoch automatisch fern, weil sie nicht<br />
hinein gezogen werden wollen o<strong>der</strong> solche Situationen ganz an<strong>der</strong>s einschätzen. Manchmal bemerken sie gar<br />
nicht, wie ein Opfer bedrängt und in Not gebracht wird.<br />
Für Jugendliche ist es auch schwer diese Situationen einzuschätzen, jedoch aus ganz an<strong>der</strong>en Gründen. Ihnen<br />
fehlt die Erfahrung und die Stärke, eine Situation auszuhalten o<strong>der</strong> konstruktiv standzuhalten. Jugendliche<br />
können diesen Situationen zudem kaum ausweichen, da sie oft keine an<strong>der</strong>e Wahl bezüglich desWeges zu ihrem<br />
Wohn- Schul- Arbeit- o<strong>der</strong> Freizeitbereich haben. Sie fahren kein Auto und sind auf öffentliche Verkehrsmittel<br />
angewiesen. So sind sie für an<strong>der</strong>e Jugendliche leichtere Angriffspunkte, weil sie schwächer wirken und die<br />
erwartete Gegenwehr ganz an<strong>der</strong>s prognostiziert wird.<br />
Vermittlung von Kompetenzen durch KuK<br />
KuK hat gezeigt, dass Jugendliche lernen können, im Sozialraum Gewaltsituationen besser einzuschätzen, zu<br />
deeskalieren und eigenständig zu vermitteln. Sie lernen „Stand zu halten“ und nicht allein in die Opferhaltung zu<br />
gehen. Wenn Jugendliche Zeugen gewalttätiger Auseinan<strong>der</strong>setzungen werden, lernen sie durch KuK, wie sie<br />
am besten Hilfe holen können.<br />
Dabei gehen wir in den Trainings von fünf Stufen aus, nach denen sich das zuerst erfor<strong>der</strong>liche zivilcouragierte<br />
Verhalten aufbaut:<br />
1. Wahrnehmung Hier stimmt etwas nicht!<br />
2. Interpretation Jemand benötigt Hilfe.<br />
3. Übernahme von Verantwortung Die Hilfe soll geleistet werden.<br />
4. Mittelwahl Wie mache ich es?<br />
5. Praktische Umsetzung So kann geholfen werden.<br />
Die Erweiterung zu Zivilcourage-Trainings in Projektwochen besteht darin, dass auf den Sozialraum bezogen<br />
geübt wird, wie jemand darüber hinaus in Konflikten vermitteln kann. Nicht nur das Abwenden <strong>der</strong> Gefahr ist<br />
von Bedeutung, son<strong>der</strong>n die Frage und Aufgabe von KuK ist: Wo kann ich sinnvoll streiten und dazu beitragen,<br />
eine konstruktive Streitkultur zu etablieren?<br />
Die Trainings richteten sich an Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren. Die Jugendlichen wurden von<br />
MitarbeiterInnen in Schulen, Häusern <strong>der</strong> Jugend sowie in Kirchengemeinden angesprochen. Aufgabe war es,<br />
dass die PädagogInnen vor Ort den Jugendlichen die erfor<strong>der</strong>lichen sozialen Kompetenzen zusprechen, um an<br />
dem Training erfolgreich teilnehmen zu können. Weiterhin war erfor<strong>der</strong>lich, dass Jugendliche ausgewählt<br />
wurden, die im Sozialraum auch eine Rolle spielen und Einfluss haben. Dies war nur leistbar, weil in den
153<br />
jeweiligen Stadtteilen bereits eine gute Vernetzung bestand, die unter an<strong>der</strong>em durch die regionalen<br />
Fachgespräche gerade bezogen auf Konflikt- und Gewaltsituation gelegt war.<br />
Die Trainings wurden in sechs Tagen an zwei Wochenenden und einem Folge-Termin nach sechs Wochen o<strong>der</strong><br />
auch an einzelnen Tagen im Block (??? – also innerhalb einer Woche???) durchgeführt.<br />
Den Jugendlichen wurde an Themen u.a. vermittelt:<br />
- die Dynamik von Konflikten mit ihren typischen Eskalationsstufen erkennen,<br />
- Empathie, Kooperation und solidarisches Verhalten,<br />
- Argumentationshilfen bei Provokationen,<br />
- ein konstruktiver Umgang mit Wut und Aggression,<br />
- Grenzen wahrnehmen und setzen,<br />
- das Senden von Ich-Botschaften in Konflikten sowie Aktives Zuhören<br />
- die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Vorbil<strong>der</strong>n für couragiertes Verhalten<br />
- die Verantwortung für den konkreten Lebensraum (z.B. Jugendhaus, Jugendraum <strong>der</strong> Kirchengemeinde<br />
o<strong>der</strong> des Sportvereins) übernehmen<br />
Die Schwierigkeiten von KuK bestanden darin, dass das Angebot von KuK neu ist und nicht unbedingt zur<br />
Tradition <strong>der</strong> offenen Jugendarbeit zählt. Kuk ist nicht so leicht anzubieten wie ein attraktives Fußballturnier.<br />
Trotz <strong>der</strong> aufgebauten Kommunikation unter den verschiedenen Trägern waren die Akteure oft ungeübt, selbst<br />
für KUK zu werben. Eine vermittelnde Instanz und geübte TrainerInnen waren nötig, dieses Angebot zu<br />
etablieren, die Sache selbst vor Ort bekannt zu machen und persönlich für KuK zu stehen. Anfänglich wurde<br />
KuK aus eigenen Mitteln aufgebaut. Inzwischen wird KuK über das EU-Programm „entimon“ geför<strong>der</strong>t. Aus <strong>der</strong><br />
praktischen Arbeit heraus ist ein eigenes Handbuch zum Training entstanden, das die gesamten Erfahrungen<br />
bündelt (ikm e.V. „Das Programm zum konstruktiven Umgang mit Konflikten – kurz KuK“, Hamburg 2003, 110<br />
Seiten, zu bestellen gegen Spende: www.ikm-hamburg.de)
154<br />
Dieter Lünse<br />
Gewalt im Stadtteil – das kann sich än<strong>der</strong>n<br />
Die Teilhabe an <strong>der</strong> Regelung von Konflikten als ganze Person und <strong>der</strong> Schritt sich persönlich gegen die<br />
Eskalation von Gewalt zu stellen, führt zur „nachhaltigen“ Verän<strong>der</strong>ung von Gewaltstrukturen. Diese<br />
Erkenntnis folgt aus <strong>der</strong> Arbeit des Instituts für konstruktive Konfliktaustragung und Mediation (ikm),<br />
welches sich seit drei Jahren gegen Gewalt und für Zivilcourage und Mediation stark macht. Regionale<br />
Netzwerke sind ein Modell, um dem Individuum in seinem Sozialraum die nötige Unterstützung zu geben.<br />
Modell <strong>der</strong> regionalen Netzwerke in Hamburg<br />
Mit dem Modell <strong>der</strong> regionalen Netzwerke konnten inzwischen 16 Stadtteile in Hamburg erreicht werden. Da es<br />
sich um Ballungszentren handelt und je<strong>der</strong> Stadtteil zwischen 10.000 bis 15.000 EinwohnerInnen hat, führt diese<br />
Arbeit bisher zur qualitativen För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> psycho-sozialen Versorgung von ca. 14% <strong>der</strong> Hamburger Bevölkerung<br />
und damit zu einem Ausbau des Sicherheitsgefühls in den Stadtteilen.<br />
Analyse<br />
Unsicherheit und Gewalteskalation stehen in einem Zusammenhang. Es fehlt oft an <strong>der</strong> Sicherheit sich Hilfe zu<br />
organisieren und kompetente MediatorInnen einzusetzen. Dies spiegeln Umfragen wie<strong>der</strong>. Die Erfahrung <strong>der</strong><br />
Fachgespräche in den letzten drei Jahren macht aber deutlich, dass die Probleme real in den Griff zu bekommen<br />
sind. Die subjektiven und zum Teil irrealen Vorstellungen müssen jedoch in den Köpfen und durch Kommunikation<br />
bewegt werden, damit sie nicht Teil des Eskalationsprozesses werden. Eine Gewalteskalation in den Köpfen<br />
ist eine ernst zu nehmende Größe. So wie die Medienresonanz auf Gewalt einen eigenen Teil <strong>der</strong> Wahrnehmung<br />
ausmacht, gibt es weitere Faktoren, die zur subjektiven Einschätzung und persönlichen Wahrnehmung führen.<br />
Neben den eindeutigen Zahlen <strong>der</strong> Polizeikriminalstatistik wird das große Dunkelfeld nicht angezeigter Delikte<br />
und Gewalttaten durch äußere Faktoren gemessen, wie zum Beispiel Ordnung, Unordnung, Zerstörungen im<br />
Nahbereich, Schmutz und Lärm im Wohnumfeld - und natürlich das öffentliche Auftreten von Jugendlichen,<br />
welches als störend gesehen wird.<br />
Eine Kriminalitätsfurcht bildet sich aus Erfahrungen, die oft diffus sind. Allgemeine Einschätzungen zur Moral,<br />
Angst vor einem an<strong>der</strong>en Verhalten (gerade Jugendliche, die lautstark auf sich aufmerksam machen, können auf<br />
Erwachsene sehr gewalttätig wirken) und die mangelnde Fähigkeit, Irritationen im Zuge eines sozialen Wandels<br />
anzusprechen, machen diese Erfahrungen aus. Wenn im Stadtviertel die Sauberkeit nachlässt, mehr Graffiti die<br />
Wände zieren, Jugendliche betteln, dann sind viele Menschen Stück für Stück irritiert. 1 Eine Reaktion ist, sich<br />
mehr und mehr in die eigenen vier Wände zurückzuziehen o<strong>der</strong> auf alles Abweichende zu schimpfen o<strong>der</strong> die<br />
Schuld sozialen Wandels bei bestimmten Gruppen zu suchen und diese zu stigmatisieren. Diese Reaktionen treffen<br />
auf eine öffentliche Debatte, bei <strong>der</strong> fast nur <strong>der</strong> Präventionsgedanke im Vor<strong>der</strong>grund steht und weniger das<br />
Verstehen, an welchen Punkten sich Gewalt festmacht und wo die Gründe dafür liegen. Wie sollen jedoch Lösungen<br />
für Konflikte und Perspektiven gegen Gewalt erarbeitet werden, wenn Hintergründe einer subjektiv festgestellten<br />
Zunahme von Gewalt unklar bleiben? Prävention, „härteres Durchgreifen” werden nur in einem Maßnahmenbündel<br />
Sicherheit bringen, wenn Gewaltphänomene und Vorfälle klar analysiert wurden. Aus <strong>der</strong> Analyse<br />
lassen sich umfassende Maßnahmen erarbeiten und das gemeinsame Handeln gegen Eskalationen zum Schutz<br />
<strong>der</strong> Jugendlichen und an<strong>der</strong>en BewohnerInnen eines Stadtteils durchführen.<br />
Debatte<br />
Nachdem die praktische Zusammenarbeit von landesweit arbeitenden Hamburger Institutionen in politischer<br />
Bildung, Grundausbildungen und berufsbegleitenden Weiterbildungen eine positive Resonanz erhielt, wurden in<br />
Zusammenarbeit mit den Landesämtern für Jugend und Schule regionale Fachgespräche organisiert. Ziel dieser<br />
Fachgespräche ist, den direkten Umgang mit Gewalt zu verbessern.<br />
Die Fachgespräche haben für die jeweilige Region einen öffentlichen Charakter, um möglichst verschiedene<br />
Gruppen einzubeziehen, gemeinsam mögliche Lösungen zu entwickeln und erste Handlungsideen zu entwerfen.<br />
Lange Zeit bestand Angst vor <strong>der</strong> Debatte über Gewalt in einer Einrichtung o<strong>der</strong> in einer Region, weil ein<br />
„schlechtes Image“ befürchtet wurde. Diese Angst ist weitgehend <strong>der</strong> Erkenntnis gewichen, dass <strong>der</strong> Austausch<br />
über konkrete Vorfälle und Gewaltphänomene schon einen Teil <strong>der</strong> Lösung darstellt.<br />
Herstellung von Öffentlichkeit<br />
In allen Fachgesprächen stand eine zweitägige Veranstaltung im Zentrum. Konkrete Probleme <strong>der</strong> Region wurde<br />
erarbeitet. Durch Informations- und Fachaustausch mit ReferentInnen aus an<strong>der</strong>en Regionen konnten Impulse<br />
1 Stangl, Wolfgang, Wien – Sichere Stadt – Ein bewohnerzentriertes Präventionsprojekt, aus Kriminologisches<br />
Journal 1996, Heft 1, S. 48-68
155<br />
konstruktiver Konfliktaustragung und konkrete Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit Gewalt weiter gegeben<br />
werden.<br />
Über Öffentlichkeitsarbeit lässt sich für die Region Transparenz über die Analyse und die getroffenen bzw. zu<br />
treffenden Maßnahmen herstellen. Durch Transparenz kann ein Teil <strong>der</strong> Kriminalitätsfurcht abgeschwächt werden,<br />
so dass sich neue Handlungsoptionen ergeben.<br />
För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Selbstorganisation<br />
Neben <strong>der</strong> Analyse, <strong>der</strong> Debatte und <strong>der</strong> Herstellung <strong>der</strong> Öffentlichkeit ist ein weiteres Ziel die För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />
Selbstorganisation <strong>der</strong> Institutionen und aller Interessierten durch die Unterstützung externer Beratung und Mo<strong>der</strong>ation.<br />
Es soll ein Prozess entstehen, <strong>der</strong> langfristig alle am Thema Beteiligten in die Lage versetzt, die Probleme<br />
<strong>der</strong> Region im Umgang mit Gewalt und Konflikten selbst in die Hand zu nehmen. Die damit verbundene<br />
Mehrarbeit wird getragen, wenn eigene Vorteile frühzeitig antizipiert werden. Eine ausschließlich von außen<br />
heran getragene Idee ist für die Arbeit in einer Region selten so beständig, wie eine aus eigener Kraft und Überzeugung<br />
entwickelte Veranstaltung. Dies bestätigt auch die vom Amt für Jugend in Auftrag gegebene Arbeitshilfe<br />
zur Gestaltung solcher Prozesse 2 . Dort wird die „lernende Beratung und Qualifizierung“ in Fachtagungen<br />
empfohlen und darauf aufmerksam gemacht, dass zusätzlicher Aufwand und Mehrarbeit ein Problem darstellen<br />
können. Bei vergangenen Veranstaltungen hat sich jedoch erwiesen, dass durch den Problem- und Handlungsdruck<br />
in den jeweiligen Einrichtungen und <strong>der</strong> Region die Bereitschaft wächst, nach an<strong>der</strong>en als den alltäglichen<br />
Lösungen zu suchen.<br />
Einbeziehung Externer<br />
Darüber hinaus ist bei den bisherigen Fachgesprächen die Bereitschaft gestiegen, an<strong>der</strong>e Institutionen anzusprechen,<br />
sowie auch BürgerInnen und Jugendliche mit einzubinden. Der Blick „über den Tellerrand“ soll zusätzlich<br />
durch die angebotene Hilfe von außen erreicht werden. In Einrichtungen und Regionen werden manchmal mögliche<br />
Partner nicht gesehen, weil sie entwe<strong>der</strong> zu bekannt sind und / o<strong>der</strong> nicht als för<strong>der</strong>lich erachtet werden,<br />
o<strong>der</strong> weil sie trotz regionaler Nähe gänzlich unbekannt sind.<br />
Verbesserung <strong>der</strong> Vernetzung durch Fachveranstaltungen<br />
Ziel ist es, mit den Fachveranstaltungen die Vernetzung möglichst aufgabenorientiert zu verbessern und erste<br />
Handlungsideen zu entwickeln. Ein weiteres Ziel ist es, in den Fachveranstaltungen an <strong>der</strong> Sache orientiert zu<br />
arbeiten und neue Modelle zum Umgang mit Konflikten und Gewalt zu erproben. Dazu liefert die erwähnte Arbeitshilfe<br />
gute Anregungen.<br />
In 16 Hamburger Regionen haben bisher Fachgespräche stattgefunden. Gemeinsam wird die Durchführung einer<br />
Mehrtagesveranstaltung im Stadtteil geplant, und durch die weitere Begleitung und Betreuung werden konkrete<br />
Maßnahmen umgesetzt.<br />
Beteiligt waren und sind die Berufsgruppen <strong>der</strong> LehrerInnen, SozialarbeiterInnen, PolizistInnen und JugendgruppenleiterInnen<br />
aus verschiedenen Institutionen <strong>der</strong> Region. Verknüpft werden die Maßnahmen mit bereits<br />
laufenden Projekten wie <strong>der</strong> Mediation an Schulen, Projektwochen und Sportangeboten, so dass im Laufe <strong>der</strong><br />
Durchführung ein beachtlicher Maßnahmenkatalog entsteht. Der Austausch <strong>der</strong> Berufsgruppen bzw. beteiligten<br />
Personen för<strong>der</strong>t die Zusammenarbeit für die Region. Direkte Gewaltfälle können aktueller und effektiver bearbeitet<br />
werden. Die genannten Faktoren <strong>der</strong> Kriminalitätsfurcht werden in die Analyse von Gewalt und Konflikten<br />
einbezogen, so dass die Chance enorm erhöht wird, auch im Dunkelfeld einen an<strong>der</strong>en Umgang mit Gewalt<br />
und Konflikten regional zu etablieren. Die Öffentlichkeit wird über die Stadtteilkonferenz und die regionalen<br />
Medien hergestellt, so dass eine Transparenz und infolge dessen auch eine Verpflichtung für die Beteiligten entsteht,<br />
„am Ball zu bleiben“.<br />
Verän<strong>der</strong>ung von Gewaltstrukturen<br />
Mit <strong>der</strong> Arbeit des ikm in den regionalen Fachgesprächen wird ein umfassen<strong>der</strong> Ansatz verfolgt, bereits vor <strong>der</strong><br />
Gewalteskalation anzusetzen, um die konstruktive Austragung von Konflikten zu stärken. Die Chancen, <strong>der</strong> Gewalt<br />
früh zu begegnen, sind mit dieser Arbeit sehr groß. Und auf Gewaltfälle kann durch die übergreifende Zusammenarbeit<br />
konsequenter reagiert werden. Beson<strong>der</strong>e Schwierigkeiten liegen im Bereich <strong>der</strong> Entstehung von<br />
Konflikten durch strukturelle Ursachen (Arbeitslosigkeit, Erziehung usw.). Und die Schwierigkeit besteht, ob<br />
Programme zum konstruktiven Umgang mit Gewalt und Konflikten weiter ausgebaut und geför<strong>der</strong>t werden.<br />
Gemeint sind hier langfristige Programme, die zum Beispiel Bestandteil von Ausbildungen sind. Sehr deutlich<br />
ist, dass in <strong>der</strong> schulischen Ausbildung die Vermittlung von sozialer Kompetenz eine zunehmende Rolle spielt.<br />
Mit <strong>der</strong> Stärkung aller genannten Bereiche kann die Basis für konstruktive Konfliktaustragung gelegt werden<br />
und mit Mediation weiter darauf aufgebaut werden. Erst wenn bewusster wird, dass Konflikte durch ihre konstruktive<br />
Bearbeitung för<strong>der</strong>lich für das Zusammenleben sind und nicht ausgesessen o<strong>der</strong> mit Gewalt ausgetra-<br />
2 „Realisierung und Qualifizierung sozialräumlicher und an die Lebenswelt orientierte offene Kin<strong>der</strong>- und Jugendarbeit<br />
in Hamburg“, W. Klawe, Hamburg 1999.
156<br />
gen werden müssen, senken wir die gesellschaftlichen Kosten von Konflikten und können mit einem Stück mehr<br />
Zivilgesellschaft rechnen.<br />
Die 16 Hamburger Regionen, in denen bisher sozialräumliche Fachgespräche stattfanden, haben sich eine Fülle<br />
von Maßnahmen überlegt und in 800 Seiten Dokumentation den zuständigen Gremien dargelegt. In <strong>der</strong> Folge<br />
wurde das Programm um vier Fachgespräche erweitert. Die Maßnahmen betreffen unter an<strong>der</strong>em die verbesserte<br />
Koordination <strong>der</strong> Zusammenarbeit, Sportangebote, den Aufbau von Sozialer Kompetenz, Kurse im Konstruktiven<br />
Umgang mit Konflikten (KUK, siehe auch den Artikel in diesem Rea<strong>der</strong>), und die stärkere Beachtung <strong>der</strong><br />
Elternarbeit und Min<strong>der</strong>ung häuslicher Gewalt. Die Maßnahmen und Projekte in den Regionen sind sehr ortsbezogen<br />
und dementsprechend unterschiedlich. Organisiert wurde jedoch, dass positive Erfahrungen aus an<strong>der</strong>en<br />
Stadtteilen Impulse für das eigene Denken und Handeln geben können. Das Ergebnis ist durchweg, dass <strong>der</strong> eher<br />
kurzfristige Aufwand sich lohnt, um im Anschluss effektiver und mit mehr Mut ausgestattet weiter zu arbeiten.<br />
Auf einer Veranstaltung im Sommer 2002 wurden die ersten Ergebnisse den Behördenleitungen von Schule, Jugend<br />
und Polizei wie auch einem Fachpublikum von 170 Zuschauenden im Malersaal des Deutschen Schauspielhauses<br />
vorgeführt. Dabei bestätigte sich, dass ein Nebeneinan<strong>der</strong>her <strong>der</strong> verschiedenen Einrichtungen Kin<strong>der</strong>n<br />
und Jugendlichen im Umgang mit Gewalt und Konflikten nicht weiter hilft. Das konzentrierte Vorgehen<br />
dieser Einrichtungen bei aller Unterschiedlichkeit in ihrer jeweiligen Ausrichtung aber bewirkt ein geschlossenes<br />
Bild und damit den konstruktiven Umgang mit den Problemen.<br />
Literatur<br />
W. Klawe u.a., Realisierung und Qualifizierung sozialräumlicher und lebensweltorientierter offener Kin<strong>der</strong>- und<br />
Jugendarbeit in Hamburg, Amt für Jugend, Hamburg 1999<br />
Legge, Ingeborg, Jugendkriminalität - Episode o<strong>der</strong> Karriere?, aus Krim-Info, Kriminologische Intiative Hamburg<br />
e.V., Son<strong>der</strong>ausgabe zum Jugendgerichtstag September 1998, S. 20<br />
Lehne, Werner; Kriminalstatistik und Kriminalpolitik, aus: antimilitarismus information, Berlin 12/1997, S. 65-<br />
72<br />
Ostermann, Änne, Zivilcourage - eine demokratische Tugend, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung<br />
- Standpunkte, Frankfurt April 1998<br />
Stangl, Wolfgang, Wien – Sichere Stadt – Ein bewohnerzentriertes Präventionsprojekt, aus Kriminologisches<br />
Journal 1996, Heft 1, S. 48-68<br />
Tillmann, Klaus-Jürgen, u.a., Schülergewalt als Schulproblem, Weinheim 1999<br />
Ulrich, Adama; Pannen, Stefan; USA, New York, heißes Pflaster - wo Bürger sich wie<strong>der</strong> sicher fühlen, Arte<br />
12.3. 98
157<br />
Hintergründe und Bedeutung des zivilcouragierten o<strong>der</strong> ohnmächtigen<br />
Verhaltens beistehen<strong>der</strong> Dritter (Bystan<strong>der</strong>) in Konflikt- und Gewaltsituationen<br />
von<br />
Sybille Lany<br />
Bei <strong>der</strong> Betrachtung von ausgeübter und erlittener Gewalt, gleich in welcher<br />
Erscheinungsform, liegt <strong>der</strong> Fokus in <strong>der</strong> Regel bei den Täter/-innen und Opfern.<br />
Seltener rücken die beistehenden Dritten (Bystan<strong>der</strong>) in den Mittelpunkt des Interesses, und<br />
wenn dies geschieht, häufig in Form von Klagen über fehlende Zivilcourage, ignorantes<br />
Wegschauen und unterlassene Hilfeleistungen.<br />
Mutiges Helfen, Retten o<strong>der</strong> Eingreifen, spontan o<strong>der</strong> geplant, von sog. unbeteiligten Dritten<br />
wird oft nur beiläufig registriert. Obwohl dieser dritten Größe zwischen Täter/-innen und<br />
Opfern eine so entscheidende Rolle zukommen kann. Dies gilt gerade für viele Formen von<br />
öffentlicher Gewaltausübung. Gewalt ist in diesem Zusammenhang nicht nur als physische<br />
Erscheinensform zu denken, gleichwohl als seelische Gewalt, als das Abschneiden vom<br />
Zugang zu bestimmten Ressourcen, Verwehrung von Teilhabe an Information,<br />
Entscheidungsgewalt usw.<br />
Eine öffentliche Diskussion über Gründe und Ursachen wie und warum Menschen aktiv in<br />
Unrechtsgeschehnisse eingreifen o<strong>der</strong> in einer passiven Bystan<strong>der</strong>rolle verharren gibt es<br />
kaum.<br />
Dabei können sowohl sozialpsychologische Erkenntnisse, als auch die Analyse von<br />
Motivations- und Handlungsstrukturen von Menschen die z. B. im Dritten Reich unter <strong>der</strong><br />
Drohung schwerster Konsequenzen Verfolgten Schutz und Hilfe gewährten, wertvolle<br />
Anregungen für eine gesellschaftliche und individuelle Auseinan<strong>der</strong>setzung bezüglich <strong>der</strong><br />
Entwicklung zivilcouragierter Persönlichkeiten geben.<br />
Was ist Zivilcourage, welche Bedeutung hat sie?<br />
Eine gängige Definition von Zivilcourage ist „<strong>der</strong> Mut, überall unerschrocken seine eigene<br />
Meinung zu vertreten“ (Das Fremdwörterbuch 1982, S. 810). Diese Lesart wollen jedoch<br />
viele mit dem Thema Vertrauen erweitert wissen, wie z. B Änne Ostermann von <strong>der</strong><br />
Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung:
158<br />
„Die Ziele, zu <strong>der</strong>en Durchsetzung Zivilcourage aufgerufen ist, sind keine privaten, son<strong>der</strong>n<br />
sie orientieren sich am Gemeinwohl, am Recht und an <strong>der</strong> Moral. Zivilcourage darf nicht dazu<br />
dienen, eigene Interessen durchzusetzen.“ (Ostermann 1998, S. 3)<br />
Zivilcourage ist keine private Angelegenheit, wohl aber eine sehr persönliche. Persönlich,<br />
weil <strong>der</strong> unerschrockene Einsatz für eigene Überzeugungen, das Recht und die Gerechtigkeit<br />
mitunter zu Konflikten mit einem, zumindest scheinbar, (über-)mächtigen Gegenpart führen<br />
kann und somit jede/r mit eigenen Ängsten und Unsicherheiten konfrontiert wird:<br />
„Viele Bürgerinnen und Bürger würden sich gerne einmischen, statt wegzuschauen. Zum<br />
Beispiel am Arbeitsplatz, innerhalb <strong>der</strong> Hausgemeinschaft o<strong>der</strong> des Bekanntenkreises, in <strong>der</strong><br />
Gemeinde und Schule, in <strong>der</strong> politischen Partei o<strong>der</strong> Bürgerinitiative. Aber sie befürchten, ihr<br />
Protest könne ihnen Schaden. Aus Autoritätsangst heraus schweigen sie o<strong>der</strong> passen sich an;<br />
das macht sie unzufrieden und verletzt in ihrer Selbstachtung.“ (Singer 1997, S. 9)<br />
Zivilcouragiertes Verhalten als handlungsleitende Alltagsstrategie dient nicht nur <strong>der</strong><br />
Sicherheit und Gerechtigkeit in <strong>der</strong> Umwelt, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Achtung vor sich selbst.<br />
Zivilcourage ist zwar, zumindest primär, keine genuin Konflikt und Gewalt verhin<strong>der</strong>nde<br />
Handlungsstrategie, jedoch eine Strategie zur Vermeidung von Konflikt- und<br />
Gewalteskalation.<br />
Wer hilft, rettet und ergreift Partei und warum tun es viele nicht?<br />
Menschen neigen prinzipiell eher dazu sich Autoritäten und Mehrheiten anzupassen, ihnen zu<br />
gehorchen, als sich ihnen zu wi<strong>der</strong>setzten. Die Ursache hierfür sieht Erich Fromm in <strong>der</strong><br />
Tatsache, dass Folgsamkeit und Gehorsam einem Menschen Sicherheit und Anteil an <strong>der</strong><br />
Macht geben, <strong>der</strong> sie sich unterwerfen (vgl. Fromm1985).<br />
Dadurch entsteht das Gefühl von Stärke und Zugehörigkeit, und die Angst vor den Folgen<br />
und Fehlern des eigenen Handelns schwindet, da scheinbar eine höhere Instanz die<br />
Verantwortung für dieses Handeln übernimmt.<br />
Hingegen braucht man für angemessenen Ungehorsam o<strong>der</strong> das Auflehnen gegenüber einer<br />
Mehrheit den Mut, Verantwortung zu übernehmen, zu irren und zu sündigen und die<br />
Konsequenzen seines Handelns zu (er-)tragen (vgl. Ostermann1998, S. 7).<br />
Es ist nicht leicht zu beantworten welche Eigenschaften, Erlebnisse o<strong>der</strong> Umstände Menschen<br />
in <strong>der</strong> Angst halten o<strong>der</strong> sie mutig werden lassen.<br />
Zwei nie<strong>der</strong>ländische Wissenschaftler, die sich mit dem Phänomen und den Ursachen von<br />
zuweilen bedingungsloser Gehorsambereitschaft auseinan<strong>der</strong>setzten, analysierten und
159<br />
kommentierten das berühmte Milgram – Experiment. Laut ihnen lässt sich „keine soziale<br />
Gruppenzugehörigkeit, keine Charaktereigenschaft und keine weltanschauliche Richtung<br />
fassen, die ihre Vertreter gegen destruktive Gehorsambereitschaft feit. Rasse, Glaube,<br />
Bildungsniveau, Alter, Einkommen, Geschlecht, moralische Reife und die durch Tests<br />
bestimmbaren Persönlichkeitszüge (…) haben offenbar keinerlei Einfluß auf das Verhalten in<br />
<strong>der</strong> Testsituation.“ (Degen 1998).<br />
Die Neigung sich einem mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong> starken Gruppendruck zu beugen, wurde auch in<br />
vergleichsweise harmlosen Testsituationen belegt. So neigten Menschen in einem Versuch<br />
beispielsweise dazu, als sie in einem verdunkelten Raum die Länge eines Leuchtstabes<br />
schätzen sollen, sich <strong>der</strong> Gruppenmehrheit anzuschließen, obwohl die Gruppenmehrheit aus<br />
Komplizen des Versuchsleiters bestand und bewusst falsche Schätzungen abgab (vgl.<br />
Ostermann 1998, S. 7).<br />
Doch bei genauer Betrachtung erweisen sich solche Situationen für ein schwaches Ich eben<br />
doch als bedrohlich. Nicht mit einer Gruppenmehrheit konform zu sein, erzeugt die Angst vor<br />
sozialem Ausschluss und Einsamkeit.<br />
So gesehen ist es kaum verwun<strong>der</strong>lich, dass an<strong>der</strong>e Studien ergaben, dass „schon früh (…) die<br />
meisten Retter eine intellektuelle und psychische Unabhängigkeit erreicht (haben). Sie waren<br />
gewohnt, sich ein eigenes Urteil zu bilden, und es auszuhalten, nicht zu einer Mehrheit zu<br />
gehören.“ (Bastian 1996, S. 26).<br />
Der Rabbi Schulweiß regte in den sechziger Jahren eine Studie in Amerika an, die später von<br />
Oliner/Oliner fortgeführt wurde, die herausfinden wollte, was Helfer/innen und<br />
Zuschauer/innen unterscheidet. Ergebnis dieser Studie war, dass we<strong>der</strong> Intelligenz noch<br />
soziale Kompetenz ausschlaggebende Momente sind, son<strong>der</strong>n vielmehr Eigenschaften wie<br />
Abenteuerlust, <strong>der</strong> Wunsch nach Aufregung, <strong>der</strong> Wunsch nach Berühmtheit und eine Starke<br />
Bindung an die Familie (Vgl. Bastian 1996, S. 25).<br />
Eva Fogelman kam bei ihren Untersuchungen und Recherchen zu ihrem Buch “Wir waren<br />
keine Helden. Lebensretter im Angesicht des Holocaust“ zu dem Ergebnis, dass zwar kein<br />
eindeutiger Erziehungsstil in den Lebensgeschichten von Retter/-innen zu isolieren ist, „aber<br />
ihr fiel auf, daß die Erziehung fast immer von zwei Prinzipien bestimmt war: Liebe und<br />
Festigkeit, letzteres nicht zu verwechseln mit dem beson<strong>der</strong>s in Deutschland üblichen<br />
Befehls- und Gehorsams-Gehabe.“ (Ernst 1994).<br />
Ein wesentlicher Grundstein eine autonom, nach eigenen Überzeugungen Handelnde<br />
Persönlichkeit, auch gegen den Gruppendruck und an<strong>der</strong>e äußere Einflüsse, zu werden,<br />
scheint die Erziehung in <strong>der</strong> frühen Kindheit zu sein.
160<br />
Mit dem Lernen von Geboten und Verboten im Alter zwischen ca. 2 bis 4 Jahren entscheidet<br />
sich, ob Trotz und Ungehorsam schlicht und einfach nur gebrochen, o<strong>der</strong> mit viel Geduld und<br />
Verstand in freiwillige, reflektierte Leistung überführt werden. In <strong>der</strong> Kindheit „entsteht hier<br />
die tiefe Grundlage dafür, ob ein Mensch später ein gesundes Selbstbewusstsein, gesunden<br />
Eigenwillen und Zivilcourage besitzt, o<strong>der</strong> ob er Autoritäten gegenüber sich trotzig auflehnt,<br />
o<strong>der</strong> geringfügig anpasst, und damit bereits die Ansätze einer später zwanghaften<br />
Persönlichkeit erwirbt.“ (Riemann 1998, S. 132).<br />
Gesellschaftliche und individuelle Lernebenen<br />
Um Zivilcourage stärker als Tugend in <strong>der</strong> demokratischen, rechtstaatlichen Kultur und dem<br />
persönlichen Umfeld zu verankern, ist es wichtig bei <strong>der</strong> Betrachtung von Unrecht, im<br />
Großen und Kleinen, den Blick über Täter/-innen und Opfer hinaus auf die Helfer- und<br />
Retter/-innen zu richten, bzw. sich konstruktiv mit passiven Bystan<strong>der</strong>n zu beschäftigen.<br />
Schulweiß kam bei seiner Forschung über Helfermenschen zu einer moralischen For<strong>der</strong>ung:<br />
„Weisheit, Glaube und Wahrheit nötigen uns, diese Taten <strong>der</strong> Gerechten in Erfahrung zu<br />
bringen, aufzuzeichnen und zu würdigen. In welchem Moralkodex steht, daß das Böse das<br />
Gute verdunkeln darf? Welche ver<strong>der</strong>bte Logik bringt uns dazu, die Erinnerung an das Noble<br />
im Menschen auszulöschen, um die Erinnerung an seine Entartung zu bewahren? Wenn wir<br />
die verbrecherischen Schandtaten ausgraben, dürfen wir die Tugenden <strong>der</strong> Menschheit noch<br />
lange nicht begraben.“ (Schulweiß 1962 in: Fogelman 1995: 30)<br />
Über eine öffentliche Betrachtung, Würdigung und Diskussion kommt das Individuum aus<br />
<strong>der</strong> persönlichen Isolation. Die Herstellung von Öffentlichkeit und damit die Erfahrung von<br />
Gemeinsamkeit erweist sich immer wie<strong>der</strong> als Schlüssel zur Auflösung bedrohlicher<br />
Situationen. Dies gilt bei gewalttätigen Übergriffen in U-Bahnen, wie bei großen<br />
Bürgerrechtsbewegungen, z. B in <strong>der</strong> ehemaligen DDR.<br />
Gehen Einzelne an die Öffentlichkeit und kommunizieren ihre Positionen folgen zumeist<br />
viele, die im Verborgenen ähnliche Überzeugungen hegen.<br />
Diesen Schritt jedoch gegen eine bereits öffentliche Gruppenmehrheit als Erste/r zu wagen,<br />
löst häufig Ängste und Unsicherheiten aus. Über <strong>der</strong>en Thematisierung und den Austausch<br />
mit An<strong>der</strong>en ist es jedoch möglich eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit sich zu führen, an <strong>der</strong>en Ende<br />
ein freieres und authentischeres Handeln und somit eine größere Selbstachtung und<br />
Selbstzufriedenheit steht.
161<br />
Darüber hinaus muss <strong>der</strong> öffentliche Raum ein freier und sicherer Raum für alle Bürger/-<br />
innen sein. Für die Starken und Schwachen, für die Lauten und Leisen, „dafür hat je<strong>der</strong><br />
Bürger einzustehen.“ (Ostermann 1998, S. 12)<br />
Literatur<br />
Bastian, T.: Zivilcourage: von <strong>der</strong> Banalität des Guten. Rotbuch Verlag, Hamburg, 1996<br />
Degen, R.: Der Folterknecht in je<strong>der</strong>mann. IN: Die Zeit 1998/ 38<br />
Ernst, H.: Mut und Gewissen. Das Psychogramm <strong>der</strong> Judenretter. In: Psychologie Heute<br />
1994/ 7<br />
Fogelman, E.: „Wir waren keine Helden“. Lebensretter im Angesicht des Holocaust. Motive,<br />
Geschichten, Hintergründe. Frankfurt/M./New York, 1995<br />
Fromm, E.: Über den Ungehorsam. München, 1985<br />
Habermas, J.: Ziviler Ungehorsam - Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. In: Glotz,<br />
P. (Hrsg.): Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. Frankfurt/ M., 1983<br />
Müller, W. (Bearb.): Das Fremdwörterbuch, Dudenverlag, Mannheim/ Wien/ Zürich, 1982<br />
Ostermann, Ä.: Zivilcourage - eine demokratische Tugend. Test für die Demokratiefähigkeit<br />
einer Gesellschaft. In: HSFK - Standpunkte 1998/ 1<br />
Riemann, F.: Grundformen <strong>der</strong> Angst. Eine tiefenpsychologische Studie. Ernst Reinhardt<br />
Verlag, München/ Basel, 1998<br />
Singer, K.: Zivilcourage wagen. Wie man lernt sich einzumischen. Piper Verlag<br />
GmbH, München, 1997<br />
Weiter Literaturempfehlungen
162<br />
Lünse, D., Rohwed<strong>der</strong>, J., Baisch, V. (Hrsg.): Zivilcourage: Anleitung zum kreativen<br />
Umgang mit Gewalt. agenda Verlag, Münster, 1995<br />
Meyer, G.: Lebendige Demokratie: Zivilcourage und Mut im Alltag. Nomos<br />
Verlaggesellschaft, Baden-Baden, 2004<br />
Hamburg, Januar 2005
163<br />
1<br />
Ergebnisse <strong>der</strong> Podiumsdiskussion:<br />
„Konkrete Erscheinungsformen von schulischer Gewalt“<br />
Leitfragen: Worüber sprechen wir, wenn wir von Prävention sprechen?<br />
Sind konkrete Phänomene <strong>der</strong> Auslöser für pädagogisches Handeln o<strong>der</strong> die Angst<br />
vor ihnen?<br />
Vorab möchten wir darauf hinweisen, dass hier nicht eine chronologische Wie<strong>der</strong>gabe<br />
<strong>der</strong> Diskussion versucht wird. Dies war von vornherein nicht möglich, da ein Einverständnis<br />
über eine Aufzeichnung auf Tonträger nicht erreicht werden konnte. Es<br />
wird auf Basis <strong>der</strong> vorliegenden Stichworte versucht, wichtige Gedanken zur späteren<br />
Auswertung festzuhalten. Die Ergebnisse dieser Podiumsdiskussion finden sich<br />
auch in den Protokollen <strong>der</strong> Arbeitsgruppen wie<strong>der</strong>.<br />
Wir haben die Schulstufen:<br />
- Grundschule,<br />
- Mittelstufe und<br />
- Oberstufe<br />
in abgeschlossenen Kapiteln behandelt.<br />
Schwerpunkt Grundschule<br />
Als 1996 in einer Hamburger Grundschule ein Schulprogramm erarbeitet wurde, definierte<br />
man dafür Regeln unter dem Schwerpunkt För<strong>der</strong>ung, um in kurzer Zeit und<br />
mit einer einheitlichen Strategie auf Störungen reagieren zu können:<br />
- Übernahme <strong>der</strong> Regeln für die Pause aus <strong>der</strong> Vorschule in die erste Klasse:<br />
a) Geh zur Aufsicht (wenn Du erwachsene Unterstützung brauchst). !!<br />
b) Regeln definieren für Streitigkeiten: z.B. „Stop muss eingehalten werden“<br />
c) Einzelpaten schaffen<br />
d) alle Äußerungen von Kin<strong>der</strong>n ernst nehmen<br />
e) Äußerungen nicht als „Petzen“ einordnen
164<br />
2<br />
- Nach <strong>der</strong> Pause muss (vor dem Fortsetzen des Unterrichts) auf eventuelle<br />
Konflikte eingegangen werden, um eine angemessene Arbeitsatmosphäre zu<br />
schaffen.<br />
- Ritualisierte Tage bringen große Ruhe ( Gefährdung durch Zeitmangel !)<br />
- Die ersten Klassen haben Patenklassen (3. u. 4. Klasse)<br />
- Gemeinsamer Unterricht <strong>der</strong> verschiedenen Klassenstufen<br />
- Das Ziel För<strong>der</strong>ung wurde aufgeteilt in die För<strong>der</strong>ung sozialen Lernens und die<br />
För<strong>der</strong>ung im Schriftsprachbereich.<br />
- In einem interkulturellen deutsch-spanischen Zug können Kin<strong>der</strong> ihre<br />
individuellen Stärken auch unter dem Aspekt <strong>der</strong> Mehrsprachigkeit erfahren.<br />
- Räumliche Enge begünstigt Gewalt; dieser Aspekt ist auch bei <strong>der</strong><br />
Gestaltung <strong>der</strong> Schule bzw. <strong>der</strong> Schulhöfe Wert berücksichtigt zu werden<br />
(Umgestaltung des äußeren Umfeldes).<br />
- Ängste <strong>der</strong> Eltern <strong>der</strong> Erstklässler vor <strong>der</strong> „neuen“ Schule abbauen<br />
Lernziel für Elternrat/Lehrer/Arbeitsgruppen: Kulturelle Unterschiede akzeptieren,<br />
Jede/r hat unabhängig von den Fachleistungen seine individuellen Stärken und<br />
Schwächen.<br />
Lehrer/Eltern sollten ein „offenes Ohr“ für die Probleme <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite und <strong>der</strong><br />
Kin<strong>der</strong> haben.<br />
Das Ziel muss sein, die Betroffenen in die Lage zu versetzen, Konflikte konstruktiv<br />
unter sich zu lösen.<br />
Zur Rolle des Lehrers als Teil staatlicher Erziehungsgewalt bei <strong>der</strong> Umsetzung von<br />
Programmen zur Verhin<strong>der</strong>ung von Gewalt:<br />
Da die Lehrer (außer den Beratungslehrern) nicht speziell für den Umgang mit Konflikten<br />
ausgebildet sind, können ihre eigenen Erfahrungen mit Konflikten diesen<br />
schwierig machen. Immer wie<strong>der</strong> sind sie mit dem angemessenen Umgang vieler<br />
Schulkonflikte überfor<strong>der</strong>t. In <strong>der</strong> Ausbildung muss mehr Wert auf Konfliktmanagement<br />
gelegt werden, u.a. auch auf die Reflektion des eigenen Verhaltens und des<br />
eigenen Anteils an Konflikten. Die Rolle <strong>der</strong> Lehrer ist zudem gespalten, sie erfor<strong>der</strong>t<br />
einen ständigen Spagat zwischen Bewerten (Distanz) und Vertrauen (Nähe).
165<br />
3<br />
Klimaverän<strong>der</strong>ungen an den Schulen, d.h. Verbesserungen <strong>der</strong> Rahmenbedingungen,<br />
sind notwendig, um die Rolle <strong>der</strong> Lehrerin /des Lehrers so zu verän<strong>der</strong>n,<br />
dass sie diese Aufgaben bewältigen können; die Polizei mit ihrem Beratungsangebot<br />
in <strong>der</strong> Schule kann nur eine zeitweilige Notmaßnahme sein.<br />
Die Kommunikation unter den Lehrern und zu Eltern muss verbessert werden, um bei<br />
Problemen den Schülern einheitlich ( = „an einem Strang ziehend“ ) gegenübertreten<br />
zu können. Das wäre erfolgreiches Konfliktmanagement.<br />
Es ist aber schwierig, unterschiedliche Lehrerpersönlichkeiten auf einen gemeinsamen<br />
Level im Ringen um einen Konsens zu bringen.<br />
Damit sich in den Schulen etwas än<strong>der</strong>n kann, muss soziales Lernen in je<strong>der</strong> Unterrichtsstunde<br />
mitlaufen.<br />
Der Bildungsauftrag muss von allen an Schulen Beteiligten auch als Erziehungsauftrag<br />
verstanden und angenommen werden. Da ein Teil <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> mit Sozialisationsdefiziten<br />
in die Schule kommt, muss diese immer wie<strong>der</strong> therapeutische Bedingungen<br />
für diese Kin<strong>der</strong> schaffen. Nur so kann im Unterricht effektiv gearbeitet werden.<br />
Für alle gilt: Werte aus dem Alltag in die Schule mitnehmen, z.B. Rücksichtnahme,<br />
Höflichkeit, Zivilcourage.<br />
In <strong>der</strong> Mittelstufe<br />
Raufereien auf dem Schulhof hat es gegeben, seit es Schulen gibt. Aus Sicht <strong>der</strong><br />
Oberstufenschülerinnen ist die Grenze bei einer Auseinan<strong>der</strong>setzung erreicht, sobald<br />
jemand Angst bekommt, sich bedroht fühlt, empfinden sie das als Gewalt, erst recht<br />
wenn dabei Waffen im Spiel sind.<br />
Angst wird erzeugt durch Drohungen, Druck und Ausgrenzung. Aber auch durch Androhung<br />
von „kleiner Gewalt“, die als psychische Drohung während des Unterrichts<br />
angekündigt wird. Oft mündet diese dann in große (harte) Gewalt, die dann nach<br />
dem Unterricht außerhalb <strong>der</strong> Schule auch unter Einsatz von Waffen stattfindet. Dies<br />
gilt beson<strong>der</strong>s für die Mittelstufe, in <strong>der</strong> Oberstufe ist es dann ruhiger.
166<br />
4<br />
Oberstufe<br />
Die Schülerinnen sehen neben ihren MitschülerInnen, in erster Linie die LehrerInnen<br />
als ihre Ansprechpartner an, wenn sie Probleme mit Gewalt haben. Das setzt jedoch<br />
ein Vertrauensverhältnis voraus.<br />
Anglizismen wie „cop4you“ allein schaffen kein Vertrauen bei den SchülerInnen. Die<br />
Lösung des Problems sind nicht eine vermeintliche Jugendsprache o<strong>der</strong> Polizeipräsenz<br />
an den Schulen.<br />
Eine Vertrauensbasis zwischen SchülerInnen und Staatsgewalt muss an<strong>der</strong>weitig<br />
aufgebaut werden und setzt voraus, dass <strong>der</strong> Polizei Respekt entgegengebracht<br />
wird. Die SchülerInnen wollen selbst entscheiden, ob ein Polizist an <strong>der</strong> Schule ist.<br />
Präsenz kann aber gut sein, wenn gewährleistet ist, dass die SchülerInnen dabei<br />
ernst genommen werden und nicht als Täter (Jugend = Sicherheitsrisiko) vorverurteilt<br />
werden.<br />
Das zu schaffende Vertrauensverhältnis ist die Voraussetzung für die Entstehung<br />
eines Sicherheitsgefühls innerhalb <strong>der</strong> Schule. Auch um das Bewusstsein zu schaffen,<br />
daß zu Zivilcourage auch das Anzeigen von Gewalttätern gehört, ist ein Vertrauensverhältnis<br />
zwischen Schülern und Polizei notwendig.<br />
Menschliche Nähe muss stattfinden, dann kann auch Sicherheitsgefühl stattfinden.<br />
Polizisten müssen auch außerhalb <strong>der</strong> Schule ansprechbar sein, es muss die Möglichkeit<br />
<strong>der</strong> Anzeige gegen Gewalttäter geben.<br />
Die SchülerInnen haben auch das Konfliktschlichtungsmodell „Konfliktlotsen“ kritisch<br />
betrachtet und bewerten es so: Das Konzept ist eine gute Grundlage, um Gewalt innerhalb<br />
<strong>der</strong> Schule einzudämmen. Wünschenswert wäre jedoch eine für jede/n SchülerIn<br />
verbindliche Grundausbildung zum Thema Konfliktlösung mit dem Ziel, Hilfe zur<br />
Selbsthilfe zu för<strong>der</strong>n. Die spezielle Ausbildung <strong>der</strong> Konfliktlotsen sollte eine Vertiefung<br />
<strong>der</strong> Grundkenntnisse darstellen. Die Posten <strong>der</strong> Konfliktlotsen sollten vorwiegend<br />
von älteren SchülerInnen besetzt werden, da grundsätzlich die Gefahr besteht, dass<br />
Konfliktlotsen selbst ins Schussfeuer geraten.<br />
Gewaltprävention in Schulen aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> Elternvertretung:<br />
Zunächst einmal muss akzeptiert werden: wir haben Gewalt. Erst dann können Strategien<br />
gegen Gewalt entwickelt werden und greifen. Das kann mit einem verstärkten<br />
Blick auf soziales Lernen und Intensivierung <strong>der</strong> Zusammenarbeit mit <strong>der</strong> Schülervertretung<br />
geschehen.
167<br />
5<br />
Die Vernetzung verschiedener Einrichtungen soll angestrebt werden, dazu stellen<br />
sich im Vorwege noch folgende Fragen:<br />
• wen ziehen wir ins Boot?<br />
• welche Hin<strong>der</strong>nisse sind zu überwinden?<br />
• wo ist eine Kooperation möglich?<br />
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Wir bedanken uns bei <strong>der</strong> Lehrerin, den Schülerinnen und <strong>der</strong> Elternvertreterin für die<br />
mutige und offene Diskussion.<br />
Stefan Dierbach<br />
Ursula Kisse