januar 2014 - Strandgut
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FILM<br />
Der Film entstand noch dem autobiographischen<br />
Bericht jenes<br />
Jordan Belfort aus Queens, New<br />
York, der der richtige Mann am<br />
richtigen Ort zur richtigen Zeit war,<br />
um den amerikanischen Traum, die<br />
Broker-Version des Jahres 1988, neu<br />
zu erfüllen. Er und seine Kumpel<br />
füllen sich mit dem Aktiengeschäft<br />
die Taschen, bei dem sie ohne<br />
Gnade die größte Schwäche ihrer<br />
Zeitgenossen ausnutzen: die Gier.<br />
Die »Stratton Oakmont Brokerage«<br />
wird zu einem Modellfall der Jahre<br />
vor dem Platzen der Blase. Die Leute<br />
dort »machen« wirklich Geld, und<br />
zwar direkt aus der Dummheit der<br />
Menschen. Und sie werfen es auch<br />
mit vollen Händen wieder hinaus,<br />
für Drogen, für Prostituierte, für die<br />
Spielsachen der Reichen, die Villen,<br />
Yachten und Flugzeuge, mit denen<br />
man sich gegenseitig und den Rest<br />
der Welt beeindruckt. Doch mit<br />
diesem System verhält es sich wie<br />
mit dem Glücksspiel-Imperium in<br />
Scorseses Film »Casino«: Es hätte<br />
perfekt sein können, aber ...<br />
Leute wie Jordan Belfort, in denen<br />
kriminelle Energie sich mit einem<br />
ebenso vulgären wie pseudo-religiösen<br />
Charisma verbinden, infizieren<br />
sich schließlich an den Schwächen<br />
ihrer Opfer. Sie können nicht<br />
aufhören. Sie wollen immer mehr.<br />
Jordan Belfort schafft es nicht, den<br />
Kapitalismus noir<br />
»The Wolf of Wall Street« von Martin Scorsese<br />
Martin Scorsese kann gar keine schlechten Filme machen. Aber<br />
ein paar von seinen letzten Arbeiten schienen ein bisschen wie<br />
Fingerübungen, so, als wollte er sich und uns beweisen, dass er<br />
dies (eine nostalgische Fantasy-Film-Kinder-Geschichte) oder<br />
jenes (einen Mindfuck-Thriller) eben auch kann. Mit »The Wolf of<br />
Wall Street« aber ist er wieder in seinem Element: böse, vulgär,<br />
heftig und präzis.<br />
angebotenen Ausweg zu wählen.<br />
Denn er ist nicht nur berauscht von<br />
Drogen und Geld, sondern auch<br />
von sich selber. Und dann gibt es<br />
immer auch noch die Geschichten<br />
von Liebe, Ehe und Familie, die im<br />
Rausch der Drogen, des Geldes und<br />
des Erfolges für die wahren Niederlagen<br />
sorgen. 1998 wird er wegen<br />
Geldwäsche und Anlagebetruges<br />
zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe<br />
verurteilt. Ist so jemand wie<br />
Jordan Belfort damit bezwungen?<br />
Nicht doch. Er wird zum Autor von<br />
zwei Bestsellern, und verdient<br />
heute als »Motivationstrainer« und<br />
Unternehmensberater gutes Geld.<br />
Vielleicht nicht mehr ganz so viel<br />
wie früher, aber dafür sicher. Besser<br />
kann man nicht vorleben, was die<br />
Krise bewirkt hat. Nicht mehr als<br />
das neuerliche Aufpumpen des Systems<br />
zur nächsten Blase.<br />
Das Drehbuch schrieb nach Belforts<br />
Buch Terence Winter, dem wir mit<br />
»Die Sopranos« und »Boardwalk<br />
Empire« serielle Einblicke ins Innere<br />
der Gangsterherrschaft verdanken,<br />
mit einem erstaunlichen<br />
Blick nicht nur für die Systeme,<br />
sondern auch die Charaktere, und<br />
das hat Scorsese noch einmal mit<br />
seinen typischen Brechungen<br />
und Spiegelungen versehen. Oft<br />
spricht Leonardo di Caprio direkt<br />
in die Kamera, zu uns, als wollte er<br />
zugleich sein System erklären und<br />
uns beweisen, dass trotzdem jeder<br />
darauf hereinfällt. Dazwischen gibt<br />
es Werbespots seiner Firma und<br />
eine Kamera, die selber zum Teil<br />
des Geschehens wird. So erklärt<br />
Scorsese auch auf der formalen<br />
Ebene seines Films, wie ein kollektiver<br />
Geldrausch entsteht, obwohl<br />
jederzeit klar ist, was dabei geopfert<br />
wird, und wie schrecklich das<br />
Erwachen sein muss. Wenigstens<br />
für die Opfer.<br />
Niemand schafft es so wie Scorsese,<br />
an Figuren Anteil zu erzeugen, die<br />
man zugleich als reichlich miese<br />
und nicht einmal besonders »abgründige«<br />
Charaktere kennenlernt.<br />
Und niemand schafft es so, eine<br />
ungeheure dramatische Spannung<br />
zu erzeugen und zugleich ein soziales<br />
Lehrstück zu liefern. Scorsese<br />
fällt auf den Gordon Gecko-Mythos<br />
der Wall Street, diese Beschwörung<br />
von dämonischer Faszination, nicht<br />
herein. Seine Broker-Gangster sind<br />
vulgäre Schreihälse (das Erste, was<br />
Jordan bei seiner Ankunft in den<br />
Hochhaus-Labyrinthen auffällt,<br />
ist diese Sprache des obszönen<br />
Reichtums, in der die nihilistische<br />
Lust und die atavistische Aggression<br />
sich zu Sätzen formulieren, von<br />
denen nur wenige ohne mehrfache<br />
Verwendung von »fuck« auskommen),<br />
skrupellose Betrüger und<br />
hemmungslose Angeber, die beim<br />
Verprassen ihrer Profite nicht einmal<br />
Geschmack beweisen. Und<br />
meistens können sie es selber nicht<br />
fassen, wie leicht es ihnen gemacht<br />
wird.<br />
Diesem neuen Citizen Kane, der im<br />
Gegensatz zu den meisten seiner<br />
Opfer aus den Feuern der Finanzkrise<br />
als Phönix wieder aufersteht,<br />
weil Amerika keinem Menschen<br />
widerstehen kann, der wie er die<br />
Kunst versteht, einen Kugelschreiber<br />
oder ein faules Papier zu verkaufen,<br />
verleiht Leonardo di Caprio<br />
die vollkommen angemessene<br />
Erscheinung. Er ist ein amerikanischer<br />
Archetyp, einer, der begriffen<br />
hat, dass Kapitalismus eine Form<br />
des Glaubens, eine Religion ist, und<br />
der sein Talent zur dramatischen<br />
Predigt des bedingungslosen Geldmachens<br />
einsetzt. Und der selbst<br />
nach seinem tiefen Fall ein Hohepriester<br />
dieser Geldreligion ist. Di<br />
Caprio setzt dazu keine Maske auf,<br />
er macht sich vielmehr ganz und<br />
gar durchsichtig. In den Techniken<br />
der Verführung und in den Momenten<br />
der Erbärmlichkeit. Im fünften<br />
gemeinsamen Film haben er und<br />
Scorsese ihr Meisterwerk abgeliefert.<br />
Eine Komödie des Entsetzens.<br />
Das »Good Fellas« des Finanzbusiness.<br />
Der Beweis dafür, dass das<br />
amerikanische Kino noch zornig<br />
sein kann. And fucking intense.<br />
Georg Seeßlen<br />
THE WOLF OF WALL STREET<br />
von Martin Scorsese, USA 2013, 165 Min.<br />
mit Leonardo DiCaprio, Margot Robbie,<br />
Matthew McConaughey, Jonah Hill<br />
nach dem Buch von Jordan Belfort<br />
Thriller<br />
Start: 16.01.<strong>2014</strong><br />
★★★★✩<br />
6 | <strong>Strandgut</strong> 01/<strong>2014</strong>