Zeso 03/14
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SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
ZeSo<br />
Zeitschrift für Sozialhilfe<br />
<strong>03</strong>/<strong>14</strong><br />
Familienpolitik aspekte der armutsbekämpfung demokratische<br />
grundprinzipien gret Haller analysiert im zeso-Interview den wert gegenseitiger<br />
verständigung eingliederung arbeitgeber wünschen verbindlichkeit
SCHWERPUNKT<strong>14</strong>–27<br />
Familienpolitik<br />
Kinder zu haben ist heute ein bedeutendes<br />
Armutsrisiko und Familienpolitik somit immer auch<br />
Armutspolitik. Massnahmen wie die Erleichterung<br />
der Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit<br />
oder finanzielle Entlastung sind aber nicht nur<br />
für armutsgefährdete Familien entscheidend.<br />
Es braucht für alle Familien gute Rahmenbedingungen,<br />
die es ihnen unabhängig vom Familienmodell<br />
erlauben, sich zu entfalten.<br />
ZESO zeitschrift für sozialhilfe<br />
Herausgeberin Schweizerische konferenz für Sozialhilfe SKOS,<br />
www.skos.ch Redaktionsadresse Redaktion ZESO, SKOS,<br />
Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern <strong>14</strong>, zeso@skos.ch,<br />
Tel. <strong>03</strong>1 326 19 19 Redaktion Michael Fritschi, Regine Gerber<br />
Redaktionelle begleitung Dorothee Guggisberg Autorinnen<br />
und Autoren in dieser Ausgabe Edgar Baumgartner, Franziska<br />
Ehrler, Kurt Felder, Joel Gautschi, Carlo Knöpfel, Christian Maag,<br />
Karin Meier, Thérèse Meyer-Kaelin, Mathias Morgenthaler, Christina<br />
Leimbacher, Gerhard Lob, Barbara Spycher, Karin von Flüe, Regina<br />
Wecker, Laurent Wehrli, Urs Wüthrich Titelbild Rudolf Steiner<br />
layout Marco Bernet, mbdesign Zürich Korrektorat Karin<br />
Meier Druck und Aboverwaltung Rub Media AG, Postfach,<br />
3001 Bern, zeso@rubmedia.ch, Tel. <strong>03</strong>1 740 97 86 preise<br />
Jahresabonnement CHF 82.– (für SKOS-Mitglieder CHF 69.–),<br />
Einzelnummer CHF 25.–. Jahresabonnement ausland CHF 120.–.<br />
© SKOS. Nachdruck nur mit genehmigung der Herausgeberin.<br />
Die ZESO erscheint viermal jährlich.<br />
ISSN <strong>14</strong>22-0636 / 111. Jahrgang<br />
Bild: Béatrice Devènes<br />
Erscheinungsdatum: 8. September 20<strong>14</strong><br />
Die nächste Ausgabe erscheint im Dezember 20<strong>14</strong>.<br />
2 ZeSo 3/<strong>14</strong> inhalt
INHALT<br />
5 Für ältere Sozialhilfebeziehende<br />
braucht es neue Integrationsprojekte.<br />
Kommentar von Carlo Knöpfel<br />
6 13 Fragen an Mathias Morgenthaler<br />
8 Praxis: Wie bemisst sich die<br />
Unterstützung bei Ehepaaren mit<br />
getrennten Wohnsitzen?<br />
9 Was tun, wenn Angestellte mit<br />
Lohnkürzungen konfrontiert werden?<br />
10 «Verständigung ist das Schweizer<br />
Geschäftsmodell par excellence»<br />
Interview mit Gret Haller<br />
<strong>14</strong> SCHWERPUNKT: Familienpolitik<br />
16 Bessere Vereinbarkeit von Beruf und<br />
Familie und Armutsbekämpfung<br />
18 Ergänzungsleistungen für Familien<br />
entlasten die Sozialhilfe<br />
21 Porträt einer Bezügerin von<br />
Ergänzungsleistungen für Familien<br />
22 «Es liegt an uns, den Dialog mit den<br />
Unternehmen zu fördern»: Interview<br />
mit Laurent Wehrli, Pro Familia Schweiz<br />
24 Intakte Familien sind gut<br />
funktionierende Mikrosysteme<br />
26 Verliebt, verlobt, verheiratet:<br />
Historische Betrachtungen zu Ehe<br />
und Familie<br />
Der MUTMacher<br />
Die warnerin<br />
Die obdachlosen<br />
Mathias Morgenthaler hat in den letzten<br />
16 Jahren über 800 Interviews zu Arbeitsund<br />
Laufbahnfragen geführt. Er möchte<br />
Menschen dazu inspirieren, ihr Potenzial zu<br />
erkennen und ihre Berufung zu leben.<br />
6<br />
Mit der Abgrenzung nach aussen geht immer<br />
auch eine Ausgrenzung nach innen einher,<br />
beobachtet die Publizistin und ehemalige<br />
Nationalrätin Gret Haller. Die Ausgrenzung,<br />
die sich gegen Asylsuchende und<br />
Randgruppen richtet, werde auch vor den<br />
Arbeitslosen nicht Halt machen, warnt sie.<br />
10<br />
Ein warmes Essen, ein offenes Ohr, ein<br />
Sofa zum Verweilen oder ein Computer für<br />
die Stellensuche. Das finden Menschen<br />
in finanzieller oder sozialer Not an<br />
sieben Tagen die Woche im Freiburger<br />
Tageszentrum Banc Public.<br />
28 Die Integrationsarbeit ist<br />
erfolgreicher, wenn regelmässig<br />
offen informiert wird<br />
30 «Ein Ort, an dem man nichts<br />
erklären muss»: Reportage aus dem<br />
Freiburger Tageszentrum Banc Public<br />
32 Plattform: Der Schweizer<br />
Dachverband Lesen und Schreiben<br />
34 Lesetipps und Veranstaltungen<br />
36 Porträt: Norma Bargetzi-Horisberger,<br />
Koordinatorin des Movimento AvaEva<br />
Die PflegeGrossmutter<br />
30<br />
Das Bedürfnis nach Austausch unter<br />
Frauen der Grossmüttergeneration<br />
ist auch im Südkanton gross. Norma<br />
Bargetzi-Horisberger baut die<br />
Tessiner Schwesterbewegung zur<br />
«Grossmütterrevolution» auf.<br />
36<br />
inhalt 3/<strong>14</strong> ZeSo<br />
3
«Verständigung ist das Schweizer<br />
Geschäftsmodell par excellence»<br />
Mit der Abgrenzung nach aussen geht immer auch eine Ausgrenzung nach innen einher. Die Ausgrenzung,<br />
die sich heute gegen Asylsuchende und Randgruppen richtet, werde auch vor den Arbeitslosen nicht Halt<br />
machen, warnt die frühere Nationalrätin und OSZE-Ombudsfrau für Menschenrechte Gret Haller.<br />
Frau Haller, vor zwanzig Jahren, 1994,<br />
konnten Sie Ihre politische Karriere<br />
mit dem Präsidium des Nationalrats<br />
krönen. Danach waren Sie als Diplomatin<br />
und Publizistin tätig. Nun<br />
wurden Sie kürzlich zur Präsidentin<br />
der Schweizerischen Gesellschaft für<br />
Aussenpolitik (SGA) gewählt. Geben<br />
Sie damit ein politisches Comeback?<br />
Die Schweiz befindet sich seit dem<br />
Volksentscheid vom 9. Februar über die<br />
«Initiative gegen Masseneinwanderung»<br />
in einer schwierigen Situation. Als ich angefragt<br />
wurde, SGA-Präsidentin zu werden,<br />
hat dies meinen Entscheid mitbeeinflusst.<br />
Ich bin bereit, mich im Rahmen dieser Organisation<br />
noch einmal politisch zu engagieren.<br />
Man kann das aber nicht vergleichen<br />
mit der Zeit, als ich politische Ämter innehatte.<br />
Jede Lebensphase hat ihre Eigenheit,<br />
die ich gerne immer wieder neu entdecke.<br />
So gesehen wäre es höchstens ein altersgerechtes<br />
Comeback – und dann ist es eben<br />
kein «back», sondern ein Voranschreiten.<br />
Als die SGA im Jahr 1968 gegründet<br />
wurde, stand die «aussenpolitische<br />
Erziehungsarbeit» der Schweizerinnen<br />
und Schweizer im Vordergrund. Wo<br />
steht die SGA heute?<br />
Heute würde man das nicht mehr so<br />
formulieren. 1963 war die Schweiz dem<br />
Europarat beigetreten und begann, sich zu<br />
öffnen. Es herrschte Aufbruchsstimmung.<br />
An der Gründung der SGA waren der damalige<br />
Aussenminister Spühler sowie<br />
die früheren Bundesräte Petitpierre und<br />
Wahlen beteiligt. Die SGA arbeitete unter<br />
anderem auf einen UNO-Beitritt hin. Beim<br />
UNO-Referendum 1986 erlitt sie dann einen<br />
empfindlichen Rückschlag.<br />
Welche Ziele verfolgt die SGA heute<br />
und wo setzen Sie die Prioritäten bei<br />
Ihrem Engagement?<br />
Die SGA will breiten Kreisen der Bevölkerung<br />
den Sinn und den Nutzen von<br />
Aussenpolitik verständlich machen. Dies<br />
bezieht sich auf alle Gebiete der Aussenpolitik.<br />
In der gegenwärtigen Situation<br />
steht das Verhältnis der Schweiz zu Europa<br />
und zur EU im Vordergrund.<br />
Am 9. Februar haben innenpolitische<br />
Befindlichkeiten der offiziellen Aussenpolitik<br />
geradezu eins ausgewischt.<br />
Was kann man daraus lernen?<br />
Ich würde nicht von innenpolitischem<br />
Unbehagen reden, sondern von globalisierungsbedingten<br />
Ängsten. Man muss aber<br />
berücksichtigen, dass es unter den Gewinnern<br />
der Abstimmung zwei Lager gegeben<br />
hat, die aus sehr unterschiedlichen Motiven<br />
für die Initiative gestimmt haben.<br />
Welche Motive sind das?<br />
Die Globalisierung produziert Globalisierungsverlierer.<br />
In der Schweiz, in Europa,<br />
überall. Die immer bedrohlicher werdende<br />
Wettbewerbssituation – die Verlagerung<br />
von Arbeitsplätzen, Lohndumping<br />
und anderes – ist es, die zu Unbehagen<br />
führt. Viele Leute, die globalisierungsbedingte<br />
Ängste haben, reagieren darauf mit<br />
Renationalisierungstendenzen, also mit<br />
dem Rückzug auf den vermeintlich schützenden<br />
Nationalstaat. Das lässt sich in ganz<br />
Europa beobachten, und dies, obwohl das<br />
Gebilde Europäische Union als wohl einziges<br />
in der Lage ist, Gegendruck zur weltweiten<br />
Globalisierung zu entwickeln.<br />
Was zeichnet das andere Lager der<br />
Abstimmungsgewinner aus?<br />
Es ist ganz gewöhnlicher Nationalismus,<br />
wie er jetzt aus Anlass der hundert<br />
Jahre seit Ausbruch des Ersten Weltkriegs<br />
in Erinnerung gerufen wird. Die Vertreter<br />
dieses Lagers lehnen die Verständigung<br />
mit dem «Anderen» bewusst ab. Sie berufen<br />
sich darauf, dass wir «besser» und<br />
«alleine» sind. Es gelingt ihnen immer wieder,<br />
Themen aufzugreifen, mit denen sie<br />
Leute, die beispielsweise eben Globalisierungsängste<br />
haben, abholen und im Sinne<br />
ihrer Ziele instrumentalisieren können.<br />
Auch dies ist ein europaweites Phänomen.<br />
Was ist der Ursprung dieser Verständigungsverweigerung?<br />
Den Abgrenzungsbestrebungen liegt<br />
eine Mentalität zugrunde, die ihre Politik<br />
konsequent auf eine Einteilung in Feinde<br />
und Freunde abstützt. Die schweizerischen<br />
Verhältnisse sind ein gutes Beispiel dafür,<br />
dass mit der Abgrenzung nach aussen immer<br />
auch eine Ausgrenzung nach innen<br />
einhergeht. Die gleichen Kreise, die den<br />
Erfolg der Masseneinwanderungsinitiative<br />
provoziert haben, arbeiten seit vielen Jahren<br />
daran, uns zu überzeugen, wer «richtige<br />
Schweizer» sind und wer nicht – mit<br />
all diesen Slogans gegen die «Linken», die<br />
«Netten» und so weiter. Die Ausgrenzung<br />
im Innern richtet sich anfänglich gegen<br />
Asylsuchende, Straftäter, generell gegen<br />
Personen, zu denen man selber gefühlsmässig<br />
nie gehören wird. Aber es ist ein unaufhaltsamer<br />
Prozess. Irgendeinmal kommen<br />
die Clochards dran, dann die «Faulen»,<br />
dann die Arbeitslosen und so weiter. Dieses<br />
Muster zeigt sich in allen Bewegungen, die<br />
ihr Gedankengut auf einer Freund-Feind-<br />
Doktrin aufbauen. Daraus kann Fremdenfeindlichkeit<br />
resultieren, Rassismus, und<br />
über kurz oder lang auch die Ausgrenzung<br />
von Armutsbetroffenen. Deutlich lässt sich<br />
das beispielsweise bei der US-amerikanischen<br />
Tea-Party-Bewegung beobachten.<br />
Die Schweiz liegt mitten in Europa.<br />
Eine zentrale Frage, die immer wieder<br />
gestellt wird, ist, ob die Schweiz auf<br />
lange Sicht ohne Europa überhaupt<br />
überlebensfähig ist.<br />
10 ZeSo 3/<strong>14</strong> Interview
Bilder: Béatrice Devènes<br />
Sie ist es klar nicht. Aber jene, die unsere<br />
Beziehungen zur EU kappen möchten,<br />
bauen systematisch ein Feindbild von der<br />
EU auf. Ein anderes Argument, das von<br />
diesen Kreisen immer wieder bemüht<br />
wird, besteht darin, dass wir uns der EU<br />
unterwerfen müssten. Doch es gibt in der<br />
Schweiz viele Bereiche, in welchen uns die<br />
EU – ausser dem Diskriminierungsverbot<br />
gegenüber EU-Bürgern – keine Vorschriften<br />
macht: ei der Raumplanung, der Sozialgesetzgebung,<br />
den Arbeitsschutzbestimmungen<br />
und anderem. Die Schweiz<br />
hat viele Instrumente zur Verfügung, den<br />
globalisierungsbedingten Ängsten entgegenzuwirken.<br />
In der Schweiz leben viele Ausländer,<br />
und auch das führt zu Ängsten, vor<br />
Arbeitsplatzverlust, vor dem Unbekannten,<br />
das als fremd empfunden<br />
wird.<br />
Natürlich leben in der Schweiz viele<br />
Ausländer, auch aus der EU. Wir sollten<br />
aber nicht vergessen, dass der grosse<br />
«Vieles, was derzeit<br />
in der EU umgesetzt<br />
wird, hat auch<br />
die Schweiz stark<br />
geprägt.»<br />
Ausländeranteil auch auf unsere Einbürgerungspolitik<br />
zurückzuführen ist. Die<br />
gleichen Kreise, die die Verständigung<br />
generell verweigern, sorgen dafür, dass<br />
nicht mehr Einbürgerungen möglich sind.<br />
Wenn die Schweiz eine andere Einbürgerungspolitik<br />
verfolgen würde, wäre der<br />
Ausländeranteil kleiner.<br />
Sie haben sich in den letzten Jahren intensiv<br />
mit der Bedeutung von Werten<br />
wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit<br />
auseinandergesetzt, die auf<br />
die Französische Revolution zurückgehen<br />
und die unser Gesellschaftssystem<br />
stark prägen. Was ist von diesen<br />
Werten geblieben?<br />
Diese Werte sind für die Schweiz und<br />
für Europa nach wie vor von grosser Bedeutung,<br />
genauso wie die Demokratie. Die<br />
Schweiz war der erste Staat, der nach der<br />
Französischen Revolution den Republikanismus<br />
dauerhaft umgesetzt hat. Auch die<br />
EU ist politisch gesehen ein französisches<br />
Projekt. Vieles, was derzeit in der EU umgesetzt<br />
wird, hat auch die Schweiz stark<br />
geprägt. Demokratie wird allerdings nie<br />
abschliessend erworben. Sie muss immer<br />
wieder verteidigt und neu erkämpft werden.<br />
Gegenwärtig erleben wir das in der<br />
Schweiz im Massstab 1:1.<br />
Können Sie das ein wenig ausführen?<br />
Zurzeit wird versucht, die Gewaltenteilung<br />
– das ausgewogene Zusammenspiel<br />
von Exekutive, Legislative und Judikative<br />
– über das Instrument direkte Demokratie<br />
auszuhebeln. Durch das Initiativrecht kann<br />
und soll das Volk der Legislative Impulse<br />
<br />
Interview 3/<strong>14</strong> ZeSo<br />
11
geben. Für eine Umsetzung solcher Begehren<br />
sind aber Bundesrat und Parlament<br />
zuständig, und dies nicht ohne Grund in<br />
einem Land, für dessen politische Kultur<br />
die Verständigung so zentral ist.<br />
Wie funktioniert Verständigung?<br />
Verständigung heisst, dass jeder Beteiligte<br />
neben seinen eigenen Interessen auch<br />
die Interessenlage der anderen Beteiligten<br />
zu verstehen versucht. Wer sich auf einen<br />
Verständigungsprozess einlässt, kommt<br />
meistens ein wenig anders aus dem Prozess<br />
hervor. Dadurch werden Kompromisse<br />
möglich. Verständigung ist für die Schweiz<br />
umso wichtiger, als wir in unserem Staat<br />
verschiedene Sprachen sprechen und diverse<br />
Kulturen und Religionen verbinden.<br />
Hinzu kommen der Stadt-Land-Gegensatz<br />
sowie die Besonderheit von Berg- und<br />
Tourismus-Regionen. Gegenwärtig wird<br />
wieder intensiv über den Finanzausgleich<br />
diskutiert, der das Verhältnis zwischen ärmeren<br />
und reicheren Kantonen betrifft.<br />
Ohne immerwährende Verständigung zwischen<br />
allen diesen Polen wäre die Schweiz<br />
nicht überlebensfähig.<br />
Unter dem herrschenden politischen<br />
Klima gerät das Schweizer Konkordanzmodell<br />
zunehmend in Bedrängnis.<br />
Wird es noch lange Bestand haben?<br />
Es ist sehr interessant zu beobachten,<br />
wie durchsetzungsfähig die schweizerische<br />
politische Kultur ist. Ein Exponent<br />
der Abgrenzungs- und Ausgrenzungsbewegung<br />
wurde in den Bundesrat gewählt<br />
und nach einer Legislatur wieder<br />
abgewählt. Wenn man das rückblickend<br />
betrachtet, so erfolgte diese Abwahl aufgrund<br />
der Erkenntnis, dass die Mentalität<br />
der Verständigungsverweigerung mit dem<br />
schweizerischen politischen System nicht<br />
kompatibel war. Verständigung ist das<br />
schweizerische Geschäftsmodell par excellence,<br />
und dies seit 1848.<br />
Wie zeigte sich diese Verständigungsverweigerung<br />
konkret?<br />
Man hatte von aussen den Eindruck, der<br />
Bundesrat habe als Gremium nicht mehr<br />
wie gewohnt funktioniert. Die Abwahl<br />
machte sichtbar, dass es möglicherweise<br />
auch im Bundesrat Verständigungsprobleme<br />
gegeben hatte. Details sind öffentlich<br />
nicht bekannt, aber das Parlament hat<br />
diesbezüglich besseren Einblick, und es<br />
12 ZeSo 3/<strong>14</strong> Interview
hat mit der Abwahl reagiert. Der kürzlich<br />
erfolgte Rücktritt dieses Alt-Bundesrats<br />
aus dem Parlament und seine Begründung<br />
zeigen das gleiche Muster: Er qualifizierte<br />
die parlamentarische Verständigungsarbeit<br />
ausdrücklich als Zeitverschwendung.<br />
Viele Menschen verfügen heute über<br />
mehr Freiheiten als früher, und trotzdem<br />
ist das Leben auch restriktiver<br />
und überwachter geworden. Sind wir<br />
über alles gesehen heute freier oder<br />
eingeschränkter als vor ein paar Jahrzehnten?<br />
Das Leben ist zu einem grossen Wettbewerb<br />
geworden. Heute muss alles bewertet<br />
werden, auch Persönliches. Die rasante<br />
Zunahme von Schönheitsoperationen ist<br />
für mich eines von vielen Indizien in dieser<br />
Richtung.<br />
Wird ein Zuviel an Wettbewerb damit<br />
auch zum Treiber von Ausgrenzungstendenzen?<br />
Jede Gesellschaft muss sich immer<br />
wieder überlegen, wo sie einen uneingeschränkten<br />
Wettbewerb will, und wo allenfalls<br />
andere, weniger kompetitive Formen<br />
zweckmässiger sind. Wenn Demokratie<br />
dereinst nur noch als Wettbewerb betrieben<br />
wird, ohne Rahmenbedingungen, die<br />
garantieren, dass wie ursprünglich «eine<br />
Person, eine Stimme» gilt, landen wir in<br />
der Plutokratie, der Herrschaft der Reichen.<br />
Wie das funktioniert, sehen wir in<br />
den Vereinigten Staaten. Wer mehr Geld<br />
hat, hat mehr zu sagen.<br />
Unsere Gesellschaft durchläuft auf<br />
vielen Ebenen einen rasanten Wandel.<br />
Wie wirkt sich die Verunsicherung aufgrund<br />
dieses Wandels auf die Stellung<br />
und Wahrnehmung der demokratischen<br />
Grundprinzipien und Grundprozesse<br />
aus?<br />
Spätestens seit der Finanzkrise wissen<br />
wir wieder, dass es einen Ausgleich braucht<br />
zwischen Marktmechanismen und Staatsmechanismen.<br />
Staatliche Mechanismen<br />
«Damit Konkordanz<br />
funktioniert,<br />
müssen sich alle<br />
immer wieder an der<br />
Entscheidfindung<br />
beteiligen.»<br />
gret haller<br />
Gret Haller (geb. 1947) studierte Rechtswissenschaft<br />
an der Universität Zürich (Dissertation<br />
über die UNO-Menschenrechtspakte<br />
und die rechtliche Stellung der Frau in der<br />
Schweiz). Sie war Schuldirektorin der Stadt<br />
Bern, Nationalrätin (SP) und Mitglied der Parlamentarischen<br />
Delegationen beim Europarat<br />
und bei der OSZE. 1994 amtete Gret Haller als<br />
Nationalratspräsidentin. Danach wurde sie<br />
Botschafterin und Ständige Vertreterin der<br />
Schweiz beim Europarat, von 1996 bis 2000<br />
war sie Ombudsfrau für Menschenrechte in<br />
Bosnien und Herzegowina. Seit 2001 ist sie<br />
als Publizistin tätig (www.grethaller.ch).<br />
können demokratisch beeinflusst werden,<br />
und für die Marktmechanismen muss der<br />
Staat die Rahmenbedingungen definieren.<br />
Das muss aber immer wieder neu austariert<br />
werden. Jede Krise führt auch wieder<br />
zu neuen Erkenntnissen.<br />
Welche direkten Konsequenzen haben<br />
Abgrenzung und Ausgrenzung für die<br />
Politik im Allgemeinen?<br />
Wenn man nur noch darauf fokussiert<br />
ist herauszufinden, vor wem man Angst<br />
haben und wen man deshalb ausgrenzen<br />
könnte, dann verengt sich der politische<br />
Blickwinkel sehr. Natürlich darf und soll<br />
man Angst haben, und ein gesundes Mass<br />
an Angst bedeutet auch Schutz vor Gefahren.<br />
Aber für eine gute Politik braucht<br />
es einen offenen Geist und den Mut, die<br />
Dinge anzupacken. Wer Ängste überall bewusst<br />
schürt, der arbeitet gegen die Demokratie,<br />
weil er zu deren Lähmung beiträgt.<br />
Wie sollte die Schweiz regiert respektive<br />
politisch gelenkt werden?<br />
In der Schweiz gibt es keine Koalitionsverträge<br />
wie beispielsweise in Deutschland.<br />
In der Konkordanz einigt man sich<br />
von Fall zu Fall, wobei nicht immer die<br />
gleichen Kräfte in die Minderheit versetzt<br />
werden. Damit das funktioniert, müssen<br />
sich alle immer wieder an der Entscheidfindung<br />
beteiligen, und es ergeben sich<br />
anders zusammengesetzte Mehrheiten zu<br />
unterschiedlichen Sachfragen.<br />
Wie lässt sich der Angstmacherei und<br />
Ausgrenzung entgegentreten?<br />
Indem man darüber spricht und erklärt,<br />
wie sie dem politischen Leben und<br />
der Demokratie Schaden zufügt. Indem<br />
man sich untereinander verständigt, wo es<br />
wichtig ist, den vorhandenen Ängsten zu<br />
begegnen, und welche Ängste man in Kauf<br />
nehmen muss, weil sonst die Freiheit eingeschränkt<br />
wird. <br />
•<br />
Das Gespräch führte<br />
Michael Fritschi<br />
Interview 3/<strong>14</strong> ZeSo<br />
13
Die Geburt eines Kindes darf Familien<br />
nicht in die Armut drängen<br />
Durch den gesellschaftlichen Wandel haben sich die Bedürfnisse der Familien in Bezug auf<br />
unterstützende Infrastrukturen weiterentwickelt. Damit sich Familien unter familienfreundlichen<br />
Lebensbedingungen entfalten können, müssen sie organisatorisch und finanziell entlastet werden.<br />
Die Familie ist der Ort, wo die persönliche Entfaltung des Menschen<br />
ihren Anfang nimmt. Die Familie bildet den eigentlichen<br />
Kern der Gesellschaft, in dem zukünftige Generationen heranwachsen,<br />
und gleichzeitig leistet sie auch einen wichtigen Beitrag<br />
zur Unterstützung älterer Menschen. Familienpolitik im breit<br />
gefassten Sinn betrachtet die Organisation des Familienlebens<br />
innerhalb ihres Wirkungskreises und honoriert die Leistungen,<br />
die Familien zu Gunsten der Gesellschaft erbringen. Im engeren<br />
Sinn steht Familienpolitik für die Aufgabe des Gemeinwesens, mit<br />
geeigneten Massnahmen angemessene Lebensbedingungen für<br />
Familien zu schaffen und die dafür benötigten finanziellen Mittel<br />
bereitzustellen.<br />
Diese Massnahmen umfassen alle Bereiche, die das Wohlergehen<br />
von Familien beeinflussen: Unterstützung von Familien bei<br />
der Geburt und bei der Erziehung und Ausbildung von Kindern,<br />
Förderung harmonischer Eltern-Kind-Beziehungen, Förderung<br />
der Verfügbarkeit geeigneter Wohnräume und Freizeitangebote,<br />
Verbesserung der Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit<br />
sowie das Bereitstellen von finanziellen Mitteln zur Deckung spezifischer<br />
familiärer Bedürfnisse in Notsituationen. Dies sind die<br />
Grundpfeiler der Schweizer Familienpolitik.<br />
Das Modell Familie hat sich über die Jahre indes stark weiterentwickelt<br />
und hat im Vergleich zu früher vielfältige Formen angenommen.<br />
Die traditionelle Rollenverteilung, bei der sich nur<br />
ein Elternteil um die Betreuung der Kinder kümmert, ist seltener<br />
geworden. Heute sind 70 Prozent aller Mütter berufstätig – wobei<br />
sie ihren Beruf in der Regel in einem Teilzeit-Anstellungsverhältnis<br />
ausüben – und Eineltern- und Patchworkfamilien prägen die<br />
Gesellschaft genauso wie das traditionelle Modell. Mit diesem<br />
Wandel und dem grossen Engagement junger Eltern haben sich<br />
auch die Bedürfnisse der Familien in Bezug auf unterstützende<br />
Infrastrukturen, Organisationsfragen und finanzielle Entlastung<br />
entwickelt.<br />
Die wichtigsten Handlungsfelder der Familienpolitik<br />
Als ausserparlamentarische Kommission des Bundesrats sieht die<br />
Eidgenössische Koordinationskommission für Familienfragen<br />
(EKFF) die grössten Herausforderungen in der Familienpolitik in<br />
der Verbesserung der Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit,<br />
der finanziellen Entlastung von Familien sowie in der<br />
Bekämpfung der Familienarmut. Gute Startbedingungen können<br />
ein Kind sein ganzes Leben lang günstig beeinflussen. Der bezahlte<br />
<strong>14</strong>-wöchige Mutterschaftsurlaub war ein wichtiger Schritt in die<br />
richtige Richtung. Er sollte aber durch einen mindestens 15-tägigen<br />
Vaterschaftsurlaub und eine Elternzeit ergänzt werden, damit<br />
die Eltern die Geburt des Kindes in Ruhe geniessen können.<br />
Um diese Anliegen zu unterstützen, hat die EKFF den Modellvorschlag<br />
«Elternzeit – Elterngeld» erarbeitet und publiziert, in dem<br />
sie für eine 24-wöchige Elternzeit plädiert. Die Elternzeit – idealerweise<br />
würde sie von beiden Elternteilen zu gleichen Teilen in<br />
Anspruch genommen – könnte über die Erwerbsersatzordnung<br />
(EO) finanziert werden. Im Januar 2015 organisiert die EKFF gemeinsam<br />
mit der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen<br />
(EKF) eine Tagung zum Thema Elternzeit, mit dem Ziel, politische<br />
Vorstösse in diese Richtung zu initiieren.<br />
Die Welt steht manchmal Kopf im Familienalltag.<br />
16 ZeSo 3/<strong>14</strong> SCHWERPUNKT
Familienpolitik<br />
Eine weitere wichtige familienpolitische Massnahme ist die<br />
Weiterführung des Impulsprogramms des Bundes für den Ausbau<br />
von Kinderbetreuungsplätzen. Bisher konnten damit rund 40 000<br />
Betreuungsplätze geschaffen werden. Doch es sind noch einmal so<br />
viele Plätze nötig, um den Ausgleich zwischen Beruf oder Ausbildung<br />
und familiären Aufgaben deutlich zu verbessern. Die Suche<br />
nach Kinderbetreuungsplätzen gleicht weiterhin einem Hindernislauf.<br />
Viele Elternteile verzichten deshalb auf eine Erwerbstätigkeit,<br />
und diese Familien sind besonders armutsgefährdet.<br />
Des Weiteren müssen die Arbeitgeber ermutigt werden,<br />
flexible Arbeitszeitmodelle anzubieten, die es Eltern ermöglichen,<br />
die Kinderbetreuung untereinander aufzuteilen. Teilzeitpensen,<br />
Jahresarbeitszeit, gleitende Arbeitszeit sowie Home-Office-Tätigkeiten<br />
bieten Eltern auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Arbeitsbedingungen<br />
und Möglichkeiten, sich besser und in Ruhe um die<br />
Bild: Pixsil<br />
Kinderbetreuung zu kümmern. Flexible Arbeitszeiten können gesetzlich<br />
vorgeschrieben werden oder durch Anreize wie Gütesiegel<br />
oder Auszeichnungen für Arbeitgeber mit flexiblen Arbeitsmodellen<br />
gefördert werden.<br />
Steuersystem benachteiligt Familien<br />
Die Geburt eines oder mehrerer Kinder darf Familien nicht in die<br />
Armut stürzen. Anlässlich des Forums Familienfragen 20<strong>14</strong> hat<br />
die EKFF die Familienbesteuerungssysteme analysiert. Die Teilnehmerinnen<br />
und Teilnehmer des Forums waren sich einig, dass<br />
Familien vom geltenden System benachteiligt werden. Doch es ist<br />
nicht einfach, das System zu korrigieren, ohne dass neue Ungerechtigkeiten<br />
entstehen. Ein gerechtes System bedingt sowohl bei<br />
der Besteuerung von verheirateten Ehepaaren als auch bei der<br />
Einzelbesteuerung Korrekturen, sei es im Sinne eines Splittings<br />
oder über Steuerabzüge.<br />
Das Eidgenössische Finanzdepartement entwickelt zurzeit ein<br />
neues Besteuerungsmodell und prüft, wie der Übergang hin zu<br />
einer Besteuerung, die der objektiven wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit<br />
besser entspricht, gestaltet werden könnte. Über das<br />
weitere Vorgehen in dieser Angelegenheit wird der Bundesrat im<br />
Herbst entscheiden. Die EKFF plädiert für ein System, das Familien<br />
mit Kindern begünstigt und gerechter behandelt. Sie wird die<br />
weiteren Entwicklungen im Zusammenhang mit diesen Reformbestrebungen<br />
und auch die auf uns zukommenden weiteren Vorschläge<br />
zur steuerlichen Besserstellung von Familien mit Kindern<br />
deshalb genau beobachten.<br />
Generell sollte jede Familie über ein finanzielles Existenzminimum<br />
verfügen können, ohne dass sie Sozialhilfe in Anspruch<br />
nehmen muss. Leider hat das Parlament die Steuerbefreiung des<br />
Existenzminimums abgelehnt, obwohl dies ein taugliches Instrument<br />
zur Armutsbekämpfung wäre. Es bleibt in diesem Zusammenhang<br />
nur zu hoffen, dass diese Idee nochmals geprüft wird.<br />
Ebenso unbefriedigend ist, dass die Einführung von Familienergänzungsleistungen<br />
auf Bundesebene, die wohl wirksamste<br />
Waffe im Kampf gegen die Armut, nach rund zehn Jahren Vorbereitungszeit<br />
im Parlament gescheitert ist.<br />
Im Rahmen der Revision des Unterhaltsrechts im Scheidungsfall<br />
gilt es ferner, die Mankoteilung und die Befreiung von der<br />
Rückerstattungspflicht für Sozialhilfeleistungen zu Gunsten von<br />
Kindern zu unterstützen. Gegenwärtig ist es nämlich meistens so,<br />
dass ein Elternteil – in der Regel die Mutter – nach einer Trennung<br />
die finanziellen Konsequenzen alleine tragen muss. Angesichts<br />
des hohen Armutsrisikos, das Familien heute droht, muss<br />
der Kampf für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf, Ausbildung<br />
und Familie, für die Einführung von Familienergänzungsleistungen<br />
– wenn nicht auf Bundesebene, so doch auf kantonaler<br />
Ebene – und für mehr Steuergerechtigkeit weitergehen. •<br />
SCHWERPUNKT 3/<strong>14</strong> ZeSo<br />
Thérèse Meyer-Kaelin<br />
Präsidentin EKFF<br />
Ergänzungsleistungen für Familien<br />
entlasten die Sozialhilfe<br />
In mehreren Kantonen wird die Einführung von Ergänzungsleistungen für Familien (FamEL) als<br />
Instrument zur Bekämpfung von Familienarmut diskutiert. Im Kanton Solothurn zeigt sich, dass mit<br />
FamEL die Armut von Working-Poor-Familien verringert und die Sozialhilfe entlastet werden kann. Die<br />
Ausgestaltung der Leistung weist aber auch Verbesserungsmöglichkeiten auf.<br />
Wie der Name schon sagt, lehnen sich Ergänzungsleistungen für<br />
Familien (FamEL) an das Prinzip der Ergänzungsleistungen zur<br />
AHV/IV an. Im Gegensatz zu diesen ergänzen sie nicht eine Rente,<br />
sondern ein ungenügendes Einkommen. Dieser Unterschied und<br />
die Ausrichtung der Leistung auf Familien führen dazu, dass das<br />
System der EL zur AHV/IV nicht direkt für die FamEL übernommen<br />
werden kann. Der Kanton Solothurn hat deshalb ein eigenes<br />
Modell für die FamEL mit dem Ziel entwickelt, Working-Poor-<br />
Familien finanziell besser zu stellen und die Sozialhilfe zu entlasten.<br />
Die FamEL wurden im Kanton Solothurn 2010 befristet<br />
eingeführt, nachdem die Stimmberechtigten der neuen Leistung<br />
zugestimmt hatten. Im Hinblick auf die Weiterführung nach der<br />
Pilotphase hat die Fachhochschule Nordwestschweiz gemeinsam<br />
mit der SKOS die Wirkung der FamEL im Kanton Solothurn evaluiert.<br />
Aufgrund der Ergebnisse hat das Parlament im Juni 20<strong>14</strong><br />
entschieden, die Leistung vorläufig für drei Jahre weiterzuführen.<br />
Arbeit soll sich lohnen<br />
Wer im Kanton Solothurn FamEL beziehen möchte, muss ein<br />
Gesuch bei der AHV-Zweigstelle einreichen. Voraussetzung ist, dass<br />
selber ein kleines Einkommen erwirtschaftet wird. Hat eine Familie<br />
kein Einkommen, verbleibt sie in der Sozialhilfe. Alleinerziehende<br />
müssen mindestens 7500 Franken im Jahr verdienen. Bei Zweielternfamilien<br />
beträgt das Mindesteinkommen 30 000 Franken, um<br />
FamEL beziehen zu können. Anspruch haben zudem nur Familien<br />
mit Kindern unter sechs Jahren, die seit mindestens zwei Jahren im<br />
Kanton Solothurn wohnen. Der Erwerbsanreiz soll trotz dem Bezug<br />
Voraussetzung für den<br />
Bezug von FamEL ist,<br />
dass selber ein kleines<br />
Einkommen erwirtschaftet<br />
wird.<br />
von FamEL erhalten bleiben. Um dies zu gewährleisten, wird neben<br />
der Mindesteinkommensanforderung ab einem gewissen Einkommen<br />
ein Einkommensfreibetrag gewährt.<br />
1340 Kinder in 630 Familien werden unterstützt<br />
Die Evaluation zeigt, dass seit der Einführung der Leistung die<br />
Zahl der unterstützten Familien stetig zugenommen hat. Während<br />
Anfang 2011 170 Familien FamEL bezogen, waren es im Dezember<br />
2013 bereits 630 Familien mit insgesamt 1340 Kindern.<br />
Wenn von den ursprünglich vom Regierungsrat prognostizierten<br />
1200 Haushalten ausgegangen wird, die einen Anspruch auf<br />
FamEL hätten, ist das Potenzial damit erst gut zur Hälfte ausgeschöpft.<br />
Es ist also davon auszugehen, dass die Zahl der unterstützten<br />
Familien weiter steigen wird. Überrascht hat allerdings die hohe<br />
Quote der Gesuche, die abgelehnt werden mussten. Bei zwei von<br />
fünf eingereichten Gesuchen waren die Anspruchsvoraussetzungen<br />
nicht erfüllt oder es konnte kein Bedarf festgestellt werden.<br />
Der grösste Teil der unterstützten Familien sind Zweielternfamilien.<br />
Die Alleinerziehenden machen rund ein Sechstel der unterstützten<br />
Haushalte aus. Ein Drittel der Familien hat drei oder<br />
mehr Kinder. Grundsätzlich fallen Unterschiede zwischen den<br />
beiden Familienformen auf: Die Alleinerziehenden sind mehrheitlich<br />
Schweizerinnen mit einer Ausbildung, die dem Schweizer<br />
Durchschnitt entspricht. Zwei Drittel der Zweielternfamilien<br />
sind hingegen Ausländerfamilien mit deutlich tieferen Bildungsabschlüssen.<br />
Daraus lässt sich folgern, dass sich letztere in klassischen<br />
Working-Poor-Situationen befinden, in denen die tiefen<br />
Löhne nicht für den Unterhalt der ganzen Familie ausreichen. Bei<br />
den Alleinerziehenden führt hingegen eher ein wegen der Kinderbetreuung<br />
reduziertes Pensum in die Armut (siehe Porträt S.21).<br />
Hat eine Familie Anspruch auf FamEL, erhält sie auch den<br />
Pauschalbetrag für die Krankenversicherung erstattet, das heisst,<br />
ihr wird die volle Prämie verbilligt. Für einen Drittel aller Familien<br />
ist dieser Betrag bereits ausreichend, um den Bedarf zu decken.<br />
Im Dezember 2013 wurden die Familien durchschnittlich mit<br />
<strong>14</strong>50 Franken unterstützt, inklusive Pauschalbetrag für die Krankenkasse.<br />
Insgesamt hat der Kanton Solothurn im Jahr 2013 rund<br />
fünf Millionen Franken für die FamEL aufgewendet, wovon eine<br />
halbe Million auf die Administration entfällt.<br />
Armut kann verringert werden<br />
Die Evaluation zeigt in einer Modellanalyse, dass das in der politischen<br />
Diskussion in den Vordergrund gerückte Ziel der Verringerung<br />
der finanziellen Armut von Working-Poor-Familien zu grossen<br />
Teilen erreicht wird. Alle Familienformen sind mit FamEL<br />
18 ZeSo 3/<strong>14</strong> SCHWERPUNKT
Familienpolitik<br />
Armutsrisiko kinderreiche Familie: Ein Drittel der mit FamEL unterstützten Familien hat drei oder mehr Kinder. <br />
Bild: Keystone<br />
finanziell besser gestellt als in der Sozialhilfe. Innerhalb der einzelnen<br />
Familienformen gibt es jedoch Einkommensbereiche,<br />
in denen die Familien auf die Unterstützung durch Sozialhilfe<br />
angewiesen sind, um das Existenzminimum zu erreichen. Zudem<br />
werden in gewissen Lohnspannen keine ausreichenden<br />
Erwerbsanreize gesetzt.<br />
Dass sich die finanzielle Situation der Familien mit den Ergänzungsleistungen<br />
verbessert hat, bestätigt auch die Befragung der<br />
Gesuchstellerinnen und Gesuchsteller. Fast 70 Prozent der Befragten<br />
geben sechs Monate nach Bezugsbeginn an, dass sich ihre<br />
finanzielle Situation «eher» bis «sehr stark» verbessert hat. Auch<br />
wenn es den Befragten nach sechs Monaten Bezug von FamEL<br />
leichter fällt, die monatlich notwendigen Ausgaben zu bezahlen<br />
und weniger Beziehende aus finanziellen Gründen auf eine ärztliche<br />
Untersuchung oder Behandlung verzichten müssen, zeigen<br />
die Ergebnisse auch, dass die finanzielle Situation vieler Familien<br />
trotz FamEL keineswegs komfortabel ist: Zwei Drittel der befragten<br />
Familien geben an, dass es ihnen nach wie vor zumindest «eher<br />
schwer» falle, die monatlich notwendigen Ausgaben zu bezahlen.<br />
Auch verzichtet jede achte Familie trotz FamEL-Bezug aus finanziellen<br />
Gründen auf eine ärztliche Untersuchung oder Behandlung.<br />
Verlieren die Familien ihren Anspruch auf FamEL, so verschlechtert<br />
sich bei einem grösseren Teil die finanzielle Situation<br />
wieder. Von den Befragten, die sechs Monate nach Bezugsbeginn<br />
ihren Anspruch bereits wieder verloren haben, geben 60 Prozent<br />
an, dass sich ihre Situation seit dem Bezugsende «eher» oder<br />
«stark» verschlechtert hat.<br />
Verbesserte Lebenssituation<br />
Direkt nach der Veränderung der Lebenssituation seit Bezugsbeginn<br />
gefragt, lassen sich teilweise positive Veränderungen in<br />
den Lebensbereichen der persönlichen Beziehungen und Unterstützung,<br />
der Freizeitgestaltung sowie der Wohnsituation der Beziehenden<br />
feststellen. Werden die Selbsteinschätzungen zu den <br />
SCHWERPUNKT 3/<strong>14</strong> ZeSo<br />
19<br />
eiden Befragungszeitpunkten verglichen, sind die Befragten zudem<br />
weniger häufig deprimiert, verzweifelt oder ängstlich. Armut<br />
lediglich als einen Mangel an finanziellen Mitteln zu verstehen,<br />
würde daher zu kurz greifen. Vielmehr gehen mit Armut auch Einschränkungen<br />
in den genannten Lebensbereichen einher.<br />
Fazit und Empfehlungen<br />
Die Aufwendungen für die Sozialhilfe haben sich zwischen 2010<br />
und 2012 durch Ablösungen von FamEL-Beziehenden von der<br />
Sozialhilfe um rund 1,2 Millionen Franken reduziert. Dies entspricht<br />
knapp 20 Prozent der ausbezahlten FamEL-Beträge. Somit<br />
kann auch das zweite Wirkungsziel der FamEL, die Sozialhilfe und<br />
damit die Gemeinden finanziell zu entlasten, im erwarteten Umfang<br />
bestätigt werden. Berücksichtigt sind in der Berechnung<br />
lediglich die tatsächlichen und nachweisbaren Übertritte von der<br />
Sozialhilfe in die FamEL, nicht aber die Vermeidung des Eintritts<br />
in die Sozialhilfe. Ein gleichzeitiger Bezug von Sozialhilfe und<br />
FamEL ist im Zeitraum von 2010 bis 2012 nur bei rund vier Prozent<br />
der Neubezügerinnen und Neubezüger von FamEL festzustellen<br />
und somit sehr selten. Die Parallelbezüge lassen sich grösstenteils<br />
durch Kosten erklären, die nicht durch die FamEL gedeckt<br />
sind, beispielsweise Kinderschutzmassnahmen.<br />
Die mit den FamEL verfolgten Ziele, die finanzielle Armut von<br />
Working-Poor-Familien zu reduzieren sowie die Sozialhilfe finanziell<br />
zu entlasten, werden zu grossen Teilen erreicht. Der Vollzug<br />
und die Situation der Working-Poor-Familien könnten aber weiter<br />
verbessert werden. So zeigt die Evaluation Optimierungspotenzial<br />
bei der Abstimmung der FamEL mit anderen Sozialleistungen,<br />
etwa mit der Prämienverbilligung für die Krankenpflegeversicherung.<br />
Durch eine bessere Abstimmung liessen sich Schwelleneffekte<br />
vermeiden und der finanzielle Erwerbsanreiz für alle Familien-<br />
und Einkommenskonstellationen aufrechterhalten. Zudem<br />
wird der grösste Teil der Familien aus den FamEL abgelöst, weil<br />
das jüngste Kind das sechste Altersjahr erreicht. Die Ablösung<br />
führt bei den meisten Familien zu erheblichen finanziellen Einbussen<br />
und dazu, dass sie teilweise wieder auf Sozialhilfe angewiesen<br />
sind. Es erscheint daher prüfenswert, die Altersgrenze der<br />
Kinder für den Bezug von FamEL zu erhöhen, um die Working-<br />
Poor-Problematik weiter zu reduzieren. <br />
•<br />
Edgar Baumgartner und Joel Gautschi,<br />
Fachhochschule Nordwestschweiz<br />
Franziska Ehrler,<br />
Fachbereich Grundlagen, SKOS<br />
Evaluationsbericht<br />
Baumgartner, E., Ehrler, F., Gautschi, J., Bochsler, Y., Evaluation der Ergänzungsleistungen<br />
für Familien im Kanton Solothurn, Schlussbericht, Olten/<br />
Bern, 20<strong>14</strong>.<br />
www.fhnw.ch/ppt/content/pub/evaluation-der-ergaenzungsleistungen-furfamilien-im-kanton-solothurn<br />
Kantone, die sie haben, ziehen eine positive Bilanz<br />
Ergänzungsleistungen für Familien stehen und standen in verschiedenen<br />
Kantonen auf der politischen Agenda, dies mit unterschiedlichem<br />
Erfolg: Der Kanton Tessin hat die Leistung seit 15<br />
Jahren, die Kantone Waadt (2011) und Genf (2012) haben sie<br />
kurz nach Solothurn (2010) eingeführt. Im Kanton Bern wurde<br />
kürzlich ein Gesetzesvorschlag vom Parlament abgelehnt, in<br />
Luzern ist eine neue Initiative initiiert worden. In Schwyz wurde<br />
eine entsprechende Volksinitiative wuchtig abgelehnt, in Fribourg<br />
gibt es einen Verfassungsauftrag zur Einführung von FamEL. In<br />
einigen Kantonen sind politische Vorstösse hängig, in anderen ist<br />
das Thema vorderhand vom Tisch.<br />
So unterschiedlich der Stand der politischen Diskussion ist, so<br />
unterschiedlich sind die Modelle in jenen Kantonen, die Ergänzungsleistungen<br />
für Familien eingeführt haben. Im Tessin und<br />
im Kanton Waadt sind die Leistungen nach dem Alter der Kinder<br />
abgestuft: Familien mit kleinen Kindern erhalten höhere Leistungen.<br />
Im Tessin erlischt der Anspruch, wenn das Kind 15 Jahre<br />
alt wird, im Kanton Waadt ist die Altersgrenze 16 Jahre. In Genf<br />
haben Familien mit Kindern bis 25 Jahre Anspruch auf FamEL,<br />
wenn diese noch in Ausbildung sind.<br />
FamEL wirkt auch gegen Stigmatisierung<br />
Erfahrungen aus dem Kanton Waadt zeigen, dass auch dort FamEL<br />
wirksam sind. Seit der Einführung der Leistung 2011 hat die Zahl<br />
der Beziehenden stetig zugenommen. Im Februar 20<strong>14</strong> wurden<br />
rund 7000 Personen in 2000 Haushalten mit einem durchschnittlichen<br />
Betrag von 975 Franken im Monat unterstützt.<br />
Rund 1500 Haushalte konnten durch die FamEL aus der Sozialhilfe<br />
abgelöst werden. 2013 wurden im Kanton Waadt 22,5 Millionen<br />
Franken für FamEL aufgewendet. Der Kanton hat zudem<br />
parallel ein Coaching-Programm für Familien aufgebaut, damit<br />
diese ihre Chancen auf eine Anstellung oder eine Erhöhung des<br />
Erwerbspensums verbessern können.<br />
Noch etwas jünger als im Kanton Waadt sind die FamEL im<br />
Kanton Genf. Seit 2012 in Kraft, liegen noch keine fundierten<br />
Auswertungen vor. Aufgrund der ersten Erfahrungen scheint die<br />
neue Leistung die Erwartungen aber zu erfüllen. Ende Juni 20<strong>14</strong><br />
wurden rund 3450 Personen in 1000 Haushalten unterstützt.<br />
Im Kanton Genf war die Entlastung der Sozialhilfe weniger aufgrund<br />
finanzieller Überlegungen ein wichtiges Ziel, sondern weil<br />
die Familien in ein Leistungssystem überführt werden sollten, das<br />
weniger stigmatisierend wirkt. Auch hier wurden positive Erfahrungen<br />
gemacht: In den ersten drei Monaten konnten 400 Dossiers<br />
von der Sozialhilfe in die FamEL überführt werden. Somit<br />
ziehen nebst dem Kanton Solothurn auch die anderen beiden Kantone,<br />
die seit 2010 FamEL eingeführt haben, eine positive Bilanz.<br />
<br />
•<br />
Franziska Ehrler,<br />
Fachbereich Grundlagen, SKOS<br />
20 ZeSo 3/<strong>14</strong> SCHWERPUNKT
Ehepaar mit getrennten Wohnsitzen:<br />
Wie bemisst sich die Unterstützung?<br />
Ein Ehepaar lebt getrennt voneinander in zwei verschiedenen Gemeinden. Beide Eheleute haben<br />
Sozialhilfe beantragt. Die Sozialhilfe trägt die Mehrkosten für zwei Haushalte nur dann, wenn das<br />
Getrenntleben gerichtlich geregelt ist oder besondere Umstände vorliegen.<br />
Frage<br />
Frau X. ist verheiratet und lebt getrennt<br />
von ihrem Ehemann in der Gemeinde A.<br />
Sie ist arbeitslos und hat alle Arbeitslosentaggelder<br />
bezogen. Sie hat auch kein<br />
Vermögen und stellt deshalb ein Sozialhilfegesuch<br />
beim Sozialamt ihres Wohnorts.<br />
Bei den Erstabklärungen wird festgestellt,<br />
dass der von ihr getrennt lebende Ehemann<br />
in seiner Wohngemeinde B ebenfalls<br />
Sozialhilfe beantragt hat. Die Eheleute<br />
möchten ihre beiden Wohnsitze behalten.<br />
Es liegt jedoch kein Trennungsurteil vor.<br />
Wie soll in diesem Fall bei der Unterstützung<br />
vorgegangen werden?<br />
PRAXIS<br />
In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />
der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />
und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />
Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.<br />
Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />
(einloggen) SKOS-Line.<br />
Grundlagen<br />
In der Regel ist es den Eheleuten freigestellt,<br />
je einen eigenen Wohnsitz zu<br />
bestimmen (Art. 24 BV Niederlassungsfreiheit).<br />
Gemäss Art. 163 ZGB sorgen<br />
Eheleute jedoch gemeinsam, jeder nach<br />
seinen Kräften, für den gebührenden Unterhalt<br />
der Familie. Was zum gebührenden<br />
Familienunterhalt gehört, bestimmt sich<br />
unter anderem nach den wirtschaftlichen<br />
Verhältnissen der Ehegatten. Im Fall von<br />
Herr und Frau X. reichen die Mittel für die<br />
Finanzierung von zwei Haushalten nicht<br />
aus. Es müssten demnach besondere Umstände<br />
vorliegen, damit die Mehrkosten<br />
zweier Haushalte zum gebührenden Unterhalt<br />
gezählt würden.<br />
Dementsprechend werden Mehrauslagen,<br />
die auf dem getrennten Wohnen<br />
von verheirateten Personen beruhen, in<br />
der Sozialhilfe lediglich dann berücksichtigt,<br />
wenn das Getrenntleben gerichtlich<br />
geregelt ist oder sonst wichtige Gründe<br />
dafür vorliegen, beispielsweise Beruf<br />
oder Unzumutbarkeit (SKOS-Richtlinien<br />
F.3.2). Ist dies nicht der Fall, kann die unterstützte<br />
Person aufgefordert werden, das<br />
Zusammenleben mit dem Ehegatten oder<br />
der Ehegattin wieder aufzunehmen oder<br />
innert dreissig Tagen ein gerichtliches Verfahren<br />
auf Trennung, Scheidung oder Eheschutz<br />
einzuleiten. Eine solche Weisung<br />
verletzt die Ehefreiheit (Art. <strong>14</strong> BV Recht<br />
zur Eheschliessung) nicht.<br />
Ein Eheschutzverfahren bei getrennt<br />
lebenden Ehegatten dient dazu, die Verhältnisse<br />
für die Dauer des Getrenntlebens<br />
zu regeln, insbesondere bezüglich<br />
des Unterhalts (Art. 176 ff. ZGB).<br />
Die Rechtsgültigkeit und der Bestand<br />
der Ehe werden dadurch in keiner Weise<br />
beeinträchtigt. Die Entscheidung zur<br />
Geltendmachung und Durchsetzung allfälliger<br />
Unterhaltsansprüche steht aufgrund<br />
des Subsidiaritätsprinzips nicht<br />
im Belieben der hilfesuchenden Person<br />
(vgl. Urteil des Aargauer Verwaltungsgerichts<br />
WBE.2005.99 vom 13. Oktober<br />
2005, E. 5.3 f.).<br />
Aufgrund der Pflicht zur Minderung<br />
der Unterstützungsbedürftigkeit besteht<br />
kein Anspruch, dass Eheleuten auf Dauer<br />
zwei Wohnungen und Grundbedarfe für<br />
Einpersonenhaushalte finanziert werden,<br />
wenn keine besonderen Umstände vorliegen.<br />
In der auszustellenden Weisung<br />
muss darauf hingewiesen werden, dass<br />
bei Nichtbefolgen innert Frist für die<br />
weitere Unterstützungsbemessung von<br />
einem Haushalt ausgegangen wird. In<br />
solchen Fällen werden der gemeinsame<br />
Grundbedarf und der Mietzins für die angemessenere<br />
Wohnung berücksichtigt.<br />
Antwort<br />
Da im Fall von Herr und Frau X. keine<br />
wichtigen Gründe für das Getrenntleben<br />
ersichtlich sind, wird die Antragstellerin<br />
nur befristet als Einpersonenhaushalt unterstützt.<br />
Um das weitere Vorgehen abzusprechen,<br />
muss umgehend mit dem Sozialamt<br />
des Wohnorts des Ehemanns Kontakt<br />
aufgenommen werden. Beide Sozialämter<br />
sollten den Ehegatten separat eine Weisung<br />
erteilen und eine Frist für die Zusammenlegung<br />
der Haushalte setzen. Dabei<br />
sind die üblichen Kündigungsbedingungen<br />
in der Regel zu berücksichtigen. Wird<br />
die Weisung nicht befolgt, kann nach Ablauf<br />
der Frist von einem Haushalt ausgegangen<br />
werden. Damit werden der Grundbedarf<br />
für zwei Personen und der Mietzins<br />
für die geeignetere Wohnung berücksichtigt.<br />
Diese Kosten sind zwischen den beiden<br />
Gemeinden aufzuteilen. •<br />
Kurt Felder<br />
Kommission Richtlinien und Praxishilfen<br />
8 ZeSo 3/<strong>14</strong> praxis
Ein Ort, an dem man nichts<br />
erklären muss<br />
Ein warmes Essen, ein offenes Ohr, ein Sofa zum Verweilen oder einen Computer für die Stellensuche:<br />
Das finden Menschen in finanzieller oder sozialer Not an sieben Tagen die Woche im Freiburger<br />
Tageszentrum Banc Public.<br />
Frédéric* und David sitzen an einem der<br />
langen Holztische, trinken einen Kaffee<br />
und reden. Zwei Männer um die Fünfzig,<br />
der eine elegant, im gestreiften Hemd, mit<br />
goldumrandeter Brille, der andere sportlich,<br />
braungebrannt, mit Sonnenbrille im<br />
Haar und einem offenen Blick. Es könnte<br />
eine Szene in irgendeiner Beiz sein, das<br />
Menü – Suppe, Salat, Spaghetti Bolognese<br />
– ist auch schon an der Tafel angeschrieben.<br />
Doch die Geschichten von Frédéric<br />
und David klingen nach weniger stabilen<br />
Verhältnissen. Beide übernachten derzeit<br />
in der Notschlafstelle, suchen eine Arbeit<br />
und eine Wohnung. Auch deshalb kommen<br />
sie hierher, ins Tageszentrum Banc<br />
Public. Denn Telefonieren ist hier gratis,<br />
der Zugang zum Internet für die erste halbe<br />
Stunde ebenfalls.<br />
Doch sie sind auch hier, weil sie das<br />
Mittagessen schätzen, das nur fünf Franken<br />
kostet, und sie kommen zum Reden,<br />
zum Zeitunglesen, zum Fernsehen. «An<br />
diesen Ort macht niemand Probleme»,<br />
sagt Frédéric. «Man fühlt sich willkommen<br />
hier», wie es David ausdrückt. Er, der vor<br />
kurzem nach Jahren im Ausland in die<br />
Schweiz zurückgekehrt ist und nun hier<br />
wieder Fuss zu fassen versucht, weiss das<br />
zu schätzen: «Wenn man in der Notschlafstelle<br />
übernachtet, hat man keine Freunde<br />
mehr.»<br />
Niederschwelliger Zugang<br />
Seit zwölf Jahren bietet das Tageszentrum<br />
in Freiburg Menschen in finanzieller oder<br />
sozialer Not einen Ort der Aufnahme, der<br />
Begegnung und der Information. An sieben<br />
Tagen die Woche, von halb neun Uhr<br />
morgens bis drei Uhr nachmittags, können<br />
Bedürftige hier duschen, Kleider waschen,<br />
einen Kaffee trinken, ein Buch lesen, fernsehen,<br />
einen Computer und das Internet<br />
nutzen, frühstücken und zu Mittag essen,<br />
aber auch die Gesundheitsberatung oder<br />
den allgemeinen Beratungsdienst in Anspruch<br />
nehmen. Die Angebote sind kostenlos<br />
oder sehr günstig, und man kann sie<br />
sich auch durch Mithilfe in der Küche oder<br />
im Garten verdienen.<br />
Der Zugang zu den Angeboten ist niederschwellig.<br />
Man kann vieles, aber man<br />
muss nichts – ausser, sich an die zwei<br />
Hausregeln halten: Respekt vor Sachen und<br />
Personen und kein Konsum von Alkohol<br />
oder Drogen. Diskretion wird hochgehalten<br />
im Banc Public. Einzig der Vorname und<br />
der Wohnort werden für die Statistik notiert.<br />
Man muss nicht erklären, wieso man<br />
kommt. «Strassenarbeit in einem Haus»,<br />
nennt das Anne-Marie Schmid, die Leiterin<br />
des Tageszentrums. «Der Ansatz bei dieser<br />
Art von Sozialarbeit ist bewusst zurückhaltend<br />
und informell.» Allein schon die Präsenz<br />
von anderen Menschen sei wertvoll.<br />
«Ob man sich allein in einer schwierigen<br />
Situation befindet oder umgeben von<br />
respektvollen Menschen, macht einen Unterschied»,<br />
so Schmid. Wenn das Vertrauen<br />
und das Interesse da sind, wird auch Rat<br />
angeboten. Etwas forscher sind die Sozialarbeiterinnen<br />
und Sozialarbeiter hingegen<br />
bei jungen Menschen zwischen 18 und 30<br />
Jahren, die den Banc Public in den letzten<br />
Jahren vermehrt aufsuchen. «Da wollen wir<br />
Essensausgabe im Tageszentrum Banc Public.<br />
Tageszentrum<br />
Banc Public<br />
Das Tageszentrum Banc Public wurde 2002<br />
eröffnet, nachdem Vertreter der Freiburger<br />
Notschlafstelle und zwei Studien aufzeigten,<br />
dass in der Stadt Freiburg eine Tagesstruktur<br />
für Obdachlose fehlt. Seither ist das Zentrum<br />
an sieben Tagen in der Woche zugänglich. Es<br />
wird zu 70 Prozent von der Loterie romande<br />
und dem Kanton Freiburg finanziert, je 15<br />
Prozent der Einnahmen stammen von Spenden<br />
und den Beiträgen ans Mittagessen. Im<br />
Zentrum arbeiten acht Sozialarbeitende<br />
(5 Vollzeitstellen), mehrere Freiwillige und<br />
eine Person, die Zivildienst leistet.<br />
www.banc-public.ch<br />
30 ZeSo 3/<strong>14</strong> reportage
Maria hilft beim Gemüserüsten für die Spaghettisauce.<br />
Bilder: Annette Boutellier<br />
schneller wissen, wo die Probleme liegen,<br />
und wir versuchen stärker, sie für spezialisierte<br />
Beratungsstellen zu interessieren.»<br />
Gespräche zwischen Nutzerinnen und<br />
Sozialarbeitern ergeben sich zum Beispiel<br />
in der Küche. Heute hilft Maria beim<br />
Gemüserüsten für die Spaghettisauce. Die<br />
Ambiance in der Küche ist von Scherzen<br />
und Lachen geprägt. Hadi Tawfik, der<br />
Sozialarbeiter, versteht es, eine gute Stimmung<br />
zu schaffen. «Wenn ich die Leute<br />
strahlen sehe, bin ich auch glücklich.» Bei<br />
Maria ist das bereits geglückt, in ihren<br />
Augen blitzt ein Lächeln auf. «Mich berührt<br />
es, hier so willkommen geheissen zu<br />
werden», sagt sie.<br />
Und während sie von Problemen mit<br />
ihrem Sozialhilfegesuch erzählt, sitzen im<br />
Speisesaal zwei Männer und spielen Karten.<br />
Im ersten Stock hört man jemanden<br />
duschen, von nebenan tönt das Klappern<br />
einer Computertastatur. Es ist eine friedliche,<br />
einladende Ambiance, die zum Verweilen<br />
einlädt. Die aber, so weiss Leiterin<br />
Anne-Marie Schmid, von einem Moment<br />
auf den anderen kippen kann. Dann sind<br />
die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter<br />
gefordert, um Konflikte zu entschärfen<br />
und beizulegen. Konflikte, die ausbrechen<br />
können, weil jemand beispielsweise in einer<br />
schlechten psychischen Verfassung ist<br />
oder das Essen nicht bezahlen kann.<br />
Deutliche Zunahme der Besuche<br />
Seit der Gründung des Tageszentrums hat<br />
die Zahl der Nutzerinnen und Nutzer jedes<br />
Jahr um rund zehn Prozent zugenommen,<br />
von anfangs 25 auf heute über 60 Personen<br />
täglich. «Jeden Tag kommt jemand Neues»,<br />
erzählt Schmid. «Wobei viele uns nur als<br />
Sprungbrett während einer bestimmten<br />
Zeit brauchen.» Auch wenn keine ausführliche<br />
Statistik existiert, kommt Schmid zu folgender<br />
Schätzung: 50 Prozent der Besucher<br />
und Besucherinnen sind auf Stellensuche,<br />
etwa Migrantinnen, Sozialhilfeempfänger<br />
oder Arbeitslose. 25 Prozent leben von der<br />
AHV oder der IV, 15 Prozent gehen einer<br />
prekären Beschäftigung nach und bei 10<br />
Prozent ist die Herkunft des Einkommens<br />
unbekannt. Rund ein Fünftel der Nutzer ist<br />
obdachlos, rund 90 Prozent sind Männer.<br />
Eine der wenigen Frauen kommt gerade an<br />
Krücken zur Tür herein, in einer Jeansjacke,<br />
mit Piercings und einem feinen Lächeln im<br />
Gesicht, rechtzeitig zum Mittagessen. Das tut<br />
die 56-Jährige zweimal die Woche, seit fünf<br />
Jahren. Nachdem ihr Freund gestorben war,<br />
lebte Evelyne alleine und ernährte sich nicht<br />
mehr richtig. Da war Banc Public genau das<br />
Richtige: «Hier gibt es gesundes Essen mit<br />
Gemüse, man kommt unter die Leute, kann<br />
einen Jass klopfen, und es gibt kaum Konflikte.»<br />
Sie, die wegen gesundheitlicher Probleme<br />
von einer IV-Rente lebt, nutzt auch die<br />
Ratschläge der Krankenschwester, die hier<br />
regelmässig Sprechstunden anbietet.<br />
«Salut Livia, essen wir zusammen?», begrüsst<br />
Evelyne eine der Neueintretenden und<br />
stellt sich kurz darauf mit ihr zusammen in<br />
die Reihe an der Theke. Immer mehr Männer<br />
und Frauen, Jüngere und Ältere, Migranten<br />
und Einheimische, reihen sich dort ein, um<br />
sich für fünf Franken einen Teller Spaghetti<br />
Bolognese mit Salat und Suppe schöpfen<br />
zu lassen. Zum Dessert gibt’s dann noch ein<br />
Schälchen Erdbeermousse.<br />
•<br />
* alle Namen geändert<br />
Barbara Spycher<br />
reportage 3/<strong>14</strong> ZeSo<br />
31