ZESO 2/20 Teilhabe ist wichtig und wirkt

SKOS CSIAS COSAS
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe
Conférence suisse des institutions d’action sociale
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale
Conferenza svizra da l’agid sozial
ZESO
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE
02/20
SKOS-RICHTLINIEN
Neues Online-Portal dient
als Arbeitsinstrument für
die Sozialberatung
CORONA
Wie Sozialdienste und
Hilfsorganisationen die
Krise meistern
TANDEM 50 PLUS
Ein Programm hilft
Personen über 50 bei der
Stellensuche
TEILHABE IST WICHTIG
UND WIRKT
Die Expertise von Armutsbetroffenen einzuholen, lohnt sich

Bieler Tagung, 2. November 2020
Der steinige Weg in den ersten
Arbeitsmarkt
Die berufliche Integration von unterstützten Personen ist eine wichtige
Aufgabe der Sozialdienste. Doch gelingt die nachhaltige Integration in den
ersten Arbeitsmarkt trotz aller Massnahmen und Anstrengungen oft
nicht. Gibt es für arbeitsfähige Personen, die von der Sozialhilfe unterstützt
werden, Platz im ersten Arbeitsmarkt? Welche Bedingungen stellen
Arbeitgeber an die Anstellung der meist gering qualifizierten Personen?
Wie können existenzsichernde Jobs und Tätigkeitsfelder für Menschen mit
Leistungseinschränkungen oder Sprachschwierigkeiten aussehen?
Die Bieler Tagung 2020 bietet eine Plattform für Präsentationen und Diskussionen.
Praktikerinnen und Praktiker erhalten Inputs und Impulse für ihre
tägliche Arbeit.
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Ingrid Hess
Redaktionsleitung
EDITORIAL
PARTIZIPATION – EIN WIRKSAMER
ANSATZ
Die aktuelle Zeso entstand unter besonderen Umständen -
mehrheitlich im Home Office – wie so viele andere Arbeiten
auch, die sicher auch Sie in den letzten Wochen unter vielleicht
nicht immer ganz einfachen Bedingungen erledigt oder neu organisiert
haben. Das Schwerpunktthema hatten wir kurz vor
Beginn der Corona-Krise und der ausserordentlichen Lage gewählt.
Wir beschlossen daran festzuhalten, auch wenn uns alle
zur Zeit die Auswirkungen der Krise sehr beschäftigen. Doch
das Thema Partizipation oder Teilhabe erschien uns wichtig und
richtig, denn auch oder gerade in der Corona-Krise zeigt sich,
wie wesentlich es eigentlich wäre, die Menschen einzubeziehen,
die betroffen sind, deren Schwierigkeiten im Umgang mit
der Krise aber weniger sichtbar sind. Die Experten mit Armutserfahrung,
die in Belgien in der Verwaltung mitarbeiten (S.24),
sind da ein Beispiel für einen innovativen und wirksamen Ansatz,
aber auch das Projekt «Gemeinsam/Ensemble» in Biel
(S.18).
Natürlich hat uns die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen
auf die Menschen, Organisationen und die Arbeit in und für die
Sozialen Dienste auch ganz konkret beschäftigt (S.30). Christine
Kopp, stv. Direktorin des SRK, beschreibt im Interview, wie
das grösste Schweizer Hilfswerk die Krise erlebt und welche
Lehren es aus ihr zieht (S.8).
Wenn Sie Anregungen haben, Kritik äussern oder einen Kommentar
zu einem der Artikel verfassen möchten, dann schreiben
Sie uns: zeso@skos.ch oder schreiben Sie einen Kommentar
auf www.skos.ch/zeitschrift-zeso.
2/20 ZESO
1

SCHWERPUNKT
Teilhabe von
armutsbetroffenen
Menschen wirkt
Wenn Armutsbetroffene
oder Sozialhilfeempfänger
bei der Ausgestaltung
von sie betreffenden
Themen, Projekten und
Rahmenbedingungen
involviert sind, hat das für
die Involvierten wie auch
für das Ergebnis positive
Wirkung. Das zeigen eine
Reihe von Praxisbeispielen
und die Forschung. Diese hat
sich mit den verschiedenen
Modellen von Teilhabe und den
Gelingensbedingungen
befasst.
12–23
14–27 12–27
ZESO
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE HERAUSGEBERIN Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS, www.skos.ch REDAKTIONSADRESSE
© SKOS. Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin
Die ZESO erscheint viermal jährlich
ISSN 1422-0636 / 117. Jahrgang
Erscheinungsdatum: 1. Juni 2020
Die nächste Ausgabe erscheint am 7. September 2020
Redaktion ZESO, SKOS, Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch, Tel. 031 326 19 19
REDAKTION Ingrid Hess, Regine Gerber MITARBEITERINNEN UND MITARBEITER DIESER AUSGABE Emanuela
Chiapparini, Emilie Clavel, Karine Donzallaz, Christoph Eymann, Palma Fiacco, Stefan Gribi, Sophie Guerry,
Debra Hevenstone, Lukas Hobi, Muriel Christe Marchand, Caroline Reynaud, Meinrad Schade, Max Spring, Alexander
Suter, Barbara Spycher, Michael Zeier TITELBILD Palma Fiacco LAYOUT Marco Bernet, Projekt Athleten
GmbH Zürich KORREKTORAT Karin Meier DRUCK UND ABOVERWALTUNG rubmedia AG, Postfach, 3001 Bern,
zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740 97 86 PREISE Jahresabonnement CHF 89.– (SKOS-Mitglieder CHF 74.–),
Jahresabonnement Ausland CHF 125.–, Einzelnummer CHF 25.–.
2 ZESO 2/20

INHALT
8
5 KOMMENTAR
Sozialhilfe in Zeiten von Corona
6 PRAXIS
Wie sind freiwillige Zuwendungen Dritter zu
berücksichtigen?
7 SOZIALHILFE
Neues Richtlinien-Portal ab September 2020
8 INTERVIEW: CHRISTINE KOPP
Die grossen Belastungen für Sozialwerke
und soziale Institutionen werden erst kommen,
sagt Christine Kopp, stv. Direktorin des
SRK über die Corona-Krise
28
30
12–27 TEILHABE VON ARMUTSBETROFFENEN
14 Die Teilhabe von armutsbetroffenen Personen
in Projekten der Sozialdienste ist
wirkungsvoll
18 Die Betroffenen beeinflussen die
Prioritäten des Managements
20 Sozialhilfebeziehende als Ausbildner für
Soziale Arbeit
23 Gemeinsam mit Menschen mit
Armutserfahrung forschen
24 Wie Experten mit Armutserfahrung
Zugang und Qualität der öffentlichen
Dienste optimieren
26 Pilotprojekt zur Beteiligung von Langzeit-
Sozialhilfeempfänger: Nachgefragt bei der
Verantwortlichen und einem Teilnehmer
32
34
35
28 SOCIAL IMPACT BONDS
Sozialdienstleister machen unterschiedliche
Erfahrungen mit Wirkungsverträgen
30 CORONA-PANDEMIE
Die Corona-Krise ist auch in Caritas-
Märkten und der Caritas-Sozialberatung
spürbar. Mittelfristig muss sich das Sozialsystem
auf mehr Bedürftige vorbereiten
32 TANDEM 50 PLUS
Ein Programm im Kanton Aargau hilft
Arbeitslosen über 50 beim Wiedereinstieg
34 TÜRE AUF
Muriel Christin Marchand, Co-Leiterin des
Sozialdienstes Delémont, über die Herausforderungen
während der Corona-Krise
35 PORTRÄT
Georg Raguth hat die Besuchsbox für
Coronazeiten erfunden
36 LESETIPPS UND VERANSTALTUNGEN
2/20 ZESO
3

NACHRICHTEN
Revision Sozialhilfegesetz
Basel-Landschaft
Ende Januar eröffnete der Kanton Basel-
Landschaft die Vernehmlassung für eine
Teilrevision des Sozialhilfegesetzes. Die
vorgeschlagenen Massnahmen stehen
in wichtigen Punkten im Widerspruch zu
den SKOS-Richtlinien. Insbesondere erachtet
die SKOS das in der Gesetzesvorlage
enthaltene Stufensystem als kompliziert,
ungerecht und kontraproduktiv
in Bezug auf die Arbeitsintegration. Es
bietet zudem keinen Mehrwert gegenüber
dem bestehenden System mit einheitlichem
Grundbedarf.
www.skos.ch Publikationen
Vernehmlassungen
Chancengleichheit und
Gesundheit
Chancengleichheit ist ein wichtiges Ziel
der Gesundheitspolitik, in der Praxis
aber noch nicht verwirklicht. Wer sozial
benachteiligt ist, leidet häufiger unter
schlechter Gesundheit und hat eine tiefere
Lebenserwartung als sozial Bessergestellte.
Ein neuer Grundlagenbericht
zeigt auf, welche Interventionsansätze
und Erfolgskriterien sich in der Praxis
bewährt haben, um die gesundheitliche
Chancengleichheit zu erhöhen.
www.gesundheitsfoerderung.ch
Grundlagen Publikationen
SKOS-Grundlagenpapier:
Armut und Armutsgrenzen
Die Definitionen von Armut und sozialem
Existenzminimum der SKOS sind zu
zentralen Richtgrössen in der schweizerischen
Sozialpolitik geworden. Sie
berücksichtigen einerseits materielle
und immaterielle Grundbedürfnisse,
andererseits orientieren sie sich an den
vorherrschenden Lebenskosten. Es existieren
aber noch weitere Armutsdefinitionen
und Existenzminima. Das aktualisierte
Grundlagenpapier der SKOS zeigt
die verschiedenen Modelle und Ansätze
auf.
www.skos.ch Publikationen
Grundlagendokumente
Einmal im Leben Sozialhilfe beziehen zu müssen, ist nicht so unwahrscheinlich. Bild: Palma Fiacco
Jede 11. Person bezieht einmal im Leben
Sozialhilfe
In der Schweiz werden pro Jahr rund 3
Prozent der ständigen Wohnbevölkerung
von der Sozialhilfe unterstützt. Wird jedoch
eine längere Zeitperiode von mehreren
Jahren betrachtet, sind weit mehr Personen
einmal auf Sozialhilfe angewiesen.
Dies zeigt eine neue Studie des Bundesamtes
für Sozialversicherungen.
Zwischen 2011 bis 2017 bezogen 6,1
Prozent zumindest einmal Sozialhilfe. Damit
ist dieser Anteil rund doppelt so hoch
wie bei der Betrachtung eines einzelnen
Jahres. Bekannte Risikofaktoren für einen
Sozialhilfebezug bestätigen sich in der
Mehrjahresbetrachtung: Bei Alleinerziehenden
steigt die Quote auf gut 26 Prozent,
bei Einpersonenhaushalten auf 10 Prozent.
Weiter werden in der Studie Modelle
geprüft, um die Wahrscheinlichkeit eines
Sozialhilfebezugs im Verlauf des Lebens
zu schätzen. Die Analysen zeigen, dass
zwischen 8,7 und 9,1 Prozent aller 25-
bis 63-jährigen in der Schweiz geborenen
Menschen einmal in ihrem Erwerbsleben
Sozialhilfe beziehen. Das ist rund jede 11.
Person. Bei im Ausland geborenen Personen
liegt die Schätzung zwischen 15,2
und 17,2 Prozent.
•
Beschäftigungsaussichten brechen ein
Wegen der COVID-19-Pandemie haben
sich die kurzfristigen Aussichten auf dem
Schweizer Arbeitsmarkt stark verschlechtert.
Anfangs Mai liegt der Beschäftigungsindikator
der Konjunkturfachstelle der
ETH Zürich (KOF) tiefer als während des
Höhepunktes der Finanz- und Wirtschaftskrise
2008/2009.
Die im April 2020 von der KOF befragten
Firmen gehen von einem markanten
Stellenabbau in den nächsten
Monaten aus. Eine deutliche Mehrheit
der 4635 Firmen schätzt den aktuellen
Beschäftigungsstand als zu gross ein und
plant in den nächsten drei Monaten Stellen
zu reduzieren.
Am stärksten eingebrochen ist der
Beschäftigungsindikator für das Gastgewerbe.
Aber auch in fast allen anderen
Wirtschaftsbranchen haben sich die Beschäftigungsaussichten
massiv verschlechtert.
So gehen etwa auch der Detailhandel
und der Bausektor von einem Stellenabbau
in den nächsten Monaten aus. Einzig im
Versicherungssektor sind die Beschäftigungserwartungen
weiterhin positiv. •
4 ZESO 2/20

KOMMENTAR
Sozialhilfe in Zeiten von Corona
Seit bald drei Monaten beherrscht die
Corona-Pandemie unseren Alltag. Die Sozialdienste
im ganzen Land haben Mitte März
sehr schnell auf die neue Situation reagiert.
Beratungsgespräche finden jetzt vermehrt
telefonisch statt, neue digitale Formen der
Arbeit mit Klienten wurden eingeführt, die
Räume neu eingerichtet, damit die Hygieneund
Abstandsregeln eingehalten werden
können. Vor allem zu Beginn der Krise verzeichneten
viele Sozialdienste einen starken
Anstieg der Neuanmeldungen. Menschen,
die sich bisher mit Stellen im Tieflohnbereich
oder mit Arbeit auf Abruf die Existenz
gesichert hatten, meldeten sich bei der Sozialhilfe.
Vielen von ihnen fiel dieser Schritt
sehr schwer. Mit den Hilfspaketen des
Bundesrates für Selbständigerwerbende
und der erweiterten Kurzarbeit gab es eine
zumindest vorübergehende Entlastung für
die Betroffenen und die Sozialdienste.
In der Krise zeigte sich, wie wichtig jene
Berufsleute sind, die an der Front arbeiten,
insbesondere im Sozial- und Gesundheitswesen.
Die Sozialdienste haben den
Härtetest mit Bravour bestanden. Die
Existenzsicherung und die Begleitung
der Sozialhilfebeziehenden waren nie in
Frage gestellt. Der Anstieg bei den Neuanmeldungen
konnte bewältigt werden. Für
die enormen Leistungen, die Sie in den
Sozialdiensten erbracht
haben, möchte ich Ihnen
an dieser Stelle
ganz herzlich
danken.
Zurzeit können wir noch kaum abschätzen,
wie die Corona-Pandemie unsere Gesellschaft
verändern wird und welche Auswirkungen
dies auf die Sozialhilfe hat. Im
Moment machen wir vorsichtige Schritte hin
zu einer Normalisierung. Die Geschichte der
Epidemien lehrt uns aber, dass es jederzeit
zu neuen Wellen kommen kann und wir
dann wieder zwei Schritte zurückgeworfen
werden.
Zweifelsohne werden die wirtschaftlichen
Folgen zu einer zumindest vorübergehenden
höheren Arbeitslosigkeit führen.
Das Sicherungsnetz der Arbeitslosenversicherung
muss in dieser Phase gestärkt
werden. Die Überbrückungsleistungen für
ältere Arbeitnehmende, die im Parlament
entscheidungsreif sind, werden helfen,
zusätzliche Härtefälle in dieser Krise zu
verhindern. Sie sollten jetzt rasch und
ohne weitere Abstriche verabschiedet und
so schnell wie möglich in Kraft gesetzt
werden.
Auch wenn die vorgelagerten Systeme ausgebaut
werden: Die Sozialhilfe steht in den
nächsten Jahren vor grossen Herausforderungen.
Es wird schwieriger werden, unterstützte
Personen in den ersten Arbeitsmarkt
abzulösen. Es wird mehr Menschen
geben, die durch die Maschen fallen.
Und die Integration von Flüchtlingen
bleibt eine Daueraufgabe.
Führt die Corona-Krise dazu, dass
wir als Gesellschaft stärker zusammenstehen
und dass der Nutzen
der Sozialwerke und der Sozialhilfe
wieder besser anerkannt werden?
Oder driften Arm und Reich stärker
auseinander? Niemand kann das
heute voraussagen. Das Zusammenstehen
der Gesellschaft in den letzten
Wochen macht mich aber zuversichtlich,
dass wir unsere Errungenschaften im
sozialen Bereich wieder stärker zu schätzen
wissen. Dies im Bewusstsein, dass
ohne ein funktionierendes Sozialsystem
in einer solchen Krise, wie wir sie jetzt
durchleben, eine gesellschaftliche Katastrophe
logische Konsequenz wäre.
Christoph Eymann
SKOS-Präsident
2/20 ZESO
5

Wie sind freiwillige Zuwendungen
Dritter zu berücksichtigen?
PRAXIS Frau Bucher wird mit Sozialhilfe unterstützt. Ihr Grossvater möchte ihr einen Zuschuss
geben, damit sie einen überhöhten Mietzins finanzieren kann. Grundsätzlich müssen freiwillige
Leistungen Dritter bei der Bemessung der Bedürftigkeit als Einnahmen berücksichtigt werden.
Frau Bucher (26) ist nach einer abgebrochenen
Erstausbildung auf Sozialhilfe angewiesen.
Ihre Eltern leben getrennt, sie
hat mit beiden ein schwieriges Verhältnis
und es ist nicht möglich, dass sie bei einem
von ihnen wieder einzieht. Bis zum Abbruch
der Erstausbildung wurde sie finanziell
von beiden Elternteilen unterstützt,
die Eltern haben ihr auch die Wohnung bezahlt.
Der Mietzins dieser Wohnung liegt
rund 300 Franken pro Monat über den
örtlich geltenden Mietzinsrichtlinien. Frau
Bucher erklärt, dass ihr Grossvater bereit
sei, ihr die fehlenden 300 Franken pro
Monat zu bezahlen, damit sie bis zum Abschluss
der neu begonnenen Erstausbildung
in der Wohnung bleiben kann.
FRAGE
Sind die 300 Franken des Grossvaters im
Unterstützungsbudget von Frau Bucher als
Einnahmen anzurechnen?
GRUNDLAGEN
Bei der Feststellung der Bedürftigkeit und
der Bemessung von Unterstützungsleistungen
werden alle verfügbaren Einnahmen
berücksichtigt. Darunter fallen auch
freiwillige Zuwendungen Dritter, sofern
keine Ausnahme gewährt wird (SKOS-RL
D.1, mit Erläuterungen). Diese Empfehlung
basiert auf dem Prinzip der Bedarfsdeckung
(SKOS-RL A.3 Abs. 4).
Es ist dabei unerheblich, ob es sich um
Geld- oder Naturalleistungen handelt.
PRAXIS
In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen, die
an die «SKOS-Line»gestellt werden, beantwortet
und publiziert. Die «SKOS-Line» ist ein Beratungsangebot
für SKOS-Mitglieder.
Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich
(einloggen) Beratungsangebot
Deshalb können beispielsweise auch jene
Leistungen als Einnahmen angerechnet
werden, die eine Drittperson direkt an einen
Gläubiger der unterstützten Person
leistet, etwa wenn ein Teil der überhöhten
Wohnkosten von Dritten direkt an den Vermieter
gezahlt werden.
Unterstützte Personen haben grundsätzlich
alle Zuwendungen, die sie erhalten,
gegenüber der Sozialhilfe korrekt zu
deklarieren. Dies ist Ausdruck ihrer allgemeinen
Auskunfts- und Meldepflicht
(SKOS-RL A.4.1 Abs. 5ff.).
Ob eine Ausnahme von der Anrechnung
gemacht wird, liegt im Ermessen des Sozialhilfeorgans.
Empfohlen sind Ausnahmen
von einer Anrechnung dann, wenn
die Zuwendungen von bescheidenem
Umfang sind und ausdrücklich zusätzlich
zu den Sozialhilfeleistungen erbracht
werden. Beispiele sind Gelegenheitsgeschenke
in angemessenem Umfang (z.B.
an Feiertagen oder am Geburtstag). Auch
bei Zuwendungen zur Tilgung von nachweislich
bestehenden Schulden kann auf
eine Anrechnung verzichtet werden. Keine
Ausnahmen sind dann möglich, wenn mit
den Zuwendungen überhöhte Miet- oder
Lebenshaltungskosten oder Luxusausgaben
finanziert werden sowie wenn eine
Nichtanrechnung wegen des Umfangs der
Zuwendung stossend wäre.
Es können somit folgende Kategorien
unterschieden werden:
1. Regelmässig erbrachte freiwillige Leistungen
sind anzurechnen, wenn sie
für eine im Unterstützungsbudget enthaltene
Ausgabenposition ausgerichtet
werden oder der Finanzierung von Luxus
dienen.
2. Einmalige, nicht zweckgebundene
Leistungen sind anzurechnen. Ausgenommen
sind übliche Gelegenheitsgeschenke
oder Leistungen von bescheidenem
Umfang.
3. Einmalige, zweckgebundene Leistungen,
die nicht für eine im Unterstützungsbudget
enthaltene Ausgabenposition
ausgerichtet werden, sind in der
Regel nicht anzurechnen. Eine Anrechnung
kommt nur in Betracht, wenn
eine Zuwendung zur Finanzierung von
Luxus geleistet wird und eine Nichtanrechnung
stossend wäre.
Bei der Frage, ab welchem Zeitpunkt
eine regelmässig erbrachte Zuwendung
für überhöhte Fixkosten anzurechnen ist,
muss die individuelle Situation gewürdigt
werden. Um eine Verschuldung zu vermeiden
und die Notlage von unterstützten Personen
nicht zu verschlimmern, kann auf
die Anrechnung während einer angemessenen
Frist verzichtet werden.
ANTWORTEN
Beim freiwilligen Zuschuss des Grossvaters
in der Höhe von 300 Franken für die überhöhte
Miete handelt es sich um eine regelmässig
erbrachte freiwillige Leistung. Der
Zuschuss erfolgt für eine im Unterstützungsbudget
enthaltene Ausgabenposition.
Daher sind die 300 Franken im Unterstützungsbudget
der Frau grundsätzlich
als Einnahmen anzurechnen. Dies würde
auch dann gelten, wenn nur die gemäss
Mietzinsrichtlinien maximal zulässigen
Ausgaben anerkannt würden. •
Dr. iur. Alexander Suter
SKOS-Fachbereich Recht und Beratung
WICHTIGER HINWEIS
Die Verweise auf die SKOS-Richtlinien
beziehen sich bereits auf die ab 2021 neu
geltende Richtlinien-Struktur.
6 ZESO 2/20

Neues Richtlinien-Portal
ab September 2020
SOZIALHILFE Mit der Nachführung der SKOS-Richtlinien wird ein neues Online-Portal geschaffen, um
die Richtlinien, Erläuterungen und Praxishilfen besser zugänglich zu machen. Durch die Möglichkeit
einer Integration von Kantonalen Handbüchern und kommunalen Hilfsmitteln wird das neue Web-
Portal zu einem effizienten Arbeitsinstrument für die Sozialberatung.
Die SKOS-Publikationen in Form von
Grundlagendokumenten, Merkblättern
und Praxishilfen werden auf der neuen
Website den betreffenden Richtlinien zugeordnet.
Beim Kapitel «Anspruchsvoraussetzungen»
sind beispielsweise Erläuterungen
zur Budgetberechnung, zu den
Unterstützungseinheiten usw. zu finden
sowie Hinweise zu relevanten Dokumenten,
von Berechnungstabellen bis zu Praxishilfen
zur Unterstützung von Selbstständigerwerbenden.
Alle Inhalte lassen sich einzeln oder als
gesamtes Richtlinien-Paket in ein PDF
(A4) formatieren und bei Bedarf ausdrucken.
Ein neuer A4-Ordner für die Richtlinien
ist auf Bestellung erhältlich. Nachträge
der SKOS-Richtlinien müssen nicht
mehr bestellt, sondern können selber ausgedruckt
und im Ordner ersetzt werden.
Das System orientiert sich an den Richtlinien
für barrierefreie Webinhalte, sodass
es auch von Personen mit Beeinträchtigungen
benutzt werden kann, wenn diese entsprechende
Hilfsmittel nutzen.
Integration von kantonalen und
kommunalen Handbüchern
Die meisten Kantone veröffentlichen heute
bereits Handbücher zur Sozialhilfe. Auch
dazu kann das Portal der SKOS verwendet
werden. Eigene Empfehlungen, Grafiken,
Dokumente, Links auf Stichwörter etc. zu
den Kapiteln der Richtlinien lassen sich in
einer eigenen Version des Portals darstellen.
Auch wird es möglich sein, das Portal
mit den Logos und Farben des jeweiligen
Kantons oder der jeweiligen Gemeinde anzupassen
und in deren Web-Auftritt zu integrieren.
Auf Wunsch kann in einer zusätzlichen
Spalte kommunalen Ebenen des Sozialhilfevollzugs
Platz für weiterführende Erläuterungen
und Musterdokumente gegeben
werden.
Einfache Pflege der eigenen Inhalte
Auch ohne besondere IT-Kenntnisse können
eigene Inhalte aktualisiert und den Bedürfnissen
entsprechend angepasst werden.
Öffentlich oder nur für Mitarbeitende
zugänglich
Interne Handbücher und Richtlinien, Vollzugsweisungen,
Musterdokumente oder
weitere Informationen lassen sich durch
Passwortschutz nur für Mitarbeitende zugänglich
machen. Dadurch eignet sich das
System auch als interne Know-how-Datenbank
für Sozialdienste.
Für eine Integration von eigenen Handbüchern
und Weisungen fallen einmalige
Kosten für die Realisierung an sowie jährliche
Folgekosten für die Lizenzierung der
verwendeten Software. Die SKOS trägt einen
Teil der Realisierungs- und Lizenzkosten,
weshalb den Mitgliedern die Plattform
zu günstigen Konditionen angeboten werden
kann. Die Kosten sind von der Grösse
des Gemeinwesens oder der Organisation
abhängig. Sie belaufen sich auf einmalig
5000 bis 10 000 Franken für die Realisierung
und jährlichen 2000 bis 4000
Franken für den Betrieb.
•
Dr. iur. Alexander Suter
SKOS-Fachbereich
Recht und Beratung
In einer zusätzlichen Spalte
können weitere Erläuterungen
und Musterdokumente
platziert werden.
2/20 ZESO
7

«Die Zahl der Anfragen ist in den
letzten Wochen explodiert»
INTERVIEW Auch ein in Sachen Katastrophen erfahrenes Hilfswerk wie das SRK, sah sich durch die
Corona-Krise sehr gefordert, wie Christine Kopp, stv. Direktorin des SRK sagt. 5000 neue Freiwillige
haben sich beim SRK gemeldet. «Diese Solidarität ist eindrücklich», sagt Kopp. Sie geht davon aus,
dass als Folge der Corona-Krise sehr viele Menschen auf Hilfe angewiesen sein werden.
«ZESO»: Das SRK als das grösste
Schweizer Hilfswerk hat den Menschen
in seiner über 150-jährigen Geschichte
schon in vielen Katastrophen
geholfen. War man also beim SRK auf
die Corona-Krise gut vorbereitet?
Christine Kopp: Es wäre sicher übertrieben
zu sagen, wir wären gut vorbereitet gewesen.
Natürlich haben wir eine Krisenplanung,
wir haben auch Krisenstabsübungen
gemacht. Aber dass wir eine solche Krise in
der Schweiz tatsächlich erleben würden, damit
hatte doch niemand wirklich gerechnet.
Was uns vorbereitet hat, sind neben den
Stabsübungen unsere Erfahrungen bei internationalen
Einsätzen. Beim Ausbruch
des Ebola-Virus in Westafrika beispielsweise,
oder wenn wir die Grundversorgung
nach Naturkatastrophen organisieren. Natürlich
lassen sich diese Erfahrungen nicht
einfach auf die Schweiz übertragen.
Was war die grösste Herausforderung
für das SRK in den letzten Wochen?
Es mussten ganz neue Formen der Zusammenarbeit
innerhalb des SRK generiert
werden. Wir haben bereits Anfang
März den Krisen-Führungsstab einberufen,
um die Zusammenarbeit zu koordinieren.
Unsere Fachleute aus der internationalen
Katastrophenhilfe unterstützen uns
jetzt bei der nationalen Arbeit. Wir haben
die Zusammenarbeit mit den Rotkreuz-
Rettungsorganisationen in den letzten
Jahren intensiviert. Davon profitieren wir
jetzt. Wir können die Samariterinnen und
Samariter und Mitglieder des Militär-Sanitäts-Verbands
des SRK, die über Kenntnisse
in Pflege und Hygiene verfügen, im
neuen Corona-Testzentrum in Bern einsetzen.
Die meisten von ihnen sind beruflich
nicht Gesundheitsfachleute; das hat den
Vorteil, dass sie nun nicht im Gesundheitswesen
fehlen. Das SRK verfügt über viele
wichtige Kompetenzen, aber sie mussten
für den aktuellen Bedarf koordiniert und
eingesetzt werden. Das war die grosse Herausforderung
der letzten Wochen.
Eine Schwierigkeit bestand für das SRK
wohl auch darin, dass viele freiwillige
DAS SRK
Das Schweizerische Rote Kreuz vereinigt wie
kein anderes Hilfswerk eine Vielfalt von Aktivitäten
in den Bereichen Gesundheit, Integration
und Rettung unter einem Dach. Das SRK
umfasst 24 Kantonalverbände, vier Rettungsorganisationen
sowie die Geschäftsstelle SRK.
Nur dank der rund 53 000 Freiwilligen kann
das SRK seine humanitären Aufgaben erfüllen.
Die soziale Integration der Verletzlichen ist
einer der Schwerpunkte der Arbeit des SRK in
der Schweiz.
Helferinnen und Helfer zur Risikogruppe
gehören. Hatten Sie noch genug
Freiwillige zur Verfügung, um Ihre
Dienstleistungen aufrechtzuerhalten
und auf die Krise zu reagieren?
Das war wirklich eine grosse Herausforderung.
Vor allem der SRK-Fahrdienst
wird fast ausschliesslich von Pensionierten
übernommen – vor allem von Männern.
Wir wollten diese für viele Menschen in
der Schweiz wichtige Dienstleistung aufrechterhalten,
haben uns auf medizinisch
notwendige Fahrten konzentriert und eine
Plattform eingerichtet, über die sich jüngere
Freiwillige melden können. Wir unterstützen
auch die App «Five up», die Freiwillige
und Personen, die Hilfe benötigen,
direkt miteinander in Kontakt bringt. Es
engagieren sich neu viele Menschen als
Freiwillige, die aufgrund des Lockdowns
nicht arbeiten können. Rund 5000 neue
Freiwillige haben sich bei uns gemeldet.
Diese Solidarität ist eindrücklich.
8 ZESO 2/20

Gab es Angebote, die das SRK nicht
mehr durchführen konnte?
Manche Angebote wie die Kurse dürfen
zur Zeit nicht stattfinden. Der Besuchsdienst
– Freiwillige gehen zu Betagten, reden
mit ihnen oder machen ein Spiel mit
ihnen – wurde weitgehend eingestellt. Diese
Besuche sind natürlich nicht mehr sinnvoll,
wenn die Älteren nicht einmal mehr
von ihren Enkeln besucht werden dürfen.
Unsere Rotkreuz-Kantonalverbände haben
das Angebot angepasst. Freiwillige rufen
jetzt an und sprechen am Telefon mit den
Menschen, fragen nach, wie es ihnen geht
und ob sie etwas brauchen. Und wir haben
auch neue Dienstleistungen aufgebaut,
den Einkaufsdienst zum Beispiel für Leute,
die im Moment nicht einkaufen gehen
können, weil sie krank oder in Quarantäne
sind oder weil sie zur Risikogruppe gehören.
Hier engagieren sich jetzt auch viele
junge Leute.
Gibt es eine grosse Nachfrage nach
diesen Angeboten? Im Rahmen der
Nachbarschaftshilfe entstanden
schnell viele Angebote, die wenig
wahrgenommen wurden.
Das SRK hat via seine Dienstleistungen
schon viele Kontakte mit Leuten, die Hilfe
benötigen. Das SRK ist in diesem Sinne
etabliert, da ist die Schwelle, das Angebot
anzunehmen, wohl tiefer. In einer Kooperation
mit unserem Partner Coop, der uns
unter anderem bei «2 x Weihnachten» unterstützt,
kaufen zum Beispiel unsere Freiwilligen
für Risikogruppen ein und liefern
die Einkäufe bis vor die Haustüre.
Die Schwächsten der Gesellschaft
bekommen die Auswirkungen der Corona-Krise
mit voller Wucht zu spüren.
Viele sind auf Unterstützung angewiesen.
Sie fallen durch alle Maschen,
trotz des Unterstützungspakets des
Bundes. Viele haben sich mit existenziellen
Problemen an die Sozialdienste
gewandt, undsicher auch an das SRK.
Ja, das SRK bietet mit der Einzelhilfe
finanzielle Unterstützung für Menschen,
die existentielle Probleme haben: Die eine
Zahnarztrechnung nicht bezahlen können,
Christine Kopp ist stv. Direktorin des Schweizerischen Roten Kreuz und Leiterin des
Departements Gesundheit und Integration.
Bilder: Palma Fiacco
«Das SRK hat via
seine Dienstleistungen
schon
viele Kontakte mit
Leuten, die Hilfe
benötigen.»
die keine Wohnung haben und akut Hilfe
benötigen. Die Zahl dieser Anfragen ist
in den letzten Wochen explodiert. Es sind
viele Niedriglohn-Branchen, wie Verkauf
und Gastronomie, die auf Kurzarbeit umgestellt
haben. Wenn der ohnehin schon
tiefe Lohn durch Kurzarbeit noch tiefer
wird, bekommen diese Menschen finanzielle
Probleme. Das ist klassisch. In jeder
Krise kommen diejenigen besonders unter
Druck, die ohnehin in prekären Verhältnissen
leben. Hier setzen wir mit unserer Einzelfallhilfe
an.
2/20 ZESO
9

Eigentlich ist die Sozialhilfe das
unterste Netz im Sozialversicherungsbereich.
Doch auch durch dieses Netz
fallen Menschen – offenbar immer
öfter. Das wird gerade jetzt wieder
deutlich spürbar.
Die Sozialhilfe ist ein zentrales Element
zur Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung.
Unsere Einzelhilfe ist immer ergänzend
zur Sozialhilfe und soll ein Leben in
Würde unterstützen. Wir sind deshalb im
Kontakt mit den Sozialdiensten und sprechen
uns ab. Wir wollen die Leistungen
der öffentlichen Sozialhilfe nicht duplizieren,
sondern ergänzen. Das gleiche gilt für
die Angebote von anderen Organisationen
wie der Caritas. Dazu gehört auch, dass wir
uns manchmal dafür einsetzen, dass die
Sozialhilfe bestimmte Leistungen übernehmen
muss.
Eine Studie von SRK, Caritas und
Heilsarmee zeigte vor ein paar Jahren,
dass die private Hilfe immer mehr
Aufgaben der Sozialhilfe übernimmt.
Wie nimmt das SRK diese Entwicklung
wahr?
Wir ersetzen die Sozialhilfe nicht systematisch,
das hat auch diese Studie gezeigt.
Aber der finanzielle Spielraum wird
für die Sozialhilfe kleiner und Handlungsspielräume
werden weniger genutzt. Die
Betroffenen werden in der Folge weniger
beraten und unterstützt, wenn es darum
geht, Möglichkeiten auszuschöpfen und
Chancen zu nutzen im Hinblick auf die
Arbeitsintegration. Hier ist eine Lücke entstanden.
Das spüren wir. Diese Lücke füllen
nun wir teilweise auf. Das betrifft auch
gerade den Migrationsbereich. Die Sozialhilfe
für vorläufig Aufgenommene wurde
reduziert und ermöglicht kaum noch ein
menschenwürdiges Leben.
Eine andere Studie hat gezeigt, dass
viele aus Scham keine Sozialhilfe beziehen,
weil Sozialhilfebezug sehr negativ
konnotiert ist. Auch das könnte
«Sozialhilfe zu
beziehen ist ein
neuer Status, der
für viele schwierig
ist.»
ein Grund dafür sein, dass sich Bedürftige
häufig eher ans SRK wenden.
Es ist sicher weniger stigmatisierend
zum SRK zu gehen, und dort um Unterstützung
zu ersuchen, als Sozialhilfe zu
beantragen. Sozialhilfe zu beziehen ist
ein neuer Status, der für viele schwierig
ist. Aber wer nicht nur punktuell Hilfe benöti
gt, sollte sich natürlich dennoch möglichst
frühzeitig an die Sozialhilfeinstitutionen
wenden.
Wie beurteilen Sie grundsätzlich das
System der Sozialhilfe? Erlaubt die
Sozialhilfe ein Leben in Würde? Oder
sehen Sie Bedarf für Verbesserungen?
Die Sozialhilfe ist ein notwendiger und
wirkungsvoller Grundpfeiler, damit Menschen
nicht in die Bedürftigkeit gelangen.
Das SRK ist deshalb im Vorstand der SKOS
und engagiert sich auch öffentlich. Eine
verlässliche Sozialhilfe ist für eine funktionierende
Gesellschaft unabdingbar. Alle
profitieren davon. Studien zeigen, dass die
Gesundheit der reicheren Menschen in
den Ländern besser ist, in denen es den Armen
besser geht. Man muss also wirklich
kein Altruist sein, um sich für das System
Sozialhilfe auszusprechen.
Bei den Sozialdiensten gingen im April
die Gesuche um Unterstützung wieder
zurück. Wie schätzen Sie die weitere
Entwicklung ein?
Wir gehen davon aus, dass die gesundheitlichen
Auswirkungen des Coronavirus
und die damit verbundenen Einschränkungen
sicher noch länger spürbar sein
werden. Die grossen Belastungen für die
Sozialwerke und die sozialen Institutionen
kommen erst auf uns zu. Viele hangeln sich
wohl im Moment erst mal durch und versuchen
irgendwie mit Einschränkungen
über die Runden zu kommen. Ich gehe davon
aus, dass die Krise über mehrere Jahre
spürbar sein wird und vielen Menschen
über längere Zeit zu schaffen machen wird.
In 30 Ländern ist das SRK langfristig
präsent und leistet jetzt vielerorts Nothilfe.
Man ist also in der schwierigen
Das SRK konnte dank guter Beziehungen
Millionen von Schutzmasken importieren,
die dann via Grossverteiler der
Bevölkerung zur Verfügung stehen.
10 ZESO 2/20

Situation, dass es sowohl im Inland als
auch in den ärmsten Ländern gleichzeitig
brennt.
Wir sind international ebenfalls auf
dem Gebiet der Gesundheit engagiert und
müssen aktuell viele Programme umbauen.
Es braucht jetzt zusätzliche Massnahmen:
Nothilfe, Prävention, Information.
Neu ist, dass wir zuerst hier in der Schweiz
die hohen Ansteckungsraten hatten. Damit
haben wir etwas Vorlauf. Falls sich
die Pandemie in Afrika verbreitet, werden
die dortigen Gesundheitssysteme nicht in
der Lage sein, die Krise alleine zu bewältigen.
Das gleiche gilt für die sozialen Systeme,
die durch die Folgen der wirtschaftlichen
Auswirkungen überfordert werden.
Da wird noch viel auf uns zukommen. Wir
hoffen, dass die Bereitschaft zu spenden,
die sich im Moment natürlich aufs Inland
konzentriert, auch für die Bewältigung der
Krise im Ausland vorhanden ist.
«Die grossen
Belastungen für
die Sozialwerke
und die sozialen
Institutionen kommen
erst auf
uns zu.»
Die letzte grosse Pandemie erlebten
wir vor 100 Jahren. Das SRK hat auch
während der Spanischen Grippe viel
medizinische Hilfe geleistet. War das
damals ganz anders?
Die Armee hatte damals 700 Rotkreuz-
Krankenschwestern für die Notversorgung
in den Spitälern aufgeboten. 70 von ihnen
starben bei diesem Einsatz an der Spanischen
Grippe. Auch damals fehlte es an
Schutzmaterial, viele Rotkreuz-Organisationen
nähten selbst Schutzmasken. Da sind
wir heute wieder in einer ähnlichen Situation.
Welche Lehren kann das SRK aus den
Ereignissen und Erfahrungen der Krise
schon ziehen, auch wenn sie noch
nicht durchgestanden ist?
Als SRK mussten oder durften wir mal
wieder lernen, was es heisst zu improvisieren,
schnell zu reagieren, neue Zusammenarbeitsformen
zu suchen und unter
prekären Bedingungen zu funktionieren.
Der Markt der Schutzmasken ist ausser
Kontrolle, die Preise sind enorm gestiegen
und die Länder reissen sie sich gegenseitig
aus den Händen. Hier konnte die Logistikeinheit
des SRK als Teil der internationalen
Rotkreuzbewegung den Bund bei der
Bestellung und beim Einkauf von Schutzmaterial
unterstützen. Die Knappheit an
wichtigen Gütern ist für uns, anders als für
viele andere Länder, eine ungewohnte Situation.
Da muss man auch in der reichen
Schweiz improvisieren, man kann nicht
alles von Beginn weg perfekt machen, ein
schrittweises Vorgehen ist sinnvoll. Gelernt
haben wir meiner Meinung auch mal
wieder, das sich eine gute, organisationsübergreifende
Zusammenarbeit lohnt. Eine
weitere Lehre, die wir aus der Krise ziehen
können, ist die Bedeutung der internationalen
Solidarität. Globale Probleme
wie Pandemien machen nicht Halt an der
Schweizer Grenze. Wir haben also ein ureigenes
Interesse daran, weltweit zusammenzuarbeiten,
um im Idealfall solche Krisensituationen
verhindern zu können.
Es gibt auch noch andere Krisen auf
der Welt. Fehlt nun das Engagement
für sie?
Wir dürfen vor lauter Corona-Krise
nicht vergessen, dass es auf der Welt noch
viele andere Krisen gibt, wie zum Beispiel
die Flüchtlingskrise. Die Zustände in den
Flüchtlingslagern in Griechenland sind
schrecklich, ebenso ist es die Situation vieler
Geflüchteter zum Beispiel in Italien.
Hier ist Covid nur ein weiteres Problem.
Wir dürfen nicht die Augen verschliessen
vor dieser humanitären Katastrophe. •
Das Gespräch führte am 29.4.2020
Ingrid Hess
2/20 ZESO
11

Bild: Palma Fiacco
12 ZESO 2/20 SCHWERPUNKT

Die Teilhabe von armutsbetroffenen
Personen in Projekten der Sozialdienste
ist wirkungsvoll – vorausgesetzt, dass ...
Die Praxis zeigt: Massnahmen zur Armutsvorsorge und -bekämpfung wirken besser, wenn
armutsgefährdete und -betroffene Personen an Massnahmen teilhaben, respektive wenn ihre
Anliegen, Erfahrungen, Ideen und Expertisen (stärker) berücksichtigt werden. Eine Studie der
Berner Fachhochschule für Soziale Arbeit zeigt unter welchen Bedingungen dies möglich ist.
In Belgien begann die nationale Verwaltung des Sozialen und der
Gesundheit im Jahr 2004 armutsbetroffene Personen als «Experts
du vécu» anzustellen. Daraufhin folgten zahlreiche lokale und regionale
Sozialdienste diesem Ansatz: Armutsbetroffene Personen
werden in die (Weiter-)Entwicklungen und Umsetzung von Massnahmen
und Prozesse der Armutsbekämpfung durch befristete
und unbefristete Anstellungen einbezogen (vgl. Seite 22). Solche
und andere Projekte, die armutsbetroffene und -gefährdete Personen
in die (Weiter-) Entwicklung und Umsetzung von Massnahmen
und Prozesse der Armutsbekämpfung einbeziehen, gibt es in
vielfältigen Gestaltungen und auf unterschiedlichen politischen
Ebenen in Europa und weltweit.
Allerdings fehlte bisher ein Instrumentarium, um diese Projekte
zu identifizieren und um zu verstehen, unter welchen Voraussetzungen
sie tatsächlich wirksam sind bzw. wann «echte»
Teilhabe stattfindet. Auf Mandat des Bundesamts für Sozialversicherungen
führte das Departement Soziale Arbeit der Berner
Fachhochschule (BFH) in Kooperation mit den Fachhochschulen
HES-SO Fribourg und Genf eine Studie durch, um einen Beitrag
zur Schliessung dieser Forschungslücke zu leisten (vgl. Kasten).
Ziel der Studie
Ziel der Studie war es, eine breite Vielfalt an Projekten im Bereich
der Prävention und Bekämpfung von Armut zu identifizieren, die
unter Einbezug von betroffenen Personen realisiert wurden. Darauf
basierend sollten Modelle der Systematisierung solcher Projekte
entwickelt werden.
In der Studie wurde auf Projekte fokussiert, die mit einer Reihe
von Massnahmen darauf abzielen, Mängel in verschiedenen Lebensbereichen
der Betroffenen zu beseitigen oder zu verhindern
respektive die Handlungsspielräume der Betroffenen zu vergrössern.
Solche Massnahmen umfassen Geld- oder Sachleistungen,
immaterielle Unterstützung wie Beratungs- und Bildungsangebote,
Sensibilisierungsmassnahmen sowie Massnahmen für spezifische
Risikogruppen von Armut.
Wirkungsvolle und «echte» Teilhabe
Armut hat unterschiedliche Dimensionen, wozu insbesondere die
finanzielle und materielle Dimension, sowie die soziale, kulturelle
und gesundheitliche Dimension zählen. Zudem ist Armut oftmals
mit fehlenden Möglichkeiten der politischen und gesellschaftlichen
Teilhabe sowie mit gesellschaftlicher Stigmatisierung ver-
bunden. Armut bedeutet in der Regel einen Mangel an Erfahrung
von Selbstwirksamkeit und einen Mangel des Gefühls, in der Gesellschaft
eine Stimme zu haben.
Teilhabe von armutsbetroffenen Personen an Projekten bedeutet
die aktive Beteiligung von Einzelnen und Gruppen an Entscheidungen,
die das eigene Leben, eigene Angelegenheiten oder
das Leben in der Gemeinschaft betreffen, respektive an der Suche,
(Weiter-) Entwicklung und Umsetzung von damit verbundenen
Massnahmen oder Lösungen. Teilhabe wird im Allgemeinen auf
der Grundlage von Menschenrechten, demokratischen Rechten
und Selbstbestimmungsrechten eingefordert.
Diese Definition von Teilhabe innerhalb von Projekten lässt
sich anhand unterschiedlicher Dimensionen fassen. Folgende zentrale
Dimensionen werden mit Bezug auf Sozialdienste aufgelistet
und veranschaulicht:
• Gegenstand, an dem Betroffene teilhaben können
Dazu zählt beispielsweise Teilhabe an der (Weiter-)Entwicklung
von Strukturen und Prozessen von Sozialdiensten.
• Zeithorizont und strukturelle Einbettung der Teilhabe
Dies können in Sozialdiensten befristete oder permanente Gremien
oder befristete oder unbefristete Anstellungen sein.
• Projektverantwortung
In Sozialdiensten übernehmen diese die Projektverantwortung
selbst.
• Intensität der Teilhabe
In Sozialdiensten sind dies die Konsultation, Co-Konstruktion
und/oder Mitentscheidung.
• Übergeordnete Ziele der Teilhabe
In Sozialdiensten werden Organisationsstrukturen und -prozesse
und professionelle Praktiken bewertet und Verbesserungs-/
Lösungsvorschläge eingebracht oder bei einer Anstellung von
Betroffenen gleich umgesetzt.
• Staatsebene bzw. Verortung
Je nach Projekt findet die Teilhabe an (Weiter-)Entwicklung
von Strukturen und Prozessen von Sozialdiensten kommunal,
kantonal/regional oder national statt.
Je nachdem, wie diese Dimensionen in der Praxis ausgestaltet
werden, ist die Teilhabe von armutsbetroffenen Personen an Projekten
mehr oder weniger wirksam. Deshalb ist es zentral, dass die
Projektleitung zusammen mit den Beteiligten klärt, wie diese Dimensionen
in einem einzelnen Projekt definiert werden sollen.
14 ZESO 2/20 SCHWERPUNKT

PARTIZIPATION
Unterschiedliche Modelle von Teilhabe
In der BSV-Studie wurden sechs Modelle der Teilhabe in der Armutsbekämpfung
und -prävention, basierend auf einer Analyse
von Beispielprojekten und auf den genannten zentralen Dimensionen
von Teilhabe, gebildet.
Armutsbetroffene und -gefährdete Personen haben die Möglichkeit,
in sechs Politik- und Handlungsbereichen der Armutsprävention
und -bekämpfung teilzuhaben:
• an der Evaluation und (Weiter-)Entwicklung von Strukturen
und Prozessen von öffentlichen und privaten Dienstleistungsorganisationen
(Modell 1)
• an der Ausbildung von Fachpersonen, die für die Implementierung
von Armutspolitiken zuständig sind (Modell 2)
• an der (Weiter-)Entwicklung von politischen und rechtlichen
Grundlagen (Modell 3)
• an öffentlichen/politischen Diskursen (Modell 4)
• an gemeinschaftlichen Selbsthilfestrukturen (Modell 5)
• an der Erarbeitung von Grundlagen der Teilhabe (Modell 6)
Während es im Modell 6 darum geht, Grundlagen der Teilhabe
bereitzustellen, die für die Umsetzung der anderen Modelle genutzt
werden können, nehmen armutsbetroffene und -gefährdete
Personen bei den ersten fünf Modellen an Strukturen, Prozessen
und Grundlagen teil, die für das Handeln in verschiedenen Bereichen
der Armutsprävention und -bekämpfung relevant sind,
sowie an deren Entwicklung und Optimierung; an der Sensibilisierung
der relevanten Akteure und der Öffentlichkeit für die Armutsproblematik
und am Einfluss auf politische Entscheide.
Beteiligung von armutsbetroffenen Personen in
Sozialdiensten
In den Sozialdiensten bieten sich drei Möglichkeiten (Untermodelle)
für armutsbetroffene Personen an, sich an Prozessen und
Massnahmen zu beteiligen:
• in befristeten Gremien
• in permanenten Gremien
• in (un-)befristeten Anstellungen
Zu den Gremien zählen beispielsweise die Kundenkonferenz
in Basel oder das Austauschgefäss «Gemeinsam/Ensemble» (vgl.
Seite 18). Sie sind je nach Entwicklungsstadium in der Pilotphase
als befristet und bei einer Institutionalisierung als permanent zu
bezeichnen sind.
(Un-)befristete Anstellungen sind in der Schweiz bislang nicht
bekannt, sodass das eingangs erwähnte Beispiel der «Experts du
vécu en matière de pauvreté» aus Belgien als Referenzgrösse genannt
werden kann.
Ziel bei allen drei Beteiligungsmöglichkeiten ist es, die Wirksamkeit
von Massnahmen, Prozessen und Projekten im Bereich
der Armutsprävention oder -bekämpfung zu steigern. Die Hauptverantwortung
für die Umsetzung dieser drei Projektmodelle liegt
beim Sozialdienst (Projektverantwortung). Gleichzeitig können
Betroffene oder Betroffenenvertretungen (zum Beispiel NGOs)
ebenso die Umsetzung von entsprechenden Projekten anregen.
Die ersten zwei Projektmodelle sind auf kommunaler Ebene
verortet und das dritte zusätzlich auch auf nationaler Ebene
(Staatsebene bzw. Verortung von Teilhabe). Allen Projektmodellen
gemeinsam ist das Ziel, durch die Teilhabe von armutsbetroffenen
Personen Organisationsstrukturen und -prozesse, sowie professionelle
Praktiken zu bewerten und Verbesserungs- und Lösungsvorschläge
einzubringen. Diese werden bei einer Anstellung von
Betroffen mit ihnen zugleich umgesetzt (übergeordnete Ziele der
Teilhabe). Parallel dazu können armutsbetroffene Personen in
den ersten beiden Projektmodellen ihre Meinung oder Verbesserungsvorschläge
einbringen (Konsultation) und teilweise auch
enger mit den jeweiligen Fachpersonen zusammenarbeiten (Co-
Konstruktion). Darüber hinaus ermöglicht die Anstellung in sozialen
Organisationen armutsbetroffenen Personen, dass sie über die
Konsultation und Co-Konstruktion bei bestimmten Diskussionspunkten
mitentscheiden können (Intensitäten von Teilhabe).
Dimensionen der Teilhabe und Mitwirkung veranschaulicht
an Beispielmodellen in Sozialen Diensten
Projektbeispiele
Sechs Dimensionen
von Teilhabe/Einbezug
1 Zeithorizont und
strukturelle Einbettung
der Teilhabe
2 Politik-/ Handlungsbereich
3 Projektverantwortung
4 Staatsebene bzw.
Verortung
5 Übergeordnete Ziele
der Teilhabe
6 Intensität der
Partizipation
Kundenkonferenz in
Basel, «Gemeinsam/Ensemble»,
in Biel
Befristete und permanente
Gremien
( Weiter-)Entwicklung von Strukturen und
Prozessen in Sozialen Diensten
Soziale Dienste
(top-down)
· kommunal
· kantonal/regional
· Konsultation und/
oder
· Co-Konstruktion
SCHWERPUNKT 2/20 ZESO
Anstellung von
«Experts du vécu
en matière de pauvreté»
(Belgien)
(Un-) befristete
Anstellung
· kommunal
· kantonal/regional
· national
· Bewertung von Organisationsstrukturen
und -prozessen sowie von professionellen
Praktiken
· Einbringen von Verbesserungs-/Lösungsvorschlägen
· z.T. Konsultation
· Co-Konstruktion
· Mitentscheidung
15

Wirkungspotential, Herausforderungen und Voraussetzungen
bei befristeten Gremien
Laut Erfahrungsberichten enthält der Einbezug von armutsbetroffenen
Personen in Sozialdiensten verschiedene Wirkungspotenziale.
Gleichzeitig zeichnet sich ab, dass solche Prozesse mit Herausforderungen
und Stolpersteinen verbunden sind. Damit kann das
Wirkungspotential eingeschränkt werden. Dies kann vermieden
werden, wenn notwendige Voraussetzungen geschaffen und garantiert
werden.
Zu den zentralen Wirkungspotentialen von befristeten Gremien
zählen:
1. Strukturen und Prozesse einer sozialen Organisation werden
verbessert, indem ein besserer gegenseitiger Zugang von
Fachpersonen und Betroffenen durch die befristeten Gremien
ermöglicht wird. Dadurch werden andere Perspektiven auf
Herausforderungen in der sozialen Organisation und Kenntnis
derer Gründe gewonnen.
2. Armutsbetroffene Personen werden von Massnahmen und Prozessen
in sozialen Organisationen weniger ausgeschlossen.
3. Das Wissen, die Erfahrung und Sichtweise von armutsbetroffenen
Personen werden genutzt, indem deren Erfahrungswissen
direkt eingeholt wird. Blinde Flecken in Massnahmen und Prozessen
werden aufgedeckt und damit zielgerichtete Arbeiten,
Interventionen und Programme geschaffen. Schliesslich können
durch solche Gremien mehr armutsbetroffene Personen
erreicht werden.
4. Gegenseitiges Verständnis gegenüber Personengruppen aus
Armutserfahrung und Politik kann gefördert und Missverständnisse
können geklärt werden.
5. Weiter können eine bessere Zusammenarbeit und Kommunikation
zwischen armutsbetroffenen Personen und Fachkräften/
Politik/Administration unterstützt werden.
Zu den Herausforderungen bei befristeten Gremien zählen:
1. Mangelnde zeitlichen Ressourcen, fehlende Unterstützung
durch die Leitung, starre Verwaltungswege, die einzuhalten
sind, oder fehlendes Wissen im konstruktiven Umgang mit armutsbetroffenen
Personen.
2. Eine weitere Herausforderung ist das Machtverhältnis und der
Paternalismus, der in sozialen Organisationen besteht. Beispielsweise
ist es für viele Fachpersonen herausfordernd, auf
Augenhöhe zu kommunizieren, ohne die bestehenden Machtverhältnisse
zu verschleiern.
3. Zudem besteht die Gefahr, die armutsbetroffenen Personen auf
ihre Armutserfahrungen zu reduzieren und damit zu stigmatisieren.
4. Schliesslich zeichnen sich soziale Organisationen durch eine
eher starre Planung und fehlende Flexibilität aus.
Die Beteiligung von Armutsbetroffenen in den Sozialen Diensten hat
Entwicklungspotenzial.
Um diese Herausforderungen gezielt anzugehen und echte
Teilhabe zu ermöglichen, können folgende Voraussetzungen als
Orientierung dienen. Diese sind als Fragen formuliert und aufgelistet,
welche die Fachpersonen und Leitungen von Sozialdiensten,
angepasst an die jeweiligen Rahmenbedingungen eines geplanten
Projekts, beantworten und für sich klären können:
1. Repräsentanz: Wer repräsentiert wen? Wer wird repräsentiert?
Für wen wird gesprochen?
2. Gegenstand der Teilhabe: Woran wird teilgenommen?
3. Rollen/Erwartungen: Was wird von einzelnen Personen erwartet?
4. Intensität der Teilhabe: Ist eine Mitsprache, ein Mitentscheid
oder sind andere Formen der Teilhabe vorgesehen?
5. Ziele, die erreichbar sind: Was wird sich durch die Teilhabe der
armutsbetroffenen Personen ändern?
6. Prozesse/Form der Information: Wie werden alle Beteiligten regelmässig
und nachvollziehbar über den Verlauf und den Stand
bezüglich der Bearbeitung von Anliegen informiert?
7. Evaluationen/Auswertungsprozesse: Wie wird über mögliche
Hürden, Erfolge, Lernergebnisse etc. reflektiert? Wie werden
gesetzte Ziele überprüft? Wie werden diese Resultate kommuniziert?
8. Nutzen/Resultate der Teilhabe: Was hat sich tatsächlich geändert?
Wie können Erfolgserlebnisse sichtbar gemacht werden,
um dadurch die Motivation zur Teilhabe weiter zu stärken und
den entsprechenden Prozess zu legitimieren?
16 ZESO 2/20 SCHWERPUNKT

PARTIZIPATION
STUDIE UND TAGUNG
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) vergab
an die BFH zwei Mandate: Im ersten Forschungsprojekt
in Kooperation mit der HES-SO Fribourg und Genf wird der
Begriff «Partizipation» geklärt. Weiter werden nationale und
internationale Beispielprojekte identifiziert, analysiert und
zu Teilhabemodellen verdichtet. Zudem wurden Wirkungspotentiale,
Herausforderungen und Voraussetzungen für eine
erfolgreiche Umsetzung formuliert. Die daraus resultierenden
Empfehlungen zur Umsetzung der Modelle werden im zweiten
Projekt «Praxishilfen» mit politischen Gemeinden und
Betroffenen erarbeitet und an der nationalen Tagung «Einbezug
und Beteiligung armutsbetroffener Menschen» nicht wie
ursprünglich vorgesehen im September 2020 sondern neu
am 4. Februar 2021 vorgestellt und diskutiert. Der Schlussbericht
erscheint im Juni:
Chiapparini, E., Schuwey, C., Beyeler, M., Reynaud, C., Guerry,
S., Blanchet, N., & Lucas, B. (2020). Modelle der Partizipation
armutsbetroffener und -gefährdeter Personen in der Armutsbekämpfung
und -prävention: Schlussbericht: Bundesamt für
Sozialversicherungen (BSV).
www.gegenarmut.ch
Bild: Mila Hess
Insbesondere in der Einführungs-/Aufbauphase eines befristeten
Gremiums ist auf drei wichtige Aspekte zu achten:
1. Genügend (finanzielle, personelle, fachliche und zeitliche) Ressourcen
stehen zur Verfügung.
2. Genügendes Durchhalte- und Überzeugungsvermögen aller
Beteiligter ist nötig.
3. Schliesslich ist zentral, das institutionelle Commitment eingeholt
zu haben.
Schlussfolgerungen
Grundsätzlich lohnen sich Projekte in Sozialdiensten, in denen armutsbetroffene
Personen in Prozesse und Massnahmen einbezogen
werden. Dennoch ist nicht zu verkennen, dass deren Umsetzung
voraussetzungsvoll ist. Für eine gelingende Umsetzung sind,
abgeleitet von der Praxiserfahrung, drei Schritte zu empfehlen:
1. Eine sorgfältige Planung und klare Kommunikation von Zielen,
Rollen und Mitbestimmungsmöglichkeiten (Vorbereitungsprozess)
2. Aufbau von Fachkompetenzen mit Blick auf den Einbezug von
armutsbetroffenen Personen in Projekte (Weiterbildungen)
3. Evaluation der Umsetzung und der Wirkungen von Teilhabeprozessen
(Überprüfung der Ziele)
Um armutsbetroffene und gefährdete Personen stärker in Prozesse
und Massnahmen der Armutsbekämpfung zu beteiligen,
ist es grundsätzlich nötig, dass dies in verschiedenen Politik- und
Handlungsbereichen geschieht. Dazu zählt die Beteiligung an der
Gründung und Stärkung von Interessenorganisationen, an der
(Weiter-)Entwicklung von politischen und rechtlichen Grundlagen,
an der (Weiter-)Ausbildung von Fachpersonen in sozialen,
gesundheitlichen und politischen Bereichen, am öffentlichen Diskurs
und Lobbying und an der Erarbeitung von Grundlagen der
Teilhabe (vgl. Kasten). Insgesamt ist festzustellen, dass die Beteiligung
in den Sozialen Diensten in der Schweiz vielversprechend ist
und Entwicklungspotential hat.
•
Prof. Dr. Emanuela Chiapparini
Berner Fachhochschule Departement Soziale Arbeit
SCHWERPUNKT 2/20 ZESO

Die Betroffenen beeinflussen die
Prioritäten des Managements
In Biel wird seit drei Jahren die betriebliche Realität in der Sozialhilfe zusammen mit
Sozialhilfebeziehenden diskutiert und positiv verändert. Im Projekt «Gemeinsam/Ensemble» sitzen
Sozialarbeitende und Sozialhilfebeziehende gleichberechtigt am Tisch und diskutieren im Auftrag
der Abteilungsleitung zuvor gemeinsam definierte Themenkreise. Ziel ist, realisierbare Optimierungs-
Vorschläge zu entwickeln. Für die Teilnehmenden ist dies sehr bereichernd und die Resultate der
ersten zwei Runden führen für Mitarbeitende wie Sozialhilfebeziehende zu Optimierungen.
Die Partizipation von Sozialhilfebeziehenden zur Mitgestaltung
der Zusammenarbeit ist nicht neu. Für sehr kleine Sozialdienste
war es durchaus üblich, dass Verbesserungsvorschläge kurze Wege
hatten und in die Ausgestaltung der Alltagsrealität einfliessen
konnten. Heute sind die Dienste grösser und die Wege etwas komplexer.
Üblich und gut bekannt ist der Weg im Rahmen des Qualitätsmanagements.
Durch «Befragungen» in Bezug auf die «Zufriedenheit»
sowie durch «Ideen- und Kritik-Boxen» oder auch im
Rahmen von Evaluationen werden Anliegen gesammelt und dann
«inhouse» durch die betroffenen Dienste gewertet und in umsetzbare
Massnahmen gewandelt. Das alles machen viele und ist auch
nicht weiter neu. In der zweisprachigen Stadt Biel ist man einen
Schritt weitergegangen. Ausschlag daür waren eine grössere Reorganisation
der Abteilung Soziales und ein Leitungswechsel.
«Ich wollte auch den Betroffenen
eine Stimme geben und von ihnen
lernen, was aus ihrer Sicht im machbaren
Bereich positiv verändert werden
könnte, um die Zusammenarbeit
zwischen Sozialdienst und Sozialhilfebeziehenden
zu verbessern.»
Thomas Michel, Leiter Abteilung Soziales Biel
Eine Anfrage für eine Masterarbeit von zwei Studierenden
kam Thomas Michel, dem Leiter der Abteilung Soziales in Biel,
gerade recht: Er beauftragte diese, das Thema «Partizipation» in
Form eines Projektvorschlages auszuarbeiten. Die beiden haben
diese Herausforderung angenommen und gemeinsam mit Betroffenen
eine Auslegeordnung und Projektideen entwickelt. Diese
Ideen wurden der Leitung der Abteilung durch die Sozialhilfebeziehenden
präsentiert und übergeben. Leicht adaptiert wurde
aus diesen Basisideen das kleine wirkungsorientierte Projekt «Gemeinsam/Ensemble».
Im Herbst geht es jeweils mit dem Aufruf zur Mitwirkung los:
Es ist gar nicht so einfach, Sozialhilfebeziehende zur Umgestaltung
der Beratungs-Rahmenbedingungen zu motivieren. Das ist
verständlich – schliesslich gibt es vielerlei Befürchtungen oder
gar Ängste zu überwinden. Als guter Weg zur Rekrutierung von
Betroffenen bieten sich die zahlreichen institutionellen Partner
der Sozialhilfe an: kirchliche oder präventiv tätige Stellen, Arbeitsintegrations-Anbieter
sowie andere Beratungsstellen sind aktive
Partner im Sozialhilfeprozess. Sie beraten Sozialhilfebeziehende
ergänzend oder subsidiär vorgelagert und Kritik am bestehenden
System gehört bei ihnen zum Beratungsalltag. Ziel des Aufrufs:
Eine überschaubare Gruppe von direkt betroffenen Einzelpersonen
sollte in einen mehrteiligen Aushandlungs-Prozess einsteigen.
Im ersten Durchlauf 2018/2019 stand die Frage im Zentrum:
«Was kann rund um die Anmeldung und die ersten Kontakte optimiert
werden?» Der aktuelle Durchlauf von «Gemeinsam/Ensemble»
2019/2020 bearbeitet die komplexere Frage «Was wären
hilfreiche Angebote, um den Sozialhilfe-Alltag selbstbestimmt
und kompetent zu bewältigen?»
In fünf Sitzungen je à 3 Stunden wird unter der sachkundigen
Leitung eines zweisprachigen und neutralen «externen» Moderators
die Frage bearbeitet. Die Gruppe besteht aus einer Mehrheit
von Sozialhilfebeziehenden und 2-3 Mitarbeitenden des Sozialdienstes.
Am Start-Anlass nimmt der Abteilungsleiter selbst kurz
teil. Einerseits um die Teilnehmenden kurz kennenzulernen und,
wichtiger, um den Auftrag zu klären. Er erläutert also die Fragestellungen
und verlässt dann den Kreis, damit sich die Runde frei
von Management-Einflüssen den eigenen Ideen widmen kann.
Nach einer Auslegeordnung der Anwesenden werden Themen
festgelegt, an denen in den Blöcken 2 und 3 diskutiert wird. Der
Moderator sorgt für die in Biel nötige Übersetzung und die Ausrichtung
auf das Ziel.
Am Ende des 4. Blockes kehrt der Abteilungsleiter zurück und
die teilnehmenden Sozialhilfebeziehenden stellen ihre Vorschläge
mutig und hoffnungsvoll im Rahmen einer Präsentation vor.
Zwischen Block 4 und 5 braucht es etwas Abstand, weil die Vorschläge
da in der Abteilung diskutiert und im Management auf
ihre Umsetzbarkeit bewertet werden. Der Block 5 ist dazu da, dass
der Abteilungsleiter den Teilnehmenden mitteilt, was umgesetzt
werden soll und was nicht. Dieser Block steht dieses Jahr infolge
18 ZESO 2/20 SCHWERPUNKT

PARTIZIPATION
«Ich freue mich auf jedes Treffen von
Gemeinsam/Ensemble. Ich darf mitgestalten
und erleben, wie sich Menschen
mit sehr unterschiedlichen Fähigkeiten
und Lebensgeschichten gemeinsam in
gegenseitiger Achtung aufmachen, einen
Teil ihrer Lebensrealität für andere und
sich selbst zu verbessern. Dies gelingt
auch, weil die erarbeiteten Vorschläge
vom Sozialdienst ernsthaft aufgenommen
und wenn immer möglich weiterbearbeitet
und umgesetzt werden.»
Martin Zeller, Moderator und Coach, Triaspect AG, Biel
der Corona-Massnahmen noch aus. Letztes Jahr konnten aber 12
Massnahmen umgesetzt werden, welche die Zusammenarbeit
während der Startphase für alle Betroffenen angenehmer machen.
Die zweite Hälfte des 5. Blockes gehört – wiederum ohne Abteilungsleitung
– einer Evaluation des Prozesses sowie der Sammlung
von möglichen Themen für künftige Durchführungen von
«Gemeinsam/Ensemble».
Damit dieses kleine Gebilde nicht nur in der Theorie, sondern
auch in der Praxis funktioniert, braucht es jemanden, der die Ausschreibung,
die Organisation und die Aktennotizen übernimmt
sowie einen guten «neutralen» Ort für die Durchführung. Die
Organisation in Biel wird jeweils einer Praktikantin übertragen,
welche für dieses Projekt direkt mit der Abteilungsleitung zusammenwirkt.
Eine zentrale Rolle hat die Person, welche von aussen
kommend die Moderation übernimmt. Es obliegt ihr, mit der
Gruppe auf dem Weg zu bleiben und dafür zu sorgen, dass die
« J'ai été agréablement surpris par
l'entrain des bénéficiaires de l'aide
sociale à participer dans un bon esprit
et aux organisateurs d'avoir mis en
œuvre une structure et une ambiance
plus que favorable au bon déroulement
des réunions. »
Participant anonyme de « Gemeinsam/Ensemble »
generellen Fragestellungen konkretisiert werden, ohne in der Diskussion
bei Einzelfällen zu landen. Von den Mitwirkenden wurde
dies sehr gut verstanden und es war erstaunlich, wie engagiert
Ideen entwickelt und erarbeitet wurden.
Die erste Runde von «Gemeinsam/Ensemble» hat sich mit
der Startphase in der Sozialhilfe befasst und Veränderungen im
Empfangsraum in Biel bewirkt. Es wurden Ideen zur Gestaltung
und zum Zugang zu Informationen umgesetzt. Vom optimierten
Internet-Auftritt bis zum Wasserspender, der die Wartezeit erträglich
macht, wurden Vorschläge der Betroffenen realisiert. Noch
in Arbeit ist die Einführung eines Ticketing-Systems. Auch im
Laufe der zweiten Durchführung kamen gute Ideen zusammen.
Diese werden zurzeit noch auf ihre Umsetzbarkeit hin geprüft.
Es kann aber davon ausgegangen werden, dass der Informationsfluss
durch gezielte Massnahmen weiter verbessert werden kann,
womit die Mitwirkung und die Autonomie aller Betroffenen aus
Sicht der Mitwirkenden im Projekt «Gemeinsam/Ensemble» gestärkt
werden können. Beeindruckend im Projekt sind nicht nur
die Resultate, sondern auch der Umgang der Betroffenen untereinander
sowie die Erkenntnisse, welche im Dialog gegenseitig
erlangt werden.
«Worte und Gehör finden, Meinungen
austauschen, ernst genommen werden
– Gemeinsam/Ensemble trägt
dazu bei, Abläufe zu verbessern. Die
Teilnahme bedeutet für viele aber auch
Anerkennung und Befähigung.»
Martin Zeller, Moderator und Coach, Triaspect AG, Biel
Ziel ist, «Gemeinsam/Ensemble» weiterzuführen. Evaluationen
von aussen, via die Berner Fachhochschule BFH, helfen, dieser
Entwicklung eine Stossrichtung zu geben. So wurden mit allen
Betroffenen 2019 ausserhalb des Projektes Einzelgespräche zur
Evaluation geführt mit dem Ziel, ein Instrument zur Bewertung
des Partizipations-Vorganges zu entwickeln. Bisher wurde auf jegliche
Medienarbeit bewusst verzichtet. Die Mitwirkenden sollten
nicht im Rampenlicht stehen, sondern ihre Wirkung auf Basis von
Vertrauen und gegenseitigem Verstehen gemeinsam aufbauen.
Wichtig dafür ist die Bereitschaft der Leitung, sich auf diesen Prozess
einzulassen. Dann erhalten die gemachten Vorschläge die im
Alltag oft fehlende Priorität, um tatsächlich umgesetzt zu werden.
So entsteht Wirkung.
•
Emilie Clavel
Abteilung Soziales Biel-Bienne
SCHWERPUNKT 2/20 ZESO

Sozialhilfebeziehende als
Ausbildner für Soziale Arbeit
Schon seit 2004 propagiert die Internationale Vereinigung der Schulen für Sozialarbeit die Teilnahme
von Armutserfahrenen an der Ausbildung als Qualitätskriterium. Das 2012 gegründete internationale
Netzwerk PowerUs unterstützt und veröffentlicht die Projekte mehrerer Länder. In der Schweiz hat
die Hochschule für Soziale Arbeit Freiburg in einem Pilotprojekt Armutsbetroffene als Ausbildner
eingestellt.
In Nordeuropa und Kanada sind Betroffene seit vielen Jahren in
der Lehre involviert, an der Ausarbeitung oder der Beurteilung von
Programmen, der Durchführung von Prüfungen, den Zulassungsverfahren,
der Supervision oder auch als Studierende oder Mitforschende.
Erste Studien deuten darauf hin, dass eine solche Entwicklung
einen bedeutenden Mehrwert sowohl für die
Studierenden als auch für die Klientinnen und Klienten und die
Lehrpersonen mit sich bringt. Die stärkere Gewichtung des Erfahrungswissens,
das heute von vielen Analysten als unabdingbar in
der Sozialen Arbeit betrachtet wird, erweist sich also auch bereits
als entscheidend für die Ausbildung der zukünftigen Fachleute.
Trotz der äusserst ermutigenden Ergebnisse und des Interesses
an diesem Ansatz haben die Schulen für Soziale Arbeit in der
Schweiz jedoch offenbar noch Mühe, Betroffenen einen über einen
punktuellen Erfahrungsbericht hinausgehenden Platz in der
Ausbildung zu geben. Die stärkere Teilhabe von Betroffenen bei
der Ausbildung bedeutet einen eigentlichen Paradigmenwechsel,
der diverse Anpassungen erfordert: von den Lehrpersonen
die Ausarbeitung von neuen pädagogischen Methoden sowie die
Übernahme neuer Rollen und von den Ausbildungsstätten die Anpassung
ihrer administrativen Rahmenbedingungen und die Bereitstellung
von zusätzlichen Mitteln. Ferner ist ein solcher Ansatz
mit zahlreichen Herausforderungen verbunden. Dies durch die
Infragestellung der Hierarchie zwischen den verschiedenen Wissenstypen
oder in ethischer Hinsicht beispielsweise die Gefahr der
Instrumentalisierung oder der stärkeren Stigmatisierung.
Die durchgeführten Versuche in Sachen Partizipation von
Klientinnen und Klienten an der Ausbildung müssen zwingend
sichtbar gemacht werden, damit die gewonnenen Erfahrungen
eine breitere Umsetzung dieses Ansatzes fördern können. Dieser
Artikel berichtet über ein im Studienjahr 2018-2019 an der
Hochschule für Soziale Arbeit Freiburg (HSA-FR) durchgeführtes
Pilotprojekt und stellt die wichtigsten Ergebnisse der Beurteilung
durch sämtliche mitbeteiligten Personen vor.
Das Projekt in Kürze
Acht Sozialhilfebeziehende wurden für ein Semester als Ausbildner
für ein Ausbildungsmodul eingestellt. Die Referentinnen und
Referenten konnten ihr Erfahrungswissen an zehn Studierende im
3. Bachelor-Jahr weitergeben, zusammen mit ihnen über den Nutzen
dieses Wissens für die Berufspraxis sowie über mögliche Verbesserungen
nachdenken. Sie beteiligten sich auch an der Evaluation
der Studierenden bei der mündlichen Schlussprüfung.
Mit Unterstützung von Berufsleuten aus dem Netzwerk der
HSA-FR und drei Sozialdiensten aus der Agglomeration Freiburg
konnte eine Gruppe von Leistungsbeziehenden für die Teilnahme
am Projekt zusammengestellt werden. Bei den Abklärungsgesprächen
konnten sie ihre Motivationen zur Teilnahme am Projekt
darlegen. Genannt wurde: Sich durch die Vermittlung ihrer sehr
konkreten Wirklichkeit an die «allzu oft nur theoretisch ausgebildeten»
Studierenden nützlich machen; die seltene Gelegenheit ergreifen,
ihre Gefühle bezüglich ihrer Situation oder der Haltung
von Sozialarbeitenden mitzuteilen oder Anerkennung für ihre
Kompetenzen und Erfahrungen zu erhalten:
«Dass die Sozialarbeiterin der Meinung
war, wir könnten etwas Sinnvolles
zur Ausbildung beitragen, hat unser
Selbstwertgefühl gestärkt.»
Betroffener
Doch der Einsatz hat bei den zukünftigen Referentinnen und Referenten
auch Angst hervorgerufen: Einige zweifelten anfänglich
daran, dass sie in einem solchen Kontext ihren Platz finden würden,
oder dass sie als Betroffene tatsächlich etwas beitragen und
den Diskussionen folgen könnten.
Wichtigste Etappen des Ausbildungsmoduls
Das ersten Treffen hatte zum Ziel, einen für den Austausch günstigen
Rahmen zu schaffen: Zunächst ging es darum, sich persönlich
kennenzulernen, um den Status als Studierende, Leistungsbeziehende
oder Lehrende zu überwinden, dann darum, gemeinsam
eine Charta für eine freie und vertrauensvolle Meinungsäusserung
(insbesondere bezüglich Verschwiegenheit, Wertfreiheit und
Recht zu schweigen) zu gestalten, und schliesslich darum, die
Gleichwertigkeit des Wissens aller zu betonen.
Die Erfahrungsberichte standen im Zentrum des Moduls. Jeder
Referent, jede Referentin konnte sich dazu äussern, was er oder
sie im Zusammenhang mit der Sozialhilfe positiv oder negativ beurteilte.
Anschliessend wurden diese individuellen Realitäten gemeinsam
von den Studierenden und den Referierenden analysiert
mit dem Ziel, gemeinsam zentrale Themen herauszuarbeiten. Auf
20 ZESO 2/20 SCHWERPUNKT

PARTIZIPATION
Als erstes mussten die Beteiigten ihren jeweiligen Status als Studierende, Lehrende, Sozialhilfeempfangende zu überwinden.
dieser Grundlage einigten sie sich dann auf zwei Themen, die sie
vertiefen wollten und von denen aus sie mögliche Verbesserungen
für die Berufspraxis entwickeln konnten. In diesem Prozess zur
Festlegung der Prioritäten zeigte sich der gemeinsame Wunsch,
die Bedeutung der Haltung der Sozialarbeitenden in der Zusammenarbeit
sowie die Auswirkungen der Sozialhilfe auf die vielseitigen
Aspekte des Lebens der betroffenen Personen besser zu
verstehen.
In einem letzten Schritt wurden die Studierenden und die
Referierenden aufgefordert, relevante Aktionen im Sinn der festgestellten
Verbesserungsmöglichkeiten zu entwickeln. So zeigte
beispielsweise eine Gruppe auf, dass es im Kanton Freiburg für
Menschen mit grossen Schwierigkeiten in der Beziehung zum
Sozialarbeiter keinen neutralen Gesprächspartner gibt. Aufgrund
dieser Erkenntnis wandte sich die Gruppe an den Berufsverband
Trait d’Union, um mit dessen Mitgliedern über die Einrichtung
einer kostenlosen Anlaufstelle nachzudenken.
Ergebnisse
Bei der Beurteilung des Prozesses haben die Studierenden insbesondere
hervorgehoben, was sie bezüglich Abbau ihrer Vorurteile
gegenüber den betroffenen Menschen und Legitimitität von Erfahrungswissen
in den Referaten gelernt hatten:
«Der Austausch mit den Referentinnen
und Referenten hat uns bewiesen,
dass sie Wissen einbringen, dass sie Experten
ihrer Situation sind.»
Studierender
Die Studierenden sind sich auch bewusst geworden, was es konkret
heisst, von der Sozialhilfe zu leben, was das institutionelle System
für Gewalt hervorbringen kann und was für Auswirkungen
berufliche Haltungen auf das Leben und die Gefühle der Leistungsbeziehenden
haben können:
«Wir haben schon vorher in der
Ausbildung gelernt, dass wir
empathisch sein müssen, doch dieses
Modul bringt einen dazu, weiter zu gehen,
es tatsächlich zu verstehen.»
Studierender
Die Referierenden ihrerseits hoben hervor, dass das Projekt eine
Quelle der Weiterentwicklung war, sowohl für sie selbst als auch
für die Studierenden. Es brachte ihnen Achtung und Wertschätzung
und erlaubte ihnen, der Zeit in der Sozialhilfe einen Sinn zu
geben:
«Als Sozialhilfebezüger ist man
abhängig, unselbständig; deshalb war
es sehr wichtig, an einem solchen Projekt
teilzunehmen.»
Betroffene
SCHWERPUNKT 2/20 ZESO
Bild: Palma Fiacco
21

Aus ihren Worten geht hervor, welche Macht das Teilen von Erfahrungen
hat in Sachen gegenseitige Hilfe und Anerkennung oder
Befreiung von Schuldgefühlen:
«Dank der Teilnahme an diesem Projekt
fühlen wir uns weniger allein, weniger
schuldig, dass es so weit gekommen ist.
Wir konnten den Studierenden zeigen,
dass wir das Leben in der Sozialhilfe
nicht gewählt haben».
Betroffene
Die Leiterinnen des Moduls schliesslich mussten ihre Unterrichtsmethoden
anpassen, ihre Rolle weiterentwickeln weg von
der reinen Wissensvermittlung hin zur Schaffung von Rahmenbedingungen,
die echte Mit- bzw. Aufbauarbeit ermöglichen. Ihrer
Meinung nach hat das Projekt bestätigt, wie bedeutsam das Erfahrungswissen
der Leistungsbeziehenden ist. Bisweilen wirft dieses
theoretische und/oder fachliche Kenntnisse über den Haufen, vor
allem wenn diese nicht genügend in der Wirklichkeit verankert
sind. Das Modul hat sie auch vom Potenzial eines solchen Prozesses
bezüglich Abbau der sozialen Schranken und der Ungleichheiten
zwischen den Akteuren der Sozialarbeit überzeugt, dies sogar über
die Grenzen der Ausbildung hinaus. So wurde denn die Gruppe
von Klienten, die im Modul referiert hatten, von der Direktion für
Gesundheit und Soziales des Kantons Freiburg eingeladen, an der
kantonalen Sozialhilfe-Tagung zu sprechen. In diesem Rahmen
hatten die Leistungsbeziehenden zum ersten Mal die Möglichkeit,
mit den zahlreichen Akteuren der Sozialhilfe auszutauschen. Offenbar
hat ihnen die Bildung eines Kollektivs innerhalb einer Ausbildungsstätte
die nötige Sichtbarkeit und Legitimität verschafft,
um zu neuen Gesprächspartnern auf politischer Ebene zu werden.
Herausforderungen
Die von allen Beteiligten festgestellte wichtigste Schwierigkeit für
das Projekt war der Mangel an Zeit für manche Etappen. Grund
für die knappen Zeitressourcen waren in erster Linie finanzielle
Zwänge. Der Wunsch, das individuelle Wissen in kollektives Wissen
überzuführen, erforderte, dass mehrere Referierende für die
gleiche Unterrichtsperiode entlohnt werden mussten. Somit musste
die Anzahl Sitzungen eingeschränkt werden, wenn das zur Verfügung
stehenden Budget (das gegenüber den traditionellen Modulen
allerdings aufgestockt wurde) eingehalten werden sollte. Die
Literatur bestätigt, dass die Zeit bei einem solchen Vorgehen ein
entscheidender Faktor ist, insbesondere um Vertrauensbeziehungen
herzustellen und Alibi-Teilnahmen zu verhindern. Mit Blick
auf die Fortführung des Projekts im Herbst 2020 müssen methodische
und finanzielle Lösungen gefunden werden.
Die Studierenden gaben an, dass sie sehr unsicher waren bezüglich
des Verhaltens gegenüber den Referierenden in den Momenten
der Diskussion oder des Mit-Aufbaus. Sie befürchteten oft,
zu viel Platz einzunehmen, etwas von den Leistungsbeziehenden
als unpassend oder verletzend Empfundenes zu sagen oder zu tun.
Die Leiterinnen teilten diese Besorgnis, denn für sie war es
zentral, dass die Teilnahme am Modul keine Stigmatisierung oder
zusätzlichen Schwierigkeiten für die Betroffenen mit sich brachte.
Letztere sollten gleich behandelt werden wie alle anderen schulexternen
Dozenten. Doch dieser Grundsatz stiess oft an Grenzen. So
war es beispielsweise gar nicht so harmlos, Hilfe anzubieten oder
einen Kaffe zu spendieren, da dies als Herablassung oder Nicht-
Wahrnehmung ihrer Selbständigkeit hätte interpretiert werden
können. Desgleichen war das Anliegen nach Wahrung ihrer Anonymität
innerhalb der Schule oft verbunden mit der Angst, dass
gewisse Referierende dies als mangelnde Wertschätzung empfinden
könnten.
Angesichts solcher Fragen ist entscheidend, zu kommunizieren,
sich kennenzulernen, um den bisweilen widersprüchlichen
Wünschen und Bedürfnissen gerecht werden zu können. Dank
den Beziehungen, die insbesondere auch in den wertvollen informellen
Momenten geknüpft wurden, konnte die ganze Gruppe am
Schluss mit viel Humor mit der zu Beginn der Zusammenarbeit
sehr präsenten Angst vor einem Fauxpas umgehen.
Zukunftsaussichten
Trotz der bewältigten oder noch zu bewältigenden Herausforderungen
bestätigt dieses Projekt, wie wichtig es ist, dem Erfahrungswissen
der Leistungsbeziehenden in der Ausbildung in Sozialer
Arbeit mehr Gewicht zu geben. Wenn das Stadium der
vereinzelten Versuche überwunden werden soll, muss dieser Ansatz
unbedingt nachhaltiger und struktureller in den (Grund- und
Weiter-) Bildungs- und Forschungsprogrammen verankert werden.
So könnten beispielsweise in den Lehranstalten permanente
Gremien mit Betroffenen geschaffen werden, die den längerfristigen
Aufbau von Partnerschaften für schrittweise, vielfältige und
gegenseitig bildende Kooperationen ermöglichen.
Und schliesslich müssten auch die leitenden Instanzen der
Schulen angepasst werden, damit Klientinnen und Klienten
sich mit dem gleichen Status daran beteiligen können wie die
Fachleute oder die Studierenden. Denn die Ausbildungen können
nur besser werden, wenn sie sich auch auf die Sichtweise
der Klientinnen und Klienten der Sozialen Arbeit stützen. Eine
stärkere Handlungsfähigkeit der Betroffenen erfordert echte Veränderungen
auf der Ebene der Machtverhältnisse über die Stärkung
der individuellen Ressourcen hinaus. Deshalb sollten die
Sozialarbeitenden unbedingt schon bei der Ausbildung mit den
Leistungsbeziehenden zusammenarbeiten, um ein für die Kooperation
offenes berufliches Selbstverständnis zu entwickeln. •
Sophie Guerry & Caroline Reynaud (Leiterinnen),
Karine Donzallaz (Referentin)
22 ZESO 2/20 SCHWERPUNKT

Gemeinsam mit Menschen mit
Armutserfahrung forschen
PARTIZIPATION
Die Bewegung ATD Vierte Welt stellt fest, dass gerade im Bereich der Armutsbekämpfung und
-forschung in vielen Fällen weiterhin über statt mit armutsbetroffenen Menschen entschieden wird.
So werden sie für Forschungsarbeiten zwar regelmässig über ihre Meinung und Erfahrungen befragt,
die Schlüsse werden jedoch meist von anderen Personen gezogen.
Mit dem partizipativen Forschungsprojekt «Armut – Identität –
Gesellschaft» (2019 – 2021) versucht ATD Vierte Welt einen neuen
Weg zu gehen. Was dieses Projekt von herkömmlichen Forschungsprojekten
im Bereich der Armutsbekämpfung
unterscheidet, ist die Tatsache, dass die Forschung nie über, sondern
mit jenen Menschen durchgeführt wird, die am direktesten
mit dem Thema konfrontiert sind. So sind in jeder Phase des Projekts
Menschen mit Armutserfahrung beteiligt – von der Definition
der Forschungsfrage bis zur Analyse und Interpretation der Ergebnisse.
Die langjährige Erfahrung der internationalen Bewegung
ATD Vierte Welt zeigt, dass nur durch die gemeinsame Herangehensweise
und den vollwertigen Miteinbezug direkt betroffener
Personen Wege gefunden werden können, um würdevolle und
nachhaltige Verbesserungen zu erreichen.
Aus der Geschichte lernen
Unter dem Begriff «fürsorgerische Zwangsmassnahmen» wurden
bis ca. 1981 in der Schweiz behördliche Massnahmen praktiziert,
die zu drastischen Eingriffen in das Leben der betroffenen Personen
führten. Stark davon betroffen waren insbesondere Menschen
und Familien, die in Armut lebten. Obwohl sich die Gesetzeslage
seither geändert hat, zeigen die Erfahrungen von Mitgliedern von
ATD Vierte Welt, dass es auch heute Menschen gibt, die seit Jahren
nicht aus der Armut herauskommen und die heutigen «fürsorgerischen»
Massnahmen als Kontrolle und Abhängigkeit erleben, die
sie in ihrer Würde verletzen und daran hindern als vollwertige Akteure
wahrgenommen zu werden.
DIE BEWEGUNG ATD VIERTE WELT
Die internationale Bewegung ATD Vierte Welt («Agir Tous pour
la Dignité», Gemeinsam für die Menschenwürde) ist eine
Nichtregierungsorganisation ohne religiöse oder politische Zugehörigkeit.
Ihr Ziel ist die Überwindung der Armut zusammen
mit Menschen, die diese erleben. Seit 1967 in der Schweiz
präsent, bringt die Bewegung Menschen mit unterschiedlichem
sozialem und kulturellem Hintergrund zusammen, um
gemeinsam über Armut und soziale Ausgrenzung nachzudenken,
zu lernen und zu handeln. Die Bewegung beruht auf einer
horizontalen Organisationskultur, bei der zudem in möglichst
allen grundlegenden Entscheidungen armutserfahrene Menschen
beteiligt sind.
www.atd-viertewelt.ch
Das Projekt «Armut – Identität – Gesellschaft» setzt an dieser
Stelle an. Es versucht die Beziehung zwischen Gesellschaft, Institutionen
und Menschen in Armut besser zu verstehen und dazu
beizutragen, dass sich Armut und erlebte Gewalt im Zusammenwirken
mit Institutionen nicht mehr von Generation zu Generation
wiederholt. Das vom Bundesamt für Justiz mitunterstützte
Projekt dauert drei Jahre.
Echte Partizipation braucht Zeit und Ressourcen
Was auf den ersten Blick simpel klingen mag, ist in der Realität ein
aufwändiger und langwieriger Prozess. Um echte Partizipation
möglich zu machen, braucht es viel Zeit und Ressourcen von freiwilligen
Mitarbeitenden, welche die involvierten Personen begleiten
und gegenseitiges Vertrauen aufbauen können. Dies zeigt sich
bei der Durchführung der «Volksuniversität Vierte Welt», einem
zentralen Anlass des Projektes. Armutsbetroffene Jugendliche und
Erwachsene können zusammenkommen und sich darin üben, ihre
Erfahrungen und Gedanken auszudrücken und so ein kollektives
Wissen aufzubauen. Die Durchführung einer solchen jährlichen
nationalen, zweisprachigen «Volksuniversität Vierte Welt», bei der
2019 rund 80 armutsbetroffene Personen aus verschiedenen
Landesteilen der Schweiz zusammenkamen, ist nur möglich dank
einer akribischen thematischen Vorbereitung in verschiedenen
kleineren regionalen Gruppen.
Das kollektive Wissen, das dabei erarbeitet wird, ist die Grundlage
für eine kleinere Delegation von Personen mit Armutserfahrung,
welche Ende jeden Jahres mit Gruppen von Fachleuten aus
der Praxis und mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an
einer «Wissenswerkstatt» («Atelier du Croisement des Savoirs») zusammenkommen,
um ihr Wissen zu verbinden und zu kreuzen.
An der Wissenswerkstatt im Jahr 2019 nahmen 36 Personen
teil: 12 aus der Wissenschaft, 12 aus der Berufspraxis und 12
Personen mit unterschiedlichen Erfahrungen von Prekarität oder
umfassender Armut.
Dieser Prozess mit den beiden genannten Anlässen im Verlauf
eines Jahres wird sich bis zum Ende des Projekts 2022 noch
zweimal wiederholen. Durch den Einbezug der verschiedenen
Wissensarten und Perspektiven werden politische, institutionelle
und akademische Partnerschaften geschaffen, mit dem Ziel, dass
das gemeinsam erarbeitete, emanzipatorische Wissen tatsächlich
anerkannt und aufgenommen wird und zu nachhaltigen Veränderungen
führen kann.
•
SCHWERPUNKT 2/20 ZESO
Michael Zeier
ATD Vierte Welt

Wie Experten mit Armutserfahrung
Zugang und Qualität der öffentlichen
Dienste optimieren
In Belgien hat die Bundesstelle für die sozialen Integrationsprogramme einen äusserst innovativen
Weg der Zusammenarbeit mit den schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft beschritten. Dies mit
dem Ziel, den offenbar tiefen Graben zwischen den Dienstleistungen der öffentlichen Verwaltung und
den von Armut Betroffenen zu schliessen. Seit 2004 werden in Belgien die sogenannten Experten
mit Armutserfahrung (EmA) angestellt, um die sie betreffenden staatlichen Dienstleistungen zu
verbessern.
«Unser Ziel muss sein, allen in Armut lebenden Personen – einschliesslich
denjenigen, die durch alle Maschen des sozialen Netzes
fallen – ein Leben in Würde zu garantieren.» Mit diesen Worten
verabschiedete die belgische Regierung 2004 eine ehrgeizige
Strategie. Das Thema Armut ist in Belgien zwar sehr präsent, Kontakte
und Gespräche mit den Betroffenen sind jedoch rar. Entsprechend
wenig ist über Erfahrungen, Schwierigkeiten und Hindernisse
dieser Personen bekannt. Dem Regierungsbeschluss
vorangegangen war ein weitreichendes Forschungsprojekt. Die
wissenschaftliche Studie war zu dem Schluss gekommen, dass viele
von den Behörden eingeführten Massnahmen inadäquat sind
und zu einer Vertiefung der Kluft zwischen den staatlichen Behörden
und der betroffenen Bevölkerung geführt haben.
Um das zu ändern, beschlossen die belgischen Sozialbehörden
neue Ansätze auszuprobieren und mit der Zielgruppe gemeinsam
an der Verbesserung der staatlichen Dienstleistungen zu arbeiten.
Das innovative Projekt hatte primär zwei Ziele: den Zugang zu den
nationalen staatlichen Stellen zu verbessern und damit allen in
Belgien lebenden Personen den Zugang zu den sozialen Grundrechten
gemäss der Deklaration der Menschenrechte, welche jedem
Menschen ein Recht auf ein Leben in Würde einräumt, zu
garantieren.
Beteiligung der Experten an der Projektdefinition
Während der ersten Phase des Projekts stellte die mit der Umsetzung
betraute Stelle für soziale Integration zunächst zwei Personen
ein, die selbst in Armut lebten. Sie wurden aus einer grossen Gruppe
von Betroffenen ausgewählt. Diese sogenannten «Experten mit
Armutserfahrung» (EmA) wurden auf ihre neue Aufgabe gezielt
vorbereitet und ausgebildet.
Die Vertreterinnen und Vertreter der Stelle für soziale Integration
zogen die EmA zunächst hinzu, um den Projektrahmen zu
definieren. Nach dieser Initiationsphase wurden weitere EmA
eingestellt und auch in andere Dienststellen der Verwaltung entsandt.
Die Stelle für soziale Integration ist für die Koordination
des Projekts zuständig, aber auch für die Unterstützung der EmA
und anderer involvierter Personen. Ein Mentor und ein Coach
werden den in anderen Verwaltungseinheiten beschäftigten EmA
zugeteilt, um ihnen die Integration in den entsprechenden Abteilungen
zu ermöglichen. Während der Mentor in erster Linie persönliche
Unterstützung bietet, steht der Coach vor allem für Fragen
im Zusammenhang mit der Arbeit zur Verfügung.
Die EmA absolvierten vor ihrem Einsatz ein spezielles Ausbildungsprogramm,
das sie auf die spezifischen Aufgaben vorbereitet,
die sie in den jeweiligen Abteilungen übernehmen sollen. Die
Ausbildung wird in Zusammenarbeit mit den verantwortlichen
Behörden und der Bildungsabteilung der öffentlichen Verwaltung
ausgearbeitet. Die EmA erhalten einen Arbeitsvertrag für eine Vollzeitanstellung.
Ihr Gehalt entspricht dem eines Staatsbeamten.
Ihre Arbeit leistet einen wichtigen Beitrag, um den Zugang von
Armutsbetroffenen zu den staatlichen Leistungen zu verbessern.
Im Einzelnen heisst das:
• Die Schnittstelle im Kontakt mit der Zielgruppe wird neu gestaltet.
Konkret sollten mehr zeitliche Ressourcen und mehr
Raum für Rückzug zur Verfügung gestellt werden.
• Die Betroffenen werden bei administrativen Problemen unterstützt,
beispielsweise beim Ausfüllen der Formulare oder bei
Anträgen um Unterstützung, beispielsweise nach einem Krankenhausaufenthalt,
sowie die Begleitung bei Problemen mit
dem Verwaltungsgericht.
• Verbesserung der Qualität der staatlichen Leistungen. Hierzu
sollen die EmA Dokumente und andere Kommunikationsmittel
analysieren und verbessern.
DER SPP INTÉGRATION SOCIALE
Die Stelle für soziale Integration in der belgischen Verwaltung
(service public fédéral de programmation intégration sociale,
SPP IS) wurde 2003 ins Leben gerufen. Ihre Aufgabe ist es, eine
würdige Existenz für jeden in Armut lebenden Menschen sicherzustellen.
Seither setzt sich der SPP IS für das Recht auf soziale
Integration ein, indem er auch den Menschen ein Leben in
Würde ermöglicht, die durch alle Maschen des sozialen Netzes
gefallen sind und die unter prekären Umständen leben müssen.
Er bekämpft Armut und sozialen Ausschluss in all seinen
Erscheinungsformen, setzt sich für sozialen Zusammenhalt
und Entwicklung der Grossstädte ein und sichert die soziale
Integration durch die Sicherstellung der Sozialhilfe.
24 ZESO 2/20 SCHWERPUNKT

PARTIZIPATION
Ziel des Projekts ist, den tiefen Graben zwischen den staatlichen
Dienstleistungen und den von Armut Betroffenen zu überbrücken.
Bild: Hape Bolliger, pixelio
• Die Information der Öffentlichkeit über die Rechte von Obdachlosen.
Definitive Einführung der Partizipation
Die Arbeiten mit den EmA zeitigten Erfolge. Nach zwei Programmperioden
wurde das Projekt daher abgeschlossen und die Methode
in einen dauerhaften Betrieb übergeführt, der sich nun «Stelle für
Experten mit Armutserfahrung 2.0» nennt. Seither ist der Ansatz
der Partizipation – also die Zusammenarbeit mit den Experten mit
Armutserfahrung – Teil der staatlichen Verwaltung Belgiens.
Hindernisse
Dennoch begegnete das Projekt im Laufe der Umsetzung auch einer
Reihe von Hindernissen:
Die Sparpolitik bei den öffentlichen Haushalten liess wenig
Spielraum für Investitionen in innovative Experimente. Auch
stiessen sich die Neuerungen an der in der Verwaltung eher verbreiteten
Zurückhaltung gegenüber Veränderungen. Viele Beamte
taten sich schliesslich auch schwer, die Expertise und die meist
nicht akademisch fundierten Kenntnisse der EmA anzuerkennen.
Sorgen bereitete den Projektverantwortlichen ferner die überdurchschnittlichen
Absenzen der EmA von der Arbeit. Im Jahr
2018 wiesen die EmA durchschnittlich 36 Krankentage auf. Vier
EmA fehlten während Monaten. Es wurde im 2019 daher eine
Untersuchung eingeleitet, welche die psychosozialen Effekte, die
mit der Arbeit als EmA verbunden sind, untersuchen sollte. Eine
weitere Erschwernis ist die Tatsache, dass der Beitrag der Arbeit
der EmA zu den Neuerungen schwer zu erkennen, geschweige
denn zu quantifizieren ist. Auch die Veränderungen der Organisationskultur
innerhalb der involvierten Stellen als Folge der Zusammenarbeit
des Personals mit den EmA zu bemessen, war nicht
einfach. Dennoch: Die betroffenen Nutzer wie auch die involvierten
Stellen und Organisationen, die ihre Prozesse und Dienstleistungen
erneuert hatten, bewerteten die Arbeit der EmA positiv.
Studien bestätigen positive Wirkung
Auch mehrere Forschungsarbeiten zur Methode der Partizipation
kamen zu dem Schluss, dass die Zusammenarbeit mit den EmA
positive Effekte zeigte und eine Reihe von Resultaten brachte. Eine
Bilanz einer Fallstudie, die auf der Website der Beratungsorganisation
«Governance International» publiziert wurde, listet eine Reihe
von Erfolgen auf:
Die beteiligten Organisationen sind sich der Schwierigkeiten,
denen Personen mit Armutserfahrung begegnen, deutlich bewusster;
die Qualität der Dienstleistung der bürgernahen Stellen
wurde erheblich verbessert. So wurde im Informationsdienst der
belgischen Finanzverwaltung ein EmA angestellt, damit Ratsuchende
in schwierigen Lagen bei ihm Hilfe und Tipps erhalten
können. Ferner wurden die im Wartesaal verfügbaren Informationen
verbessert und vereinfacht. Per Video erhalten die Wartenden
hier bereits viele Informationen, was die Beratung am Ende vereinfacht.
Die Angestellten betrachten die Besucher jetzt nicht
mehr als Fälle, sondern vielmehr als Personen, die das Recht auf
diese Dienstleistung haben. Und schliesslich konnten zahlreiche
Personen dank der Arbeit der EmA ihr Recht auf Leistungen der
Sozial-, Renten- oder anderer Versicherungen wahrnehmen. Inzwischen
wurde auch noch ein Projekt der Zusammenarbeit mit
EmA im Gesundheitsbereich lanciert. Ziel des Projekts ist es, den
Zugang zur Gesundheitsversorgung von Armutsbetroffenen sowie
ihre Kenntnisse zu Gesundheitsfragen zu verbessern. •
SCHWERPUNKT 2/20 ZESO
Ingrid Hess
25

«Es hat mich dazu gebracht, über
mich selbst hinauszuwachsen»
NACHGEFRAGT Artias hat in Zusammenarbeit mit der Loterie romande, den Sozialämtern der
Westschweizer und Berner Kantone sowie einigen Westschweizer Sozialdiensten ein Pilotprojekt
zur Beteiligung von Langzeit-Sozialhilfeempfängern durchgeführt. Die Artias-Zentralsekretärin
Martine Kurth und Stéphane, getrennt lebender Vater, kaufmännischer Angestellter und ergänzend
Sozialhilfeempfänger, sagen, was das gebracht hat.
«ZESO»: Was wollte die Artias mit dem Partizipationsprojekt
erreichen?
Martine Kurth: Die ersten Überlegungen verfolgten ein zweifaches
Ziel: Einerseits wollten wir von den Betroffenen erfahren,
was man bei der Begleitung auf Distanz anders bzw. besser machen
könnte; andererseits waren wir überzeugt, dass mit einer
Gruppenarbeit das Zugehörigkeitsgefühl für die Teilnehmenden
gestärkt werden könnte, ihr Gefühl als Staatsbürgerinnen und
Staatsbürger und damit das gesellschaftliche und demokratische
Engagement von Menschen in prekären Lebenslagen
gefördert würde.
Wie wurde das Projekt angegangen?
Martine Kurth: Es wurden etwa 60 Sozialhilfebeziehende ausgewählt
und auf freiwilliger Basis von den Partnersozialdiensten
des Projekts und den Mitgliedern des Projektausschusses
eingestellt. Es wurden dann vier Gruppen an verschiedenen Orten
der Westschweiz gebildet, die in der ersten Phase des Projekts
während etwa neun Monaten mit einem Animationsteam
zusammenarbeiteten. Es stellte sich dann schnell heraus,
dass in allen Gruppen immer wieder die Frage auftauchte, was
mit ihren Vorschlägen geschehen würde.
Und wie konnten die Vorschläge umgesetzt werden?
Martine Kurth: Die Artias schlug zunächst vor, dass die interessierten
Gruppen die Organisation der Jahrestagung der Artias
übernehmen sollten. Etwa zwanzig Projektteilnehmer griffen
den Vorschlag spontan auf und arbeiteten mehrere Monate
«Eine Beurteilung des Projekts
und seiner Konsequenzen wird
derzeit von der Hochschule
für Soziale Arbeit in Freiburg
durchgeführt.»
Martine Kurth
hart daran, die Tagung, die am 28. November 2019 stattfinden
würde, zu gestalten. Das ermöglichte es ihnen, die von den
einzelnen Gruppen entwickelten konkreten Vorschläge zur Verbesserung
der Begleitung von Sozialhilfeempfängern bekannt
zu machen.
Wie beurteilen Sie als Projektteilnehmer dieses Engagement?
Stéphane: Sehr positiv, weil ich die Möglichkeit hatte, neue
Kontakte zu knüpfen, neue Perspektiven zu erhalten und die
Sozialhilfe anders zu sehen, was mir erlaubt hat, eine begleitete
Arbeit zu finden, die mir mittelfristige Ausbildungsperspektiven
bietet.
Auf welche Schwierigkeiten sind Sie gestossen?
Stéphane: Für mich gab es keine, denn wir waren eine fantastische
Gruppe, solidarisch und vereint. Es war eine grossartige
Erfahrung für mich.
Welche Schlussfolgerungen werden aus dem Projekt gezogen, gibt es
eine Fortsetzung?
Martine Kurth: Eine Beurteilung des Projekts und seiner Konsequenzen
wird derzeit von der Hochschule für Soziale Arbeit
in Freiburg durchgeführt. Eine Synthese der Berichte zu den
Vorschlägen der vier Gruppen wird von den Teilnehmerinnen
und Teilnehmern des Projekts in Zusammenarbeit mit der Artias
und dem Lenkungsausschuss des Projekts erstellt. Die Synthese
wird dann in verschiedenen Dienststellen vorgestellt.
Darüber hinaus wurden mehrere Teilnehmerinnen und Teilnehmer
im Laufe des Projekts in andere Aktivitäten integriert, wie
z.B. Konferenzen oder Kurse der Artias, Lenkungsausschüsse
von wissenschaftlichen Projekten, eine Radiosendung, eine
nationale Projektgruppe usw. Einige haben auch den Verein
«Construire demain» gegründet, um den Blick auf die Sozialhilfe
und die Menschen, die sie zum Überleben brauchen, zu
verändern.
Was hat das Projekt Ihnen als Teilnehmer gebracht?
Stéphane: Eine der Lehren ist für mich die Bedeutung des sozialen
Zusammenhalts, die Tatsache, nicht allein dazustehen,
festzustellen, dass andere Menschen ähnliche Situationen
26 ZESO 2/20 SCHWERPUNKT

PARTIZIPATION
Positiv bewerteten Teilnehmende, dass ihnen das Projekt die Möglichkeit gab, neue Kontakte zu knüpfen.
Bild: Uwe Duwald, pixelio
erleben. Eine weitere Lehre ist die Erkenntnis, dass sich Sozialarbeiterinnen
und Sozialarbeiter «zwischen Hammer und
Amboss» befinden und wir uns als Begünstigte angewöhnen
müssen, einen Beitrag zu leisten, indem wir Lösungen suchen.
Wir sollten keine problematischen Fälle sein. Wenn wir etwas
von den Sozialarbeitenden wollen, müssen wir auch unseren
Beitrag leisten. Eine dritte Lehre war festzustellen, dass die Sozialhilfe
das Leben einengt und mich dieses Projekt aus meiner
Komfortzone – mit Sozialhilfe eher sehr relativ – gelockt hat.
Es hat mich dazugebracht, über mich selbst hinauszuwachsen,
etwas anderes sehen zu wollen. Der Beginn meiner Teilnahme
am Artias-Projekt ging einher mit dem Aufsuchen einer
psychiatrischen Beratungsstelle.
Martine Kurth: Die Tatsache, in einer Gruppe zu sein, zu erkennen,
dass alle anderen dieselbe Situation erleben und dass
man sich innerhalb der Gruppe gegenseitig vertrauen muss,
hat unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu starken
Bindungen geführt. Sie stellt für viele so etwas wie ein Momentum
dar, um sich neu zu positionieren.
Was war für Sie das Schwierigste am Projekt?
Stéphane: Der Morgen des 29. November, dem Tag nach der
jährlichen Artias-Herbsttagung, die wir gemeinsam aufgebaut
hatten und für die wir seit dem Sommer hart gearbeitet haben.
Am nächsten Tag fühlt man sich leer, es ist vorbei... und obwohl
man weiss, dass andere Dinge geschehen werden, gibt es im
Moment eine Leere.
«Eine der Lehren ist für mich
die Bedeutung des sozialen
Zusammenhalts, die Tatsache,
nicht allein dazustehen, festzustellen,
dass andere Menschen
ähnliche Situationen erleben.»
Stéphane
Würden Sie sich in Zukunft gerne wieder in dieser Art engagieren?
Stéphane: Ich bin in Verbänden in meiner Region bereits sehr
aktiv. Und ich bin Mitglied von «Construire demain», dem Verein,
den die Teilnehmer des Artias-Projekts im Jura gegründet
haben, um das Unmögliche möglich zu machen. Und dort habe
ich berufliche Ausbildungsprojekte im sozialen Bereich (MSP),
die mich Zeit und Energie kosten werden. Aber ich stehe der Artias
für ein neues ähnliches Projekt gerne zur Verfügung, denn
es ist wichtig, dass wir unserer Situation Gehör verschaffen
und die mit der Sozialhilfe verbundenen Vorurteile «ausmerzen»
können.
•
Das Gespräch führte
Ingrid Hess

Social Impact Bonds:
Unterschiedliche Erfahrungen
von Sozialdienstleistern
FACHBEITRAG Social Impact Bonds (SIBs) sind wirkungsorientierte Leistungsverträge, bei denen ein
privater Investor die Dienstleistung vorfinanziert. Die Erfahrungen der Dienstleister unterstreichen
bereits bekannte Vor- und Nachteile von wirkungsorientierten Leistungsverträgen. Dies zeigt ein Forschungsprojekt,
an dem die Berner Fachhochschule für Soziale Arbeit beteiligt ist.
Im Verlauf der letzten Jahrzehnte haben
Regierungen eine Vielfalt von Verträgen
getestet, etwa die Finanzierung abhängig
von der Anzahl Klienten, der angebotenen
Dienstleistungen oder der erzielten Wirkung.
In den letzten zehn Jahren hat sich
der Social Impact Bond (SIB) als eine neue
Vertragsform verbreitet, insbesondere in
den angelsächsischen Ländern und den
Niederlanden. Dabei stellt ein Investor
Mittel für ein Sozialprojekt zur Verfügung
und wird vom Staat für dessen Erfolg ausbezahlt.
Je nachdem, wie weit die definierten
Programmziele erreicht werden, ergibt
sich für den Investor ein Gewinn oder Verlust.
Social Impact Bonds in der Praxis
In der frühen SIB-Literatur hiess es, dass
Regierungen diese Vertragsform anwenden
würden, um das Risiko von neuen, experimentellen
Programmen in den Privatsektor
zu verlagern. Gleichzeitig hätten
Dienstleister so die Möglichkeit zu flexibler
und dynamischer Arbeitsweise und würden
mit Fachwissen rund um Datenmanagement
und Evaluation unterstützt.
In der Praxis handelt es sich jedoch bei
SIB-Programmen meist nicht um experimentelle,
sondern um weit verbreitete Interventionen,
für die es reichlich Praxiserfahrung
und Evaluationsforschung gibt.
Dies hängt damit zusammen, dass für neuartige
Projekte mit entsprechend hohen
Risiken keine Investoren gefunden werden
könnten. In der Praxis scheint ausserdem
kein «Risikotransfer» stattzufinden. Nur
bei einem einzigen SIB weltweit kam es
zu keiner positiven Auszahlung. In den
Fallstudien zeigt sich denn auch, dass die
28 ZESO 2/20
Vertragsbedingungen so formuliert sind,
dass eine positive Auszahlung sehr wahrscheinlich
ist.
Viele Dienstleister berichten, dass die
Investoren Einfluss auf das Tagesgeschäft
nehmen können und dass die Handlungsfreiheit
zunehmend beschnitten wird, je
näher der Zeitpunkt der Auswertung und
Auszahlung kommt. Was die Evaluation
und Transparenz betrifft, haben SIBs die
Dienstleister klar zur Erhebung von mehr
Daten angetrieben. Dennoch haben SIBs
in der Regel keine Evaluationen hervorgebracht,
welche Dienstleistern zu verstehen
helfen, was wirkt oder wie sie ihren Klienten
helfen können.
Welche Verträge sich Dienstleister
wünschen
Im Rahmen einer vom Schweizerischen
Netzwerk für Internationale Studien
(SNIS) finanzierten Forschungskooperation
kamen im vergangenen Herbst gemeinnützige
Organisationen aus Grossbritannien,
Deutschland und der Schweiz in Bern
Was die Evaluation
und Transparenz
betrifft, haben SIBs
die Dienstleister klar
zur Erhebung von
mehr Daten angetrieben.
zusammen, die u.a. durch SIB finanzierte
Arbeitsmarktprogramme durchführen.
Am Ende des zweitägigen Workshops wurden
die Anbieter gebeten, den für sie idealen
Vertrag zu beschreiben, unabhängig
davon, ob dies ein SIB oder eine andere
Vertragsform sei. Alle Anbieter nannten
folgende für sie wichtige Punkte:
1. Eine längerfristige stabile Finanzierung
mit Zwischenetappen und der
Möglichkeit, erfolgreiche Programme
erneuern oder erweitern zu können.
Die Dienstleister waren sich einig, dass
«Finanzierungsklippen» mit plötzlicher
Abnahme der Finanzierung nachteilhaft
seien.
2. Flexibilität und professionelles Vertrauen,
die es ermöglichen, effektive, individuell
zugeschnittene Lösungen für die
Klientel zu entwickeln.
3. Ganzheitliche Interventionen für ihre
Klienten, die sich an den Zielen der an
der Finanzierung beteiligten Behörden
orientieren. Eine regierungsinterne
Koordination dieser Ziele würde dabei
bessere und effizientere Lösungen ermöglichen
und den Dienstleistern ersparen,
gleichzeitig viele unterschiedliche
Verträge zu bewirtschaften, die
letztlich im Inhalt der angebotenen
Dienstleistung und der Auswertung
sehr ähnlich sind.
Diese drei Vorschläge, die von den
Dienstleistern länderübergreifend geteilt
werden, unterstreichen die unterschiedlichen
Perspektiven der Entscheidungsträger
der Sozialpolitik und der Sozialdienstleister.
Aus Regierungssicht wird ein
Programm durch eine Behörde gestaltet,

SIBs: Werden vereinbarte Ziele
nicht erreicht, werden sie oft
einfach neu verhandelt.
Bild: Palma Fiacco
um die spezifischen Ziele dieser Behörde
zu erfüllen. Auf bisheriger Erfahrung beruhend
werden kurz- oder mittelfristige
Verträge abgeschlossen, um neue Ideen zu
testen und deren Wirksamkeit zu messen.
Was die Behörden als kreativen Prozess des
Experimentierens und Lernens betrachten,
kann bei den Dienstleistern zur Unterbrechung
der angebotenen Dienstleistung
führen, beispielsweise wenn ein Programm
nicht verlängert wird. Dem Dienstleister
wird so die Möglichkeit genommen,
auf seiner Erfahrung aufzubauen, und es
fallen Anpassungen beim Personaleinsatz
und administrative Kosten an.
Unterschiedliche Bewertungen der
Anreize
Die Meinungen von Dienstleistern bezüglich
Anreize waren gemischt. Generell
schätzten die Dienstleister, dass die Anreize
mehr Informationen über Programmeffekte
hervorbrachten und zur Reflexion der
Dienstleistung anregten. Während die erhöhten
finanziellen Risiken, welche von
den Anreizen ausgehen, als negativ betrachtet
wurden oder als etwas, dass es zu
umgehen galt.
Die Dienstleister lernten mehr über ihre
Prozesse und Ergebnisse und konnten ihre
Vorgehensweisen mit dem Hintergrund
dieser Informationen reflektieren. Zudem
führten die Wirkungsziele zu einem Dialog
mit externen Partnern, was die Perspektive
der Dienstleister erweiterte. Zum Teil wurden
Dienstleister mit der Datenerhebung
überlastet – dies könnte jedoch durch zusätzliche
Finanzierung zwecks Datenerhebung
oder der Nutzung von bestehenden
administrativen Datenquellen verbessert
werden.
Risiken betreffend Auszahlungen und
Planung stellen negative Aspekte der Anreize
dar. Wenn diese als unüberwindbare
Hürden wahrgenommen werden, werden
sie wenn möglich umgangen. In einer der
Fallstudien konnte ein Dienstleister sicherstellen,
dass die Verhaltensziele der Teilnehmer
flächendeckend positiv bewertet
wurden. In einem zweiten Fall führte ein
Dienstleister parallel ein bezüglich des Inhaltes
und der Teilnehmer sehr ähnliches
SIB und ein anderes Programm durch
und konnte so leistungsstärkere Teilnehmer
in den SIB transferieren. Wenn Auszahlungen
nicht ausreichend gesichert
werden konnten, konnten Dienstleister
die Verträge neu verhandeln. Sowohl Neuverhandlungen
als auch unerwünschtes
Verhalten der Dienstleister ist aus Sicht der
politischen Entscheidungsträger negativ.
Interessanterweise betrachten die
Dienstleister dieses strategische Verhalten
nicht als verwerflich. Sie schätzen die
Möglichkeit zur Neuverhandlung, weil sie
diese als Ausgleichsmöglichkeit für unzureichende
Finanzierung oder unerreichbar
harte Wirkungsziele ansehen.
Positive Wirkung und bekannte
Probleme
Zusammenfassend können wir sagen, dass
Sozialdienstleister positive Veränderungen
im Zusammenhang mit SIBs erlebt haben,
die allgemein auf Leistungsverträge übertragen
werden können. Gleichzeitig scheinen
SIBs bekannte Probleme von Leistungsverträgen
nicht gelöst zu haben,
sondern verstärken diese möglicherweise
sogar.
• Von den Dienstleistern positiv betrachtet
werden Aspekte wie längere Vertragsdauer,
Flexibilität, Grosszügigkeit
und mehr erhobene Information.
• Im Rahmen einer SIB-Finanzierung
wird mehr Risiko auf den Dienstleister
übertragen, was zu unerwünschtem
Verhalten der Dienstleister und Neuverhandlungen
von Verträgen führen
kann.
Politische Entscheidungsträger müssen
ein Mass an Anreizen finden, das sowohl
wünschenswert als auch umsetzbar ist. Aktuell
haben SIBs und wirkungsorientierte
Leistungsverträge tendenziell zu starke Anreize,
wodurch sich diese selbst aushebeln.
Letztlich bestimmen die Entscheidungsträger
der Sozialpolitik die Spielregeln für
Leistungsverträge. Ein Einbezug der Sichtweisen
der Sozialdienstleister ist jedoch
wichtig, um möglichst effektive Sozialdienstleistungen
anbieten zu können. Die
zu SIBs gewonnenen Erkenntnisse können
auf weitere wirkungsorientierte Leistungsverträge
übertragen werden.
•
Prof. Dr. Debra Hevenstone
Berner Fachhochschule Soziale Arbeit
Lukas Hobi
Berner Fachhochschule Soziale Arbeit
2/20 ZESO
29

Sozialsystem muss sich auf steigende
Zahl Bedürftiger vorbereiten
CORONA-PANDEMIE Die Massnahmen des Bundesrats zum Schutz der Bevölkerung und des Gesundheitssystems
waren und sind einschneidend – auch für die Sozialdienste. Diese haben mit erheblichem
Einsatz dafür gesorgt, ihre Aufgaben trotz erschwerten Bedingungen zu erfüllen. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger
blieb bis Anfang Mai weitgehend stabil. Das wird aber voraussichtlich nicht so bleiben.
Kaum waren die Massnahmen am 16.
März verhängt und in Kraft getreten, meldeten
die Sozialdienste eine starke Zunahme
der Neuanmeldungen für Sozialhilfe.
«Es kommen sehr viele Anfragen von all
den Selbstständigerwerbenden, die durch
die Maschen fallen, die nicht wissen, an
wen sie sich wenden sollen, die hin und her
geschoben werden von den Ämtern und
um ihre Existenz bangen. Die Ungewissheit,
wie lange dieser Zustand andauern
wird, macht Angst. Unsere Klienten sorgen
sich um ihre Arbeit, ihre Lehrstelle», so beschreibt
die Leiterin eines Sozialdienstes
im Kanton Zürich die Situation wenige
Tage, nachdem die ausserordentliche Lage
ausgerufen worden war.
Die Zahl der von der Sozialhilfe unterstützten
Personen stieg in den Monaten
März und April kaum an. Das jedoch vor
allem dank der Anfang April beschlossenen
Massnahmen des Bundes, mit denen die
wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie
abgefedert werden sollten. Ferner
ist davon auszugehen, dass viele Teile der
Bevölkerung, die mit erheblichen Einkommenseinbussen
zurechtkommen müssen,
über gewisse Reserven verfügen, die sie
zuerst aufbrauchen müssen, bevor sie Anspruch
auf Sozialhilfe haben.
Besonders betroffen sind Personen
ohne Aufenthaltsbewilligung. Auch verzichten
Personen mit ausländischem Pass
oft auf den Bezug auf Sozialhilfe, weil sie
negative Folgen für ihre Aufenthaltsberechtigung
in der Schweiz befürchten.
Besonders im Kanton Genf sind viele Personen
betroffen. Nothilfe leisten für diese
Menschen vor allem private Hilfswerke.
Sozialhilfequote von 4 Prozent
Es ist davon auszugehen, dass die Zahl der
Personen, die Sozialhilfe benötigen, in den
nächsten zwei Jahren stark ansteigen wird.
Ende April bezogen 1,9 Mio. Personen
Kurzarbeitsentschädigung, 153 000 Arbeitslosentaggelder
und rund 200 000
Erwerbsersatzentschädigung, das entspricht
rund 45 Prozent der 5,1 Mio. Erwerbstätigen.
Kurzfristig werden viele
Selbständigerwerbende auf Sozialhilfe angewiesen
sein, wenn der Erwerbsersatz
Mitte Mai ausläuft. Mittelfristig werden
von der Arbeitslosenversicherung Ausgesteuerte
in diese Situation kommen.
Gleichzeitig werden sich weniger Personen
von der Sozialhilfe wegen der zu erwartenden
Rezession ablösen können. Zudem
wird auch die Integration der grossen
Gruppe von Flüchtlingen und vorläufig
Aufgenommen, die in den Jahren 2014-
16 in die Schweiz kamen, schwieriger. Gesamthaft
rechnet die SKOS daher mit einem
Anstieg bei der Sozialhilfequote von
3,2 auf 4 Prozent bis 2022. Das entspricht
einer Zunahme von 77 000 Personen, von
heute 273 000 auf 350 000. Das würde
Coronakrise auch in Caritas-Märkten
und -Sozialberatung spürbar
Anfang Mai berichteten Medien von einer
Lebensmittelabgabe in Genf. Weit über
1000 Menschen standen für ein Paket
Grundnahrungsmittel Schlange. Solche Bilder
sind wir aus Katastrophengebieten in
ärmeren Ländern gewohnt. Aber in der
Schweiz? Die wirtschaftlichen Einschränkungen
treffen Menschen, die an der Armutsgrenze
leben, mit besonderer Härte. Es
ist eine Entwicklung, die angesichts von
660 000 Armutsbetroffenen und mehr als
einer Million armutsgefährdeten Menschen
in der Schweiz zu Besorgnis Anlass gibt.
In den 21 Caritas-Märkten in der
Schweiz wirkten sich die Einschränkungen
des öffentlichen Lebens bereits Mitte März
stark aus. Mehr Menschen kauften grössere
Mengen ein. Bei Grundnahrungsmitteln
wie Mehl, Milch, Speiseöl oder Teigwaren
stieg die Nachfrage um mehr als
die Hälfte an. Die Lebensmittelgutscheine
im Wert von insgesamt 100 000 Franken,
die mit Unterstützung der Glückskette
abgegeben wurden, waren schnell
vergriffen. Eine zweite Tranche von Gutscheinen
wurde Anfang Mai verteilt. Für
das Gesamtsortiment pendelten sich die
Umsätze wieder nahe dem gewohnten Niveau
ein. Doch das Kaufverhalten hat sich
verändert: Während der Fokus stärker auf
haltbaren Grundnahrungsmitteln liegt, ist
die Nachfrage nach Früchten und Gemüse
sowie nach nicht dringend benötigten Artikeln
gesunken. Der Durchschnittseinkauf
stieg – nicht zuletzt dank der Gutscheine –
von 13 auf 17 Franken an. Und der Kreis
der berechtigten Kundinnen und Kunden
wird grösser: Die regionalen Caritas-Organisationen
stellten im Lauf des Aprils
auf Antrag der Sozialämter Hunderte von
neuen Einkaufskarten für Kundinnen und
Kunden aus.
Zunahme der Gesuche in
Sozialberatungen
Auch in der Sozialberatung zeigte sich der
höhere Bedarf, wenn auch später. Die finanziellen
Überbrückungshilfen, die Cari-
30 ZESO 2/20

zu einem Anstieg der Sozialhilfekosten der
Kantone und Gemeinden um 870 Millionen
führen. Zentral ist in dieser unsicheren
Situation, Veränderungen in der Sozialhilfe
rasch zu erkennen, um zeitnah reagieren
zu können. Die SKOS will deshalb ab Juni
2020 ein Monitoring einrichten.
Sozialhilfe funktioniert auch unter
erschwerten Bedingungen
Neben den Sorgen um die Zahl von Betroffenen,
die auf den Sozialdiensten eintreffen,
erforderten die Einschränkungen des
öffentlichen Lebens und der Arbeitswelt
auch rasch Massnahmen, um das Funktionieren
der Dienstleistungen, der Abwicklung
der Verfahren zur Unterstützung der
betroffen Sozialhilfeempfangenden, bei
Auflagen und Sanktionen sicherzustellen.
Fragen stellten sich unter anderem im Hinblick
auf die Subsidiarität der Sozialhilfe
und wie sie unter den gegebenen Umständen
rechtzeitig sein kann. Um ihre Mitglieder
bei dieser anspruchsvollen Aufgabe zu
unterstützen, verfasste die Schweizerische
Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) vier Tage
nach dem Entscheid des Bundesrates
tas unter anderem mit Geldern der Glückskette
individuell leisten konnte, wurden
zunächst nicht in allen Regionen im gleichen
Mass beansprucht. Ende April stiegen
die Gesuche bei den Sozialberatungen
deutlich an. Für viele war die Auszahlung
der Aprillöhne ein einschneidender Moment.
Wer Arbeit auf Stundenlohnbasis,
auf Abruf, in ungeregelten Verhältnissen
leistet, spürte empfindliche Einbussen.
Ebenso trifft die Kurzarbeitsentschädigung,
die nur 80 Prozent des Lohnes
deckt, Personen mit tiefen Einkommen besonders.
In den Beratungen zeigte sich,
dass die Wohnkosten für viele Familien
und Alleinlebende nicht mehr tragbar waren.
Andere sehen sich mit Steuerrechnungen
oder Arztkosten konfrontiert, für die
das Geld fehlt.
Erwerbsarbeit und Kinderbetreuung
Alleinerziehende Mütter stehen vor
besonderen Herausforderungen, ihre Erwerbsarbeit
wenn immer möglich aufrecht
zu erhalten und gleichzeitig die Kinder zu
betreuen. Auch Sans-Papiers oder Sexarbeiterinnen
melden sich bei der Caritas.
Ihre Einkünfte sind weggebrochen. Die
Empfehlungen für die Arbeit auf den Sozialdiensten
während der ausserordentlichen
Lage.
Mancherorts konnten Lösungen rasch
gesucht und umgesetzt werden: In einer
kleinen Zürcher Gemeinde wurde der Betrieb
des Sozialdienstes im Home-Office
aufrechterhalten, Beratungen wurden telefonisch
oder per Mail gemacht. «Alle Klienten,
die einen Scanner zu Hause haben,
können die nötigen Formulare, Dokumente
etc. scannen oder fotografieren und der Leiterin
des Sozialdienstes elektronisch zustellen.
Da ich von zu Hause aus auf alles zugreifen
kann, sind die Auszahlungen und die
Weiterführung des Betriebs sichergestellt»,
versicherte die Leiterin des Sozialdienstes.
Ungewissheit ist für viele eine grosse zusätzliche
Belastung.
Das Auffangen dieser Notlagen kann
trotz der grossen Solidarität aus der Bevölkerung
von privaten Organisationen
nicht nachhaltig geleistet werden. Caritas
Schweiz hat deshalb auf politischer Ebene
an Bundesrat und Parlament appelliert, ein
Unterstützungsprogramm für Menschen
und Haushalte mit kleinen Einkommen
auszuarbeiten. Caritas schlägt eine einmalige
Direktzahlung in der Höhe von 1000
Franken für Haushalte und Einzelpersonen
vor, deren Einkommen unter dem Niveau
liegt, das zu Ergänzungsleistungen berechtigt.
Caritas fordert ferner kostenlose
Krippenplätze für Familien mit tiefen Einkommen,
eine Erhöhung der Verbilligung
von Krankenkassenprämien durch Bund
und Kantone um 50 Prozent sowie Kurzarbeitsentschädigungen,
die bei tiefen Einkommen
keine Kürzung vorsehen, sondern
100 Prozent des Lohnes betragen. •
Stefan Gribi
Leiter Abteilung Kommunikation, Caritas Schweiz
www.caritas.ch/corona
Kontakte hinter Plexiglas
Man sei bemüht, den Betrieb wie gewohnt
aufrechtzuerhalten, schrieb ein Thurgauer
Sozialdienst. Dazu habe man das Team aufgeteilt,
und nun wechsle man sich ab, immer
eine Woche im Büro, eine Woche im
Homeoffice. Hinter einem speziellen Schalter
mit einer Plexiglasscheibe werden die
wenigen Klientenkontakte, welche persönlich
notwendig sind (nur Neuanmeldungen,
maximal 15 Minuten) abgehalten. Alle
weiterführenden Kontakte fänden per Telefon,
Mail und Post statt. Arbeitsvermittlung,
Integrationsprojekte, sämtliche externen
Termine seien sofort ausgesetzt worden. •
SRK VERTEILT 3 X 1000
FRANKEN AN BEDÜRFTIGE
Ingrid Hess
Das Schweizerische Rote Kreuz hat entschieden,
dass Bedürftige für die Monate April, Mai undJuni
pro Familie oder Einzelperson einen Betrag von
maximal CHF 1000 pro Monat zur Überbrückung
beantragen können. Mit der finanziellen Unterstützung
werden Rechnungen bezahlt und es
wird unkomplizierte Hilfe geleistet. Darunter fallen
in diesen schwierigen Zeiten auch immer mehr
Güter des täglichen Bedarfs wie zum Beispiel
Lebensmittel oder Hygieneprodukte wie Windeln.
Diese Soforthilfe leistet das SRK rasch und
unkompliziert seit mehreren Wochen. Personen in
einer akuten Notlage können sich beim Rotkreuz-
Kantonalverband in ihrem Kanton melden. Je
nach Entwicklung der Krise und verfügbaren
Spendengeldern wird das SRK überprüfen, ob die
Soforthilfe auch nach Juni weitergeführt werden
kann.
Das SRK setzt für die Corona-Soforthilfe Spenden
ein, die es von Unternehmen und über die Sammlung
der Glückskette erhalten hat. Dank der grossen
Solidarität der Schweizer Bevölkerung kann
das SRK noch mehr von der Corona-Pandemie
betroffenen Menschen in der Schweiz helfen.
Das System der Sozialversicherungen ist ein
Werk, auf das die Schweizerinnen und Schweizer
mit Recht stolz sind. Das SRK fordert Massnahmen
für die systematische Unterstützung von
Armutsbetroffenen und Menschen mit tiefstem
Einkommen in der Schweiz, die aufgrund der
Coronakrise in Not geraten sind. Hier müssen
Bund und Kantone einspringen,und zwar nicht
nur punktuell, sondern nachhaltig während der
ganzen Krise.
Einmal- oder Mehrfachbeiträge wie die Soforthilfe
des SRK können helfen, Engpässe zu überbrücken
und durchzuatmen. Doch dies reicht nicht
aus, denn die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie
treffen jene am härtesten, die bereits vorher
ein sehr knappes Budget hatten: Wenn Working
Poor vorher knapp durchkamen, dann reicht es
mit Arbeitslosengeld, Kurzarbeitsentschädigung
oder Taggeld nicht mehr, auch wenn nur ein Fünftel
des Einkommens fehlt. (SRK)
2/20 ZESO
31

Ältere Arbeitslose: Mit Präzision und
Passion zur neuen Stelle
REPORTAGE Ältere Erwerbslose haben es schwer auf dem Arbeitsmarkt. Das Programm Tandem 50 plus
im Aargau hilft ihnen bei der Stellensuche. Vielfach ist das Erkennen des eigenen Potenzials der Schlüssel
zum Erfolg.
Es war eine schwierige Lebensphase für
Erich Camenisch. Er befand sich in einer
privaten Krise, als auch noch die Kündigung
kam. Der damals 55-Jährige fiel in
ein tiefes Loch. Er schrieb zwar Bewerbungen,
bekam aber Absage um Absage. «Ich
konnte mich über Monate zu nichts mehr
motivieren», sagt der Aargauer.
Schwer vorstellbar, wenn man Erich Camenisch
heute anschaut: Mit strahlendem
Gesicht und voller Energie erzählt er, wie
er diesen März – kurz vor der Aussteuerung
– eine neue Anstellung gefunden hat. «Die
Stelle passt haargenau zu meinem Profil»,
sagt der 57-Jährige, «und sie ist sogar noch
einmal ein Karriereschritt.» In einem grossen
Unternehmen der Lebensmittelindustrie
hat er eine Leitungsstelle gefunden.
Nun führt er ein Team von 10 Mitarbeitenden.
Seiner Freude tut keinen Abbruch,
dass er fast zeitgleich zum Stellenantritt
wegen der Corona-Krise ins Home Office
wechseln musste. Rückblickend sagt Camenisch
über die Zeit der Stellensuche: «Die
Hindernisse waren vor allem in meinem
Kopf.» Er habe selber geglaubt, sein Alter
sei ein Problem. Gleichzeitig habe er potenzielle
Arbeitgeber oft mit der Vielzahl
und Breite seiner Berufserfahrungen überfordert.
Präzise Bewerbung ist entscheidend
Diese Einschätzung teilt Frankpeter Himmel.
Als freiwilliger Mentor coachte er
Erich Camenisch im Rahmen des Programms
Tandem 50 plus (s. Kasten). Das
Mentoring war für Camenisch der Wendepunkt
in seiner Stellensuche. Er sagt:
«Frankpeter Himmel half mir, mich neu zu
sortieren.»
Himmel, der sich auch beruflich auf
die Beratung von älteren Stellensuchenden
spezialisiert hat, erlebt es häufig, dass Personen
über 50 zu viele Erfahrungen und
Kompetenzen in ihre Bewerbung packen
32 ZESO 2/20
TANDEM 50 PLUS –
UNTERSTÜTZUNG BEI DER
STELLENSUCHE
Tandem 50 plus Kanton Aargau ist ein Mentoring-
Angebot, bei dem Stellensuchende über 50 von
freiwillig engagierten Mentorinnen und Mentoren
bei der Rückkehr in den Arbeitsmarkt unterstützt
und begleitet werden. Während vier Monate coachen
die berufserfahrenen und in der Arbeitswelt
gut verankerten Persönlichkeiten ihre Mentees
dabei, eine neue Stelle zu finden. 2019 waren
in dem im Auftrag vom Kanton geführten Programm
87 Tandems unterwegs: 35 Frauen und
52 Männer mit einem Durchschnittsalter von 56
Jahren. 80 Prozent der Programmteilnehmenden
fanden wieder eine Stelle, über die Hälfte einen
unbefristeten Arbeitsvertrag. Das Programm
Tandem 50 plus gibt es auch in den Kantonen
Baselland, Schaffhausen und St. Gallen.
www.tandem-ag.ch
«Die Passion für
das, was man tut
oder tun will, ist viel
wichtiger als das
Alter.»
wollen. Dabei zähle, was für alle Stellensuchenden
wichtig ist, bei älteren Personen
doppelt, sagt er. «Präzision ist das Wichtigste
– die Qualifikationen müssen passen.»
Daneben müssen die Erfahrungen
aber auch neu präsentiert werden. «Ich
helfe, eine Storyline in die Bewerbung zu
bringen», sagt der Mentor.
Nebstdem, dass Frankpeter Himmel
beim Erstellen eines zeitgerechten Dossiers
und bei der Analyse des Arbeitsmarktes
hilft, macht er mit seinen Mentees
beispielsweise Interview- und Social Media
Training. «Manchmal ist es aber genauso
wichtig, einfach zuzuhören und die Person
im richtigen Moment aufmuntern oder
herausfordern zu können», sagt der Bewerbungsspezialist.
Frankpeter Himmel
weiss, wovon er spricht. «Ich bin selber mit
über 50 arbeitslos geworden und kenne
das tiefe Loch, das die einfachsten Erledigungen
zum unüberwindbaren Hindernis
werden lässt.»
Dass es für Personen über 50 generell
schwieriger ist, eine Stelle zu finden als für
jüngere (s. Kasten), verschweigt Himmel
nicht. «Dennoch bin ich überzeugt», sagt
er, «dass die Passion für das, was man tut
oder tun will, viel wichtiger ist als das Alter.»
Auf Chancen fokussieren
Begeisterung für sein Metier hätte auch
Markus Suter genug. Er ist ebenfalls Teilnehmer
des Programms Tandem 50 plus
und aktuell Mentee von Frankpeter Himmel.
Der 59-jährige Berufstrainer hat zuletzt
als Geschäftsführer eines grossen
Sportvereins gearbeitet. Aktuell führt er ein
Trainingscenter, das er schon früher als
Hobby betrieb. Mit Blick auf seine Altersvorsorge
müsse er aber einen Ergänzungsjob
oder Mandate finden, sagt Suter und
fügt an: «Der Arbeitsmarkt in der Sportbranche
ist jedoch – auch wegen Corona –
völlig stagniert.» Markus Suter schildert

Über 50-jährige Arbeitslose haben es oft nicht einfach, auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuss zu fassen.
Bild: Keystone
seine Erfahrung im Bewerbungsprozess
völlig anders als Erich Camenisch. «In
meinem Alter hat man auf herkömmlichem
Weg kaum eine Chance. Meine
Kompetenzen werden nicht wahrgenommen»,
sagt er. In der Regel würden Absagen
erfolgen und diese untergraben schleichend
das Selbstvertrauen.
Dank seiner wöchentlichen Gespräche
mit Frankpeter Himmel bleibt Suter dennoch
motiviert. Zusammen versuchen
sie neue Wege bei den Bewerbungen
einzuschlagen. «Ich muss mich auf meine
Chancen fokussieren», sagt Suter. In
seinem Fall sei das etwa die Flexibilität,
dass verschiedene Tätigkeiten und Erwerbsmodelle
in Frage kommen. Daher
wird auch der Aufbau seiner Teilzeitselbstständigkeit
als Gesundheitstrainer für
Menschen über 50 weiter vorangetrieben.
DIE SITUATION VON ÄLTEREN
ERWERBSLOSEN
Das Risiko, arbeitslos zu werden, ist bei älteren
Arbeitnehmenden unterdurchschnittlich. Die
Arbeitslosenquote der Personen ab 50 Jahren ist
niedriger als jene der 25- bis 49-jährigen. Aber:
Wer arbeitslos wird, hat es schwieriger, wieder
in der Arbeitswelt Fuss zu fassen. Auffallend ist,
dass mit dem Alter die Dauer der Arbeitslosigkeit
zunimmt. Entsprechend sind ältere Personen bei
den Langzeitarbeitslosen übervertreten.
Häufig müssen ältere Personen Kompromisse
eingehen, wenn sie eine neue Stelle finden. Sie
müssen Lohneinbussen, tiefere Funktionen
oder mehrere Teilzeitbeschäftigungen in Kauf
nehmen. Gründe für die Schwierigkeiten, eine
neue Stelle zu finden, können etwa mangelnde
berufliche Ausbildung, überholte Qualifikationen
oder gesundheitliche Einschränkungen sein.
Informationen:
• www.seco.admin.ch Arbeit Arbeitslosenversicherung
Arbeitslosigkeit Ältere
Arbeitslose
• www.skos.ch Publikationen Positionen
2018 Alternativen zur Sozialhilfe für über
55-Jährige
Fehlende Weiterbildung
Um das Bewusstwerden des eigenen Potenzials
und die Stärkung des Selbstbewusstseins
geht es in den Tandem-Gesprächen
immer wieder. «Oft braucht es
jemanden, der einem den Spiegel vorhält»,
sagt Brigitte Basler, Programmleiterin von
Tandem 50 plus Kanton Aargau. Die Mentees
müssten die Bereitschaft haben, sich
auf einen Begleitprozess einzulassen.
Basler erzählt aber auch von konkreten
Hindernissen, die älteren Personen bei
der Stellensuche im Weg stehen können.
«Mich erstaunt immer wieder, dass
viele unserer Programmteilnehmenden
seit dem ersten Bildungsabschluss kein
«Schulhaus» mehr von innen gesehen haben»,
sagt sie. Nebst der fehlenden Weiterbildung
sei auch mangelnde Bereitschaft
auf der Karriereleiter oder beim Salär
einen Schritt rückwärts zu machen, regelmässig
ein Thema.
Probleme ortet Brigitte Basler aber
auch in der Denkweise mancher Arbeitgeber.
Die Vorurteile gegenüber Personen
über 50 würden lauten: unflexibel, nicht
mehr up to date, schwer fügbar oder zu gut
qualifiziert. Basler sagt: «Hier ist eine klare
Haltung der Arbeitgeber nötig, jemanden
über 50 einstellen zu wollen.» Sei dies aus
Gründen der Teamzusammensetzung,
weil genau die berufliche Sozialisation dieser
Generation erwünscht ist, oder einfach,
weil Menschen über 50 sehr viel Potenzial
mitbringen.
•
Regine Gerber
2/20 ZESO
33

TÜRE AUF
BEI MURIEL CHRISTE MARCHAND
Sozialdienst:
Sozialamt des Kantons Jura, Delémont
Anzahl Mitarbeitende: 33
Funktion:
lic. Sc. sociales UNIL, master adm. publique IDHEAP,
Leitung Sozialdienst – im Jobsharing mit Julien Cattin
Angestellt seit: Dezember 2016
Alter:
49 Jahre
«Ich bin sicher, dass diese neuen Formen
der Zusammenarbeit weitergehen und neue
Perspektiven eröffnen werden!»
Bild: zvg
Was zeichnet den Sozialdienst
Delémont aus?
Kanton und Gemeinden sind für die
Sozialhilfe via die regionalen Sozialdienste
gemeinsam zuständig. Der
kantonale Dienst des Sozialamts entscheidet
zentral über die Gewährung
von Sozialhilfe. Derzeit wird daran gearbeitet,
das System zu überdenken:
Durch eine effizientere Bereitstellung
von materieller Hilfe sollen mehr Mittel
für die soziale Unterstützung zur Verfügung
gestellt werden.
Die Corona-Krise hat alle Sozialdienste
vor enorme Herausforderungen
gestellt. Was hat Sie in diesem
Zusammenhang speziell beschäftigt?
Unsere Priorität war es, dafür zu sorgen,
dass Sozialhilfe geleistet werden
kann und dass soziale Unterstützungsdienste
zugänglich bleiben,
während wir uns gleichzeitig um die
Gesundheit der Beschäftigten und
Leistungsempfänger kümmern.
Welcher Ansatz oder welches
Konzept hat Ihnen geholfen, die
Schwierigkeiten zu meistern?
Die jurassische Regierung beschloss,
die Sozialhilfe in vereinfachter und
standardisierter Form zu gewähren,
indem sie die Unterhaltspauschale
um 15 Prozent erhöhte. Wir sind überzeugt,
dass diese erleichterten Verfahren
dazu beigetragen haben, die
Sorgen einer ohnehin schwachen Bevölkerungsgruppe
zu beruhigen.
Haben Sie in dieser schwierigen Zeit
eine besonders positive Erfahrung
gemacht?
In dieser Krisenzeit wurden eine
kantonale Solidaritätsplattform und
ein Projekt geschaffen, das sich mit
Menschen in gefährdeten Situationen
vernetzen will. Ich bin sicher,
dass diese neuen Formen der Zusammenarbeit
weitergehen und
neue Perspektiven eröffnen werden!
Was haben Sie an Ihrer Arbeit in
den letzten Wochen am meisten
geschätzt?
Das Vorhandensein eines echten Spirits
zur Zusammenarbeit zwischen
den verschiedenen Partnern, mit denen
wir zusammenarbeiten, sowohl
den öffentlichen als auch den privaten.
Alle haben ihre ganze Energie in die Suche
nach Lösungen gesteckt, um der
Bevölkerung den bestmöglichen Nutzen
zu bieten.
Wie sind Sie mit einer besonders
belastenden Situation umgegangen?
Jobsharing ist eine grossartige Ressource,
ebenso wie intensive Kommunikation
und regelmässiger Austausch
innerhalb des Arbeitsteams.
Was hat Ihnen persönlich in letzter Zeit
am meisten Schwierigkeiten gemacht?
Zweifellos der Mangel an gemeinsamen
Momenten mit Freunden und
Familie.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft
in Bezug auf Ihre Arbeit?
Ein Schritt hin zu einem System, das
die Bedürfnisse des Einzelnen berücksichtigt,
indem es ihn befähigt, insbesondere
bei der Definition von Zielen
zur Integration.
» dieser
In der Schweiz gibt es Hunderte von Sozialdiensten mit unzähligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Sie unterstützen Kinder, Jugendliche
und Erwachsene in unterschiedlichen Lebenslagen und leisten damit einen wichtigen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt. In
Serie berichten sie aus ihrem Berufsalltag, den schönen und den schwierigen Seiten ihrer Arbeit.
34 ZESO 2/20

«Ich hätte da eine Idee»
PORTRÄT Dank seinem
Ideenreichtum und seiner
Umsetzungsstärke können in
der ganzen Schweiz zahlreiche
Angehörige ihre Liebsten im
Altersheim besuchen: Georg
Raguth, Leiter des Alters- und
Pflegeheims Risi, hat die
Besuchsbox für Coronazeiten
erfunden.
Es war an einem Montagabend Ende März,
als Georg Raguth eine seiner Blitzideen
hatte. Diese sollte die Lebensqualität Hunderter
alter Menschen in der Schweiz verbessern.
Er selber leitet das Alters- und
Pflegeheim Risi in Wattwil (SG) und hatte
dort am Nachmittag miterlebt, wie die Bewohnerinnen
und Bewohner mit ihren Angehörigen
skypten. Für manche hatte das
gut funktioniert, doch viele empfanden es
als unheimlich, wenn der Sohn oder die
Tochter aus dem Bildschirm sprach. Zuhause
studierte Raguth an einer anderen
Lösung rum, wie die alten Menschen trotz
coronabedingtem Besuchsverbot ihre
Liebsten treffen könnten. Da tauchten vor
seinem inneren Auge Filmszenen mit Gefängnisbesuchen
auf, in denen über zwei
Telefone durch eine Trennscheibe kommuniziert
wird. «Es ist eigentlich ganz simpel»,
dachte sich der 56-Jährige und skizzierte,
wie man etwas Ähnliches im Risi
umsetzen könnte. Am nächsten Morgen
rief er die Mitarbeiter des Betriebsunterhalts
zusammen – am Abend stand die
«Bsuechsbox». Eigentlich sind es zwei Boxen,
eine aussen, die andere innen an der
Hausmauer. Im Fenster dazwischen wurde
eine Plexiglasscheibe eingepasst. So können
die alten Menschen ihre Angehörigen
sehen und über ein Telefon miteinander
kommunizieren.
Bis nach China
Die Idee schlug hohe Wellen, weit über das
Toggenburg hinaus, nachdem Zeitungen,
TV- und Radiostationen darüber berichtet
hatten. Risi erhielt zig Anfragen von interessierten
Altersheimen, nicht nur aus der
Georg Raguth liebt es, Ideen rasch und spontan umzusetzen.
Schweiz, sondern auch aus Deutschland,
Tschechien oder China. Seither haben viele
Heime ihre eigene Besuchsbox gebaut.
«Das freut mich enorm und erfüllt mich
mit Befriedigung und Stolz», sagt Georg
Raguth. Im eigenen Heim erlebt er, welche
Emotionen diese «banale Installation» auslöst.
«Wenn ich unsere Bewohnenden sehe,
die vor Freude zu weinen beginnen, weil
sie ihren Sohn oder ihre Tochter nun doch
richtig sehen können, dann verdrücke ich
jeweils selber eine Träne.»
Ideen spontan umsetzen
Dass gerade Georg Raguth der Erfinder dieser
Besuchsbox ist, ist kein Zufall: Er sprudelt
nur so vor Einfällen. Wenn er seinen
Mitarbeitenden sage, er habe da eine Idee,
denke der eine oder die andere: «Oha, was
kommt jetzt wohl wieder?» Doch dann würden
sie engagiert mitmachen beim Brainstormen.
Raguth liebt das: Ideen potenzierten
sich im Gespräch – und dann müsse
man irgendwann entscheiden, ob man die
Idee umsetze oder ad acta lege. Sein Credo:
Einen Einfall rasch und spontan umsetzen,
ohne alle Pro und Contra zu analysieren. So
ist vor drei Jahren eine Risi-Ferienreise
nach Amsterdam zustande gekommen. Raguth
selber war gerade aus der holländischen
Hauptstadt zurückgekehrt, hatte am
Mittagstisch davon erzählt, worauf ein
Heimbewohner meinte, er würde Amsterdam
auch gerne mal sehen. Raguth dachte
sich: «Warum eigentlich nicht?» Und so
reisten schliesslich 35 Heimbewohner, Angehörige
und Mitarbeiterinnen eine Woche
Bild: Meinrad Schade
nach Amsterdam. «Manche dachten im
Vorfeld, ich spinne, mit Betagten im Rollstuhl
oder mit Rollatoren in ein grosses Hotel
in einer fremden Stadt zu reisen.» Doch
es habe alles wunderbar geklappt und sei
eine der tollsten Wochen geworden, die er
je erlebt habe. Klar ist für ihn: «Solche Ideen
kann man nur umsetzen, wenn die Führungsgremien
einen stützen – auch dann
noch, wenn Gegenwind kommen sollte.»
Ferien trotz Corona
Um diesen Rückhalt wusste Raguth auch
im Hitzesommer 2015, als er innert zwei
Tagen ein Schwimmbad aufstellen liess.
Mit einem Kran wurden die alten Menschen
ins Wasser gehoben, am Bassinrand
standen Liegestühle – «es sah aus wie in
der Badi». Diesen Sommer ist das Motto im
Risi: Ferien trotz Corona. Die Bewohnerinnen
und Bewohner werden vor einem
Greenscreen fotografiert, dann wird statt
des grünen Hintergrunds das Bild einer
Feriendestination hineinmontiert, und so
erhalten die Angehörigen Postkarten aus
imaginären Ferien. «Mich reizt es, nicht
alltägliche Sachen zu machen, und ich
empfinde es als wichtig für die alten Menschen»,
sagt Raguth. Diese Überzeugung
unterstreicht er aktuell auch äusserlich: Jeden
Montag kommt er mit einer neuen,
aussergewöhnlichen Haarfarbe, mal blau,
mal rot, dann violett. «Ich will in diesen
Zeiten zeigen, dass das Leben weitergeht
und dass es mit Humor leichter ist.» •
Barbara Spycher
2/20 ZESO
35

LESETIPPS
Beraten in der Sozialen Arbeit
Beraten gehört zum Standardrepetoire von
Fachkräften in der Sozialen Arbeit. Für einen gelingenden
Beratungsprozess müssen sie in der
Lage sein, eine differenzierte Auftragsklärung
vorzunehmen und die Beziehung zu ratsuchenden
Personen professionell zu gestalten. Es
gilt, die mit Beratung einhergehenden Veränderungsprozesse
zu erkennen und gemeinsam
zu bearbeiten. Dieses Fachbuch bietet dazu einen systematischen
Überblick.
Michael Zwilling, Caroline Pulver, Stephanie Disler et al.(Hrsg.). Beraten in der
Sozialen Arbeit, Haupt Verlag, 2020, CHF 37.−, ISBN-13: 9783825253479
Soziale Arbeit und
Digitalisierung
Mit welchen Fragen und Herausforderungen
ist die Soziale Arbeit im Kontext gesellschaftlicher
Digitalisierungsprozesse konfrontiert?
Das Handbuch behandelt das allgegenwärtige
Thema der Digitalisierung erstmals umfassend
mit Bezug auf Disziplin und Praxis der Sozialen
Arbeit. Beleuchtet werden unterschiedliche
Perspektiven, gesellschaftliche Entwicklungen und Diskurse. Zudem
werden digitalisierte Formen der Dienstleistungserbringung und die
Digitalisierung im Kontext von Profession, Organisation und Forschung
thematisiert.
Nadia Kutscher, Thomas Ley, Udo Seelmeyer et al. (Hrsg.), Handbuch Soziale
Arbeit und Digitalisierung, 2020, 658 Seiten, CHF 59.− , ISBN 978-3-7799-3983-2
Politik in der digitalen
Gesellschaft
Die Bedeutung der Digitalisierung für Politik und
Gesellschaft wird vermehrt auch aus politikwissenschaftlicher
Sicht behandelt. Die Beiträge
des Buches versammeln dazu programmatische
Positionen, die zentrale Aspekte und
Perspektiven der sozialwissenschaftlichen
Digitalisierungsforschung diskutieren. Hierzu
zählen u.a. Forschungsfelder aus den Bereichen Partizipations- und
Parteienforschung, Governance der Digitalisierung, methodische Reflexionen
über Computational Social Science und die Analyse von Demokratie
und Öffentlichkeit unter den Bedingungen der Digitalisierung.
Jeanette Hofmann, Norbert Kersting, Claudia Ritzi, Politik in der digitalen Gesellschaft,
Zentrale Problemfelder und Forschungsperspektiven, Transcript Verlag,
2019, 332 Seiten, CHF 90.−, ISBN 978-3-8376-4864-5
Herausforderung Kinderarmut
Auf das Problem der Kinderarmut gibt es keine
einfachen Antworten - vielmehr bestehen
vielfältige Theorien und Ansätze diverser
Disziplinen. Dieses Handbuch leistet eine
differenzierte Darstellung von Gesellschaftsanalysen
und Präventionsvorschlägen aus den
Sozial-, Politik- und Erziehungswissenschaften,
der Pädagogik, Sozialen Arbeit sowie Psychologie.
Die interdisziplinäre Ausrichtung lässt grössere Zusammenhänge
sichtbar und verständlich werden. Sie ermöglicht Lesenden, einen Überblick
über ein weites Forschungsfeld zu gewinnen, und sensibilisiert
nachhaltig für die Problematik.
Peter Rahn, Karl August Chassé (Hrsg.), Handbuch Kinderarmut, UTB Verlag,
2020, 380 Seiten, CHF 53.−, ISBN 978-3-8252-5356-1,
VERANSTALTUNGEN
Forum: «Digitalisierung in der
Sozialen Arbeit»
Wie steht es um die Digitalisierung in der Sozialen
Arbeit und insbesondere in der Sozialhilfe?
Mit dieser hochaktuellen Frage befasst sich das
SKOS-Forum/die Städteinitiative-Tagung der
leitenden Angestellten, die am 14. September in
Olten stattfindet. Es werden ein Überblick über
Begriffe und Technologien vermittelt sowie konkrete
Projekte vorgestellt, die sich dem Thema
«Soziale Arbeit und Digitalisierung» annähern.
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe
Montag, 14. September, Olten
www.skos.ch/veranstaltungen
Luzerner Tagung zum
Sozialhilferecht
Die diesjährige Luzerner Tagung zum Sozialhilferecht
thematisiert relevante Änderungen für die
Praxis der Sozialhilfe. Was hat sich in der Gesetzgebung
verändert? Welche aktuellen Änderungen
bei der Rechtsprechung und den SKOS-Richtlinien
sind relevant? Das detaillierte Programm ist
noch in Erarbeitung. Interessensanmeldungen
sind bereits möglich.
Hochschule Luzern – Soziale Arbeit
Donnerstag, 22. Oktober, Luzern
www.hslu.ch Soziale Arbeit Agenda
Die Familie im System der
sozialen Sicherheit
Der Familienbegriff verändert sich, neue Familienformen,
Individualisierung und veränderte Rollen
tragen zum Wandel der herkömmlichen Familie
bei. An welchen Bildern orientiert sich das soziale
Sicherungssystem in der Schweiz? Welche Auswirkungen
haben neue Familienkonstellationen auf
die soziale Sicherung und welche Bedeutung hat
die Familie im heutigen System? Diesen Fragen
geht der Luzerner Kongress Gesellschaftspolitik
nach und eruiert die Auswirkungen auf verschiedene
Bereiche.
Hochschule Luzern – Soziale Arbeit
Dienstag, 1. Dezember 2020, Luzern
www.hslu.ch Soziale Arbeit Agenda
36 ZESO 2/20

Certificate of Advanced Studies
CAS Sozialhilferecht
Start: 22. Juni 2020
Nutzen Sie diese
Zeit der Veränderung
und starten Sie mit
Ihrer Weiterbildung.
Fachkurs
Sozialhilfeverfahren
Start: 22. Juni 2020
Sachbearbeitung im Sozialbereich
Start: 10. September 2020
Weitere Informationen unter
hslu.ch/weiterbildung-sozialearbeit
Integration und Partizipation
Beratung und Coaching
Kinder- und Jugendhilfe
Management, Recht und Ethik
Gesundheit
Alle Weiterbildungsangebote zu diesen und vielen
weiteren interessanten Themen finden Sie online:
Neue Impulse für Ihren professionellen Berufsalltag
Die Weiterbildungen an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW in Olten und Muttenz unterstützen Sie
dabei, sich fachlich und persönlich weiterzuentwickeln. Sie erhalten neustes Wissen aus der Forschung
und verknüpfen dieses mit Ihren Erfahrungen aus dem Berufsalltag.
www.fhnw.ch/soziale-arbeit/weiterbildung

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Weiterbildung,
die wirkt!
Fachkurs Arbeitsintegration
6 Studientage, August bis Oktober 2020
Fachkurs Beratung von jungen Erwachsenen
In Kooperation mit der Hochschule Luzern
6 Studientage, Oktober bis November 2020
Fachkurs Beratung von Menschen mit
Migrationshintergrund
In Kooperation mit der Hochschule Luzern
6 Studientage, November bis Dezember 2020
Einführung Sozialhilfe
In Kooperation mit der Hochschule Luzern
4 Kurstage, Oktober bis Dezember 2020
Weitere Informationen unter
bfh.ch/soziale-sicherheit
‣ Soziale Arbeit
Hier bilden sich Fachleute
der Sozialen
Arbeit für Praxis und
Wissenschaft aus.
Der Master mit der Kompetenz
von 3 Hochschulen
Berner Fachhochschule BFH I Soziale Arbeit
Hochschule Luzern – Soziale Arbeit
FHS St.Gallen, Fachbereich Soziale Arbeit
masterinsozialerarbeit.ch
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