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ZESO_3/20

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SKOS CSIAS COSAS<br />

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />

Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />

Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />

Conferenza svizra da l’agid sozial<br />

<strong>ZESO</strong><br />

ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE<br />

03/<strong>20</strong><br />

SOZIALE ARBEIT<br />

Ausbildung im Online-<br />

Modus – die Erfahrungen<br />

an der ZHAW<br />

SOZIALER STÜRMER<br />

Ex-Profi-Fussballer gründet<br />

soziales Unternehmen,<br />

um Flüchtlinge zu coachen<br />

EU-ARMUTSPOLITIK<br />

Kommt jetzt in der EU die<br />

Mindestsicherung zur<br />

Bekämpfung der Armut?<br />

ALLEINERZIEHEN ALS<br />

ARMUTSFALLE<br />

Massnahmen zur Armutsprävention sind dringlich


Folge der Innovation. Nicht dem Mainstream: Gestalte Angebote<br />

der Sozialen Arbeit.<br />

Master-Studium in Sozialer Arbeit<br />

Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW, Olten<br />

www.masterstudium-sozialearbeit.ch<br />

Soziale Arbeit<br />

Master in Sozialer Arbeit<br />

mit Vertiefung Transitionen und Interventionen<br />

www.zhaw.ch/sozialearbeit/master<br />

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ZHAW_Inserat_Zeso_170x130mm.indd 1 21.11.19 17:02


Regine Gerber<br />

Redaktorin<br />

EDITORIAL<br />

ALLEINERZIEHEND – ALLEIN<br />

GELASSEN?<br />

Familie und Beruf zu vereinbaren, ist in jedem Fall eine Herausforderung.<br />

Ganz besonders gilt das für Alleinerziehende in<br />

prekären Arbeitsverhältnissen. Oft scheint es fast unmöglich,<br />

die Situation zu verbessern. Es fehlt an allen Ecken und Enden:<br />

An passender Kinderbetreuung, Weiterbildungsmöglichkeiten,<br />

Unterstützung im Alltag und schlicht an Zeit und Energie. Auch<br />

der Gang zur Sozialhilfe löst das Problem nur vorübergehend.<br />

Wie wichtig dort angesiedelte, weitsichtige Lösungen sind, machen<br />

die Projekte von a:primo (S.16) und frac (S.18) deutlich.<br />

Auf politischer Ebene geschieht erstaunlich wenig, um das Armutsrisiko<br />

für Alleinerziehende zu senken. Und das, obwohl<br />

die Probleme seit Jahren erkannt sind. Kleine Schritte führen<br />

zumindest in die richtige Richtung, seien dies neue Regelungen,<br />

um das finanzielle Manko für Alleinerziehende abzufedern<br />

(S.21), oder die vorgesehene Vereinheitlichung der Alimentenhilfe<br />

(S.22).<br />

Alles andere als langsam fand der Wechsel vom Präsenzunterricht<br />

ins Web statt, der das Departement Soziale Arbeit der<br />

ZHAW im März coronabedingt vollziehen musste. Der neue<br />

Direktor Frank Wittmann blickt im Interview auf die Zeit der<br />

Umstellung zurück und beschreibt, warum die Situation auch<br />

eine Plattform zur Reflexion und zum Kompetenzerwerb bietet<br />

(S.8).<br />

3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />

1


SCHWERPUNKT<br />

Alleinerziehende<br />

in Bedrängnis<br />

Scheidungen und Trennungen<br />

führen oft zu finanziellen<br />

Engpässen, insbesondere<br />

dann, wenn Kinder im Spiel<br />

sind. Meist sind es die Mütter<br />

und Kinder, die dann Sozialhilfe<br />

beziehen müssen. Nicht selten<br />

geraten sie in eine Negativspirale<br />

von Alltagshürden,<br />

prekärer Beschäftigung und<br />

fehlenden Weiterbildungsmöglichkeiten.<br />

Damit sie dort nicht<br />

stecken bleiben, sind sowohl<br />

politische wie auch praktische<br />

Lösungen gefragt.<br />

12–23<br />

12–25<br />

<strong>ZESO</strong><br />

ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE HERAUSGEBERIN Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS, www.skos.ch REDAKTIONSADRESSE<br />

Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS, Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch, Tel. 031 326 19<br />

© SKOS. Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin<br />

Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich<br />

ISSN 1422-0636 / 117. Jahrgang<br />

Erscheinungsdatum: 7. September <strong>20</strong><strong>20</strong><br />

Die nächste Ausgabe erscheint am 7. Dezember <strong>20</strong><strong>20</strong><br />

13 REDAKTION Ingrid Hess, Regine Gerber MITARBEITERINNEN UND MITARBEITER DIESER AUSGABE Andrea<br />

Beeler, Monika Büning, Béatrice Devènes, Palma Fiacco, Nicolas Galladé, Heike Isselhost, Markus Kaufmann,<br />

David Kieffer, Ornella Larenza, Philipp Mani, Anke Moors, Manuela Reuss, Max Spring, Alexander Suter, Astrid<br />

Tomczak-Plewka, Pia Wegmüller TITELBILD pixelio.de/Marlies Schwarzin LAYOUT Marco Bernet, Projekt<br />

Athleten GmbH Zürich KORREKTORAT Karin Meier DRUCK UND ABOVERWALTUNG rubmedia AG, Postfach,<br />

3001 Bern, zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740 97 86 PREISE Jahresabonnement CHF 89.– (SKOS-Mitglieder<br />

CHF 74.–), Jahresabonnement Ausland CHF 125.–, Einzelnummer CHF 25.–.<br />

2 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong>


INHALT<br />

8<br />

5 KOMMENTAR<br />

Lehren aus der Corona-Krise<br />

6 PRAXIS<br />

Welche Zahlungseingänge darf die Sozialhilfe<br />

berücksichtigen?<br />

7 WEITERBILDUNG<br />

Mittel für die Weiter- oder Ausbildung von Sozialhilfeempfangenden<br />

stehen zur Verfügung<br />

8 INTERVIEW: FRANK WITTMANN<br />

Der neue Leiter des Departements Soziale<br />

Arbeit der ZHAW über die Ausbildung an der<br />

Hochschule in der Corona-Krise, Herausforderungen,<br />

Lehren und Ziele<br />

31<br />

32 26<br />

34<br />

35<br />

12–25 ALLEINERZIEHEN ALS ARMUTSFALLE<br />

14 Kumulierte Nachteile führen Einelternhaushalte<br />

in die Sozialhilfe<br />

16 Alleinerziehende im Niedriglohnsektor – eine<br />

Sackgasse?<br />

18 Heraus aus der Passivität – berufliche<br />

Integration von alleinerziehenden Müttern<br />

21 Finanzielles Manko tragen meist die<br />

Mütter<br />

22 Alimentenbevorschussung: Ungleiche<br />

Voraussetzungen, ungleiche Leistungen<br />

24 Nachgefragt bei Yvonne Feri, Geschäftsführerin<br />

Schweizerischer Verband alleinerziehender<br />

Mütter und Väter<br />

26 PORTRÄT<br />

Stefan Frey, Ex-Profifussballer beim FC Basel,<br />

bereitet Flüchtlinge auf den Einstieg in die<br />

Arbeitswelt vor.<br />

29 DIE SOZIALHILFE IN DEN MEDIEN<br />

Eine Zürcher Studie analysiert die Berichterstattung<br />

der Medien über die Sozialhilfe.<br />

31 CORONA-MONITORING<br />

Die SKOS überwacht die Entwicklung der<br />

Fallzahlen in der Sozialhilfe mit einem<br />

Monitoring.<br />

32 DIE BEKÄMPFUNG DER ARMUT IN DER EU<br />

Die EU wird vor allem als Wirtschaftsunion<br />

wahrgenommen – soll nun aber auch Armut<br />

und soziale Ungleichheit bekämpfen.<br />

34 DEBATTE<br />

Die Nicht-Teilnahme an Integrationsprogrammen<br />

kann Sanktionen zur Folge haben, was<br />

laut einer Studie mehrfach problematisch ist<br />

35 TÜRE AUF<br />

Seit 10 Jahren lebt Stephan Büchi im Sommer<br />

in Rumänien. Im Winter übernimmt er Stellvertretungen<br />

in Schweizer Sozialdiensten.<br />

36 LESETIPPS UND VERANSTALTUNGEN<br />

3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />

3


NACHRICHTEN<br />

Neue SKOS-Richtlinien:<br />

neues Web-Portal bald<br />

online<br />

Die Schweizerische Konferenz der Sozialdirektorinnen<br />

und Sozialdirektoren<br />

SODK empfiehlt den Kantonen die Anpassung<br />

der SKOS-Richtlinien ab 1. Januar<br />

<strong>20</strong>21 anzuwenden. Die neuen<br />

SKOS-Richtlinien sind auf den digitalen<br />

Zugang ausgerichtet. Ende September<br />

wird die SKOS das neue Web-Portal aufschalten.<br />

Die Anwendung der Richtlinien<br />

wird damit erleichtert. Der digitale<br />

Zugang ermöglicht auch die Integration<br />

von kantonalen und kommunalen Handbüchern<br />

und Hilfsmitteln. Die SKOS-Geschäftsstelle<br />

entwickelt im Moment mit<br />

verschiedenen Kantonen, Städten und<br />

Gemeinden kantons- und gemeindespezifische<br />

Lösungen. Die Richtlinien sind<br />

aber nach wie vor auch in gedruckter<br />

Form erhältlich. Sie erscheinen neu im<br />

A4-Format (A4-Ordner). Die bestehenden<br />

Richtlinienordner (A5) werden nicht<br />

mehr ergänzt. Als SKOS-Mitglied können<br />

Sie die neuen Richtlinienordner zum Vorzugspreis<br />

von CHF 35 vorbestellen (CHF<br />

55 für Nichtmitglieder). Achtung: Die<br />

Aktion läuft nur noch bis 11. September.<br />

Danach kosten die Ordner CHF 40 für Mitglieder<br />

/ CHF 60 für Nichtmitglieder. Die<br />

Lieferung der vorbestellten Richtlinien<br />

erfolgt im Oktober. (red.)<br />

Das soziale Existenzminimum<br />

in der<br />

Sozialhilfe<br />

Was braucht ein Mensch in der Schweiz<br />

zum Leben und welchen Lebensstandard<br />

soll der Staat der Bevölkerung garantieren?<br />

Der Kern der Sozialhilfe ist<br />

das soziale Existenzminimum, das eine<br />

zentrale Referenzgrösse in der schweizerischen<br />

Sozialpolitik geworden ist. Das<br />

soziale Existenzminimum ermöglicht<br />

armutsbetroffenen Menschen ein menschenwürdiges<br />

Dasein und die Teilhabe<br />

am Sozial- und Arbeitsleben. Das aktualisierte<br />

Grundlagenpapier der SKOS<br />

zeigt auf, wie das System des sozialen<br />

Existenzminimums ausgestaltet ist, und<br />

stellt dar, wie dieses System historisch<br />

gewachsen und begründet ist.<br />

www.skos.ch/publikationen/grundlagenpapiere<br />

Seit <strong>20</strong>18 vertritt Benjamin Roduit die CVP des Kantons Wallis im Nationalrat. <br />

Benjamin Roduit: Neuer Präsident<br />

von Artias<br />

Benjamin Roduit ist neuer Präsident der<br />

Artias. Roduit präsidiert die Organisation<br />

der Westschweizer und Tessiner Sozialdienste,<br />

die Mitglied der SKOS ist, seit<br />

März <strong>20</strong><strong>20</strong>. Der 58-Jährige sitzt seit<br />

<strong>20</strong>18 für die CVP des Kantons Wallis im<br />

Nationalrat. Der neue Artias-Präsident engagiert<br />

sich privat und politisch für soziale<br />

Fragen.<br />

Im Mai unterzeichnete Roduit eine<br />

Motion, mit der der Bundesrat beauftragt<br />

wird, pragmatische Lösungen für Unterstützungsmöglichkeiten<br />

und für die Zusammenarbeit<br />

mit Hilfsorganisationen<br />

vorzuschlagen, damit bei Krisen wie der<br />

Covid-19-Pandemie den Menschen ohne<br />

rechtlich geregelten Status geholfen werden<br />

kann. Roduit ist von Beruf Gymnasiallehrer.<br />

Er amtete als Rektor des Gymnasiums<br />

Creusets in Sitten. Im Rahmen einer<br />

Auszeit unternahm er vor einigen Jahren<br />

mit seiner Frau soziale Einsätze. «Eine Pilgerreise<br />

nach Santiago de Compostela und<br />

«Freiwilligeneinsätze in Haiti, im Hospiz<br />

des Grossen St. Bernhard und in Benin<br />

ermöglichten uns, die Welt mit neuen Augen<br />

zu sehen.» schreibt Roduit auf seiner<br />

Webseite. Wohl fühlt er sich auch in den<br />

Bergen. Benjamin Roduit hat alle Viertausender<br />

der Schweiz bezwungen. Nach der<br />

Rückkehr in die Schweiz entschied sich der<br />

CVP-Politiker wieder zu unterrichten. •<br />

Sébastien Mercier: Grosses Engagegement<br />

für die Entschuldung<br />

Sébastien Mercier, Geschäftsleiter des<br />

Dachverbands Schuldenberatung Schweiz,<br />

ist am 9. Juli <strong>20</strong><strong>20</strong> völlig unerwartet an einem<br />

Herzversagen verstorben. Schuldenberatung<br />

Schweiz verliert mit ihm einen<br />

äusserst engagierten und sachkundigen<br />

Geschäftsleiter, der in den letzten Jahren<br />

die Interessenvertretung der verschuldeten<br />

Menschen in der Schweiz namhaft vorangetrieben<br />

hat. Sébastien Mercier hat massgeblich<br />

dazu beigetragen, dass die Politik<br />

u.a. den Bedarf von Revisionen bei den<br />

Bild: zvg<br />

Entschuldungsverfahren erkannt hat. Sein<br />

humanistisches Denken prägte seine Arbeit<br />

und die Verteidigung der Anliegen<br />

und Rechte überschuldeter Menschen<br />

nachhaltig. Der Tod von Sébastien Mercier<br />

ist für die Schuldenberatung Schweiz ein<br />

immenser Verlust, sowohl persönlich als<br />

auch beruflich. <br />

•<br />

Katharina Blessing<br />

Vorstand<br />

Schuldenberatung Schweiz<br />

4 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong>


KOMMENTAR<br />

Lehren für die Sozialhilfe aus der Corona-Krise<br />

«Wir wissen halt immer noch sehr wenig<br />

über dieses Corona-Virus», brachte kürzlich<br />

jemand das Gespräch unter Bekannten<br />

auf den Punkt. Es gibt zwar laufend neue<br />

Erkenntnisse. Gleichzeitig sind aber immer<br />

noch viele Fragen und Ungewissheiten rund<br />

um Covid-19 in der Luft.<br />

Auch der Einfluss der Corona-Pandemie<br />

auf die Sozialhilfe ist unklar. Zu künftigen<br />

Entwicklungen gibt es Annahmen der SKOS.<br />

Das mittlere Szenario geht <strong>20</strong>22 von einem<br />

Anstieg von knapp 30 Prozent Sozialhilfebeziehender<br />

gegenüber <strong>20</strong>18 aus. Die<br />

SKOS hat bereits ein Monitoring etabliert<br />

und erste Erkenntnisse publiziert. Dies ist<br />

verdienstvoll und wichtig. Es birgt aber auch<br />

Risiken. Ich werde laufend mit den düsteren<br />

Prognosen aus dem SKOS-Analysepapier<br />

konfrontiert. Und kann wenig dazu sagen.<br />

Weil ich es nicht weiss.<br />

Ich weiss nicht, nach welcher Buchstabenkurve<br />

sich die Wirtschaft entwickelt. Ob<br />

und wie sich der Arbeitsmarkt erholt. Ich<br />

weiss nicht mal, ob es eine zweite Welle<br />

gibt. Oder sie sogar schon da ist. Ich<br />

beschränke mich deshalb<br />

auf die Punkte, die<br />

ich weiss:<br />

1. Es war in der Krise zentral, dass die<br />

Schweiz über ein funktionierendes soziales<br />

Sicherungssystem verfügt, das rasch<br />

wirksame Modelle wie Kurzarbeit und die<br />

Sozialhilfe als letztes Auffangnetz kennt.<br />

Unserem sozialen Sicherungssystem<br />

müssen wir Sorge tragen. In guten wie in<br />

schlechten Zeiten.<br />

2. Neben Menschen aus prekären Arbeitsverhältnissen<br />

kamen vor allem «Selbstständige<br />

auf Abruf» unmittelbar nach dem<br />

Lockdown als erste und in grosser Zahl in<br />

die Intake-Stellen städtischer Sozialämter.<br />

Hier besteht offensichtlich Handlungsbedarf<br />

im Sozialversicherungssystem.<br />

3. Jene, die wir in unserem Sicherungssystem<br />

«auf dem Radar» haben, gingen in<br />

der akutesten Krisenphase nicht vergessen.<br />

Schwieriger sah es bei Obdachlosen,<br />

Sans-Papiers oder Menschen mit (Kurz-)<br />

Aufenthaltsbewilligungen aus.<br />

Dieses Dunkelfeld, das auch mit dem<br />

Thema «Nichtbezug der Sozialhilfe»<br />

verknüpft ist, gilt es zu beleuchten.<br />

Generell ist festzuhalten: Was in der<br />

Vergangenheit richtig war, kann auch in der<br />

Zukunft – wie diese auch immer aussieht –<br />

nicht ganz falsch sein: frühe Massnahmen<br />

zur Wiedereingliederung von Menschen, die<br />

in die Sozialhilfe gelangen. Genügend personelle<br />

Ressourcen bei der Sozialberatung.<br />

Umsetzung der Integrationsagenda im Asylbereich.<br />

Investitionen in Qualifizierung und<br />

Bildung. Programme zur sozialen Integration<br />

von Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt<br />

nicht mehr nachgefragt werden. Überbrückungsrenten<br />

für ältere Ausgesteuerte.<br />

Und am wirkungsvollsten wie bei Corona –<br />

präventive Massnahmen.<br />

Wir wissen noch nicht, wie sich die Corona-<br />

Krise auf die Sozialhilfe auswirkt. Aber wir<br />

wissen, was wirksam und richtig ist, unabhängig<br />

davon, was die Zukunft bringt.<br />

Nicolas Galladé<br />

Präsident Städteinitiative<br />

Sozialpolitik<br />

3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />

5


Welche Zahlungseingänge darf die<br />

Sozialhilfe verrechnen?<br />

PRAXIS Einnahmen, die nachträglich bei unterstützten Personen eingehen, dürfen nur mit der bereits<br />

geleisteten Sozialhilfe verrechnet werden, wenn sich beide Leistungen auf den gleichen Zeitraum<br />

beziehen. Was sich nicht verrechnen lässt, wird im aktuellen Unterstützungsbudget als Einnahme<br />

angerechnet.<br />

Frau Kunz ist von ihrem früheren Partner<br />

geschieden und lebt mit den gemeinsamen<br />

Kindern in einem eigenen Haushalt. Für<br />

die Kinder werden vom Vater monatliche<br />

Unterhaltsbeiträge geleistet. Insgesamt reichen<br />

die Einnahmen jedoch nicht zur Deckung<br />

der materiellen Grundsicherung,<br />

weshalb die Familie ergänzend mit Sozialhilfe<br />

unterstützt wird. Nun werden für<br />

Frau Kunz einmalig ausstehende Unterhaltszahlungen<br />

überwiesen, deren Anspruch<br />

auf eine Zeit zurückgeht, als sie<br />

noch nicht mit Sozialhilfe unterstützt wurde.<br />

FRAGEN<br />

1. Werden die nachträglich eingehenden<br />

Leistungen für den nachehelichen Unterhalt<br />

mit der Sozialhilfe verrechnet?<br />

2. Stellen die Leistungen Einkommen<br />

oder Vermögen dar?<br />

3. Darf Frau Kunz dieses Geld behalten?<br />

PRAXIS<br />

In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen, die<br />

an die «SKOS-Line»gestellt werden, beantwortet<br />

und publiziert. Die «SKOS-Line» ist ein Beratungsangebot<br />

für SKOS-Mitglieder.<br />

Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />

(einloggen) Beratungsangebot<br />

GRUNDLAGEN<br />

Einen Anspruch auf Sozialhilfe besteht,<br />

wenn eine Person sich nicht selbst helfen<br />

kann und auch von Dritten keine oder<br />

nicht rechtzeitig Hilfe erhält. Es besteht<br />

kein Wahlrecht zwischen vorrangigen<br />

Hilfsquellen und der Sozialhilfe (SKOS-RL<br />

A.3. Abs.1). Der Unterhaltsanspruch geht<br />

aufgrund der Subsidiarität dem Sozialhilfeanspruch<br />

stets vor. Sobald ein Unterhaltsanspruch<br />

nicht rechtzeitig zur Verfügung<br />

steht, kann mit Blick auf das<br />

Bedarfsdeckungsprinzip ein Anspruch auf<br />

bevorschussende Sozialhilfe bestehen. Bei<br />

bevorschussend erbrachter Sozialhilfe<br />

muss die Rückerstattung sichergestellt<br />

werden, wofür verschiedene Sicherungsmassnahmen<br />

in Frage kommen (SKOS-RL<br />

E.2.3).<br />

Einnahmen, die nachträglich bei der<br />

unterstützten Person eingehen, werden<br />

mit bevorschussten Sozialhilfeleistungen<br />

verrechnet (SKOS-RL E.2.2. Abs. 1). Es<br />

dürfen jedoch nur Leistungen verrechnet<br />

werden, die zeitlich und sachlich übereinstimmen<br />

(SKOS-RL E.2.2. Abs. 2). Daher<br />

müssen die eingehenden Leistungen und<br />

die Sozialhilfegelder denselben Zeitraum<br />

betreffen (zeitliche Kongruenz) und demselben<br />

Zweck respektive dem Lebensunterhalt<br />

dienen (sachliche Kongruenz).<br />

Zahlungseingänge, die sich nicht mit<br />

bereits geleisteter Sozialhilfe verrechnen<br />

lassen, werden im aktuellen Unterstützungsbudget<br />

als Einnahmen angerechnet.<br />

Bei der Bemessung von finanziellen Leistungen<br />

der Sozialhilfe werden alle verfügbaren<br />

Einnahmen berücksichtigt (SKOS-<br />

RL D.1. Abs. 1). Verfügbare Einnahmen<br />

werden zum Zeitpunkt der Auszahlung angerechnet<br />

und es wird erwartet, dass dieses<br />

Geld zur Finanzierung des Lebensbedarfs<br />

verwendet wird (sog. Zuflusstheorie).<br />

Auf rückwirkend eingehende Zahlungen<br />

werden keine Vermögensfreibeträge<br />

gewährt. Dies gilt auch für Zahlungen,<br />

die im Monat eingehen, in welchem das<br />

Gesuch eingereicht wird. Unterstützten<br />

Personen kann aber ermöglicht werden,<br />

dass sie mit rückwirkend eingehenden<br />

Zahlungen, die sich nicht mit bereits geleisteter<br />

Sozialhilfe verrechnen lassen,<br />

nachweislich bestehende Schulden tilgen.<br />

ANTWORTEN<br />

1. Die nachträglich eingegangenen Unterhaltszahlungen<br />

dürfen im vorliegenden<br />

Fall nicht mit den bereits erfolgten Sozialhilfeleistungen<br />

verrechnet werden.<br />

2. Die einmalige Zahlung wird im aktuellen<br />

Unterstützungsbudget von Frau<br />

Kunz als Einnahme angerechnet. Es<br />

kann kein Vermögensfreibetrag gewährt<br />

werden.<br />

3. Frau Kunz darf das Geld behalten, jedoch<br />

verringert sich der aktuelle Unterstützungsbedarf<br />

im Umfang der<br />

eingegangenen Unterhaltsleistungen.<br />

Übersteigen die eingegangenen Unterstützungsleistungen<br />

den aktuellen<br />

Unterstützungsbedarf, kann dies zur<br />

vorübergehenden Ablösung von der Sozialhilfe<br />

führen.<br />

•<br />

Manuela Reuss<br />

SKOS-Kommission Richtlinien und Praxis<br />

WICHTIGER HINWEIS<br />

Die Verweise auf die SKOS-Richtlinien<br />

beziehen sich bereits auf die ab <strong>20</strong>21 neu<br />

geltende Richtlinien-Struktur.<br />

6 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong>


Weiterbildung für<br />

Sozialhilfebeziehende<br />

SOZIALHILFE Wenn die Sozialhilfe bei der beruflichen Integration erfolgreich bleiben will, braucht es<br />

vermehrt Investitionen in die Kompetenzförderung und in die Qualifizierung. Erste Erfahrungen in<br />

der Stadt Bern weisen darauf hin, dass dieser Ansatz vielversprechend ist. Im Rahmen der neuen<br />

BFI-Botschaft stehen den Kantonen in den nächsten vier Jahren 43 Millionen Franken Bundesgelder<br />

für die Förderung von Grundkompetenzen und Weiterbildungen zur Verfügung. Die SKOS ruft dringlich<br />

dazu auf, diese Mittel zu nutzen.<br />

In der Schweiz verfügt fast die Hälfte aller<br />

Sozialhilfebeziehenden im Alter zwischen<br />

25 und 64 Jahren (46,4 %) über keinen<br />

Berufsabschluss. Damit ist der Anteil der<br />

Personen ohne Berufsbildung in der Sozialhilfe<br />

rund dreimal höher als in der ständigen<br />

Wohnbevölkerung. Gleichzeitig weisen<br />

rund 30 Prozent der Sozialhilfebeziehenden<br />

nur ungenügende Grundkompetenzen<br />

aus. Sozialhilfebeziehende werden aus diesem<br />

Grund in erster Linie in den unqualifizierten<br />

Arbeitsmarkt vermittelt.<br />

Aufgrund der bekannten Megatrends in<br />

der Arbeitswelt ist das Stellenangebot im<br />

Bereich des geringqualifizierten Arbeitsmarkts<br />

seit Jahren rückläufig. Der Ansatz<br />

der Sozialhilfe, die oftmals geringqualifizierten<br />

Stellensuchenden möglichst rasch<br />

und direkt in den Arbeitsmarkt zu vermitteln,<br />

wird dadurch zunehmend in Frage<br />

gestellt. Wenn die Sozialhilfe bei der beruflichen<br />

Integration erfolgreich bleiben will,<br />

braucht es deshalb künftig vermehrt Investitionen<br />

in die Kompetenzförderung und<br />

in die Qualifizierung. Für die Sozialhilfe<br />

bedeutet dies einen Paradigmenwechsel,<br />

denn bis anhin war sie bei der Finanzierung<br />

von Aus- und Weiterbildungen bei<br />

Personen über 25 Jahren sehr zurückhaltend.<br />

Gemeinsam lancierten deshalb die<br />

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />

(SKOS) und der Schweizerische Verband<br />

für Weiterbildung (SVEB) im <strong>20</strong>18 die<br />

Weiterbildungsoffensive.<br />

Beispielhafte Projekte in einzelnen<br />

Kantonen zeigen, dass der Weg erfolgversprechend<br />

ist. So beschäftigt sich das Sozialamt<br />

der Stadt Bern bereits seit mehreren<br />

Jahren intensiv mit der Kompetenzförderung<br />

und Qualifizierung in der Sozialhilfe.<br />

Die Stadt Bern investiert im Rahmen ihrer<br />

aktuellen Strategie zur Förderung der beruflichen<br />

und sozialen Integration für die<br />

Jahre <strong>20</strong>18 bis <strong>20</strong>21 rund 2,3 Mio. Franken<br />

in den Aufbau und die Pilotierung entsprechender<br />

Förderangebote.<br />

Falls bei Stellensuchenden in der Sozialhilfe<br />

eine Berufsbildung möglich ist,<br />

bietet diese Investition die beste Grundlage<br />

für eine nachhaltige Ablösung von<br />

der Sozialhilfe. Für viele Sozialhilfebeziehende<br />

ist eine Berufsbildung jedoch zu<br />

anspruchsvoll. Es gilt deshalb, Bildungswege<br />

unterhalb des Berufsbildungsniveaus<br />

zu erschliessen und gezielt zu nutzen.<br />

Das Sozialamt der Stadt Bern hat zu<br />

diesem Zweck ein Stufenmodell Bildung<br />

entwickelt, das vier verschiedene Förderstufen<br />

unterscheidet. Dieser Ansatz ermöglicht<br />

es, die verschiedenen Sozialhilfebeziehenden<br />

ihrem Potenzial entsprechend<br />

stufengerecht zu fördern.<br />

Mehr Mittel zum Schliessen der<br />

Angebotslücken<br />

Zurzeit laufen in der Stadt Bern Pilotprojekte<br />

zur Entwicklung von Kursen zur Förderung<br />

der Alltags- und Grundkompetenzen<br />

sowie zur Entwicklung von halbjährigen<br />

Fachkursen in den Bereichen Gastronomie<br />

und Reinigung. Erste Erfahrungen stimmen<br />

zuversichtlich: Es zeichnet sich ab,<br />

dass eine Förderung auf den verschiedenen<br />

Stufen mit einem Teil der Sozialhilfebeziehenden<br />

möglich ist und gerade die Fachkurse<br />

die Vermittlungschancen erhöhen.<br />

Die Bildungsangebote zeigen ausserdem<br />

eine Wirkung über die reine Wissensvermittlung<br />

hinaus, indem sie zu einer Verbesserung<br />

von Selbstvertrauen, Zuversicht und<br />

Motivation der Teilnehmenden führen und<br />

eine positive Dynamik anstossen.<br />

Eine wichtige Chance zur Intensivierung<br />

von Kompetenzförderung und Qualifizierung<br />

in der Schweiz bietet die neue<br />

BFI-Botschaft: In deren Rahmen stellt der<br />

Bund für die Jahre <strong>20</strong>21 bis <strong>20</strong>24 Mittel<br />

im Umfang von 43 Millionen Franken bereit.<br />

Mit diesen sollen einerseits bestehende<br />

Angebotslücken geschlossen werden.<br />

Andererseits soll für Sozialhilfebeziehende<br />

der Zugang zu den Förderstrukturen in<br />

der Weiterbildung, der Berufsbildung und<br />

der Arbeitslosenversicherung sichergestellt<br />

werden. Gefordert sind nun die Kantone,<br />

die in der gleichen Höhe Mittel für die Förderung<br />

von Grundkompetenzen zur Verfügung<br />

stellen sollen.<br />

Damit der Paradigmenwechsel hin zu<br />

mehr Bildung in der Sozialhilfe gelingen<br />

kann, braucht es aber mehr als nur geeignete<br />

Förderangebote. Neben der Bereitstellung<br />

der nötigen Mittel zur Finanzierung<br />

dieser Angebote müssen die Prozesse<br />

in der Arbeitsintegration weiterentwickelt<br />

werden. Vorhandenes Potenzial von Sozialhilfebeziehenden<br />

muss rasch identifiziert<br />

und gezielt gefördert werden.<br />

Damit dies gelingt, braucht es erstens<br />

eine frühzeitige, systematische und fachlich<br />

fundierte Potenzialabklärung. Zweitens ist<br />

eine durchgehende Kompetenzorientierung<br />

während des gesamten Arbeitsintegrationsprozesses<br />

erforderlich: Von der Potenzialabklärung<br />

über die Förderung bis zur Vermittlung<br />

muss allen Beteiligten klar sein, welche<br />

Kompetenzen bei den Stellensuchenden<br />

vorhanden sind, welche Kompetenzen sie<br />

für den angestrebten Integrationsweg benötigen<br />

und auf welche Weise fehlende Kompetenzen<br />

aufgebaut werden können. •<br />

David Kieffer, Sozialamt Stadt Bern<br />

3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />

7


«Wir alle wurden im Frühjahr ins<br />

kalte Wasser geworfen»<br />

INTERVIEW Nach einem interimistischen Jahr ist Frank Wittmann auf den 1. Juni <strong>20</strong><strong>20</strong> offiziell zum<br />

Direktor des Departements Soziale Arbeit an der ZHAW ernannt worden. Wittmann will dem Studium<br />

mehr Aktualität und Praxisnähe verleihen und die Digitalisierung in der Sozialen Arbeit vorantreiben.<br />

«<strong>ZESO</strong>»: Seit März findet die Hochschule<br />

eigentlich nur noch im Web<br />

statt. Wie haben Sie die Phase des<br />

Web-Lehrsaals erlebt?<br />

Frank Wittmann: Ich war überrascht,<br />

wie gut der Wechsel geklappt hat. Er kam<br />

ja wirklich sehr abrupt. Erfreulich war auch<br />

die mehrheitlich positive Resonanz bei den<br />

Studierenden und Weiterbildungsteilnehmenden.<br />

Ich hatte damit gerechnet, dass<br />

mindestens ein Viertel bis ein Drittel von<br />

der Weiterbildung abspringt. Wir hatten<br />

allen Teilnehmenden angeboten, dass sie<br />

ihren CAS unter den neuen Umständen<br />

abbrechen können und die Kosten pro rata<br />

zurückerhalten würden. Davon machte<br />

aber niemand Gebrauch. Alle liessen sich<br />

auf die Erfahrung des neuen Lernens ein.<br />

Das gilt auch für die Bachelor- und Master-<br />

Studierenden, die jedoch wenig bis keine<br />

Wahlmöglichkeiten hatten.<br />

Wie schwierig war die Umstellung für<br />

die Dozierenden?<br />

Für die Dozierenden war die Umstellung<br />

ein grosser Effort. Bis vor der Corona-Krise<br />

war E-Learning bei vielen Dozierenden<br />

und Studierenden nur mässig<br />

beliebt. Die Haltung «ein bisschen ja, aber<br />

ja nicht zu viel» war verbreitet. Wir alle<br />

wurden im Frühjahr ins kalte Wasser geworfen.<br />

Innert Kürze haben wir die didaktischen<br />

Settings umgestellt und den Einsatz<br />

von digitalen Tools ausgeweitet. Eine<br />

so radikale Veränderung in so kurzer Zeit<br />

habe ich bisher noch nie erlebt. Aber aus<br />

dieser Situation entstand eine erstaunliche<br />

Dynamik. Unsere Lernkurve war steil.<br />

Erwies sich der Online-Hörsaal als<br />

genauso gut geeignet wie der Präsenz-<br />

Unterricht?<br />

Es gibt gewisse Bereiche, bei denen das<br />

Digitale zu kurz greift. Das betrifft insbesondere<br />

Diskussionen und Reflexionen in<br />

grösseren Gruppen. Wenn ich physisch<br />

im Raum anwesend bin, sehe ich auch<br />

das Nonverbale der nicht sprechenden<br />

Personen. Ich sehe, wie die anderen Anwesenden<br />

reagieren, und ich kann diese<br />

Informationen in meine Voten und Interventionen<br />

einbauen. Per «Zoom» ist die<br />

Verlockung gross, stärker linear zu kommunizieren.<br />

Interessant war, dass am Anfang<br />

alle Studierenden mit Video an den<br />

Web-Vorlesungen teilnahmen. Nach einiger<br />

Zeit hatten dann die Dozentinnen<br />

und Dozenten nur noch hundert schwarze<br />

Bilder auf dem eigenen Monitor vor sich.<br />

Da merkten wir, wie wichtig es ist, Grundregeln<br />

zu vereinbaren. Als Dozent vier<br />

Stunden an einen schwarzen Bildschirm<br />

hinzureden, ist unmöglich. Es braucht die<br />

Rückmeldungen von und die Interaktionen<br />

mit den Studierenden.<br />

Welche Schlussfolgerungen und Lehren<br />

ziehen Sie aus dem Erlebten?<br />

Gewisse Dinge, die wir bisher im Kontaktstudium<br />

gemacht haben, können wir<br />

auch online vermitteln. Die Wissensvermittlung<br />

funktioniert online gut – beispielsweise<br />

mittels Lektüre, vertonter Präsentationen<br />

und Filme. Auch Gruppenarbeiten funktionieren<br />

online in sogenannten Breakout-Sessions<br />

relativ gut. Hingegen sollten wir das<br />

Kontaktstudium zukünftig noch gezielter<br />

dann einsetzen, wenn es einen hohen Mehrwert<br />

generiert. Zum Beispiel für die oben<br />

angesprochenen Plenumsdiskussionen und<br />

Gruppenreflexionen.<br />

Also auch dann, wenn die Corona-Krise<br />

vorbei und Social distancing nicht<br />

mehr nötig ist?<br />

Bei uns wird das reine Online-Studium<br />

nicht die Zukunft sein. Ich gehe davon aus,<br />

dass wir eine starke Verflechtung von Präsenz-<br />

und Online-Unterricht entwickeln<br />

werden. In jedem Fall hoffe ich, genauso<br />

wie fast alle Studierenden und Dozierenden,<br />

dass das Coronavirus bald unter<br />

Kontrolle ist und wir den Anteil des Kontaktstudiums<br />

wieder hochfahren können.<br />

Wie erleben die Studierenden den<br />

fehlenden sozialen Austausch des<br />

Studienlebens?<br />

Die Hochschule als sozialer Nahraum<br />

fehlt uns allen. Im Bachelorstudium gibt<br />

es aber viele Studierende, welche die neue<br />

Bilder: Palma Fiacco<br />

8 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong>


Flexibilität des Online-Studiums sehr<br />

schätzen. Umfragen haben gezeigt, dass<br />

unseren Weiterbildungsteilnehmenden<br />

das Kontaktstudium am meisten fehlt.<br />

Wie geht es im Herbst weiter? Wie werden<br />

Sie an der ZHAW in den nächsten<br />

Monaten mit den Corona-Anforderungen<br />

umgehen?<br />

Wir haben ein Schutzkonzept und werden<br />

die Abstandsregel entsprechend umsetzen.<br />

Der aktuelle Stand ist, dass jeder zweite<br />

Platz in unseren Unterrichtsräumen frei<br />

bleibt. Ein Teil von Studium und Weiterbildung<br />

wird in unserem Campus Toni-Areal<br />

stattfinden, ein Teil bleibt digital. Wir sind<br />

auf dem Weg, Blended Learning zum neuen<br />

didaktischen Standard zu machen.<br />

Im Studium der Sozialen Arbeit sind<br />

Praktika wichtig. Sie konnten vermutlich<br />

auch nicht wie gewohnt stattfinden?<br />

Unsere Priorität war immer, den Studierenden<br />

zu ermöglichen, ihr Studium im<br />

vorgesehenen Zeitrahmen abschliessen zu<br />

können. Niemand sollte ein Semester verlieren.<br />

Das war nicht immer einfach, aber<br />

durch die Lösungsorientierung aller Beteiligten<br />

– besonders auch in der Praxisausbildung<br />

– haben wir das geschafft. Auch<br />

in der Weiterbildung war viel Flexibilität<br />

gefragt. So wurden beispielsweise fast<br />

alle Projektarbeiten in meinem CAS «Culture<br />

Change» von Corona beeinträchtigt.<br />

Home-Office, neue organisationale Dringlichkeiten,<br />

Strategiewechsel und andere<br />

Veränderungen haben die Zusammenarbeit<br />

erschwert oder sogar zum Abbruch<br />

von Projekten geführt.<br />

Die Aufgabe der Hochschule ist es, die<br />

Studierenden auf solche Krisen vorzubereiten.<br />

Wie kann die Hochschule<br />

das leisten?<br />

Unsere primäre Aufgabe ist es, den<br />

Studierenden die Möglichkeit zu geben,<br />

sich das nötige Wissen und die richtigen<br />

Kompetenzen anzueignen und diese mit<br />

praktischen Erfahrungen zu kombinieren.<br />

Dazu gehört auch der Bereich des Selbstmanagements.<br />

Corona hat die Studierenden<br />

und letztlich die ganze Gesellschaft<br />

gezwungen, einen Umgang mit einer ganz<br />

neuen Situation zu finden. Das war eine<br />

reale Übung im Umgang mit Volatilität,<br />

Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität,<br />

learning by doing. Wir haben in unterschiedlichen<br />

Settings dafür gesorgt, dass<br />

eine Reflexion über die Situation und die<br />

gemachten Erfahrungen stattfinden konnte.<br />

In diesem Sinne ist durch Corona eine<br />

Plattform für Reflexion und Kompetenzerwerb<br />

entstanden, über die wir sonst nicht<br />

verfügt hätten.<br />

Wie kann die Fachhochschule dazu<br />

beitragen, dass die Gesellschaft<br />

Probleme wie beispielsweise die der<br />

steigenden Zahl an Armutsbetroffenen<br />

bewältigen kann?<br />

Es gehört zu unseren Aufgaben, mit Ergebnissen<br />

aus der wissenschaftlichen Tä-<br />

<br />

«In diesem Sinne<br />

ist durch Corona<br />

eine Plattform<br />

für Reflexion und<br />

Kompetenzerwerb<br />

entstanden, über<br />

die wir sonst nicht<br />

verfügt hätten.»<br />

3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />

9


«Es braucht ein gutes Verständnis der eigenen Ressourcen: Ich<br />

muss wissen, was ich kann und wo meine Grenzen sind oder jene<br />

meiner Kolleginnen und Kollegen.»<br />

<br />

tigkeit die Öffentlichkeit auf Missstände<br />

und neue Entwicklungen aufmerksam zu<br />

machen sowie einen Diskurs über diese<br />

Phänomene zu entfachen, für sie zu sensibilisieren<br />

und kollaborativ mit unseren<br />

Praxispartnern dazu beizutragen, Lösungen<br />

zu entwickeln.<br />

Welche weiteren Folgen erwarten Sie<br />

sich aus der Krise für die Fachhochschule?<br />

Die sozialen Bedürfnisse und die gesellschaftliche<br />

Agenda sind starken Veränderungen<br />

unterworfen, die immer klarer<br />

hervortreten. Dies hat Auswirkungen auf<br />

unsere Themen und Ansätze und damit<br />

auf unsere Lehre und Forschung. Sinkende<br />

Steuereinnahmen werden sich zudem<br />

nicht nur auf die Budgets im Sozialbereich,<br />

sondern auch auf die Finanzen der<br />

öffentlichen Fachhochschulen auswirken.<br />

Knappe Ressourcen können uns aber motivieren,<br />

Prioritäten noch klarer zu setzen.<br />

Welche Akzente wollen Sie als neuer<br />

Direktor des Departements Soziale<br />

Arbeit der ZHAW setzen?<br />

Die Themenstrategie, die durch unsere<br />

Institute abgebildet wird, geht mit dezidierter<br />

Kontinuität weiter. Wir ergänzen<br />

sie aber durch zwei neue Themencluster.<br />

Das eine ist die Existenzsicherung. Dieses<br />

Cluster verbindet Themen wie Armut, Arbeitsintegration,<br />

Sozialhilfe und Erwachsenenschutz.<br />

Das andere Themenfeld ist<br />

die Digitalisierung in der Sozialen Arbeit.<br />

Wir haben interne Netzwerke gebildet, die<br />

diese beiden Themenfelder interdisziplinär<br />

entwickeln. In der interdisziplinären<br />

Zusammenarbeit liegt eine grosse Kraft.<br />

Ferner ist es mir sehr wichtig, am Puls der<br />

Zeit zu sein und eng mit der Praxis zusammenzuarbeiten<br />

und auf deren Bedürfnisse<br />

einzugehen. Wir haben bereits damit begonnen,<br />

den Kontakt mit den sozialen Institutionen<br />

zu intensivieren. Die raison<br />

d‘être einer Fachhochschule ist die Auseinandersetzung<br />

mit den Themen, die in<br />

der Praxis eine Rolle spielen. Da haben wir<br />

Nachholbedarf und noch Entwicklungspotenzial.<br />

Das packen wir jetzt an!<br />

Bisher spielte das Thema Sozialhilfe<br />

im Studium an den meisten Fachhochschulen<br />

eine sehr kleine Rolle. Warum<br />

setzen Sie hier einen Schwerpunkt?<br />

Sozialhilfe ist ein Kernthema der sozialen<br />

Arbeit – gerade in einer Stadt und<br />

einem Kanton wie Zürich. Auch ist der<br />

ganze Bereich des öffentlichen Sozialwesens<br />

ein wichtiger Arbeitgeber für unsere<br />

Studierenden. Wir möchten ihnen die nötigen<br />

fachlichen Grundlagen vermitteln<br />

und dem Thema das Gewicht geben, das<br />

ihm gebührt. Unsere neuen thematisch<br />

einschlägigen Weiterbildungs-, Beratungsund<br />

Forschungsangebote verzeichnen eine<br />

erfreuliche Nachfrage.<br />

Das zweite Thema – die Digitalisierung<br />

in der Sozialarbeit – ist in aller Munde.<br />

In der Praxis ist sie, wie mir scheint,<br />

noch nicht wirklich angekommen.<br />

Wie wollen Sie da vorgehen?<br />

Wir befinden uns mitten in einer spannenden<br />

Explorations- und Experimentierphase.<br />

Die Mitglieder unseres Netzwerks<br />

bringen derzeit Akteure aus Bereichen wie<br />

Soziales, Statistik, Verwaltung und Technologie<br />

zusammen, um Problemlagen zu<br />

analysieren und Vorgehensweisen zu eruieren.<br />

Im Zusammenhang mit Big Data<br />

muss man bedenken, dass derzeit viele Datensätze<br />

noch nicht miteinander verbunden<br />

sind. Eine unserer Aufgaben ist es, das<br />

Potenzial dieser Daten und Datenkombinationen<br />

zu eruieren und auszuschöpfen<br />

und zugleich den Daten- und Persönlichkeitsschutz<br />

insbesondere von Klientinnen<br />

und Klienten zu gewährleisten. Hier ist viel<br />

Sensibilität und Umsicht gefragt. Kürzlich<br />

sagte eine Sozialdienstmitarbeiterin an einer<br />

Veranstaltung zu mir, sie fände das<br />

Thema Digitalisierung hoch spannend,<br />

aber leider habe es mit Sozialhilfe ja gar<br />

nichts zu tun. Diese persönliche Sichtweise<br />

kann ich zwar gut nachvollziehen, aber die<br />

Digitalisierung durchdringt zunehmend<br />

auch den Sozialbereich.<br />

Vor allem in der Westschweiz und in<br />

Frankreich ist die Partizipation von Armutsbetroffenen<br />

ein wichtiges Thema,<br />

auch bei der Ausbildung. Ist das für Sie<br />

eine Option?<br />

Ich habe für einen ganzheitlichen Blick<br />

auf Partizipation eine grosse Sympathie.<br />

Ich teile Ihre Einschätzung, dass wir uns in<br />

der deutschsprachigen Schweiz und auch<br />

an der ZHAW gegenüber der Praxis noch<br />

mehr öffnen und für eine breit angelegte<br />

Partizipation eigene Gefässe schaffen können.<br />

Wir müssen auf differenzierte Weise<br />

beurteilen, welche Form von Partizipation<br />

sich für welches Thema und Projekt eignet<br />

und einen echten Mehrwert bringt. Derzeit<br />

sind wir an einem ZHAW-weiten Projekt<br />

beteiligt, in welchem die hochschulinter-<br />

10 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong>


FRANK WITTMANN<br />

Frank Wittmann ist seit 1. Juni <strong>20</strong><strong>20</strong> Direktor<br />

des Departements Soziale Arbeit an der ZHAW.<br />

Wittmann hat eine Dissertation in Medienkultur<br />

geschrieben, für die er ein Jahr im Senegal Feldforschung<br />

betrieben hatte. Nach dem Abschluss<br />

des Studiums koordinierte er in einem Freiwilligenprogramm<br />

der Uno-Friedensmission in<br />

Haiti die Kommunikation und die Weiterbildung.<br />

<strong>20</strong>07 kehrte Wittmann an die ZHAW zurück und<br />

übernahm die Leitung der Stabsstelle im Ressort<br />

Internationales.<br />

ne Partizipation von Studierenden, Mitarbeitenden<br />

und Dozierenden auf eine neue<br />

Grundlage gestellt wird.<br />

Soziale Arbeit ist ein beliebtes Studienfach,<br />

jedoch grossmehrheitlich bei<br />

Frauen. Sehen Sie Veränderungen am<br />

Horizont?<br />

Der Anteil Frauen ist nach wie vor wesentlich<br />

höher als der der Männer. Im Moment<br />

ist das Verhältnis etwa 75 zu 25. In<br />

der Weiterbildung ist es etwas ausgeglichener.<br />

In Gruppenarbeiten lässt sich jedoch<br />

gut beobachten, dass die männlichen<br />

Studierenden definitiv keinen Exotenstatus<br />

haben. Wir setzen uns dennoch weiter<br />

dafür ein, den Anteil der Männer zu erhöhen.<br />

Bei den Führungspositionen wiederum,<br />

müsste der Anteil der Frauen<br />

erhöht werden.<br />

Auf der Führungsebene im Sozial- und<br />

im Hochschulbereich ist das Verhältnis<br />

zwar nicht genau umgekehrt, aber häufig<br />

nur paritätisch. Wir hoffen, unter den<br />

weiblichen Studierenden der Sozialen Arbeit<br />

noch mehr Führungsnachwuchs zu<br />

rekrutieren. Wir können mit unserer Ausund<br />

Weiterbildung unterstützend wirken<br />

und in unserem Hochschuldepartement<br />

entsprechende Praktiken etablieren.<br />

Eine Studie der Berner Fachhochschule<br />

BFH kam zu dem Schluss, dass<br />

Sozialarbeitende überdurchschnittlich<br />

oft ein Burn-out erleiden. Sozialarbeitende<br />

treffen bei ihrer Arbeit häufig<br />

auf eine schwierige Umgebung und<br />

Leid. Ihre beruflichen Aufgaben seien<br />

herausfordernd, nervenaufreibend<br />

und belastend, wie die BFH schreibt.<br />

Wie bereiten Sie Studierende auf diese<br />

Belastung vor?<br />

Die Themen Stress, Druck und Burn-out<br />

sind in der Ausbildung sehr präsent. Auch<br />

von Führungskräften werden Gesundheit<br />

und Krankheit als wichtige Themen regelmässig<br />

in meinem CAS «Führung und<br />

Zusammenarbeit in Non-Profit-Organisationen»<br />

aufgebracht. Viele Fach- und<br />

Führungskräfte können noch dazulernen,<br />

wenn es um die Entwicklung eines entkrampften<br />

Verhältnisses zur Leis-tungsfähigkeit<br />

von sich und ihren Teams geht.<br />

Denn ein Burn-out stellt sich nicht automatisch<br />

nach ausserordentlich hoher Leistung<br />

ein, sondern ist die Folge, wenn sich<br />

mehrere Faktoren unheilvoll verketten. Der<br />

unzureichende Umgang mit Druck, das<br />

Ignorieren von eigenen Ressourcen und<br />

das Fehlen von intakten interpersonellen<br />

Beziehungen gehören häufig dazu.<br />

Welche Massnahmen zur Prävention<br />

empfehlen Sie?<br />

Wir müssen in Aus- und Weiterbildung<br />

Gelegenheit zur Selbsterkenntnis als Basis<br />

des Selbstmanagements geben. Es braucht<br />

ein gutes Verständnis der eigenen Ressourcen:<br />

Ich muss wissen, was ich kann und<br />

wo meine Grenzen sind oder jene meiner<br />

Kolleginnen und Kollegen. Ich muss lernen,<br />

diese Grenzen anzuerkennen und sie<br />

adäquat zu kommunizieren. Und ich kann<br />

schrittweise daran arbeiten, meine Resilienz<br />

und diejenige meines Teams zu erhöhen.<br />

Beispielsweise indem ich eine neue<br />

Sichtweise auf Drucksituationen entwickle<br />

oder überlege, welche individuellen und<br />

kollektiven Ressourcen ich mobilisieren<br />

kann, um eine Herausforderung zu bewältigen.<br />

Persönliches Wachstum hängt eng<br />

mit der Bereitschaft zusammen, mich von<br />

anderen unterstützen zu lassen. •<br />

Das Gespräch führte<br />

Ingrid Hess<br />

3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />

11


Bild: pixelio.de<br />

12 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong> SCHWERPUNKT


Kumulierte Nachteile führen Einelternhaushalte<br />

in die Sozialhilfe<br />

Welches Profil haben sozialhilfebeziehende Alleinerziehende im Kanton Neuenburg? Welche<br />

Faktoren führen zur Sozialhilfeabhängigkeit und zur Ablösung? Und wie schätzen die<br />

Fachpersonen der Sozialdienste die Situation ein? Diesen Fragen ist eine Studie des nationalen<br />

Forschungsschwerpunktes LIVES nachgegangen.<br />

In mehr als neun von zehn Fällen bestanden die Einelternhaushalte,<br />

die im Kanton Neuenburg <strong>20</strong>16 mit Sozialhilfe unterstützt<br />

wurden, aus einer Mutter und ihren Kindern. Die alleinerziehenden<br />

Eltern waren zwischen 26 und 55 Jahre alt; das Durchschnittsalter<br />

lag bei rund 40 Jahren. Die Einelternfamilien lebten<br />

vornehmlich in den am stärksten besiedelten Gebieten des Kantons,<br />

insbesondere in La Chaux-de-Fonds und Neuenburg.<br />

Die Eltern wurden in den meisten Fällen alleinerziehend, weil sie<br />

eine Paarbeziehung beendet haben, also durch Trennung, Scheidung<br />

oder das Beenden des Zusammenlebens. Verwitwete Elternteile<br />

waren hingegen sehr selten. Die Mehrheit der alleinerziehenden<br />

Mütter und Väter gehörten einer Unterstützungseinheit mit<br />

einem einzigen abhängigen Kind an.<br />

Die meisten alleinerziehenden Eltern, die Sozialhilfe bezogen,<br />

waren auf Arbeitssuche oder nicht erwerbstätig. Rund ein Fünftel<br />

ging einer Erwerbstätigkeit nach – häufig in Teilzeit. Etwas mehr<br />

als die Hälfte der sozialhilfebeziehenden Einelternhaushalte im<br />

Kanton Neuenburg waren Schweizer Staatsangehörige, ein weiteres<br />

Viertel setzte sich aus europäischen Staatsbürgern zusammen.<br />

Beinahe alle Einelternfamilien bezogen langfristig Unterstützung.<br />

Lediglich einer kleinen Minderheit gelang es, sich innerhalb<br />

von weniger als zwölf Monaten von der Sozialhilfe abzulösen. Für<br />

die alleinerziehenden Väter konnten im Allgemeinen die gleichen<br />

Profileigenschaften wie für die untersuchte Gesamtpopulation<br />

(Mütter und Väter) ermittelt werden.<br />

Kein einzelner Auslöser<br />

Mit einer qualitativen Umfrage wurden die Entwicklungsverläufe<br />

von sozialhilfebeziehenden Einelternhaushalten und die subjektive<br />

Erfahrung der Sozialhilfebeziehenden untersucht.<br />

Die befragten Eltern wurden zu unterschiedlichen Zeitpunkten<br />

im Lebensverlauf alleinerziehend – unabhängig vom Eintritt in<br />

die Sozialhilfe. Manche bezogen bereits während der Paarbeziehung<br />

Sozialhilfe, manche sind als Folge der Trennung auf Unterstützung<br />

angewiesen. In einigen Fällen hatten die Personen bereits<br />

vor dem Paarleben und vor der Geburt der Kinder Sozialhilfeerfahrung<br />

und sind nun erneut auf Unterstützung angewiesen.<br />

Indem in der Befragung der Unterstützten der Zeitpunkt des<br />

Bezugsbeginns und der Ablösung fokusiert wurde, konnten Erkenntisse<br />

zu Ereignissen und Faktoren gewonnen werden, die<br />

zum Einstieg in die Sozialhilfe beitragen oder eine Ablösung verhindern<br />

können.<br />

In keiner der Biografien der Befragten war der Einstieg in<br />

die Sozialhilfe das Ergebnis eines einzelnen Auslösers zu einem<br />

bestimmten Zeitpunkt im Lebensverlauf. Er war vielmehr das<br />

Resultat eines Prozesses oder einer Kumulation von Nachteilen,<br />

die vor Beginn des Sozialhilfebezugs entstanden waren und sich<br />

zu einem auslösenden Ereignis verbanden. Zu diesen Nachteilen<br />

gehören Schwierigkeiten in Zusammenhang mit der sozialen Herkunft<br />

(Herkunftsfamilie), eine mangelhafte oder unvollständige<br />

Schullaufbahn, Ungleichheiten in der Paarbeziehung, gesundheitliche<br />

Probleme und schwierige Migrationshintergründe.<br />

Die Ablösung von der Sozialhilfe ist in der Regel durch die Wiederaufnahme<br />

der Berufstätigkeit oder durch die Erhöhung des<br />

Beschäftigungsgrads möglich. Damit das gelingen kann, sind insbesondere<br />

bei kleinen Kindern zuverlässige Betreuungsmöglichkeiten<br />

sehr wichtig. Es gab auch Eltern, die auf Sozialhilfe verzichtet<br />

haben, obwohl sie ihnen zugestanden hätte: Einige verliessen<br />

die Sozialhilfe, ohne dass sie eine neue Arbeitsstelle gefunden oder<br />

den Beschäftigungsgrad erhöht hatten, etwa wenn sie eine neue<br />

Paarbeziehung eingingen und/oder ein weiteres Kind mit einem<br />

neuen Partner bekamen.<br />

Mangelnde finanzielle und praktische Unterstützung<br />

Zu den Faktoren, die eine Ablösung verhindern können, gehören<br />

das Arbeiten in Bereichen mit wenig Arbeitsplätzen, körperliche<br />

Gesundheitsprobleme oder in Bezug auf den Arbeitsmarkt auch<br />

ein relativ hohes Alter der Arbeitssuchenden. Als einer der wichtigsten<br />

Hinderungsgründe für die Wiederaufnahme einer beruflichen<br />

Tätigkeit wurden fehlende zuverlässige Betreuungsmöglichkeiten<br />

für die Kinder genannt. Weiter wurden fehlende<br />

Weiterentwicklungsmöglichkeiten erwähnt, wenn die nötigen Bildungsmassnahmen<br />

von der Sozialhilfe nicht übernommen wurden.<br />

Bei überschuldeten Personen bestand zudem teilweise ein<br />

negativer Anreiz zum Ausstieg aus der Sozialhilfe, da bei der Ablösung<br />

die Lohnpfändung einsetzt. Und schliesslich war für die Mütter,<br />

denen es nicht gelang, sich von der Sozialhilfe abzulösen, der<br />

Mangel an finanzieller und/oder praktischer Unterstützung (Kinderbetreuung)<br />

des Vaters ein oft genanntes Hindernis.<br />

Alleinerziehend zu sein kann im Lebensverlauf eine unterschiedliche<br />

Rolle spielen. Es kann der Auslöser für die wirtschaftliche<br />

Instabilität des Haushaltes sein und zusammen mit weiteren<br />

kumulierten Nachteilen im Laufe des Lebens in die Sozialhilfe<br />

führen. Für manche kann es einen latenten Faktor darstellen, der<br />

nach dem Eintritt eines Auslösers (beispielsweise dem Verlust des<br />

Arbeitsplatzes) zum Einstieg in die Sozialhilfe beiträgt. Auch für<br />

diejenigen Müttter, die bereits Sozialhilfe bezogen hatten, bevor<br />

sie alleinerziehend wurden, kann es zu einer Verschlechterung<br />

14 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong> SCHWERPUNKT


ALLEINERZIEHENDE<br />

SOZIALHILFEBEZIEHENDE<br />

EINELTERNHAUSHALTE IM KANTON<br />

NEUENBURG<br />

Dieser Artikel ist eine Zusammenfassung der Ergebnisse<br />

eines Forschungsprojekts zu Einelternhaushalten, die <strong>20</strong>16<br />

im Kanton Neuenburg wirtschaftliche Sozialhilfe bezogen.<br />

Die Studie wurde <strong>20</strong>19 vom Amt für Familienpolitik und<br />

Gleichstellung des Kantons Neuenburgs in Auftrag gegeben<br />

und von der Universität Lausanne, dem Nationalen Forschungsschwerpunkt<br />

LIVES und vom Kanton Neuenburg<br />

finanziert.<br />

Studie online verfügbar unter:<br />

www.lives-nccr.ch/sites/default/files/rapport_de_recherche_<br />

neuchatel_final_101219.pdf<br />

Mehr als 90 Prozent der Alleinerziehenden in der Sozialhilfe sind Mütter. <br />

Bild: Palma Fiacco<br />

der persönlichen Situation führen. Diese unterschiedlichen Situationen<br />

zeigen, wie wichtig sowohl die Förderung von Präventionsmassnahmen<br />

(gegen die Anhäufung von Nachteilen) wie<br />

auch von Ansätzen zur Vereinbarkeit von Familie und Arbeit für<br />

alleinerziehende Elternteile ist. Diesbezüglich erkannten die befragten<br />

Unterstützten an, wie wichtig es ist, auf ein Instrument wie<br />

die Sozialhilfe zählen zu können. Sie wünschten sich jedoch mehr<br />

Flexibilität bei der Finanzierung der Betreuungs- und Bildungsmöglichkeiten.<br />

Fachleute wünschen sich angepasste Lösungen<br />

Die Ergebnisse der qualitativen Befragung wurden in Fokusgruppen<br />

mit Verantwortlichen von Sozialdiensten und Sozialarbeitenden<br />

bestätigt und mit Überlegungen aus der Berufspraxis ergänzt.<br />

Die Fachleute betonten, wie wichtig die Höhe und die Zahlung von<br />

Unterhaltsbeiträgen ist. Auch Fragen in Zusammenhang mit der<br />

Sorgerechtszuteilung seien relevant.<br />

Die befragten Fachpersonen möchten den alleinerziehenden<br />

Personen je nach Beschäftigungsbereich besser angepasste Hilfsmassnahmen<br />

anbieten können. Sie befürworten zudem, dass auch<br />

Eltern, die sich nicht in Beschäftigungsmassnahmen befinden,<br />

der Zugang zu Kinderbetreuungsmöglichkeiten erleichtert wird.<br />

Bestätigt wurde auch, dass für Personen, die wieder erwerbsttätig<br />

werden könnten, Bildungsprogramme gefördert werden müssten,<br />

damit eine Ablösung von der Sozialhilfe gelingen kann. Weitere<br />

Probleme sahen die Sozialarbeitenden beim Nichtbezug von Sozialhilfe<br />

durch potenzielle Empfängerinnen sowie bei negativen Anreizen<br />

zum Ausstieg aus der Sozialhilfe aufgrund von Schwelleneffekten.<br />

In Bezug auf diesen letzten Punkt wurde angeregt, dass<br />

die Sozialhilfe stärker als Teil des gesamten Sozialsystems betrachtet<br />

werden muss und bei jeder normativen Änderung die Kohärenz<br />

des Systems geprüft werden sollte.<br />

Schliesslich gestanden die Fachleute eine gewisse Oberflächlichkeit<br />

bei der Erfassung der Daten zu den Sozialhilfebeziehenden<br />

für die kantonalen Statistiken ein. Sie würden es begrüssen, wenn<br />

gewisse Kategorien abgeändert würden, damit die Komplexität der<br />

individuellen Situationen besser abgebildet werden könnte. •<br />

Dr. Ornella Larenza<br />

Nationaler Forschungsschwerpunkt LIVES<br />

SCHWERPUNKT 3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />


Alleinerziehend im Niedriglohnsektor −<br />

eine Sackgasse?<br />

Arbeit, Kinderbetreuung und die Bedürfnisse der Kinder in Einklang zu bringen, ist für<br />

Alleinerziehende besonders schwierig. Wer im Niedriglohnsektor arbeitet oder auf Sozialhilfe<br />

angewiesen ist, hat zudem wenige Möglichkeiten, Perspektiven zu entwickeln.<br />

Die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit hat gemäss<br />

OECD (<strong>20</strong>04) zwei Ziele: Zum einen geht es um die Möglichkeit<br />

am Arbeitsmarkt teilzunehmen, ein Einkommen zu generieren<br />

und sich dadurch in die Gesellschaft zu integrieren. Zum anderen<br />

sollen die Kinder die bestmögliche Betreuung und Erziehung erhalten.<br />

Für Familien in Belastungssituationen und insbesondere für<br />

Alleinerziehende ist die Erfüllung dieser Ziele eine Herkulesaufgabe,<br />

die ohne Unterstützung Dritter nicht zu bewältigen ist.<br />

Alleinerziehenden mit tiefer beruflicher Qualifikation, die keine<br />

Unterhaltszahlungen des Vaters bekommen, bleibt nur das Arbeiten<br />

in hohem Pensum oder Vollzeit, um den Lebensunterhalt für<br />

die Familie zu gewährleisten, oder der Gang zur Sozialhilfe. In beiden<br />

Fällen besteht das Risiko, in einen Teufelskreis aus Armut und<br />

Überforderung zu geraten.<br />

Zwischen Arbeit und Kinderbetreuung<br />

Im Niedriglohnbereich zu arbeiten, bedeutet häufig unregelmässige<br />

Arbeitszeiten, Schichtarbeit, ein geringes Einkommen trotz<br />

eines vollen Arbeitspensums und wenig Unterstützungsangebote<br />

seitens der Arbeitgeber. Zudem ist ein geregeltes Einkommen nicht<br />

immer gewährleistet.<br />

Beziehen Alleinerziehende Sozialhilfe, ist der Grundbedarf gedeckt.<br />

Auch die Kinderbetreuung wird von der Sozialhilfe übernommen.<br />

Es besteht aber die Pflicht, möglichst schnell wieder<br />

finanziell unabhängig zu werden und eine Arbeit anzunehmen.<br />

Die Praxis in den Sozialdiensten ist diesbezüglich von Kanton zu<br />

Kanton verschieden. An manchen Orten wird auf die Betreuung<br />

junger Kinder Rücksicht genommen. Sie wird höher gewichtet als<br />

die Arbeitsaufnahme, an anderen Orten ist dies nicht der Fall. So<br />

werden Mütter teilweise gedrängt, eine 100%-Ausbildung zu machen<br />

und ihre Kinder auch abends fremdbetreuen zu lassen.<br />

FAMILIE UND ERWERBSTÄTIGKEIT IM<br />

KONTEXT SOZIALER BENACHTEILIGUNG<br />

Der Verein a:primo hat <strong>20</strong>19 den Bericht «Vereinbarkeit von<br />

Familie und Erwerbstätigkeit im Kontext sozialer Benachteiligung»<br />

herausgegeben. Er basiert auf den Daten des<br />

laufenden Monitorings der a:primo-Programme und auf Befragungen<br />

der Programmmitarbeiterinnen und Familien. Die<br />

Aussagen in diesem Text beziehen sich auf diese Daten. Es<br />

wird lediglich von alleinerziehenden Müttern gesprochen, da<br />

nur diese an den Programmen teilgenommen haben. Vieles<br />

trifft auf alleinerziehende Väter gleichermassen zu.<br />

Diesen Druck bekommen die Mütter auch von den regionalen<br />

Arbeitsvermittlungen zu spüren.<br />

Bei Alleinerziehenden steht der Vater für die Kinderbetreuung<br />

häufig nicht zur Verfügung. Wenn die Familie nicht in der unmittelbaren<br />

Umgebung lebt, muss für die Betreuung im Alltag eine<br />

andere Lösung gesucht werden. Kitas bieten zwar eine stabile Betreuungssituation,<br />

doch die Kosten sind vielfach zu hoch. Betreuungsgutscheine<br />

für die Kita oder Subventionen zu beantragen,<br />

ist mit administrativem Aufwand verbunden, den insbesondere<br />

Eltern mit wenigen Bildungsressourcen nicht alleine bewältigen<br />

können. Selbst mit Subventionen ist die Kinderbetreuung oft zu<br />

teuer, zumal je nach Arbeitssituation ein grosser Zeitumfang externer<br />

Betreuung notwendig ist, beispielsweise bei unregelmässigen<br />

Arbeitszeiten. Informelle Tagesmütter bieten sich als alternative<br />

Lösung an. Sie sind meist kostengünstiger und flexibler,<br />

allerdings weniger stabil in der Gewährleistung der Betreuung.<br />

Die Qualität der Betreuungslösung spielt oft eine untergeordnete<br />

Rolle. Hauptsache das Kind ist betreut und die Finanzierung ist<br />

gesichert.<br />

Ist das Kind krank oder hat es Schulferien, bringt das Alleinerziehende<br />

schnell ans Limit. Sie sind auf ein funktionierendes soziales<br />

Netz angewiesen. Solche Strukturen stehen aber nicht einfach<br />

zur Verfügung, sondern müssen aufgebaut und gepflegt werden.<br />

Dafür sind die zeitlichen Ressourcen neben Arbeit, Kindern und<br />

Haushalt knapp.<br />

Für die Kinder ist die Familie der primäre Bildungs- und Sozialisationsort.<br />

Die Familie hat einen entscheidenden Einfluss auf die<br />

kindliche Entwicklung. Für ein gesundes Aufwachsen benötigen<br />

Kinder eine verlässliche soziale Umwelt. Sie wollen Zuwendung,<br />

Sicherheit und Anregungen bekommen. Fällt ein Elternteil weg,<br />

so brauchen die Kinder liebevolle Unterstützung bei der Bewältigung<br />

dieser existenziellen Veränderung.<br />

Die Balance zwischen diesen Rahmenbedingungen und Anforderungen<br />

ist fragil und wird schnell zu einem Teufelskreis mit<br />

wenig Spielraum. Eingespannt zwischen Arbeit und Familie bleibt<br />

kaum Zeit über Veränderungsmöglichkeiten nachzudenken, die<br />

aus dem Teufelskreis herausführen könnten.<br />

Wenig Perspektiven für Aus- und Weiterbildung<br />

Die Sozialhilfe finanziert häufig den Kita-Platz und teilweise auch<br />

Sprachkurse. Damit diese Kosten neben Miete, Krankenkasse etc.<br />

alleine getragen werden könnten, bräuchte es einen deutlichen Einkommensanstieg.<br />

Dieser ist in der Regel nur durch eine bessere<br />

berufliche Qualifikation zu erreichen. Insbesondere für Frauen mit<br />

einer tiefen Erstausbildung würden sich dadurch die Chancen auf<br />

dem Arbeitsmarkt erhöhen.<br />

16 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong> SCHWERPUNKT


Heraus aus der Passivität – berufliche<br />

Integration von alleinerziehenden Müttern<br />

Alleinerziehende, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, müssen viele Hürden überwinden, um<br />

wieder in die Arbeitswelt einzusteigen. In Biel hilft das Angebot für die berufliche Integration von<br />

alleinerziehenden Müttern (BIM) die Weichen für die Zukunft zu stellen.<br />

Alleinerziehende, die auf Unterstützung der Sozialhilfe angewiesen<br />

sind, befassen sich häufig erst spät mit ihrem beruflichen Erst- oder<br />

Wiedereinstieg; freiwillig oft erst, wenn ihre Kinder im Schulalter<br />

sind. Dies kann dazu führen, dass die Frauen während Jahren sehr<br />

isoliert mit ihren Kindern leben. Daraus entsteht eine fast symbiotische<br />

Beziehung zwischen Kindern und Mutter. Bereits kleine Loslösungsschritte,<br />

wie ein paar Stunden Fremdbetreuung, stellen<br />

eine grosse Herausforderung dar. Zudem entwickeln die Frauen<br />

mit ihren Familien häufig eigene Tagesstrukturen, investieren viel<br />

Zeit in Alltägliches und haben dann grosse Mühe, hinsichtlich einer<br />

Arbeitsstelle oder eines Kurses ihre Zeitressourcen neu zu verteilen<br />

und die Tagesstruktur zu verändern. Eine weitere Hürde für den<br />

beruflichen Wiedereinstieg liegt darin, dass diese Frauen durch<br />

ihre lange Absenz vom Arbeitsmarkt ihre beruflichen Kompetenzen<br />

und damit einhergehend auch ihr Selbstvertrauen verlieren.<br />

Mit dieser Ausgangslage stehen die Chancen schlecht, aus eigener<br />

Kraft eine Stelle zu finden. Und genau hier setzt das Angebot<br />

für die berufliche Integration von alleinerziehenden Müttern<br />

(BIM) an. Das Programm wurde <strong>20</strong>16 im Auftrag der Abteilung<br />

Soziales der Stadt Biel vom Informations- und Beratungszentrum<br />

frac entwickelt. Die potenziellen Teilnehmerinnen werden dem<br />

frac von der Fachstelle Arbeitsintegration der Abteilung Soziales<br />

Biel zugewiesen.<br />

Weichen frühzeitig stellen<br />

Im BIM sollen frühzeitig die Weichen gestellt werden, damit die<br />

Mütter sich schnell und nachhaltig wieder in den Arbeitsmarkt integrieren<br />

und von der Sozialhilfe ablösen können. Im Zentrum<br />

steht die Vorbereitung auf den neuen Alltag als berufstätige, alleinerziehende<br />

Mutter. Ein weiterer Fokus liegt auf der Entwicklung<br />

nachhaltiger beruflicher Perspektiven unter der Berücksichtigung<br />

der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die Teilnehmerinnen<br />

setzen sich vertieft mit den Anforderungen und Spielregeln der<br />

Arbeitswelt auseinander. Und sie erarbeiten einen ganz persönlichen<br />

und vor allem realistischen Aktionsplan und setzen erste konkrete<br />

Schritte um.<br />

Das Programm ist modular in Gruppen- und Einzelsequenzen<br />

aufgebaut. Dieser Mix erlaubt es, den unterschiedlichen Bedürfnissen<br />

optimal gerecht zu werden. Die Gruppenberatung fördert<br />

den Erfahrungsaustausch, die Selbstwahrnehmung, die Motivation,<br />

die gegenseitige Unterstützung, den Zusammenhalt unter den<br />

Frauen und deren Vernetzung. Die Einzelberatungen erlauben es,<br />

auf die sehr unterschiedlichen Ausgangslagen und Bedürfnisse individuell<br />

einzugehen.<br />

Die Gruppen- und Einzelberatungen finden mehrheitlich morgens<br />

statt, da etliche Mütter auch Schulkinder haben, die bereits<br />

Es ist wichtig, eine Ausbildung als langfristiges Ziel vor Augen zu haben.<br />

Bild: Béatrice Devènes<br />

regelmässig am Morgen betreut sind. Für Kinder ab sechs Monaten<br />

organisiert frac die Kinderbetreuung während den Gruppenberatungen,<br />

den Einzelberatungen und den Schnuppertagen in<br />

Zusammenarbeit mit der Volkshochschule Biel.<br />

Von der Standortbestimmung bis zum Aktionsplan<br />

Standortbestimmung: In den Einzelberatungen und Gruppensequenzen<br />

machen die Teilnehmerinnen eine Mini-Kompetenzbilanz.<br />

Sie eruieren die Kompetenzen und Stärken, die sie in ihren<br />

beruflichen und ausserberuflichen Erfahrungsfeldern erworben<br />

18 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong> SCHWERPUNKT


ALLEINERZIEHENDE<br />

und bewiesen haben. Sie gehen ihren persönlichen und beruflichen<br />

Interessen und Wünschen auf den Grund.<br />

Entwickeln von beruflichen Perspektiven: Die Teilnehmerinnen<br />

setzen sich mit der Arbeitswelt und den verschiedenen Berufsfeldern<br />

auseinander. Sie definieren ihre beruflichen und persönlichen<br />

kurz- und langfristigen Ziele. Für viele Mütter ist es kurzfristig<br />

nicht realistisch, eine Ausbildung in Angriff zu nehmen, die zu<br />

nachhaltig guten Chancen auf dem Arbeitsmarkt führt. Es ist aber<br />

wichtig, die Option einer Ausbildung respektive Nachholbildung<br />

als langfristiges Ziel vor Augen zu haben. So wird die nachhaltige<br />

Ablösung von der Sozialhilfe viel wahrscheinlicher. Die ersten kleinen<br />

Schritte Richtung beruflicher Wiedereinstieg werden so wenn<br />

möglich auf ein langfristiges Ziel hin abgestimmt, was sehr motivierend<br />

wirkt.<br />

<br />

Fallbeispiel<br />

«Ich war froh, dass mir ein<br />

gangbarer Weg aufgezeigt<br />

wurde.»<br />

Die 29-jährige Frau Martinek (Name geändert) war seit<br />

mehreren Jahren im Verkauf tätig. Sie hatte nach ihrem<br />

Mutterschaftsurlaub ihre Stelle gekündigt, da sie keine<br />

Möglichkeit gefunden hatte, ihr Kind betreuen zu lassen.<br />

Sie musste sich beim Sozialamt anmelden. Nach einigen<br />

Monaten wurde Frau Martinek vom Sozialamt für das<br />

Angebot BIM angemeldet.<br />

Realisierte Schritte und Wirkung<br />

Bereits beim Erstgespräch wurde deutlich, dass Frau<br />

Martinek an ihrer Situation etwas ändern wollte. Sie sorgte<br />

sich aber auch um ihr Kind und befürchtete, dass es<br />

unter einer Fremdbetreuung leiden könnte. In der Gruppenarbeit<br />

mit den alleinerziehenden Frauen wurden<br />

dem Aspekt der Vereinbarkeit zwischen Familienleben<br />

und Beruf viel Gewicht beigemessen und die Zeitressourcen<br />

(Ist- und Soll-Zustand) analysiert. Die Kolleginnen<br />

erzählten einerseits von ihren eigenen Ängsten, andererseits<br />

machten sie sich gegenseitig Mut. Sie arbeiteten<br />

heraus, wie sie zukünftig die zusätzliche Aufgabe der Erwerbsarbeit<br />

bewältigen wollten. Zusammen mit der<br />

Gruppe setzte sich Frau Martinek kritisch mit ihren Ansprüchen<br />

an die Mutterrolle auseinander. Sie entschied,<br />

noch vor dem Wiedereinstieg die Fremdbetreuung mit<br />

ihrer Tochter zu üben. Die pensionierte Nachbarin war<br />

bereit, das Kind zweimal pro Woche zu betreuen. Alles<br />

lief gut, die Tochter von Frau Martinek schien die Zeit bei<br />

der Nachbarin sogar sehr zu geniessen. Dies ermutigte<br />

die alleinerziehende Mutter. Allmählich wuchs bei ihr<br />

die Überzeugung, dass sie es schaffen könnte.<br />

Frau Martinek wollte ihr Diplom, das sie in ihrer Heimat<br />

Slowakei erworben hatte, in der Schweiz anerkennen<br />

lassen. Das BIM unterstützten sie dabei. Frau Martinek<br />

erarbeitete ebenfalls ein auf ihr Stellenprofil hin<br />

ausgerichtetes Bewerbungsdossier und übte das Vorgehen<br />

für Online-Bewerbungen. Sie war nun bereit für die<br />

Stellensuche. In Zusammenarbeit mit dem Sozialamt<br />

wurde vereinbart, vorerst einen Kinderbetreuungsplatz<br />

in einer privaten Krippe in Anspruch zu nehmen. Sobald<br />

ein subventionierter Platz frei würde, könnte ihre Tochter<br />

die Krippe wechseln. Frau Martinek machte sich auf<br />

die Stellensuche. Bereits nach der fünften Bewerbung<br />

konnte sie sich in einem Betrieb vorstellen. Sie erhielt<br />

die Zusage für eine 50-Prozent-Stelle im Verkauf, glücklicherweise<br />

mit fixen Arbeitszeiten. Ihre Nachbarin war<br />

bereit, sich bei Krankheit oder bei ausnahmsweise unregelmässiger<br />

Arbeitszeit um die Tochter zu kümmern.<br />

Der in der Nähe wohnende Vater wird das Kind abends<br />

von der Krippe abholen. <br />

•<br />

SCHWERPUNKT 3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />


Eine grosse Herausforderung<br />

bleibt die Organisation der Kinderbetreuung<br />

für Randzeiten<br />

sowie an Wochenenden.<br />

Klären der Vereinbarkeit von Familie und Beruf: Die Teilnehmerinnen<br />

beschäftigen sich intensiv mit der Frage, wie sie bei der Aufnahme<br />

einer Erwerbstätigkeit ihre Zeitressourcen neu verteilen<br />

können. In der Gruppe erarbeiten sie anhand einer exemplarischen<br />

Woche einen konkreten Plan, wie sie ihren Lebensalltag als<br />

berufstätige Mütter organisieren werden.<br />

Die Organisation einer familienexternen Kinderbetreuung ist<br />

ein zentrales Thema für die Teilnehmerinnen. Sie erhalten Informationen<br />

über die Angebote der Fremdbetreuung und werden<br />

bei Bedarf ganz konkret bei der Einschreibung in einer Kita und<br />

der Beantragung der Betreuungsgutscheine unterstützt. Intensiv<br />

thematisiert wird die Frage, wie die Mütter die Kinderbetreuung<br />

in Ausnahmesituationen wie Krankheit der Kinder und während<br />

Ferien organisieren können.<br />

Eine grosse Herausforderung bleibt die Organisation der Kinderbetreuung<br />

für Randzeiten (frühmorgens/spätabends) sowie<br />

an Wochenenden, da diese durch keine Regelstrukturangebote<br />

abgedeckt werden. Ein grosser Teil der BIM-Teilnehmerinnen<br />

bewegt sich in Berufsfeldern mit unregelmässigen Arbeitszeiten,<br />

beispielsweise im Verkauf oder in der Pflege. Können diese Randzeiten<br />

nicht durch die Väter, Verwandte oder Bekannte abgedeckt<br />

werden, bleibt nur die Lösung über Babysitter, Nannys und allenfalls<br />

Tageseltern.<br />

Vorbereitung auf die Stellensuche: Die Teilnehmerinnen erstellen<br />

einen zeitgemässen und auf das Berufsziel abgestimmten Lebenslauf<br />

inklusive Kurzprofil. Sie stellen ihre Bewerbungsunterlagen<br />

zusammen, beschaffen fehlende Belege wie Arbeitszeugnisse, Referenzen<br />

für freiwillige Engagements, Kursbestätigungen usw. Sie<br />

lernen, wie sie einen wirkungsvollen Bewerbungsbrief erstellen<br />

können und üben Bewerbungstechniken.<br />

Erste Schritte umsetzen: Die Teilnehmerinnen organisieren auch<br />

Schnuppertage und sammeln so aktuelle Erfahrungen im realen<br />

Kontext der Arbeitswelt. Sie erproben die aufgegleiste Kinderbetreuungsorganisation<br />

und machen erste, wichtige Schritte im Loslösungsprozess<br />

von ihren Kindern und in Richtung neuer Tagesstrukturgestaltung.<br />

Erarbeiten eines Aktionsplanes: Jede Teilnehmerin erarbeitet zudem<br />

einen persönlichen kurz- und mittelfristigen Aktionsplan.<br />

Der Fokus liegt hierbei auf konkreten und realisierbaren Umsetzungsschritten.<br />

Zum Abschluss des Programmes wird mit jeder<br />

Teilnehmerin und ihrer Sozialarbeiterin, bzw. ihrem Sozialarbeiter<br />

ein Netzgespräch durchgeführt. Dort wird das Erreichte ausgewertet<br />

und das weitere Vorgehen geplant. So wird sichergestellt, dass<br />

der aufgegleiste Reintegrationsprozess kontinuierlich weiterverfolgt<br />

wird.<br />

Vielfältige Ziele werden erreicht<br />

Das Angebot BIM wird viermal pro Jahr durchgeführt – zweimal<br />

auf Deutsch und zweimal auf Französisch. Pro Gruppe nehmen<br />

rund 8 bis 10 Frauen teil. Insgesamt profitieren so jährlich 32 bis<br />

40 Mütter vom BIM-Angebot.<br />

Während der Programmteilnahme haben die Teilnehmerinnen<br />

verschiedene Zwischenziele erreicht (s. Tabelle). Obwohl es nicht<br />

das Hauptziel des BIM ist, fanden 14 Prozent der Teilnehmerinnen<br />

noch während des laufenden Programmes eine Anstellung im<br />

1. Arbeitsmarkt. Zwei Drittel der Teilnehmerinnen, die keine Stelle<br />

gefunden haben, starteten im Anschluss an das BIM Bildungsund<br />

Qualifizierungsmassnahmen, beispielsweise Sprachkurse,<br />

Beschäftigungsprogramme oder Ausbildungen. Ein Drittel der<br />

Teilnehmerinnen begann mit der aktiven Stellensuche. •<br />

Pia Wegmüller<br />

Informations- und Beratungszentrum frac<br />

PROFILE DER<br />

BIM-TEILNEHMERINNEN<br />

• 60 % haben ihre Schullaufbahn nicht in der<br />

Schweiz absolviert.<br />

• Knapp 40 % haben eine Berufsausbildung<br />

(Schweiz und Ausland).<br />

• 2/3 haben in der Schweiz schon einmal gearbeitet.<br />

• Rund die Hälfte der Kinder sind noch nicht im<br />

Schulalter.<br />

Erreichte<br />

BIM-Ziele<br />

<strong>20</strong>17 bis <strong>20</strong><strong>20</strong><br />

Total 115<br />

Teilnehmerinnen,<br />

7 deutsche und<br />

7 französische<br />

Durchführungen<br />

97 %<br />

100 %<br />

90 %<br />

80 %<br />

70 %<br />

60 %<br />

50 %<br />

40 %<br />

30 %<br />

<strong>20</strong> %<br />

10 %<br />

0 %<br />

Berufliche<br />

Ziele<br />

sind geklärt<br />

93 %<br />

Bewerbungsdossier<br />

ist<br />

bereit<br />

88 %<br />

Alltagsorganisation<br />

Fokus Erwerbsarbeit<br />

ist geklärt<br />

82 %<br />

Kinderbetreuung<br />

ist<br />

organisiert<br />

<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong> SCHWERPUNKT


ALLEINERZIEHENDE<br />

Finanzielles Manko tragen meist die Mütter<br />

Bei Trennungen kann für den Kindesunterhalt ein finanzielles Manko entstehen. Da in diesem Fall<br />

Alleinerziehende die finanzielle Verantwortung tragen, ist ihr Sozialhilferisiko besonderen hoch. Mit<br />

neuen Regelungen wird versucht, das ungelöste Mankoproblem zumindest abzufedern.<br />

Wenn ein Kind überwiegend bei einem Elternteil lebt, hat sich der<br />

andere Elternteil finanziell am Unterhalt zu beteiligen. Insbesondere<br />

bei einkommensschwachen Eltern reichen die Einnahmen aber<br />

häufig nicht, um sowohl das eigene Existenzminimum wie auch den<br />

Unterhalt eines getrenntlebenden Kindes zu decken. In solchen Fällen<br />

besteht für den Kindesunterhalt ein finanzielles Manko.<br />

Zuletzt wurde anlässlich der Revision des Kindesunterhaltsrechts<br />

(<strong>20</strong>15) in den eidgenössischen Räten darüber debattiert, wie mit<br />

solchen Mankofällen umzugehen ist. Weil gemäss Familienrecht<br />

beide Elternteile für den Unterhalt des Kindes verantwortlich sind,<br />

wurde eine sogenannte Mankoteilung als Lösung vorgeschlagen:<br />

Demnach soll ein Manko beiden Eltern zu gleichen Teilen aufgebürdet<br />

werden. Nicht zuletzt aus föderalistischen Gründen war dieser<br />

Vorschlag jedoch nicht mehrheitsfähig. Die bisherige Regelung<br />

der Mankoübertragung blieb bestehen: Das Existenzminimum<br />

eines unterhaltspflichtigen Elternteils geht daher seiner Unterhaltspflicht<br />

vor, weshalb in Mankofällen allenfalls kein oder kein ausreichender<br />

Unterhaltsbetrag festgesetzt werden kann.<br />

Als Folge ist das Sozialhilferisiko für Alleinerziehende besonders<br />

hoch, rund 26 Prozent werden über die Jahre von Sozialhilfe<br />

abhängig, wobei diese Quote für junge Eltern mit kleinen Kindern<br />

über 70 Prozent liegt (Büro BASS, <strong>20</strong><strong>20</strong>). Es besteht daher ein<br />

grosses Interesse an einer Lösung, damit die Unterhaltspflichten<br />

für Kinder von einkommensschwachen Eltern nicht mehrheitlich<br />

vom erziehenden Elternteil, und damit stark überwiegend von<br />

Frauen, getragen werden müssen. Weil Sozialhilfe rückerstattungspflichtig<br />

ist, tragen sie auch diese finanzielle Bürde.<br />

Trennungen sind ein strukturelles Armutsrisiko. Bild: Palma Fiacco<br />

Die Einführung einer Mankoteilung würde aber auch zahlreiche<br />

neue Probleme schaffen. Einerseits ist davon auszugehen, dass bei<br />

Einführung einer Mankoteilung insgesamt mehr Personen auf Sozialhilfeleistungen<br />

angewiesen sein würden, was auch den administrativen<br />

Aufwand erhöht. Gemeinden würden indirekt für die<br />

Existenzsicherung von Kindern zuständig, die allenfalls in einer<br />

anderen Gemeinde oder einem anderen Kanton wohnen. Zudem<br />

wären diverse Anpassungen bei der Bedarfsbemessung der Sozialhilfe<br />

notwendig, um die Unterhaltspflicht für getrenntlebende<br />

Kinder in den Sozialhilfebudgets berücksichtigen zu können.<br />

Neue Regelungen lindern Mankoproblem<br />

Nicht nur praktische Gründe sprechen gegen eine Lösung des<br />

Mankoproblems innerhalb der Sozialhilfe. Scheidungen und Trennungen<br />

stellen heute ein strukturelles Armutsrisiko dar, das nach<br />

einer längerfristigen, zielgerichteten Absicherung verlangt. Mit<br />

Blick auf das mehrstufige Sozialsystem wäre es sinnvoll, dieses Armutsrisiko<br />

im Rahmen einer der Sozialhilfe vorgelagerten Bedarfsleistung<br />

abzudecken. Mit der Alimentenhilfe oder den Ergänzungsleistungen<br />

für Familien bestehen bereits Instrumente, die auf die<br />

Problematik der Unterhaltsschulden ausgerichtet sind. Sie könnten<br />

entsprechend angepasst und schweizweit harmonisiert respektive<br />

überall eingeführt werden.<br />

Während die Diskussion zum Umgang mit Mankofällen andauert,<br />

versucht die SKOS die Probleme mit den geltenden Regeln<br />

zumindest abzufedern. In den revidierten SKOS-Richtlinien,<br />

die den Kantonen per 1. Januar <strong>20</strong>21 zur Anwendung empfohlen<br />

werden, werden Kinder und Jugendliche explizit von der Pflicht<br />

zur Rückerstattung von Sozialhilfeleistungen ausgenommen. Die<br />

Eltern bleiben für diese Leistungen zwar rückerstattungspflichtig,<br />

doch werden die genauen Voraussetzungen für eine solche Rückerstattungspflicht<br />

in den neuen Richtlinien detaillierter geregelt.<br />

Weiterhin gilt, dass Rückerstattungen aus Erwerbseinkommen<br />

nur restriktiv und zeitlich klar beschränkt gefordert werden sollen.<br />

Auch auf Bundesebene sind diverse neue Regelungen geschaffen<br />

worden, die das ungelöste Mankoproblem lindern. Wenn sich<br />

die finanziellen Verhältnisse eines Elternteils verbessern, kann neu<br />

bis fünf Jahre rückwirkend ein angemessener Unterhalt eingefordert<br />

werden (Art. 286a ZGB). Zudem wird die Inkassohilfe für<br />

Kindesunterhalt schweizweit vereinheitlicht. Die neuen Bestimmungen<br />

werden per 1.1.<strong>20</strong>22 in Kraft treten. Der Druck hin zu<br />

einer Lösung von Mankofällen bleibt dennoch gross, und mit der<br />

gegenwärtigen coronabedingten Wirtschaftskrise könnte er noch<br />

weiter steigen. Es ist davon auszugehen, dass das Thema bald<br />

schon wieder politisch diskutiert wird. <br />

•<br />

Dr. iur. Alexander Suter<br />

SKOS-Fachbereich Recht und Beratung<br />

SCHWERPUNKT 3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />


Alimentenbevorschussung: Ungleiche<br />

Voraussetzungen; ungleiche Leistungen<br />

Mit der Bevorschussung von Kindesunterhaltsbeiträgen soll Sozialhilfeabhängigkeit vermieden<br />

werden. Grundvoraussetzungen für die Alimentenbevorschussung (ALBV) sind ein vorhandener<br />

Rechtstitel sowie die gegebene Bedürftigkeit. Die kantonale Ausgestaltung der ALBV ist jedoch sehr<br />

unterschiedlich. Zudem bringt das Inkasso verschiedene Praxisprobleme mit sich.<br />

Die Erfüllung von Unterhaltsbeiträgen ist unverzichtbar. Zu<br />

dieser Erkenntnis gelangte man schon vor langer Zeit. Dennoch<br />

wurde die Idee der Bevorschussung erst in den 1970er-Jahren<br />

geboren und im Verlaufe 1980er Jahren in sämtlichen Kantonen<br />

gesetzlich verankert – dies mit zum Teil sehr unterschiedlichen<br />

Ausprägungen. Obwohl damit unisono das Abrutschen in die<br />

Sozialhilfe verhindert werden sollte, werden bis dato in der Mehrheit<br />

der Kantone nur Kinderunterhaltsbeiträge bevorschusst. Lediglich<br />

die Kantone FR, GE, JU, NE, VD, VS und ZG, als einziger Kanton<br />

der Deutschschweiz, sehen dies auch beim Ehegattenunterhalt vor.<br />

Verschiedene kantonale Eigenheiten<br />

Im Unterschied zur Sozialhilfe, die ebenso eine öffentliche Unterhaltsleistung<br />

im Sinne von Art. 131a Abs. 1/289 Abs. 2 ZGB darstellt,<br />

wird bei der Alimentenbevorschussung (ALBV) das Vorhandensein<br />

eines Rechtstitels (Urteil, Unterhaltsvertrag) vorausgesetzt.<br />

Fehlt nach Auseinanderfallen des Familiengefüges ein solcher, sei<br />

dies, weil unverheiratete Eltern auf eine vorgängige Unterhaltsregelung<br />

verzichtet oder Verheiratete noch keine Trennungsentscheidung<br />

(Eheschutz/Scheidung) erwirkt haben, müssen entsprechende<br />

Gesuche sofort abgewiesen werden.<br />

Liegt ein Rechtstitel vor, kommen unter dem Stichwort Bedürftigkeit<br />

die Vermögens- und Einkommensverhältnisse der Gesuchstellenden<br />

sowie allenfalls ihrer Hausgenossen mit ins Spiel.<br />

Begründet wird dies mit dem öffentlichen Interesse, wonach die<br />

Gelder der öffentlichen Hand grundsätzlich begrenzt sind und<br />

deshalb nur den tatsächlich Bedürftigen zugutekommen sollen.<br />

Dabei stellt jeder Kanton seine eigenen Regeln auf, was aufgrund<br />

seiner Siedlungsstruktur als geboten erscheint. In ländlichen Gegenden,<br />

wo die bewohnten Liegenschaften oftmals im Eigentum<br />

der Gesuchstellenden stehen, erfolgt die Bestimmung des anrechenbaren<br />

Vermögens aus gutem Grund nach andern Grundsätzen<br />

als in den Kantonen, in denen der Mietwohnungsanteil deutlich<br />

über 50 Prozent liegt. Dabei haben wiederum verschiedene<br />

Stadtkantone auf fixe Einkommens- und Vermögensgrenzen verzichtet.<br />

Im Einzelfall werden diese nach Haushaltsgrösse und der<br />

Anzahl darin lebenden Kinder berechnet.<br />

Um dies mit Blick auf die im Kanton Zürich geltende Regelung<br />

zu verdeutlichen: Bei einem Einelternhaushalt mit einem Kind<br />

liegt die Vermögensobergrenze bei 105 000 und die Einkommensobergrenze<br />

bei 53 900 Franken. Bei einem Zweielternhaushalt<br />

mit drei Kindern sind dies 210 000 resp. 91 <strong>20</strong>0 Franken. Aber<br />

auch hier gilt keine Regel ohne Ausnahme. Tessin verzichtet als<br />

einziger Kanton auf den Miteinbezug der finanziellen Verhältnisse.<br />

Auch das gemeinsame Sorgerecht hat nicht viel daran geändert, dass<br />

es meistens Männer sind, die in der Unterhaltspflicht stehen.<br />

Bild: pixelio/Maryline Weyland<br />

22 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong> SCHWERPUNKT


ALLEINERZIEHENDE<br />

Eine weitere kantonale Eigenheit bilden die Höchstbeträge,<br />

womit die zivilrechtlich festgelegten Unterhaltsbeiträge bevorschusst<br />

werden. Im Kanton Tessin werden maximal 700 Franken<br />

pro Monat und Kind ausgerichtet, im Kanton Freiburg 400 Franken/Kind<br />

und 250 Franken/erwachsene Person, während in den<br />

Kantonen BE, BL, LU, SG und ZH die Obergrenze an den Maximalbetrag<br />

der einfachen Waisenrente gemäss Alters- und Hinterlassenenversicherung<br />

(AHVG) gekoppelt wurden. Diese beläuft<br />

sich derzeit auf 948 Franken.<br />

Erfolgt aufgrund der finanziellen Verhältnisse nur eine Teilbevorschussung,<br />

ist der Rest der Beitragsforderung im Zuge der Inkassohilfe<br />

(Art. 131 Abs. 1/290 Abs. 1 ZGB) geltend zu machen.<br />

Ein Bevorschussungsgesuch umfasst deshalb auch immer ein solches<br />

um Inkassohilfe. Im Gegensatz zur ALBV, die aufgrund der<br />

Bundesverfassung in die Zuständigkeit der Kantone fällt, obliegt<br />

die Regelungskompetenz bei der Inkassohilfe dem Bund. Dieser<br />

hat davon in der Vergangenheit Gebrauch gemacht und eine Inkassohilfeverordnung<br />

(InkHV) ausgearbeitet, deren Inkrafttreten<br />

für den 1. Januar <strong>20</strong>22 vorgesehen ist. Damit sollen im Rahmen<br />

der Festlegung eines einheitlichen Minimalstandards die heute<br />

auch bei der Inkassohilfe bestehenden kantonalen Unterschiede<br />

möglichst minimiert werden.<br />

Praxisprobleme beim Inkasso<br />

Bevorschussungsleistungen erfolgen keineswegs à fonds perdu,<br />

sondern sind bei den zur Unterhaltszahlung verpflichteten Personen<br />

wieder hereinzuholen. Auch wenn sich diese Formulierung<br />

um Geschlechtsneutralität bemüht, ist es statistisch nach wie vor<br />

so, dass diese fast ausschliesslich männlicher Natur sind. Daran<br />

hat auch die am 1. Juli <strong>20</strong>14 eingeführte Möglichkeit des gemeinsamen<br />

Sorgerechts nicht viel geändert. Mit der Bevorschussung<br />

wächst das Gemeinwesen zudem in die Gläubigerstellung der unterhaltsberechtigten<br />

Person (Art. 131a Abs. 2/289 Abs. 2 ZGB),<br />

womit es auch das sogenannte Einbringlichkeitsrisiko übernimmt.<br />

Das heisst, wenn sich der Schuldner nach unbekannt ins Ausland<br />

abgesetzt hat oder dieser einfach so untergetaucht ist, was in der<br />

Praxis einer jeder Inkassostelle häufig anzutreffen ist, bleibt das<br />

Gemeinwesen auf seiner Forderung sitzen. Die Ursache dafür ist<br />

nicht etwa in einer zu laschen Gesetzgebung zu suchen, sondern in<br />

dem allgemeinen Umstand, dass es nach unserem Bundesgesetz<br />

über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG) Sache des Gläubigers<br />

ist, zu wissen, wo sich sein Schuldner aufhält. Diese Regel<br />

wird von den Betreibungsämtern strikte angewendet, auch wenn<br />

dies nirgends so im Gesetz festgeschrieben ist. Das Gemeinwesen<br />

Betreibungsgesuche werden<br />

unter Kostenfolge kurzerhand<br />

abgewiesen, wenn der<br />

Schuldner an der angegebenen<br />

Adresse nicht anzutreffen ist.<br />

kann hier somit nicht auf die Hilfe einer anderen staatlichen Institution<br />

zurückgreifen, sondern wird von den Betreibungsämtern<br />

wie ein Fremder behandelt. Betreibungsgesuche (Art. 67 SchKG),<br />

wie auch Fortsetzungsbegehren (Art. 88 SchKG) werden unter<br />

Kostenfolge kurzerhand abgewiesen, wenn der Schuldner an der<br />

angegebenen Adresse nicht angetroffen wird. Anders verhält es<br />

sich bei der Zusammenarbeit mit den Staatsanwaltschaften. Bevorschusste<br />

Unterhaltsforderungen werden vom Tatbestand der Vernachlässigung<br />

von Unterhaltspflichten (Art. 217 StGB) ebenso<br />

miterfasst. Wo sich der Schuldner aufhält, spielt bei einer Anzeige<br />

keine Rolle, weshalb solche Zahlungsfluchten wenigstens strafrechtlich<br />

geahndet werden können, auch wenn sich so kein Geld<br />

direkt hereinholen lässt.<br />

Mit der Einführung des Betreuungsunterhalts (Art. 285 Abs. 2<br />

ZGB), der in der Juristerei oftmals etwas abschätzig als Ehegattenunterhalt<br />

im Kleid des Kinderunterhalts bezeichnet wird, wollte<br />

man die Stellung der Alleinerziehenden verbessern. In der Praxis<br />

der Gerichte wird dies dann auch mit einem Verzicht im Ehegattenunterhaltspunkt<br />

bewerkstelligt. In den Kantonen, die auch<br />

Ehegattenunterhaltsbeiträge bevorschussen, heisst dies nun: Ist<br />

beim Kinderunterhalt die kantonale Obergrenze ausgeschöpft,<br />

erfolgt keine Mehrbevorschussung in der Höhe der Erwachsenenobergrenze,<br />

wenn zugunsten des Betreuungsunterhalts kein Ehegattenunterhalt<br />

festgelegt worden ist. Ebenso hat die Einführung<br />

des Betreuungsunterhalts die Kantone, die nur Kinderunterhaltsbeiträge<br />

bevorschussen, nicht dazu bewogen, ihre Obergrenzen<br />

entsprechend anzuheben. <br />

•<br />

Philip Mani<br />

Stabsjurist Alimentenstelle, Sozialdepartement der Stadt Zürich<br />

SCHWERPUNKT 3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />


«Rollenverteilungen ziehen sich<br />

nach einer Trennung meistens<br />

automatisch weiter»<br />

NACHGEFRAGT Yvonne Feri, Politikerin und Geschäftsführerin des Verbands alleinerziehender<br />

Mütter und Väter (SVAMV), verlangt baldige Evaluationen der Sorgerechts- sowie der<br />

Unterhaltsrechtsrevision. Im Interview spricht sie zudem über schwierige Rahmenbedingungen und<br />

alltägliche Herausforderungen für Alleinerziehende.<br />

«<strong>ZESO</strong>»: Yvonne Feri, Sie waren einst selbst alleinerziehende Mutter<br />

zweier inzwischen erwachsener Töchter. Was ist Ihnen aus dieser Zeit<br />

besonders in Erinnerung geblieben?<br />

Yvonne Feri: Ich erinnere mich daran, dass es sehr anstrengend<br />

war! Ich hatte zwar ein gutes Netzwerk − viele gute<br />

Freunde unterstützten mich. Es fehlte mir aber eine Familie,<br />

die mir helfen konnte. Die Zeit hat mich auch politisch sehr geprägt.<br />

Sie zeigte mir, dass es sich lohnt, um seine Rechte zu<br />

kämpfen und dass man mit Stigmatisierungen nicht zu leben<br />

hat. Auch wurde mir klar, dass soziale und finanzielle Gerechtigkeit<br />

keine Selbstverständlichkeit ist.<br />

Wie geht es den Frauen und Männern, die sich beim SVAMV melden?<br />

Die Personen, die sich bei uns melden, befinden sich oft in<br />

einer akut schwierigen Situation, in der sie auch einfach mal<br />

Dampf ablassen müssen. Es melden sich aber ebenso oft sehr<br />

vorausschauende Personen bei uns, die schon im Vorfeld Abklärungen<br />

treffen wollen, wie ihre Situation im Falle einer Trennung<br />

betreffend Alimente etc. aussehen würde.<br />

Welche Fragen werden am meisten gestellt?<br />

Viele Fragen betreffen die finanzielle Situation, insbesondere<br />

die Höhe des Unterhalts. Häufig geht es auch um Unsicherheiten<br />

und Anliegen in Zusammenhang mit dem Sorge- oder<br />

dem Besuchsrecht, ebenso sind die Betreuungssituationen für<br />

die Kinder ein wichtiges Thema.<br />

Was sind die grössten Herausforderungen für Alleinerziehende im<br />

Alltag?<br />

Alleinerziehende tragen die gesamte Verantwortung alleine<br />

und müssen sämtliche Entscheidungen treffen. Das kann eine<br />

riesige Belastung sein. Daneben gibt es ganz viele konkrete<br />

Herausforderungen, beispielsweise wenn ein Kind krank ist<br />

und man eigentlich zur Arbeit müsste. Während sich andere<br />

die Betreuung teilen können, sind Alleinerziehende auf sich<br />

gestellt. Generell würde ich sagen: Geschieht etwas Unvorhergesehenes,<br />

gerät das Familiensystem schnell ins Wanken.<br />

Alleinerziehende müssen lernen, Hilfe zu fordern und auch anzunehmen.<br />

Alleinerziehende sind heute – im Gegensatz zu früher –<br />

gesellschaftlich akzeptiert. Gibt es dennoch Vorurteile, die sich<br />

aufrecht erhalten haben?<br />

Es gibt tatsächlich immer noch eine gewisse Stigmatisierung<br />

dieses Familienmodelles. Das zeigt sich etwa darin, dass<br />

viele Alleinerziehende hauptsächlich Kontakte zu anderen<br />

Alleinerziehenden pflegen und wenig Austausch mit traditionellen<br />

Familien haben. Dies kann sein, weil man weniger Geld<br />

für Freizeitaktivitäten zu Verfügung hat oder andere Themen<br />

wichtig sind. Es ist auch häufig so, dass nach einer Trennung<br />

Freundschaften zerbrechen.<br />

Gibt es auch Gutes am alleinerziehend sein?<br />

Ja, in der Tat! Man muss beispielsweise keine Erziehungsfragen<br />

mit dem Partner oder der Partnerin aushandeln. Häufig<br />

haben alleinerziehende Eltern und ihre Kinder auch eine besonders<br />

starke Beziehung zueinander. Viele Erlebnisse prägen<br />

sich stärker ein, da man sie nur miteinander teilt. Und Kinder<br />

von Alleinerziehenden werden nach meiner Erfahrung früher<br />

selbstständig.<br />

Von alleinerziehenden Väter wird wenig gesprochen – gibt<br />

es sie eigentlich? Und sind sie mit denselben Problemen wie<br />

alleinerziehende Mütter konfrontiert?<br />

Natürlich gibt es sie. Es sind jedoch lediglich rund 10 Prozent;<br />

90 Prozent der Alleinerziehenden sind Mütter. Alleinerziehende<br />

Väter sind also deutlich in der Minderheit, haben aber<br />

mit denselben Problemen und Herausforderungen zu kämpfen<br />

wie alleinerziehende Mütter. Ich habe jedoch schon öfters individuelle<br />

Geschichten gehört, die mir aufgezeigt haben, dass<br />

alleinerziehende Väter tendenziell eher bedauert und deshalb<br />

stärker von der Gesellschaft unterstützt werden als alleinerziehende<br />

Mütter.<br />

Unter den Personen, die in der Schweiz Sozialhilfe beziehen, stellen<br />

die alleinerziehenden Mütter eine grosse Gruppe dar. Was erachten<br />

Sie als wichtigste Ursache?<br />

Der Hauptgrund ist, dass in der Schweiz das traditionelle Familienmodell<br />

immer noch sehr verbreitet ist, bei dem der Mann<br />

24 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong> SCHWERPUNKT


ALLEINERZIEHENDE<br />

VERBAND FÜR ALLEINERZIEHENDE<br />

Der Schweizerische Verband für alleinerziehende Mütter und<br />

Väter setzt sich seit 1984 für Einelternfamilien und ihre Anliegen<br />

ein. Er engagiert sich mit Beratung und Unterstützungsangeboten,<br />

positioniert sich öffentlich als Interessensvertreter<br />

der Kinder und ihrer alleinerziehenden Eltern und setzt sich<br />

für gute Rahmenbedingungen für Einelternfamilien in der Gesellschaft<br />

ein. Seit <strong>20</strong>19 ist die SP-Politikerin und langjährige<br />

Nationalrätin Yvonne Feri Geschäftsführerin des Verbands.<br />

www.svamv.ch<br />

Yvonne Feri, Geschäftsführerin SVAMV.<br />

Bild: zVg<br />

der hauptsächlich Berufstätige und damit der Ernährer der Familie<br />

ist. Wenn nach einer Scheidung das Geld nicht für zwei<br />

Haushalte reicht, geraten wegen der fehlenden Mankoteilung<br />

daher die Frauen in die Sozialhilfe, während den Männern das<br />

Existenzminimum gelassen wird. Ich finde es sehr problematisch,<br />

wenn diese Frauen die Sozialhilfe dann sogar noch<br />

rückerstatten müssen. Es ist so, dass sich Rollenverteilungen<br />

meistens auch nach einer Trennung automatisch weiterziehen.<br />

Darum sage ich Frauen immer: Bleibt berufstätig! Und Männer<br />

müssen auch bereits während der Beziehung Betreuungsarbeit<br />

leisten, wenn sie diese nach einer Trennung einfordern<br />

wollen.<br />

Haben die Sorgerechtsrevision von <strong>20</strong>14 und die Revision des<br />

Unterhaltsrechts <strong>20</strong>17 für Alleinerziehenden trotz fehlender<br />

Mankoteilung Verbesserungen gebracht?<br />

Ja, sicher. Die Höhe der Unterhaltszahlungen für die Kinder<br />

ist klarer festgelegt und die Betreuungskosten werden eingerechnet.<br />

Aber mein Eindruck ist, dass es in manchen Bereichen<br />

noch an der Umsetzung hapert. Beispielsweise wird die gemeinsame<br />

Obhut nach wie vor zu selten von den Gerichten<br />

zugesprochen. Die Gesetze sind nun einige Jahre in Kraft. Es<br />

ist bald an der Zeit, erste Evaluationen zu verlangen. Die Forderung<br />

nach einer Mankoteilung hat jetzt einige Jahre geruht,<br />

ist aber natürlich nicht vom Tisch. Auch das wird man wieder<br />

thematisieren müssen.<br />

Wo sind weitere Knackpunkte bei den Rahmenbedingungen für<br />

Alleinerziehende?<br />

Zu wenige und teure Kinderbetreuungsplätze sind ein<br />

grosses Thema. Auch fehlende Weiterbildungsmöglichkeiten<br />

für Alleinerziehende sind ein problematischer Punkt. Diese<br />

Rahmenbedingungen machen es Alleinerziehenden schwer,<br />

beruflich weiterzukommen.<br />

Was ist bei der Weiterbildung oder beruflichen Neuorientierung das<br />

Problem?<br />

Es beginnt bei der fehlenden Zeit: Kann man nicht auf ein<br />

Netzwerk zurückgreifen, das einen bei der Kinderbetreuung<br />

entlastet, ist eine Weiterbildung praktisch unmöglich. Dazu<br />

kommen fehlende finanzielle Möglichkeiten, die einer Weiterbildung<br />

oft im Weg stehen. Wir versuchen unseren Ratsuchenden<br />

bei Stipendienanträgen zu helfen und verfügen auch über<br />

einen eigenen Unterstützungsfonds. Bei Alleinerziehenden,<br />

die Sozialhilfe beziehen, ist es besonders schwierig. Die Sozialhilfe<br />

übernimmt kaum Weiterbildungen. Da die Negativspirale<br />

zu durchbrechen, ist sehr schwierig. Es wäre langfristig gesehen,<br />

eine lohnende Investition, wenn in solchen Fällen Weiterbildungen<br />

durch den Staat bezahlt würden.<br />

Wie stehen Alleinerziehende in der Corona-Krise da?<br />

Jede Krise akzentuiert Probleme. Der Verlust von Arbeitsstellen,<br />

wirtschaftliche Einbussen etc. fallen bei Alleinerziehenden<br />

viel mehr ins Gewicht. Während der akuten Krisen-Zeit<br />

hatten wir vermehrt Anfragen zu Umgangs- und Besuchsrecht<br />

in Hinblick auf eine mögliche Infektion. Ansonsten blieb die<br />

Anfrageflut aus. Die Auswirkungen werden sich wohl erst im<br />

Nachgang zeigen. In einigen Monaten ist erstens mit mehr<br />

Geburten zu rechnen. Zweitens sind auch Trennungen und<br />

Scheidungen zu erwarten. Die Krise hat sicherlich für etliche<br />

Menschen gezeigt, dass ihre Beziehung nicht funktioniert. •<br />

Das Gespräch führte<br />

Regine Gerber<br />


Bild: Béatrice Devènes<br />

26 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong>


Die zweite Karriere des Profi-<br />

Fussballers – als sozialer Stürmer<br />

PORTRÄT Ein sportlicher, bärtiger Typ, Tattoos auf den Armen, Haare zusammengebunden, offener Blick<br />

hinter den modischen Brillengläsern. Stephan Frey, hängte vor gut 10 Jahren die Fussballschuhe an<br />

den Nagel und beschloss Sozialunternehmer zu werden.<br />

Stephan Frey, Ex-Stürmer beim FC Basel,<br />

40 Jahre alt, ist heute Coach und Sozialunternehmer.<br />

Damit schlug er einen Weg ein,<br />

der früher für ihn kaum vorstellbar gewesen<br />

wäre. Als Kind und Jugendlicher bestand<br />

die Zukunftsperspektive für den Basler<br />

aus einem Ball, einem Rasen, einem<br />

Tor: Er spielte im Nachwuchs des FC Basel,<br />

war ganz nahe dran, gross rauszukommen.<br />

«Ich hatte wirklich Talent», sagt er. «Doch<br />

nach 18 Jahren hatte ich die Nase voll. Das<br />

war mir zu militärisch.» Die Nachwuchshoffnung<br />

wechselte zum FC Biel und zog<br />

nach Bern um. Mit 29 Jahren realisierte er:<br />

«Ich schaffe es nicht mehr, ganz oben mitzuspielen.»<br />

Sein Leben war der Fussball<br />

gewesen, er hatte kaum andere soziale Kontakte,<br />

wusste nicht, was er anfangen sollte.<br />

Er hatte zwar eine Handelsschule absolviert,<br />

kannte aber die Arbeitswelt ausserhalb<br />

des Fussballs nicht. «Es war eine<br />

schwierige Zeit», sagt Frey.<br />

Doch dann nahm ihn Unternehmensberater<br />

Michael Luginbühl von der Beratungsfirma<br />

Covariaton search unter seine<br />

Fittiche. Frey wurde zum «Lehrling unter<br />

Studierten», wie er sich selber rückblickend<br />

nennt. Der Ex-Fussballprofi machte<br />

eine Führungsausbildung und kickte beim<br />

FC Breitenrain. «Nach sieben Jahren war<br />

ich dann in der Lage, anderen Leuten die<br />

Hand auszustrecken, so wie mir selber die<br />

Hand gereicht worden war», sagt er. Der<br />

Teamplayer merkte, dass ihm die Beratung<br />

von Menschen in Schwierigkeiten ein<br />

wichtiges Anliegen ist. «Im Fussball bist<br />

Du immer in einem fight», sagt er rückblickend.<br />

«Du kannst Dich nicht verletzlich<br />

zeigen. Dabei ist mir der menschliche Zusammenhalt<br />

sehr wichtig.»<br />

Das mütterliche Vorbild<br />

Es war die Zeit der Flüchtlingskrise – und<br />

irgendwann war die Zeit reif fürs «Netzwärk»<br />

(siehe Kasten), das Frey mit seinem<br />

Freund Reto Regez gründete. Vielleicht<br />

war es kein Zufall, dass er diesen Weg einschlug:<br />

Freys Mutter näht für eine soziale<br />

Institution Taschen aus Kaffeeverpackungen,<br />

engagiert sich gegen Foodwaste. «Soziale<br />

Gerechtigkeit, sich einsetzen für andere,<br />

hinschauen und solidarisch sein<br />

– das hat sie mir wohl schon mitgegeben»,<br />

sagt Frey. Beim FC Basel war er einer der<br />

wenigen Schweizer. Der Umgang mit verschiedenen<br />

Kulturen war ihm also nicht<br />

neu.<br />

Beim FC Basel war<br />

er einer der wenigen<br />

Schweizer. Der Umgang<br />

mit verschiedenen<br />

Kulturen war<br />

ihm also nicht neu.<br />

Am Anfang von Netzwärk standen «Sensibilisierungsanlässe»,<br />

wie Frey es nennt.<br />

«Mitenand ässe, mitenand tanze.» Später<br />

kamen grössere Events mit mehreren<br />

hundert Teilnehmenden dazu. «Das war<br />

ein grosser Erfolg», erinnert er sich. «Aber<br />

wir merkten, dass solche Veranstaltungen<br />

nicht nachhaltig sind.» Die Freunde<br />

wollten einen echten Mehrwert schaffen.<br />

«Das war knallharte Arbeit», sagt Frey. Ein<br />

Jahr lang recherchierten sie, wie ein Sozialwerk<br />

aufgestellt sein muss, damit auch den<br />

Bedürfnissen der Wirtschaft Rechnung getragen<br />

werden kann.<br />

Eines wurde dabei besonders klar: «Das<br />

Fachliche kannst Du lernen», sagt Frey.<br />

Viel wichtiger sei es für Flüchtlinge, an<br />

der persönlichen Entwicklung zu arbeiten,<br />

in der Schweiz anzukommen, die Kultur<br />

zu verstehen. Daraus entwickelte Frey das<br />

«Inclusion Programm», einen dreimonatigen<br />

Kurs, in dem die Teilnehmenden<br />

vor allem viel über sich lernen, über ihre<br />

Stärken, aber auch ihr Verhalten. Das<br />

Stichwort dazu: «Empowerment». Es geht<br />

darum, dass die Teilnehmenden eine neue<br />

Mentalität entwickeln: nämlich proaktiv<br />

werden, weg von der Erfahrung, immer in<br />

der Nehmer-Haltung zu sein. Nach dieser<br />

«Lebensschule» können sie in ein Arbeitspraktikum<br />

in ausgewählten Betrieben<br />

vermittelt werden. «Viele Geflüchtete werden<br />

hier einfach an die Hand genommen.<br />

Bei uns lernen sie Selbständigkeit.» Wer<br />

am Programm teilnehmen möchte, muss<br />

sich bewerben, die Plätze sind beschränkt. <br />

Wichtig ist für Frey, dass die Flüchtlinge die<br />

Nehmerhaltung verlassen.<br />

Bilder: zvg<br />

3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />

27


Wer am Programm<br />

teilnehmen möchte,<br />

muss sich bewerben,<br />

die Plätze sind<br />

beschränkt.<br />

Dafür sind die Teilnehmenden dann auch<br />

hochmotiviert für die Arbeit – mehr, als<br />

wenn sie von der Sozialhilfe einfach irgendwo<br />

platziert werden.<br />

Mal wieder durchatmen<br />

Seit vier Jahren existiert der Verein Netzwärk<br />

– und Geschäftsleiter Frey möchte<br />

mindestens noch ein «grosses Ding damit<br />

reissen»: Der Verein hat bei der Stadt Bern<br />

ein Betriebskonzept für die Übernahme<br />

der Villa Stucki eingereicht. Bereits in den<br />

letzten Jahren fanden dort regelmässig kulinarische<br />

Veranstaltungen des Netzwärk-<br />

Inklusionsprojekts statt. «Ich hoffe sehr,<br />

dass ich das umsetzen kann», sagt Frey.<br />

Viel mehr Gedanken über die Zukunft hat<br />

er sich noch nicht gemacht. Im Herbst<br />

schliesst er an der Berner Fachhochschule<br />

das CAS Innovation ab. «Ein Grund dafür<br />

war, wieder mal einen neuen Blickwinkel<br />

zu bekommen. Ich achte etwas zu wenig<br />

auf mich selbst», sagt er. «Ich hatte in den<br />

letzten Jahren kaum mehr Zeit zum Durchatmen.»<br />

Durchatmen – das tut er vor allem<br />

im Yoga. Und irgendwann hofft er, wieder<br />

EIN NETZWERK FÜR BILDUNG, BERUF UND GAUMEN<br />

<strong>20</strong>16 gründeten Stephan Frey und Reto<br />

Regez den Verein Netzwärk als Kompetenzzentrum<br />

für inklusive Bildungsangebote.<br />

Frey und Regez hatten sich zum Ziel gesetzt,<br />

zum führenden Anbieter von ganzheitlichen<br />

Potenzialentwicklungsprogrammen für<br />

geflüchtete Menschen in der Schweiz zu<br />

werden. Netzwärk umfasst drei Bereiche:<br />

Inclusion, Job-Coaching und Gastronomie.<br />

Das Inclusion-Program bereitet zwei Mal<br />

jährlich maximal 12 Teilnehmende gezielt auf<br />

die Anforderungen des Schweizer Arbeitsmarkts<br />

vor. Im Zentrum steht die persönliche<br />

Entwicklung. Dabei lernen die Teilnehmenden<br />

eigenverantwortlich und selbstorganisiert<br />

zu handeln. Zusätzlich werden fachliche<br />

Kompetenzen vermittelt, die wichtig für den<br />

Beruf und die soziale Partizipation sind. Die<br />

Teilnehmenden lernen beispielsweise, wie<br />

sie einen Lebenslauf erstellen oder wie sie<br />

sich in einem Vorstellungsgespräch korrekt<br />

verhalten. Diese Kombination aus Hard- und<br />

Softskills erhöht die nachhaltige Integration<br />

in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft.<br />

Durch die vermittelten Praktikumseinsätze<br />

erhalten die Teilnehmenden nicht nur Einblick<br />

in die Arbeitswelt, sondern fördern auch ihre<br />

berufliche Entwicklung. Dabei werden sie von<br />

Job-Mentoren begleitet und von Netzwärk<br />

über den Jobeinstieg hinaus unterstützt.<br />

auf Reisen gehen zu können, besonders die<br />

südostasiatischen Länder haben es ihm angetan.<br />

Wenn er nochmal anfangen könnte,<br />

würde er etwas ändern? Frey überlegt<br />

kurz. «Vielleicht hätte ich damals beim FC<br />

Das Programm wird durch die Gesundheits-,<br />

Sozial- und Integrationsdirektion<br />

des Kantons Bern teilfinanziert. Es besteht<br />

ein Kontingent für Sozialwerke, wodurch<br />

der Kurs für die Teilnehmenden kostenlos<br />

ist. Die Absolvierenden werden über einen<br />

Personalverleihvertrag an Unternehmen<br />

vermittelt. Der Verein Netzwärk wickelt<br />

dabei alle administrativen Aufwände<br />

wie Lohnwesen, Arbeitsbewilligungen<br />

oder Versicherungen ab und fungiert als<br />

Drehscheibe zwischen den Firmen, den<br />

Teilnehmenden, den Sozialwerken und dem<br />

Migrationsdienst.<br />

Im Bereich Job-Coaching unterstützt<br />

Netzwärk Menschen mit Migrations- oder<br />

Fluchthintergrund bei der Suche nach einer<br />

geeigneten Anstellung. Im Rahmen des<br />

Job-Coachings erfolgt eine individuelle<br />

Begleitung der Kandidatinnen und Kandidaten,<br />

die situativ auf deren Bedürfnisse<br />

angepasst wird. Die Job-Coaches unterstützen<br />

die jeweiligen Kandidaten während<br />

des gesamten Prozesses persönlich und<br />

werden dadurch zu einer Vertrauensperson.<br />

Das Catering «Gaumenliebe» bietet<br />

geflüchteten Menschen eine berufliche<br />

Grundlage und ist mittlerweile so gut etabliert,<br />

dass sogar schon Bundespräsidentin<br />

Simonetta Sommaruga bekocht wurde.<br />

Basel noch ein Jahr beissen sollen», sagt<br />

er. Und schiebt dann entschlossen nach:<br />

«Aber ich denke, ich habe das Beste draus<br />

gemacht.»<br />

•<br />

Astrid Tomczak-Plewka<br />

Im Zentrum der Ausbildung steht die persönliche Entwicklung. Die Teilnehmenden lernen eigenverantwortlich und selbstorganisiert zu handeln. <br />

28 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong>


Das Thema Sozialhilfe in den<br />

Schweizer Medien<br />

FACHBEITRAG «Sozialhilfemissbrauch», «Sozialhilfebetrug» oder «Sozialbetrug» sind Schlagwörter,<br />

die es regelmässig in Titel der Schweizer Medien schaffen. Die Skandalisierung von Einzelfällen<br />

scheint an der Tagesordnung. Weil die Medienberichterstattung auch die gesellschaftliche<br />

Wahrnehmung prägt, hat das Sozialdepartement der Stadt Zürich eine Analyse des medialen<br />

Diskurses zur Sozialhilfe bei der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in<br />

Auftrag gegeben. Die Ergebnisse liegen nun vor.<br />

Vor dem Hintergrund steigender Kosten,<br />

längerer Bezugsdauern und den sich veränderten<br />

Ursachen für den Bezug von Sozialleistungen<br />

steht die soziale Sicherung vor<br />

grossen Herausforderungen. Genau darum<br />

steht das Sozialhilfesystem in den letzten<br />

Jahren immer wieder im Fokus des öffentlichen<br />

Interesses.<br />

Dabei sind sowohl das System als auch<br />

die Menschen, die auf Unterstützung<br />

angewiesen sind, vor allem im medialen<br />

Diskurs immer wieder und zum Teil<br />

massiv unter Beschuss geraten. Während<br />

sich die eigentliche Fachdebatte um Fragen<br />

zur Fallbelastung der Fachpersonen<br />

in der Sozialhilfeberatung oder über die<br />

möglichen Ursachen für den Nichtbezug<br />

von Sozialhilfe drehte, reichen die Inhalte<br />

der journalistischen Massenmedien von<br />

Themen wie den rechtlichen Rahmensetzungen<br />

über die Höhe des Grundbedarfs<br />

bis hin zur lautstarken Skandalisierung<br />

von Einzelfällen. Mit bunten Bildern und<br />

in grossen Lettern berichteten die Medien<br />

mitunter tage-‐und wochenweise über<br />

vermeintliche Betrugsfälle, in denen Sozialhilfebeziehende<br />

die ihnen zustehenden<br />

Leistungen offenbar nicht zweckmässig<br />

verwendeten.<br />

Von wenigen – gelegentlich nur vermuteten<br />

– Rechtsübertretungen ausgehend,<br />

die vom Schweizer Boulevard angeprangert<br />

werden, gerät die Sozialhilfe auch in den<br />

sogenannten Qualitätsmedien immer wieder<br />

unter Generalverdacht. Mit Folgen für<br />

die staatlichen Akteure: Die Sozialdienste<br />

sehen sich zunehmend dem Vorwurf ausgesetzt,<br />

einem System von «Trittbrettfahrern»<br />

und «Profiteuren» des Sozialstaats nur<br />

mehr ohnmächtig und mit wirkungsloser<br />

Bürokratie gegenüberzustehen.<br />

Die demokratiefördernde Rolle der<br />

Massenmedien<br />

Die journalistischen Medien werden in unserer<br />

Demokratie oft als «vierte Gewalt» betitelt.<br />

Sie bilden Meinungen, schaffen öffentliche<br />

Diskurse und liefern Fakten um<br />

ebendiese Meinungen der Bevölkerung zu<br />

untermauern. Dort wo es angebracht ist,<br />

üben sie aber auch die nötige Kritik – als<br />

sinnbildlich vierte Gewalt.<br />

Doch auch die Medien müssen ihr eigenes<br />

Handeln kritisch hinterfragen lassen,<br />

da auch sie nicht frei von Vereinfachungen<br />

und Polarisierungen sind, speziell im<br />

Kontext von kontroversen gesellschaftspolitischen<br />

Fragen. Im Hinblick auf den<br />

medialen Diskurs zur Sozialhilfe liegt die<br />

Vermutung nahe, dass vor allem die Skandalisierung<br />

von Einzelfällen dem Drang<br />

nach emotionalen Schlagzeilen geschuldet<br />

ist, der schlussendlich auf Kosten einer differenzierten<br />

Berichterstattung geht.<br />

Diskurs der Print- und Online-Medien<br />

im Fokus<br />

Diese These wollte das Sozialdepartement<br />

der Stadt Zürich prüfen lassen. Sie hat deshalb<br />

ein interdisziplinäres Team der Zürcher<br />

Hochschule für Angewandte Wissenschaften<br />

(ZHAW) beauftragt, den medialen<br />

Diskurs zur Sozialhilfe in der Schweiz zwischen<br />

den Jahren <strong>20</strong>10 und <strong>20</strong>19 umfassend<br />

zu untersuchen. Der Fokus lag dabei<br />

auf Berichterstattung Schweizer Print- und<br />

Online-Medien. Ziel war es, den Mediendiskurs<br />

zur Sozialhilfe zu beleuchten und<br />

herauszufinden, welche bestimmten Aspekte<br />

resp. Ursachen von Sozialhilfe von<br />

den Autoren der betreffenden Medien in<br />

den Fokus genommen werden. Auch wollte<br />

man herausfinden, wie die Medien Sozialhilfe<br />

als «Problem» bzw. gesellschaftliche<br />

Herausforderung bewerten und welches<br />

Gesamtbild über die Sozialhilfe auf dieser<br />

Grundlage entsteht. Es sollte verständlich<br />

gemacht werden, welche allgemeinen Tendenzen<br />

und konkreten Ereignisse in Bezug<br />

auf die Sozialhilfe medial verbreitet werden.<br />

Nicht zuletzt ging es auch darum, gesicherte<br />

Grundlagen für eine Diskussion<br />

über die Rolle der Medien im schweizerischen<br />

Sozialhilfediskurs zu schaffen.<br />

Diskursanalyse als Untersuchungsmethode<br />

Unter einem Diskurs wurden dabei nicht in<br />

erster Linie bestimmte Debatten oder Diskussionen<br />

verstanden, sondern die kommunikativen<br />

Bedingungen, die das Denken<br />

und Sprechen über die Sozialhilfe prägen<br />

und leiten. Nach diesem Verständnis sorgen<br />

regelhaft wiederkehrende sprachliche Äusserungen<br />

(z.B. Wörter, Wortverbindungen<br />

und Phrasen) dafür, dass in einer bestimmten<br />

Art und Weise über Sozialhilfe geschrieben<br />

wird. Mit der Analyse dieser wiederkehrenden<br />

Muster lassen sich sowohl der<br />

mediale Mainstream belegen, aber auch<br />

Unterschiede innerhalb der Presse.<br />

Zentrale Erkenntnisse der Analyse<br />

Die Massenmedien thematisieren die Sozialhilfe<br />

weitestgehend abstrakt und simplifiziert<br />

und fokussieren sich in ihrer Berichterstattung<br />

auf die aufgewendeten Geldleistungen.<br />

Leistungen im Bereich der persönlichen<br />

Hilfe und Beratung finden kaum<br />

Eingang in die Berichterstattung. Auch die<br />

persönlichen und individuellen Lebensumstände<br />

der Bezügerinnen und Bezüger werden<br />

– ausserhalb der Skandalisierung von<br />

Einzelfällen – nicht präsentiert. Dieser Fo-<br />

3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />

29


«Der Wind<br />

hat sich<br />

gedreht»<br />

kus auf diese Gegebenheiten erschweren<br />

eine echte Debatte über die Ziele der Sozialhilfe,<br />

nämlich Menschen die Überbrückung<br />

einer Notlage zu ermöglichen. Damit<br />

ist das für eine Solidargemeinschaft<br />

wichtige gemeinschaftsstiftende Element<br />

der wechselseitigen Unterstützung wenig<br />

bis gar nicht präsent.<br />

Auch die moderne Sozialstaatsprämisse<br />

«Fördern und Fordern» wird im medialen<br />

Diskurs so fast ausschliesslich auf das Fordern<br />

bzw. auf die Kontrolle und Sanktionierung<br />

von Verfehlungen verkürzt. In<br />

dieser Perspektive erscheint die Sozialhilfe<br />

allgemein als entpersonifizierter Verwaltungsakt,<br />

dessen ordnungsgemässer<br />

Vollzug von Systemfehlern beeinträchtigt<br />

wird. Dementsprechend technokratisch<br />

und unter Ausschluss der Lebenswelt der<br />

Leistungsbeziehenden dreht sich die Debatte<br />

auch hauptsächlich um die Anpassung<br />

zentraler Systemparameter wie zum<br />

Beispiel die Höhe des Grundbedarfs.<br />

Im Gesamtbild ergibt sich daraus das<br />

Bild einer grossen gesellschaftlichen Herausforderung,<br />

die es durch grosse Anstrengungen<br />

von Politik und Verwaltung<br />

zu meistern gilt. Im Diskurs wird eine<br />

Drohkulisse aufgebaut, die Emotionen<br />

wie Angst, Wut oder Ohnmacht erzeugen.<br />

Demgegenüber wird die Idee der solidarischen<br />

Hilfe – anders als bei der medialen<br />

Darstellung beispielsweise des AHV-Systems<br />

– im Grunde nicht vermittelt.<br />

Fazit der Analyse<br />

Alles in allem betrachtet, behandelt der<br />

massenmediale Diskurs die Sozialhilfe selektiv<br />

und abstrakt und blendet die Realität<br />

von Sozialhilfebeziehenden mehrheitlich<br />

aus. Auch wenn in der medialen Berichterstattung<br />

nicht durchgängig mit «offenem<br />

Visier» gegen die Sozialhilfe zu Felde gezogen<br />

wird, sind im Hinblick auf die Auswahl,<br />

Darstellung und Gewichtung von<br />

Themen, Begriffen und Akteuren Zweifel<br />

angebracht, ob die Medien ihrer Rolle als<br />

objektive Beobachter zu jedem Zeitpunkt<br />

vollumfänglich nachkommen. Mit einer<br />

stärkeren Berücksichtigung dessen, was<br />

die Sozialhilfe über Geldleistungen hinaus<br />

ausmacht, könnten sie lohnende Ansatzpunkte<br />

für eine konstruktive Debatte über<br />

die Zukunft der Sozialhilfe schaffen. •<br />

Heike Isselhorst<br />

Sozialdepartement Stadt Zürich<br />

www.stadt-zurich.ch/sd-diskursanalyse<br />

PERSONEN Ernst Reimann ist<br />

als langjähriger Direktor im Amt<br />

für Zusatzleistungen der Stadt<br />

Zürich in Pension gegangen. Ein<br />

Rückblick auf 30 Jahre Sozialpolitik.<br />

«<strong>ZESO</strong>»: Sie haben die Sozialpolitik<br />

über Jahrzehnte beobachtet. Welche<br />

Fragestellungen haben sich verändert?<br />

Ernst Reimann: Bei den bedarfsorientierten<br />

Sozialleistungen hat sich der Wind<br />

gedreht. Anfang der 90er-Jahre ging zum<br />

Beispiel die EL-Debatte in Richtung automatische<br />

Prüfung/Auszahlung. Die aktuelle<br />

EL-Reform weist nur Zugangsbeschränkungen<br />

und Leistungsverschlechterungen<br />

auf, denn die Anpassung der Mieten hat<br />

mit der Reform ja nichts zu tun. Es ist die<br />

erste Abbaurevision seit Einführung der EL<br />

1966. Trotzdem schreien weite Kreise nach<br />

weiteren, «echten» Abbaumassnahmen.<br />

Als Direktor des Amtes für Zusatzleistungen<br />

kennen Sie die Schnittstellen<br />

zwischen EL und Sozialhilfe bestens.<br />

Welches sind dabei die grössten Herausforderungen?<br />

Die Schnittstellen sind rein technischer<br />

Natur, man kommt sich nicht ins Gehege.<br />

Fakt ist: Die EL sind gesellschaftspolitisch<br />

breiter und besser akzeptiert als die Sozialhilfe.<br />

Dennoch ist nicht zu verkennen, dass<br />

das Einprügeln auf die Sozialhilfe auch EL-<br />

Kollateralschäden zur Folge hat. Die vorliegende<br />

EL-Abbaureform wäre ohne das<br />

Schlechtmachen von bedarfsorientierten<br />

Leistungen nicht möglich gewesen.<br />

Welche Anpassung braucht das System<br />

der sozialen Sicherheit aus Ihrer Sicht?<br />

Man kann das Fehlen einer Gesamtkonzeption<br />

der sozialen Sicherheit bedauern.<br />

Es ist aber als gegeben hinzunehmen.<br />

Trotzdem finde ich, dass das Silodenken in<br />

den einzelnen Systemen immer unzureichender<br />

wird und mehr Flexibilität über<br />

Bild: zVg<br />

das Gesamtsystem gegeben sein müsste.<br />

Das Hauptproblem aber ist meines Erachtens,<br />

dass die parteiübergreifende Kompromissbereitschaft<br />

zur Lösungssuche<br />

nicht mehr gegeben ist. Bedenklich ist<br />

doch, dass die letzte erfolgreiche AHV-<br />

Reform in der Ära von Ruth Dreifuss stattfand,<br />

die <strong>20</strong>02 zurücktrat.<br />

Fachleute fordern eine bedarfsorientierte<br />

Existenzsicherung anstelle der<br />

Sozialhilfe. Das Modell orientiert sich<br />

an der EL. Was halten Sie davon?<br />

Eine generelle bedarfsorientierte<br />

Existenzsicherung nach dem EL-Prinzipund<br />

deren Leistungshöhe wäre ein deutlich<br />

ausgeweitetes garantiertes Grundeinkommen,<br />

also unfinanzierbar und nicht<br />

ansatzweise mehrheitsfähig. Mit den Überbrückungsleistungen<br />

beispielsweise wird<br />

– hoffentlich – einiges erreicht. Für mich<br />

ist klar, dass Personen, die über Jahrzehnte<br />

erwerbstätig waren und die ihren Beitrag<br />

in der Gesellschaft auch über Steuern und<br />

Sozialversicherungsabgaben geleistet haben<br />

und die nun bei der ALV ausgesteuert<br />

sind, nicht einfach über die Sozialhilfe und<br />

deren Leis tungsniveau abgespiesen werden<br />

dürfen.<br />

Sie waren viele Jahre Mitglied der<br />

Kommission Sozialpolitik und Sozialhilfe<br />

und kennen die SKOS gut. Wie<br />

haben Sie ihre Entwicklung erlebt?<br />

Die Arbeit der SKOS-Gremien hat mich<br />

immer beeindruckt. Kenntnisreich, nimmermüde,<br />

auch bei viel Zugluft Gegensteuer<br />

geben, das ist nicht leicht. Was viel<br />

Kraft kostet und vielleicht zu lange nicht<br />

konsequent genug gemacht wurde: Die<br />

Debatte in den Kommunen und Kantonen<br />

knochenhart, beharrlich und faktenbasiert<br />

zu führen. Der Ausgang über eine<br />

Abbaurevision im Kanton Bern hat mich<br />

doppelt gefreut: Die Forderung nach einer<br />

Leistungsreduktion konnte erfolgreich abgewehrt<br />

werden, der Baukasten zum politischen<br />

Erfolg steht. <br />

•<br />

Das Gespräch führte Markus Kaufmann<br />

30 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong>


Covid-Monitoring der SKOS:<br />

Fallzahlen bleiben insgesamt stabil<br />

FACHBEITRAG Die ersten Monate des Corona-Monitorings der SKOS zeigen insgesamt einen geringen Anstieg<br />

der Fallzahlen. Die SKOS geht jedoch davon aus, dass sich die Sozialhilfe in mittlerer Zukunft auf<br />

einen starken Anstieg der Fallzahlen vorbereiten muss. Mit dem monatlichen Monitoring der Fallzahlen<br />

beobachtet die SKOS die Auswirkungen der Krise aus Sicht der Sozialhilfe.<br />

Gesamtschweizerisch ist in der Sozialhilfe<br />

seit Beginn der Corona-Krise ein leichter<br />

Anstieg der Fallzahlen festzustellen. Der<br />

Anstieg gegenüber dem Durchschnittsmonat<br />

<strong>20</strong>19 beträgt per Ende Juli <strong>20</strong><strong>20</strong><br />

2 Prozent. Der Anstieg gegenüber Februar<br />

<strong>20</strong><strong>20</strong> (Beginn der Corona-Krise) beträgt<br />

2,7 Prozent. Gegenüber dem Vormonat<br />

Juni sind die Fallzahlen um 0,1 Prozent<br />

gestiegen.<br />

Etwas deutlicher war der Anstieg per<br />

Ende Juli in der Romandie (+ 3,7 Prozent)<br />

und in der Zentralschweiz (+ 4,8 Prozent).<br />

In den Regionen Nordwestschweiz (+ 0,2<br />

Prozent), Ostschweiz (+ 1,3 Prozent) und<br />

im Kanton Tessin (+ 0,5 Prozent) ist er verschwindend<br />

gering.<br />

Die SKOS geht davon aus, dass sich der<br />

durch die Corona-Krise bedingte Anstieg<br />

erst nach einigen Monaten in der ganzen<br />

Schweiz bemerkbar machen wird. Im Moment<br />

wirken nach wie vor die Instrumente<br />

der Arbeitslosenversicherung (Kurzarbeit,<br />

verlängerter Taggeldbezug) und die Corona-Erwerbsersatzentschädigung,<br />

die vom<br />

Bundesrat bis im September verlängert<br />

wurde. Ferner wird Sozialhilfe erst bewilligt,<br />

wenn das Vermögen aufgebraucht ist.<br />

Die bestehenden Auswertungen der<br />

Sozialhilfestatistik und der Kennzahlenbericht<br />

der Städteinitiative Sozialpolitik werden<br />

jeweils im Nachfolgejahr erstellt und<br />

können keine kurzfristige Entwicklungen<br />

erkennen. In Koordination mit dem Bundesamt<br />

für Statistik (BFS) realisiert die<br />

SKOS deshalb ein monatliches Monitoring<br />

zu den Fallzahlen. Dieses ist jedoch nicht<br />

mit den Zahlen des BFS kompatibel. Die<br />

teilnehmenden Gemeinden und Kantone<br />

repräsentieren 58 Prozent der Sozialhilfebeziehenden<br />

in der Schweiz. Die herangezogenen<br />

Vergleichsdaten beruhen auf bestehenden<br />

Reportings der Sozialdienste. •<br />

Andrea Beeler<br />

Bieler Tagung, 2. November <strong>20</strong><strong>20</strong><br />

Der steinige Weg in den ersten<br />

Arbeitsmarkt<br />

Die berufliche Integration von unterstützten Personen ist eine wichtige<br />

Aufgabe der Sozialdienste. Doch gelingt die nachhaltige Integration in den<br />

ersten Arbeitsmarkt trotz aller Massnahmen und Anstrengungen oft<br />

nicht. Gibt es für arbeitsfähige Personen, die von der Sozialhilfe unterstützt<br />

werden, Platz im ersten Arbeitsmarkt? Welche Bedingungen stellen<br />

Arbeitgeber an die Anstellung der meist gering qualifizierten Personen?<br />

Wie können existenzsichernde Jobs und Tätigkeitsfelder für Menschen mit<br />

Leistungseinschränkungen oder Sprachschwierigkeiten aussehen?<br />

Die Bieler Tagung <strong>20</strong><strong>20</strong> bietet eine Plattform für Präsentationen und Diskussionen.<br />

Praktikerinnen und Praktiker erhalten Inputs und Impulse für ihre<br />

tägliche Arbeit.<br />

Anmeldung bis 16. Oktober <strong>20</strong><strong>20</strong><br />

Programm und Anmeldungen unter www.skos.ch/Veranstaltungen<br />

MASKEN FÜR SOZIALHILFE-<br />

BEZIEHENDE PERSONEN<br />

Da der Bundesrat ab 6. Juli eine Maskenpflicht<br />

für den öffentlichen Verkehr erlassen hat,<br />

empfiehlt die SKOS die kostenlose Abgabe von<br />

Masken oder die Rückerstattung der Kosten.<br />

Sozialhilfebeziehende sollen Masken in der Regel<br />

nicht aus dem Grundbedarf bezahlen müssen.<br />

Die SKOS empfiehlt, dass die Kosten für die Masken<br />

als grundversorgende situationsbedingte<br />

Leistung (SIL) übernommen werden. Dies für<br />

Personen, die Sozialhilfe beziehen und den öffentlichen<br />

Verkehr nutzen müssen (Schülerinnen<br />

und Schüler ab 12 Jahren, Arbeitnehmende,<br />

Teilnehmende an Massnahmen zur beruflichen<br />

und sozialen Integration, medizinische und<br />

therapeutische Termine etc.). Alternativ können<br />

Sozialdienste eine einmalige SIL-Pauschale in der<br />

Höhe der Kosten für vier geprüfte Stoffmasken<br />

pro Person ausrichten. Eine kostenlose Abgabe<br />

von geeigneten Masken ist für die Sozialdienste<br />

eine weitere aufwandreduzierende Möglichkeit.<br />

(SKOS)<br />

3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />

31


Bekämpfung der Armut in der EU<br />

FACHBEITRAG Seit Jahrzehnten steht das Thema Armutsbekämpfung auf der Agenda der Europäischen<br />

Union. Immer wieder haben Krisen wie die der Finanzmärkte oder derzeit die Corona-Pandemie zu Rückschlägen<br />

geführt. Die EU-Kommission und das EU-Parlament sprechen sich für einen EU-Rahmen für<br />

Grundsicherungssysteme aus, um Armut und soziale Ungleichheit in der EU dauerhaft zu bekämpfen. Der<br />

Deutsche Verein für Fürsorge hofft nun in Anbetracht der deutschen Ratspräsidentschaft auf Fortschritte.<br />

Im Jahr <strong>20</strong>10 hat sich die EU im Rahmen<br />

ihrer übergreifenden Strategie «Europa<br />

<strong>20</strong><strong>20</strong> – Eine Strategie für intelligentes,<br />

nachhaltiges und integratives Wachstum»<br />

verpflichtet, bis <strong>20</strong><strong>20</strong> mindestens <strong>20</strong> Millionen<br />

Menschen aus Armut und sozialer<br />

Ausgrenzung zu holen; der Referenzwert<br />

betrug 1<strong>20</strong> Millionen Menschen, die im<br />

Jahr <strong>20</strong>08 in Armut lebten. Dieses Ziel<br />

wäre auch ohne die COVI-19-Pandemie<br />

nicht erreicht worden. Im Jahr <strong>20</strong>18 waren<br />

mehr als 109 Millionen Menschen in<br />

der EU armutsgefährdet, was einem Bevölkerungsanteil<br />

von 21,7 Prozent entspricht.<br />

Wie die Zahlen gedreht und gewendet<br />

werden: Die EU hat ihr Ziel verfehlt und<br />

die Corona-Pandemie wird noch nicht<br />

vollständig absehbare wirtschaftliche und<br />

soziale Folgen haben und in allen Ländern<br />

der EU die Armutsquote nach oben treiben.<br />

Darum braucht es jetzt einen Ansatz,<br />

der Armut effektiv bekämpfen kann. Die<br />

Einführung eines Rahmens für Grundsicherungssysteme<br />

ist ein solcher Ansatz, der<br />

von vielen Akteuren gefordert wird. Schon<br />

in der Europäischen Säule sozialer Rechte,<br />

die von der EU im Jahr <strong>20</strong>17 proklamiert<br />

wurde, wird das Recht auf ein Mindesteinkommen<br />

eingefordert.<br />

Grundsicherungssysteme gelten als<br />

wirksames Mittel gegen Armut<br />

Die Europäische Kommission hat in den<br />

letzten Monaten eine Zusammenstellung<br />

des Ist-Zustandes der Grundsicherungssysteme<br />

in allen Mitgliedsstaaten erarbeiten<br />

lassen, die leider (noch) nicht veröffentlicht<br />

ist. Aber auch ohne diese Übersicht ist<br />

klar, dass Grundsicherungssysteme in den<br />

EU-Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich<br />

ausgestaltet sind, was sich darin zeigt, dass<br />

einige steuerfinanziert und andere beitragsfinanziert<br />

sind. In einigen Ländern ist<br />

die Dauer der Zahlungen begrenzt, in anderen<br />

Ländern gibt es Abstufungen in der<br />

GRUNDSICHERUNGSSYSTEME<br />

Grundsicherungs- oder Mindesteinkommenssysteme<br />

bieten ein Sicherheitsnetz für<br />

Menschen, die – unabhängig davon, ob sie<br />

erwerbstätig oder nicht erwerbstätig sind<br />

– nicht über ausreichende finanzielle Mittel<br />

zur Unterstützung verfügen, und die keinen<br />

Anspruch auf versicherungsbasierte Sozialleistungen<br />

haben oder deren Ansprüche abgelaufen<br />

sind. Es handelt sich um Systeme,<br />

die einen Mindestlebensstandard für die<br />

betroffenen Personen und ihre Angehörigen<br />

gewährleisten sollen.<br />

Link zur Dokumentation zur Veranstaltung «Wege<br />

aus der Armut – Ein Rahmen für nationale Grundsicherungssysteme<br />

in den EU-Staaten»:<br />

www.deutscher-verein.de/de/internationale-europaeische-sozialpolitik-1136.html<br />

Nicolas Schmit, EU-Kommissar für<br />

Beschäftigung und Soziales, spricht sich<br />

für einen EU-Rahmen für Grundsicherungssysteme<br />

aus. <br />

Bild: dv<br />

Höhe. Dass man diese unterschiedlichen<br />

Traditionen – hinter denen sich vielfach<br />

auch Denkweisen oder historische Entwicklungen<br />

verbergen – beibehalten<br />

möchte, ist unter den Akteuren nicht umstritten.<br />

Denn Grundsicherungssysteme,<br />

in welcher Ausgestaltung auch immer, gelten<br />

als wirksames Mittel gegen Armut. Da<br />

aber in einigen EU-Ländern die Zahlungen<br />

nicht hoch genug sind, um Armut und Armutsrisiko<br />

wirksam zu bekämpfen, sollen<br />

EU-Rahmenbestimmungen Abhilfe schaffen.<br />

Diese können die Untergrenzen der<br />

32 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong>


Sozialleistungen so festlegen, dass Menschen<br />

in dem jeweiligen Mitgliedsland<br />

dauerhaft aus der Armut geholt werden<br />

und die Mitgliedsstaaten finanziell nicht<br />

überfordert werden.<br />

Rechtliche Fragen<br />

Noch unklar ist, inwieweit die Einführung<br />

eines Rahmens für Grundsicherungssysteme<br />

in der Europäischen Union innerhalb<br />

der Verträge rechtlich möglich ist. In seinem<br />

Gutachten «Ausgestaltung eines europäischen<br />

Rahmens für die Mindestsicherung»<br />

hat Benjamin Benz, Professor für<br />

Politikwissenschaft/Sozialpolitik an der<br />

Evangelischen Hochschule Rheinland-<br />

Westfalen-Lippe, diese Frage durchaus positiv<br />

beantwortet. Es sei möglich, «einen<br />

mindestsicherungspolitisch verbindlichen<br />

Rahmen auf EU-Ebene (nach Art. 153<br />

Abs. 1 lit. H) per Mehrheitsbeschluss im<br />

Rat der Arbeits- und Sozialministerinnen<br />

und -minister als Richtlinie zu verabschieden.<br />

Deren Inhalt wären schrittweise und<br />

zwingend in den Mitgliedstaaten umzusetzende<br />

Mindeststandards.»<br />

Thorsten Kingreen, Professor am Lehrstuhl<br />

für Öffentliches Recht, Sozial- und<br />

Gesundheitsrecht an der Universität in Regensburg,<br />

hat in einem – vom Bundesministerium<br />

für Arbeit und Soziales (BMAS) in<br />

Auftrag gegebenem Gutachten – ein ebenso<br />

positives Bild gezeichnet. Er kommt,<br />

wie Benjamin Benz, zu dem Ergebnis, dass<br />

der Artikel 153 des AEU-Vertrags nur gestattet,<br />

Mindestvorschriften zu erlassen,<br />

die schrittweise anzuwenden sind. Diese<br />

haben die Funktion, einen allgemeinen<br />

Standard innerhalb der Union sicherzustellen,<br />

der auf der einen Seite weniger leistungsfähige<br />

Staaten nicht überfordert, leistungsfähige<br />

Staaten aber auf der anderen<br />

Seite auch nicht daran hindert, ein höheres<br />

Schutzniveau vorzusehen. Bezüglich der<br />

Finanzierung schlägt Thorsten Kingreen<br />

vor, finanzföderalistische Strukturen aufzubauen.<br />

Die EU könnte Mindeststandards<br />

für die Grundsicherungssysteme in<br />

den Mitgliedstaaten festlegen und dann<br />

über die Strukturfonds diejenigen Mitgliedsstaaten<br />

unterstützen, die bereit sind,<br />

diese Standards zu erfüllen, dies aber aus<br />

eigener Kraft nicht vermögen. Sinnvoll ist<br />

insoweit aus seiner Sicht ein Matching-<br />

Fund aus Unions- und Eigenmitteln der<br />

geförderten Mitgliedstaaten.<br />

Positive Signale<br />

Wie realistisch ist die Einführung eines<br />

EU-Rahmens für Grundsicherungssysteme?<br />

Aus deutscher Sicht stehen viele Ampeln<br />

auf grün. Die deutsche Regierung und<br />

auch die deutschen Bundesländer sprechen<br />

sich für soziale Mindeststandards im<br />

Rahmen der Europäischen Säule sozialer<br />

Rechte aus, auch wenn sie deutlich daran<br />

erinnern, dass die Sozialpolitik primär Aufgabe<br />

der Mitgliedstaaten ist und die Kompetenzgrenzen<br />

sowie der Grundsatz der<br />

Subsidiarität zu achten sind. Die Bundesregierung<br />

fordert in ihrem Programm zur<br />

deutschen Ratspräsidentschaft den Schutz<br />

durch Mindestsicherungssysteme und ein<br />

erster Entwurf zu Handen des Ministerrates<br />

liegt seit dem 2. Juli <strong>20</strong><strong>20</strong> vor.<br />

Auch von der EU-Ebene gibt es positive<br />

Signale: Die EU-Kommission bekennt<br />

sich zur Europäischen Säule sozialer<br />

Rechte, die Mindestsicherungssysteme als<br />

einen Grundsatz beinhaltet. Der zuständige<br />

Kommissar für Beschäftigung und<br />

Soziales, Nicolas Schmit, ist Befürworter<br />

eines EU-Rahmens für Grundsicherungssysteme.<br />

Dies hat er in der Online-Veranstaltung<br />

des Deutschen Vereins und der<br />

Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien<br />

Wohlfahrtspflege «Wege aus der Armut<br />

– Ein Rahmen für nationale Grundsicherungssysteme<br />

in den EU-Staaten» am<br />

24. Juni <strong>20</strong><strong>20</strong> deutlich formuliert.<br />

Der Deutsche Verein für öffentliche und<br />

private Fürsorge wird sich auch weiterhin<br />

für die konsequente Umsetzung der Europäischen<br />

Säule sozialer Rechte einsetzen<br />

und diese konstruktiv begleiten. Den<br />

Rahmen für Grundsicherungssysteme in<br />

der EU einzuführen, ist ein wichtiger Teil<br />

dieser Umsetzung, den der Deutsche Verein<br />

ausdrücklich begrüsst. Es ist nun an<br />

der EU, den Rahmen zu ziehen und dabei<br />

rechtliche und finanzielle Fragen so zu berücksichtigen,<br />

dass die Umsetzung in den<br />

EU-Mitgliedsstaaten Armut schrittweise<br />

und wirksam bekämpft.<br />

•<br />

Monika Büning<br />

Leitung Stabsstelle Internationales<br />

Deutscher Verein für öffentliche und private<br />

Fürsorge e.V.<br />

3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />

33


DEBATTE<br />

Mindeststandards für das Arbeiten unter<br />

sozialhilferechtlichen Bedingungen<br />

Das Arbeiten in einem sozialhilferechtlichen Beschäftigungsprogramm kann eine<br />

Voraussetzung für (ungekürzte) Sozialhilfeleistungen sein. Es spielt daher eine wichtige Rolle<br />

zur Existenzsicherung von Sozialhilfeempfangenden. Weitgehend ungeklärt ist, unter welchen<br />

Bedingungen in solchen Programmen gearbeitet wird. Der Schlussbericht des Forschungsprojekts<br />

«Arbeiten unter sozialhilferechtlichen Bedingungen» liegt nun vor.<br />

Bis anhin wird die Rechtsbeziehung –<br />

obwohl eine Arbeitsleistung erfolgt – vor<br />

allem durch das Sozialhilferecht gestaltet.<br />

Es wird dabei betont, dass die Teilnahme<br />

an einem Programm eine Pflicht ist, bei<br />

deren Verletzung Leistungskürzungen drohen,<br />

bis hin zum Verlust der Anspruchsberechtigung.<br />

Der Schutz des Arbeitsrechts<br />

– als Schutz der schwächeren Partei – und<br />

der Schutz des Sozialversicherungsrechts<br />

treten dabei in den Hintergrund.<br />

Der vorliegende Bericht zeigt auf, dass<br />

dies in mehrerer Hinsicht problematisch<br />

ist. So wird dadurch eine disziplinierende<br />

Wirkung gegenüber einer tatsächlichen<br />

Reintegration begünstigt. Durch die starke<br />

Betonung des Pflichtcharakters und der<br />

Durchsetzung mit negativen Anreizen werden<br />

zusätzlich Anspruchsvoraussetzungen<br />

für die staatlichen Leistungen geschaffen,<br />

die ein Leben in Würde und soziale Teilhabe<br />

garantieren sollen und es kann zu<br />

besonders einschneidenden Folgen für die<br />

Rechtsstellung der Einzelnen kommen.<br />

Dabei ist unzureichend geklärt, wann eine<br />

Teilnahme mit guten Gründen verweigert<br />

werden darf.<br />

Im Zuge der Verbreitung einer aktivierenden<br />

Sozialhilfepolitik seit etwa <strong>20</strong> Jahren<br />

gewann die Teilnahme an Integrationsprogrammen<br />

in Form von Arbeitsleistung für<br />

Sozialhilfeempfangende zunehmend an<br />

Bedeutung. Zusätzlich zur Sozialhilfe fliessen<br />

daher erhebliche öffentliche Mittel in<br />

die Aktivierung der Sozialhilfebeziehenden.<br />

Mit interdisziplinären Methoden aus<br />

der sozial- und rechtswissenschaftlichen<br />

Forschung wurde in dem Forschungsprogramm<br />

«Arbeiten unter sozialhilferechtlichen<br />

Bedingungen» das Arbeiten im Dreiecksverhältnis<br />

zwischen Sozialdienst,<br />

Sozialhilfeempfangenden und Einsatzbetrieb<br />

untersucht.<br />

Dabei stellten die Forscherinnen und<br />

Forscher fest, dass grundsätzlich vier Typen<br />

von Beschäftigungsverhältnissen in<br />

der ganzen Schweiz verbreitet sind: Abklärung,<br />

Qualifizierung, Vermittlung und<br />

Teilhabe. Die tatsächliche Ausgestaltung<br />

der Rechtsbeziehungen ist jedoch äusserst<br />

divers.<br />

Die rechtliche Regelung der Teilnahme an<br />

Integrationsprogrammen wirft Fragen auf.<br />

Bild: Béatrice Devennes<br />

Empfehlungen aus der Praxis der<br />

Kantone<br />

Basierend auf dieser Analyse wird empfohlen,<br />

in drei Bereichen Anpassungen vorzunehmen<br />

und Mindeststandards für das Arbeiten<br />

unter sozialhilferechtlichen<br />

Bedingungen einzuführen. Diese sollen<br />

eine rechtsgleiche Behandlung und die<br />

Menschenwürde der Sozialhilfeempfangenden<br />

sichern und die notwendige Klarheit<br />

und Rechtssicherheit für die Rechtsanwendenden<br />

bringen:<br />

1. Die Teilnahme an einem Beschäftigungsprogramm<br />

ist keine Voraussetzung<br />

für den Anspruch auf Sozial- oder<br />

Nothilfe. Allfällige Kürzungen wegen<br />

verweigerter Teilnahme an geeigneten<br />

und zumutbaren Beschäftigungsprogrammen<br />

müssen verhältnismässig sein.<br />

2. Die Rechtsbeziehung in denjenigen<br />

Programmen, die eine Arbeitsleistung<br />

beinhalten, wird mit Arbeitsverträgen<br />

geregelt und der Lohn ist den Sozialversicherungen<br />

zu unterstellen.<br />

3. Die Wirkung der Programme ist mit<br />

aussagekräftigen Evaluationen zu messen.<br />

Das ist Voraussetzung, um die Angebote<br />

steuern zu können.<br />

Diese Empfehlungen lehnen sich an die<br />

bereits bestehende Praxis in gewissen Kantonen<br />

oder Programmen an. (Red.)<br />

Schlussbericht: www.skos.ch/themen/arbeit<br />

34 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong>


TÜRE AUF<br />

BEI STEPHAN BÜCHI<br />

Sozialdienst:<br />

Regionaler Sozialdienst Niederbipp<br />

Ausbildung/Funktion: Sozialarbeiter FH<br />

Angestellt seit: <strong>20</strong>19<br />

Alter:<br />

60 Jahre<br />

Seit zehn Jahren ist Stephan Büchi<br />

im Winterhalbjahr bei Sozialdiensten<br />

in den Kantonen Bern und Solothurn<br />

als Stellvertretung (Kindes- und<br />

Erwachsenenschutz, Pflegekinderaufsicht)<br />

tätig und im Sommerhalbjahr in Rumänien<br />

im Tourismus.<br />

Bild: zvg<br />

Sie verbringen den Sommer<br />

normalerweise in Rumänien und den<br />

Winter in der Schweiz. Was bringen Sie<br />

aus Rumänien mit in Ihren aktuellen<br />

Sozialdienst Niederbipp?<br />

Grundsätzlich existiert in Rumänien ein<br />

deutlich schwächeres Netz im Sozialbereich<br />

als bei uns in der Schweiz. Auch<br />

ist der Zugang zu staatlicher Unterstützung<br />

schwieriger und es gibt weniger<br />

Angebote. Deshalb sind die Menschen<br />

gezwungen, Situationen länger auszuhalten<br />

und Selbsthilfestrategien zu<br />

entwickeln. Dies gelingt oft erstaunlich<br />

gut. Ich erlebe in der Schweiz die Tendenz,<br />

möglichst rasch und umfänglich<br />

zu unterstützen. Dies birgt aber auch<br />

die Gefahr, dass Selbsthilfestrategien<br />

gar nicht erst entwickelt werden.<br />

Sie kennen nicht nur viele andere<br />

Schweizer Sozialdienste, sondern auch<br />

soziale Institutionen in Rumänien.<br />

Welche Vergleiche können Sie ziehen?<br />

Soziale Institutionen und Strukturen<br />

in Rumänien mussten nach Ende des<br />

kommunistischen Systems 1989 neu<br />

entstehen und sich entwickeln. Dazu<br />

sind auch die gesellschaftlichen Veränderungen<br />

bis heute nicht abgeschlossen.<br />

Finanzielle Mittel und Fachpersonal<br />

sind im Sozialbereich knapp und viele<br />

bei uns bestehende Angebote fehlen.<br />

Unterstützung muss man sich in Rumänien<br />

erkämpfen, sie ist weniger selbstverständlich<br />

als bei uns.<br />

Was würden Sie gerne von Rumänien in<br />

die Schweiz holen , was aus der Schweiz<br />

nach Rumänien?<br />

Den Zusammenhalt und die gegenseitige<br />

Unterstützung innerhalb der bestehenden<br />

Familien- und teilweise auch<br />

Dorfgemeinschaften würde ich gerne<br />

in die Schweiz importieren. Dagegen<br />

wäre im rumänischen Sozialsystem,<br />

und nicht nur dort, mehr Stabilität und<br />

Rechtssicherheit gefragt. Dazu menschenwürdigere<br />

Angebote insbesondere<br />

im Alters- und Behindertenbereich.<br />

Wie erleben Sie diese Corona-Krisen-<br />

Zeit?<br />

Persönlich vermisse ich bereits etwas<br />

die Lockdown-Ruhe, die leeren<br />

Strassen, den reduzierten Lärmpegel<br />

und die frei gewordene Zeit<br />

bei der Arbeit und in der Freizeit.<br />

Selbst viele meiner Klienten haben<br />

die termin- und auflagenfreiere Zeit<br />

gut überstanden und ihre erhöhte<br />

Selbstverantwortung erstaunlich gut<br />

wahrgenommen. Persönlich musste<br />

ich wegen der Corona-Krise alle Rumänienreisen<br />

<strong>20</strong><strong>20</strong> annullieren und<br />

werde die Verluste als Selbständig-<br />

Erwerbender selber tragen müssen.<br />

Zum Glück werde ich bis April <strong>20</strong>21<br />

weiterhin beim RSD Niederbipp arbeiten<br />

können und erstmals seit zehn<br />

Jahren den Sommer wieder in der<br />

Schweiz verbringen dürfen.<br />

Was machte Ihnen in den letzten<br />

Wochen an Ihrer Arbeit besonders<br />

Freude?<br />

Ich schätze die Vielseitigkeit meiner Arbeit<br />

sehr und vor allem auch den Kontakt<br />

und die Auseinandersetzung mit<br />

den Klienten, den persönlichen Kontakt.<br />

Wie meisterten Sie besonders<br />

belastendeSituationen?<br />

Als sehr belastend empfinde ich immer<br />

wieder das Dilemma, die zur Verfügung<br />

stehende Zeit zwischen den zunehmenden<br />

und klar vorgegebenen administrativen<br />

Aufgaben und dem direkten<br />

Kontakt, der Arbeit mit den Klienten,<br />

optimal einzuteilen.<br />

Was wünschen Sie sich für die Zukunft<br />

in Bezug auf Ihre Arbeit auf den<br />

verschiedenen Sozialdiensten?<br />

Mehr Zeit, um meine Klienten bei ihrer<br />

Perspektivenplanung zu unterstützen<br />

und zu begleiten. Zusätzliche Flexibilität<br />

für individuelle Lösungen und möglichst<br />

keine allzu häufigen Systemanpassungen.<br />

Dazu eine schweizweit<br />

einheitliche Unterstützungsgrundlage.<br />

» dieser<br />

In der Schweiz gibt es Hunderte von Sozialdiensten mit unzähligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Sie unterstützen Kinder, Jugendliche<br />

und Erwachsene in unterschiedlichen Lebenslagen und leisten damit einen wichtigen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt. In<br />

Serie berichten sie aus ihrem Berufsalltag, den schönen und den schwierigen Seiten ihrer Arbeit.<br />

3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />

35


LESETIPPS<br />

Soziale Arbeit in Schlüsselbegriffen<br />

Das Buch richtet sich als Einführung und<br />

Nachschlagewerk zugleich auf das Studium<br />

der Sozialen Arbeit aus. Vierzig Schlüsselbegriffe<br />

fassen die grundlegenden Leitgedanken,<br />

Prinzipien, Strukturen und Methoden der Sozialen<br />

Arbeit zusammen und verbinden sie mit<br />

konkreten Praxisbezügen aus Arbeitsfeldern,<br />

Lebensbedingungen und Aufträgen. Bei den Verfasserinnen der Beiträge<br />

handelt es sich sowohl um versierte Akteure der beruflichen Praxis als<br />

auch um Wissenschaftlerinnen, die hauptberuflich Soziale Arbeit lehren<br />

und zur Sozialen Arbeit forschen.<br />

Peter-Ulrich Wendt (Hrsg.), Soziale Arbeit in Schlüsselbegriffen, Beltz Fachmedien,<br />

<strong>20</strong><strong>20</strong>, 260 Seiten, CHF 22.−, ISBN 978-3-7799-6065-2<br />

Sozialhilfe im Asylbereich<br />

Das Recht auf Sozialhilfe und das Migrationsrecht<br />

verfolgen unterschiedliche Zwecksetzungen.<br />

Und doch wird das Sozialhilferecht<br />

auch zur Verfolgung migrationspolitischer Ziele<br />

genutzt. Dieses Buch untersucht die rechtlichen<br />

Grenzen bei der Ausgestaltung der Sozial- und<br />

Nothilfe für Flüchtlinge, Asylsuchende, vorläufig<br />

Aufgenommene und abgelehnte Asylsuchende<br />

in der Schweiz. Es zeichnet unter anderem die historische Entwicklung<br />

nach, analysiert die Bedeutung der Gleichbehandlungsgebote sowie der<br />

Diskriminierungsverbote und arbeitet die verankerten Standards menschenwürdiger<br />

Existenzsicherung heraus.<br />

Teresia Gordzielik, Sozialhilfe im Asylbereich. Zwischen Migrationskontrolle und<br />

menschenwürdiger Existenzsicherung, Schulthess Verlag, <strong>20</strong><strong>20</strong>, 702 Seiten,<br />

CHF 109.−, ISBN 978-3-7255-8187-0<br />

Sozialraumorientierung als<br />

Fachkonzept Sozialer Arbeit<br />

Die Beiträge zeigen die Bedeutung des Fachkonzepts<br />

angesichts sozialer und sozialstaatlicher<br />

Entwicklungen. Sie legen dar, wie Sozialunternehmen<br />

durch sozialräumliche Steuerung Ressourcen<br />

besser mobilisieren, die Wirksamkeit<br />

und Wirtschaftlichkeit ihrer Leistungen erhöhen<br />

und gleichzeitig die Lebensverhältnisse im<br />

Gemeinwesen verbessern können. Praxisberichte aus unterschiedlichen<br />

Arbeitsfeldern liefern Anschauungsmaterial zur Umsetzung von Sozialraumorientierung<br />

und illustrieren, wie Sozialunternehmen Anpassungsleistungen<br />

auf der Steuerungs- und Handlungsebene gestalten können.<br />

Ulrike Wössner (Hrsg.) Sozialraumorientierung als Fachkonzept Sozialer Arbeit und<br />

Steuerungskonzept von Sozialunternehmen; Springer Verlag, <strong>20</strong><strong>20</strong>, 302 Seiten,<br />

€ 45, ISBN 978-3-7841-8666-5<br />

Wohnungslosigkeit verhindern<br />

Es gibt immer mehr Menschen ohne gesicherte<br />

Wohnung. Für die Betroffenen ist dies fast immer<br />

eine dramatische Situation – in Zeiten der<br />

Coronakrise wird sie katastrophal. Wohnungslosigkeit<br />

lässt sich durch Prävention verhindern.<br />

Anhand der Befunde einer bundesweiten Studie<br />

und mithilfe des Teilhabe- und Chancenmodells<br />

von Amartya Sen analysiert Jutta Henke die<br />

Problemlage und kommt zu dem Ergebnis: Die Instrumente, um Wohnungslosigkeit<br />

zu beheben oder gar zu verhindern, sind vorhanden, sie<br />

müssten jedoch neu organisiert werden.<br />

Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. (Hrsg.) Wie lässt sich<br />

Wohnungslosigkeit verhindern. Ein Plädoyer von Jutta Henke, Lambertus Verlag,<br />

<strong>20</strong><strong>20</strong>, 64 Seiten, € 9, ISBN: 978-3-7841-3267-9<br />

VERANSTALTUNGEN<br />

«Sozial und digital: Wie wir<br />

neue Chancen nutzen»<br />

Algorhythmen, Clouds und Neue Medien – die<br />

Digitalisierung verändert das gesellschaftliche<br />

Leben rasant und beeinflusst auch die Soziale<br />

Arbeit. Welche Chancen entstehen dadurch für<br />

Klientinnen und Klienten, aber auch für Fachpersonen<br />

der Sozialen Arbeit. Welche Herausforderungen<br />

sind rasch anzupacken und wie? Inputs,<br />

Good-Practice-Beispiele und der Erfahrungsaustausch<br />

sollen an der Tagung inspirieren Horizonte<br />

öffnen und weiterführende Diskussionen<br />

anstossen.<br />

ZHAW, Campus Toni-Areal Zürich<br />

Donnerstag, 29. Oktober <strong>20</strong><strong>20</strong><br />

www.zhaw.ch Soziale Arbeit Weiterbildung<br />

4. Nationale Tagung Gesundheit<br />

und Armut<br />

Zahlreiche Studien zeigen, dass es auch in der<br />

Schweiz soziale Ungleichheiten in der Gesundheit<br />

gibt. Die Tagung der Berner Fachhochschule widmet<br />

sich dem Thema «Verzicht und Entbehrung:<br />

Wenn Armutsbetroffene Gesundheitsleistungen<br />

nicht in Anspruch nehmen». Dabei orientiert sie<br />

sich an Fragestellungen aus sozialethischer,<br />

ökonomischer und politischer Perspektive<br />

und integriert dabei nicht zuletzt die Sicht von<br />

Betroffenen.<br />

Eventfabrik Bern<br />

Donnerstag, 21. Januar <strong>20</strong>21<br />

www.bfh.ch Aktuell Veranstaltungen<br />

SKOS-Weiterbildung:<br />

Einführung in die Sozialhilfe<br />

Die Weiterbildung der SKOS vermittelt an zwei<br />

Halbtagen Grundlagen zur Ausgestaltung der Sozialhilfe<br />

und zur Umsetzung der SKOS-Richtlinien,<br />

zu Verfahrensgrundsätzen und zum Prinzip der<br />

Subsidiarität. Insbesondere werden auch die Änderungen<br />

der aktuellen Richtlinienrevision erläutert.<br />

Den Teilnehmenden stehen vier Weiterbildungsmodule<br />

zur Auswahl. Es können jeweils zwei Module<br />

besucht werden. Es besteht die Möglichkeit, zwei<br />

weitere Module im Juni <strong>20</strong>21 in Olten zu besuchen.<br />

Montag, 16. November <strong>20</strong><strong>20</strong>, Winterthur<br />

Dienstag, 29. Juni <strong>20</strong>21, Olten<br />

www.skos.ch veranstaltungen Weiterbildung<br />

36 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong>


Hier bilden sich Fachleute<br />

der Sozialen<br />

Arbeit für Praxis und<br />

Wissenschaft aus.<br />

Der Master mit der Kompetenz<br />

von 3 Hochschulen<br />

Berner Fachhochschule BFH I Soziale Arbeit<br />

Hochschule Luzern – Soziale Arbeit<br />

FHS St.Gallen, Fachbereich Soziale Arbeit<br />

masterinsozialerarbeit.ch<br />

MSA_Inserat_<strong>ZESO</strong>_170x130_<strong>20</strong>0107.indd 4 07.01.<strong>20</strong> 16:18<br />

Integration und Partizipation<br />

Beratung und Coaching<br />

Kinder- und Jugendhilfe<br />

Management, Recht und Ethik<br />

Gesundheit<br />

Alle Weiterbildungsangebote zu diesen und vielen<br />

weiteren interessanten Themen finden Sie online:<br />

Neue Impulse für Ihren professionellen Berufsalltag<br />

Die Weiterbildungen an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW in Olten und Muttenz unterstützen Sie<br />

dabei, sich fachlich und persönlich weiterzuentwickeln. Sie erhalten neustes Wissen aus der Forschung<br />

und verknüpfen dieses mit Ihren Erfahrungen aus dem Berufsalltag.<br />

www.fhnw.ch/soziale-arbeit/weiterbildung


-<br />

Sozialberatung, Sozialhilfe<br />

und Sozialversicherungen<br />

CAS Soziale Sicherheit<br />

22 Studientage, Februar bis November <strong>20</strong>21<br />

CAS Sozialberatung<br />

<strong>20</strong> Studientage, Start mit dem Fachkurs Sozialberatung<br />

Fachkurs Beratung von jungen Erwachsenen<br />

6 Kurstage (davon 4 Präsenztage), 14./15. Oktober<br />

und 4./5. November <strong>20</strong><strong>20</strong><br />

Fachkurs Beratung von Menschen mit Migrationshintergrund<br />

6 Kurstage (davon 4 Präsenztage), 26./27. November<br />

und 17./18. Dezember <strong>20</strong><strong>20</strong><br />

Kurs Einführung Sozialhilfe<br />

4 Kurstage, 30. Oktober, 17. November sowie<br />

3. und 9. Dezember <strong>20</strong><strong>20</strong><br />

Alle Informationen unter<br />

bfh.ch/soziale-sicherheit<br />

Jetzt weiterbilden.<br />

Coaching und Beratung<br />

sowie Soziale Arbeit<br />

ost.ch/wb-sozialearbeit<br />

Ins_ZeSo_OST_170x130_4c_CoachingSA.indd 1 30.07.<strong>20</strong><strong>20</strong> 08:54:01

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