03.12.2020 Aufrufe

ZESO 04/20

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

SKOS CSIAS COSAS<br />

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />

Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />

Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />

Conferenza svizra da l’agid sozial<br />

<strong>ZESO</strong><br />

ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE<br />

<strong>04</strong>/<strong>20</strong><br />

ARMUT<br />

Modell für Monitoring der<br />

Armut in der Schweiz<br />

FOYERSBASEL<br />

Fluchtort für junge Frauen<br />

in Schwierigkeiten<br />

IV-BERICHT<br />

Die Folgen der IV-Revisionen<br />

auf die Sozialhilfe<br />

SOZIALE INTEGRATION<br />

ALS AUFTRAG<br />

Was ist darunter zu verstehen – wie kann er umgesetzt werden?


Bieler Tagung, 11. März <strong>20</strong>21<br />

Persönliche Hilfe – Ansätze und<br />

Möglichkeiten in der Praxis<br />

Die neuen SKOS-Richtlinien geben der persönlichen Hilfe einen besonderen<br />

Stellenwert. Persönliche Hilfe ist im Bedarfsfall auch dann zu erbringen,<br />

wenn kein Anspruch auf wirtschaftliche Unterstützung besteht. Persönliche<br />

Hilfe zielt darauf ab, Menschen in belastenden Lebenslagen durch indi -<br />

vidualisierte Massnahmen zu stabilisieren und zu stärken. Die nationale<br />

Tagung in Biel befasst sich mit dem Auftrag und der Ausgestaltung der<br />

persönlichen Hilfe in der Sozialberatung. Welchen Stellenwert hat sie angesichts<br />

der knappen Zeitressourcen? Wie kann ein optimales Angebot<br />

aussehen? Die nationale Tagung in Biel bietet eine Plattform für Präsentationen<br />

und Diskussionen. Praktikerinnen und Praktiker erhalten Inputs<br />

und Impulse für ihre tägliche Arbeit. Die Workshops bieten die Möglichkeit<br />

Praxisbeispiele kennenzulernen.<br />

Anmeldung bis 22. Februar <strong>20</strong>21<br />

Programm und Anmeldungen unter www.skos.ch/Veranstaltungen<br />

Soziale Arbeit<br />

Kompetenz beginnt<br />

mit Bildung.<br />

Infoabende<br />

<strong>20</strong>. Januar <strong>20</strong>21<br />

14. April <strong>20</strong>21<br />

Jetzt anmelden!<br />

In welchem Bereich der<br />

Sozialen Arbeit Sie auch<br />

tätig sind: Eine Weiterbildung<br />

erhöht Ihre Kompetenzen<br />

für künftige<br />

Aufgaben. Wir bieten CAS,<br />

DAS, MAS und Kurse, bei<br />

denen sich Theorie und<br />

Praxis die Hand geben.<br />

Was Sie bei uns lernen,<br />

vertiefen Sie in Ihrem<br />

Berufsalltag –<br />

und umgekehrt.<br />

Machen Sie<br />

den nächsten<br />

Schritt.<br />

In welchem Handlungsfeld<br />

möchten Sie<br />

sich weiterbilden?<br />

• Kindheit, Jugend<br />

und Familie<br />

• Delinquenz und<br />

Kriminalprävention<br />

• Soziale Gerontologie<br />

• Community<br />

Development und<br />

Migration<br />

• Sozialrecht<br />

• Sozialmanagement<br />

• Supervision<br />

und Beratung<br />

www.zhaw.ch/sozialearbeit<br />

Hochschulcampus Toni-Areal, Zürich<br />

Inserat_<strong>ZESO</strong>_halbseitig_4_<strong>20</strong><strong>20</strong>.indd 6 02.11.<strong>20</strong><strong>20</strong> 12:59:46


Ingrid Hess<br />

Redaktionsleitung<br />

EDITORIAL<br />

SOZIALE INTEGRATION<br />

ALS SCHLÜSSEL<br />

Geselligkeit und sozialer Austausch ist im Moment nicht wirklich<br />

angesagt. Vermutlich ist das für viele von uns eine Herausforderung,<br />

für manche eine grosse. Tatsache ist jedoch, dass<br />

es eine Reihe von Menschen gibt, für die das gar nichts Besonderes<br />

ist, weil sie seit langer Zeit keine Arbeit, keinen Lohn<br />

oder womöglich nicht mal eine Wohnung haben und in der<br />

Folge auch kaum sozialen Anschluss (Seite 14). Die soziale Integration<br />

ist ein zentrales Thema in der Sozialhilfe und sie ist<br />

der Schlüssel für Befähigung und Motivation. Insbesondere für<br />

die Menschen, die fast komplett ausserhalb der Gesellschaft<br />

leben, ist sie ein mindestens so wichtiger Überlebensfaktor<br />

wie ein Dach über dem Kopf und wirtschaftliche Hilfe. In Paris<br />

engagiert sich deshalb die Organisation la Cloche mit kleinen<br />

alltäglichen Gesten und Kontakten in der Nachbarschaft, Obdachlosen<br />

den Weg aus der Isolation zu erleichtern (Seite 22).<br />

Soll Armut wirksam bekämpft werden, ist eine solide Faktenlage<br />

nötig. Das Eidg. Parlament hat sich davon überzeugen lassen.<br />

Ein erstes Konzept, wie ein Armutsmonitoring aussehen<br />

könnte, liegt bereits vor (Seite 6).<br />

Die Regelung der Sozialhilfe orientiert sich weitgehend an den<br />

SKOS-Richtlinien. Dennoch bestehen zwischen den Kantonen<br />

erhebliche Unterschiede. Eine Dissertation an der Universität<br />

Lausanne ging der Frage nach, ob dies nicht verfassungswidrig<br />

sei (Seite 32).<br />

4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />

1


SCHWERPUNKT<br />

Berufliche und<br />

soziale<br />

Integration<br />

Die Sozialhilfe hat zwei<br />

zentrale Aufgaben: die Existenz<br />

finanziell zu sichern und<br />

die soziale Integration zu<br />

unterstützen. In der Praxis<br />

ist vor allem Letzteres eine<br />

schwierige Aufgabe, denn<br />

Zeit und Ressourcen sind<br />

in der Regel knapp. Für<br />

junge, sozialhilfebeziehende<br />

Erwachsene hat die<br />

Fokussierung auf die<br />

Arbeitsmarktintegration<br />

ambivalente Auswirkungen.<br />

12–23<br />

14–25<br />

<strong>ZESO</strong><br />

ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE HERAUSGEBERIN Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS, www.skos.ch REDAKTIONSADRESSE<br />

Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS, Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch, Tel. 031 326 19 13<br />

© SKOS. Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin<br />

Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich<br />

ISSN 1422-0636 / 117. Jahrgang<br />

Erscheinungsdatum: 7. Dezember <strong>20</strong><strong>20</strong><br />

Die nächste Ausgabe erscheint am 8. März <strong>20</strong>21<br />

REDAKTION Ingrid Hess, Julie Bernet MITARBEITERINNEN UND MITARBEITER DIESER AUSGABE Andrea Beeler,<br />

Yann Bochsler, Palma Fiacco, Robert Fluder, Christoph Hostettler, Oliver Hümbelin, Corinne Hutmacher-Perret,<br />

Markus Kaufmann, Christine Koradi, Raphaël Marlétaz, Iris Pulfer, Mirjam Schlup, Max Spring, Susanna Valentin<br />

TITELBILD Palma Fiacco LAYOUT Marco Bernet, Projekt Athleten GmbH Zürich KORREKTORAT Karin Meier<br />

DRUCK UND ABOVERWALTUNG rubmedia AG, Postfach, 3001 Bern, zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740 97 86<br />

PREISE Jahresabonnement CHF 89.– (SKOS-Mitglieder CHF 74.–), Jahresabonnement Ausland CHF 125.–,<br />

Einzelnummer CHF 25.–.<br />

2 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong>


INHALT<br />

10<br />

5 KOMMENTAR<br />

Neue SKOS-Strategie als Wegweiser für die<br />

kommenden vier Jahre<br />

6 FACHBEITRAG<br />

Ein Monitoring zur Erkennung und Bewältigung<br />

der Armut<br />

9 PRAXIS<br />

Berücksichtigung der Hilflosenentschädigung<br />

bei Sozialhilfebezug<br />

10 INTERVIEW: JONAS LÜSCHER<br />

Der renommierte Schweizer Schriftsteller über<br />

die Corona-Krise und deren Auswirkungen auf<br />

die Solidarität<br />

6<br />

26<br />

14–25 SOZIALE INTEGRATION<br />

16 Soziale Integration als Kernauftrag der<br />

Sozialhilfe<br />

18 Die individuelle Förderung zur sozialen Integration<br />

durch die Sozialen Dienste der Stadt<br />

Zürich<br />

<strong>20</strong> Der erste Schritt der langfristigen Arbeitsmarktintegration<br />

ist die soziale Integration<br />

22 Die Teilhabe der Obdachlosen in Paris an der<br />

Gesellschaft<br />

24 Roland Bänziger über die soziale Integration<br />

durch das Arbeitsintegrationsprojekt HEKS-<br />

Visite<br />

30<br />

26 REPORTAGE<br />

Die Beobachtungsstation des FoyersBasel<br />

unterstützt weibliche Jugendliche in der Krise<br />

29 SCHUB FÜR DIE FÖRDERUNG VON GRUND-<br />

KOMPETENZEN<br />

Bildung als zentraler Faktor für eine nachhaltige<br />

Integration in die Gesellschaft<br />

30 IV-REVISIONEN<br />

Der Zusammenhang des IV-Rentenrückgangs<br />

mit der Zunahme der Sozialhilfefälle<br />

32 HARMONISIERUNG DER SOZIALHILFE<br />

Menschenrecht auf gleiche soziale Rechte<br />

und die unterschiedliche Umsetzung der<br />

kantonalen Sozialhilfegesetze<br />

34 LESETIPPS UND VERANSTALTUNGEN<br />

36 TÜRE AUF<br />

Sandra Angelovic von den Sozialen Diensten<br />

Asyl Zug wünscht sich mehr Verständnis in<br />

der Bevölkerung und seitens der Klienten,<br />

dass die Sozialhilfe auf Richtlinien und<br />

Gesetzen basiert und nicht auf persönlicher<br />

Willkür<br />

32<br />

36<br />

4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />

3


NACHRICHTEN<br />

Neue SKOS-Richtlinien:<br />

Umsetzung in den<br />

Kantonen<br />

Die neuen SKOS-Richtlinien treten Anfang<br />

<strong>20</strong>21 in Kraft. Fast alle Kantone<br />

werden die neuen SKOS-Richtlinien fristgerecht<br />

umsetzen, manche wenden sie<br />

direkt an, andere indirekt. Die Kantone<br />

Aargau, Bern, Genf und Schaffhausen<br />

haben eine spätere Anpassung ihrer<br />

Rechtsgrundlagen an die Richtlinien in<br />

Aussicht gestellt. Das Portal für die neuen<br />

SKOS-Richtlinien <strong>20</strong>21 ist bereits online:<br />

https://rl.skos.ch<br />

GBL-Anpassung für<br />

<strong>20</strong>22 beschlossen<br />

Nachdem der Bundesrat im Oktober die<br />

AHV/IV-Minimalrenten um CHF 10 erhöht<br />

hat, soll auch der Grundbedarf für<br />

den Lebensunterhalt (GBL) in der Sozialhilfe<br />

angepasst werden. Die SODK hat<br />

den Antrag der SKOS im November gutgeheissen.<br />

Demnach soll bis 1.1.<strong>20</strong>22<br />

der GBL für einen Einpersonenhaushalt<br />

von derzeit CHF 997 auf 1006 angehoben<br />

werden. Dies entspricht dem in den<br />

SKOS-Richtlinien festgehaltenen Mechanismus.<br />

Seit <strong>20</strong>09 ist die Anpassung des<br />

Grundbedarfs in der Sozialhilfe an die<br />

AHV/IV-Renten gekoppelt. Seither wurde<br />

der Grundbedarf dreimal erhöht (<strong>20</strong>11,<br />

<strong>20</strong>13 und <strong>20</strong><strong>20</strong>). Aktuell wenden 16<br />

Kantone den von der SKOS empfohlenen<br />

Ansatz von CHF 997 an, zwei Kantone<br />

planen die Anpassung per 1.1.<strong>20</strong>21. Fünf<br />

Kantone übernahmen die Anpassung<br />

<strong>20</strong><strong>20</strong> nicht und bleiben bei CHF 986.<br />

Zwei weitere Kantone haben die Anpassungen<br />

<strong>20</strong><strong>20</strong> und <strong>20</strong>13 nicht übernommen<br />

und bleiben bei CHF 977. Ein Kanton<br />

hat einen höheren Satz (CHF 1110) angelegt,<br />

jedoch ohne Integrationszuslage.<br />

ÜL ab 1. Juli <strong>20</strong>21<br />

Das Referendum gegen die Überbrückungsleistungen<br />

für ältere Langzeitarbeitslose<br />

ist nicht zustandegekommen.<br />

Die entsprechenden Verordnungen<br />

befinden sich bis Februar <strong>20</strong>21 in der<br />

Vernehmlassung. Die Inkraftsetzung<br />

erfolgt daher nicht wie ursprünglich angekündigt<br />

auf Anfang <strong>20</strong>21, sondern am<br />

1. Juli <strong>20</strong>21. (ih)<br />

Vorläufig kein Lockdown wegen Corona. <br />

Corona-Krise: Stabile Zahlen – Absicherung<br />

für Selbständigerwerbende<br />

Seit Juni <strong>20</strong><strong>20</strong> publiziert die SKOS jeden<br />

Monat die neuen Resultate des Fallzahlen-<br />

Monitorings. Damit werden die Auswirkungen<br />

der Corona-Krise auf die Sozialhilfe<br />

beobachtet. Gesamtschweizerisch war in<br />

der Sozialhilfe zu Beginn der Corona-Krise<br />

ein leichter Anstieg der Fallzahlen bemerkbar.<br />

Ende September <strong>20</strong><strong>20</strong> liegen die Fallzahlen<br />

bei 99.9 Prozentpunkten (PP) und<br />

sind damit praktisch wieder auf dem Niveau<br />

des Durchschnittsmonats <strong>20</strong>19. Im<br />

Moment wirken nach wie vor die Instrumente<br />

der Arbeitslosenversicherung und<br />

die Corona-Erwerbsersatzentschädigung.<br />

Die SKOS wird sich in den nächsten<br />

Monaten insbesondere mit den Selbständigerwerbenden<br />

befassen, die besonders<br />

Bieler Tagung im Web<br />

Bild: Mila Hess<br />

stark von den wirtschaftlichen Auswirkungen<br />

der Covid-19-Pandemie betroffen<br />

sind. Denn sie haben keinen Anspruch auf<br />

Leistungen der Arbeitslosenversicherung.<br />

Mit dem Corona-Erwerbsersatz wurde diese<br />

Lücke im Netz der sozialen Sicherheit<br />

zwar kurzfristig geschlossen. Wie lange<br />

und in welchem Umfang dieser Erwerbsersatz<br />

fortgeführt wird, ist jedoch ungewiss.<br />

Die SKOS geht in ihren Analysen davon<br />

aus, dass sich in den kommenden Jahren<br />

deutlich mehr Selbständigerwerbende bei<br />

der Sozialhilfe melden werden als bisher.<br />

Ziel ist einerseits die Erarbeitung eines<br />

Merkblattes und andererseits die Durchführung<br />

einer halbtägigen Veranstaltung<br />

im Spätfrühling <strong>20</strong>21. (ih)<br />

•<br />

Während das SKOS-Forum im September<br />

noch vor Ort stattfinden konnte, wurde die<br />

Bieler Tagung am 2. November als Webinar<br />

durchgeführt. 130 Personen nahmen<br />

an der Tagung, welche in verkürzter Form<br />

stattfand, teil. Unter dem Titel «Der steinige<br />

Weg in den ersten Arbeitsmarkt» präsentierte<br />

Prof. Dr. Michelle Beyeler von der<br />

Berner Fachhochschule die Sicht der Wissenschaft.<br />

Thomas Michel, Leiter Abteilung<br />

Soziales der Stadt Biel, berichtete aus<br />

der Perspektive der Praxis in der Sozialhilfe.<br />

In einem Streitgespräch unter dem Titel<br />

«Was braucht es für mehr berufliche Integration?»<br />

diskutierten Felix Wolffers, ehem.<br />

Leiter Sozialamt Stadt Bern, Jérôme Cosandey,<br />

Avenir Suisse, und Daniel Lampart,<br />

Schweizerischer Gewerkschaftsbund<br />

(SGB). Die nächste Bieler Tagung befasst<br />

sich mit dem Thema persönliche Hilfe. Sie<br />

findet voraussichtlich im Kongresshaus<br />

Biel am 11. März <strong>20</strong>21 statt. Als Ausweichdatum<br />

wurde vorsorglich der 23.<br />

September festgelegt. (ih)<br />

•<br />

4 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong>


KOMMENTAR<br />

Eine neue Strategie in unsicheren Zeiten<br />

Die Covid-19-Krise bestimmt weiterhin unser<br />

Leben. Sie stellt uns vor grosse Herausforderungen<br />

in Bezug auf unseren beruflichen<br />

und privaten Alltag, aber auch in Bezug auf<br />

die Planung der kommenden Monate und<br />

Jahre. Es ist zurzeit nicht möglich abzuschätzen,<br />

wie viele Klientinnen und Klienten<br />

in einem Jahr betreut werden müssen und<br />

welche Gruppen besonders betroffen sein<br />

werden. Trotz oder gerade wegen dieser<br />

unsicheren Situation hat die SKOS beschlossen,<br />

eine neue Strategie für die kommenden<br />

vier Jahre zu erarbeiten. Im Oktober trafen<br />

sich die Geschäftsleitungsmitglieder in<br />

Zürich zur jährlichen Retraite und luden<br />

dazu sieben externe Experten ein, die einen<br />

Blick von aussen auf die SKOS warfen.<br />

Insgesamt steht die Sozialhilfe<br />

und die SKOS<br />

gefestigter<br />

da als vor vier Jahren. Damals kündigten<br />

mehrere Gemeinden ihre Mitgliedschaft, der<br />

Kanton Zürich diskutierte einen Austritt. In<br />

der Zwischenzeit fielen wichtige Entscheide,<br />

die das Prinzip von national gültigen Richtlinien<br />

stützten, allen voran der Volksentscheid<br />

im Kanton Bern im Mai <strong>20</strong>19. Die<br />

SKOS gab wichtige sozialpolitische Impulse<br />

im Bereich der Integration von Flüchtlingen,<br />

der sozialen Absicherung von Arbeitslosen<br />

über 55 und für die Weiterbildung. Die Richtlinien<br />

wurden modernisiert.<br />

Die neue Strategie will an diesen positiven<br />

Entwicklungen anknüpfen. Sie stellt die<br />

methodische und inhaltliche Weiterentwicklung<br />

der Sozialhilfe und der Richtlinien<br />

ins Zentrum. Es braucht neue Modelle zur<br />

Unterstützung von Selbständigen, die von<br />

der Pandemie besonders betroffen sind. Die<br />

gesellschaftliche Entwicklung bringt bisherige<br />

Konzepte wie den Konkubinatsbeitrag<br />

auf den Prüfstein. Die<br />

SKOS will auch weiterhin soziale Probleme<br />

aufgreifen, die sich oft zuerst in der Sozialhilfe<br />

zeigen, und dafür umsetzbare Modelle<br />

erarbeiten. Wichtig bleibt auch der Anspruch,<br />

den Mitgliedern qualitativ gute und praxisnahe<br />

Dienstleistungen zu erbringen, von<br />

der Rechtsberatung über Tagungen bis hin<br />

zu Grundlagenpapieren. Dabei sollen die<br />

unterschiedlichen Interessen berücksichtigt<br />

werden, sei es der Sozialdienst einer kleinen<br />

Gemeinde wie Eschlikon mit rund 50 Sozialhilfebeziehenden<br />

oder das für den ganzen<br />

Kanton Genf zuständige Hospice général<br />

mit fast 30 000 Sozialhilfebeziehenden.<br />

In den nächsten Monaten werden Vorstand<br />

und Kommissionen ihre Anliegen einbringen.<br />

Willkommen sind auch Vorschläge<br />

der Mitglieder. Im April <strong>20</strong>21 wird die neue<br />

Strategie verabschiedet und publiziert. Als<br />

Wegweiser für die nächsten vier Jahre, die<br />

unser System der sozialen Sicherheit vor<br />

neue und grössere Aufgaben stellen werden.<br />

Markus Kaufmann<br />

Geschäftsführer SKOS<br />

4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />

5


Mit einem Monitoring Armut<br />

erkennen und angehen<br />

FACHBEITRAG Globalisierung, Digitalisierung und Krisen verändern die Armutsrisiken. Um rechtzeitig<br />

darauf reagieren zu können, ist die Armutspolitik auf eine regelmässige und solide Faktenlage<br />

angewiesen. Als Grundlage für die Erstellung dieser Informationen hat die Berner Fachhochschule<br />

deshalb gemeinsam mit Caritas Schweiz ein Modell entwickelt, mit dem die Armutsbeobachtung in<br />

der Schweiz erheblich verbessert werden kann.<br />

Armut in einem reichen Land wie der<br />

Schweiz? Laut offiziellen Statistiken leben<br />

in der Schweiz rund 660 000 Menschen<br />

in Armut. Ihr Einkommen reicht nicht, um<br />

das soziale Existenzminimum zu finanzieren.<br />

Die Armut trägt verschiedene Gesichter:<br />

Vom Langzeitarbeitslosen mit gesundheitlichen<br />

Beeinträchtigungen über die<br />

Rentnerin mit knappen Einkünften bis hin<br />

zum Alleinerziehenden. Armut kann in allen<br />

Lebensphasen und bei unterschiedlichen<br />

Bevölkerungsgruppen zu einem Thema<br />

werden. Allen gemeinsam sind die<br />

eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten,<br />

die ihre Alltagsbewältigung und die<br />

gesellschaftliche Teilhabe erschweren. Um<br />

den armutsbetroffenen Menschen mit<br />

wirksamen Massnahmen zu helfen und Armut<br />

möglichst präventiv zu verhindern, ist<br />

eine systematische Beobachtung der Armutssituation<br />

ganz entscheidend.<br />

Lückenhafte Armutsbeobachtung in<br />

der Schweiz<br />

In der Schweiz gibt es bereits Instrumente<br />

zur Beobachtung der Entwicklung der Armutsbetroffenheit.<br />

So publiziert das Bundesamt<br />

für Statistik regelmässig Indikatoren<br />

zur Armut. Damit existiert ein<br />

Monitoring auf nationaler Ebene, das mit<br />

der EU abgestimmt ist und Vergleiche zwischen<br />

den europäischen Ländern ermöglicht.<br />

In der Armutspolitik der Schweiz<br />

spielen jedoch die Kantone eine entscheidende<br />

Rolle. Deshalb unterscheidet sich<br />

die Politik der Armutsbekämpfung stark<br />

von Kanton zu Kanton. Auch die Informationslage<br />

der Kantone ist sehr unterschiedlich:<br />

Nur einige Kantone erstellen Sozialoder<br />

Armutsberichte, die Berichterstattung<br />

erfolgt unregelmässig. Die betreffenden<br />

Indikatoren sind nur beschränkt vergleichbar.<br />

Ein Teil der Kantone fokussiert ausschliesslich<br />

auf die gewährten Sozialleistungen<br />

und vernachlässigt so, dass Armut<br />

breiter gefasst werden muss. In anderen<br />

wiederum ist die Armutssituation gänzlich<br />

unbekannt. Diese Uneinheitlichkeit führt<br />

zu einem fragmentierten Bild, das eine<br />

zielgerichtete Armutspolitik erschwert. Im<br />

Parlament wurde diese unbefriedigende<br />

Situation erkannt. Durch die Motion<br />

19.3953 ist der Bundesrat aufgefordert<br />

ein regelmässiges Monitoring der Armutssituation<br />

unter Einbezug der föderalen<br />

Struktur der Schweiz zu etablieren.<br />

Neue Möglichkeiten dank<br />

Digitalisierung<br />

Aktuell ist die Situation ungenügend. Möglichkeiten<br />

für eine permanente Armutsbeobachtung<br />

haben sich aber wesentlich<br />

verbessert. Dank technologischen<br />

Fortschritten in der Datenverarbeitung<br />

können Administrativ- und Registerdaten<br />

seit Kurzem für die Armutsforschung genutzt<br />

werden. Eine wichtige Grundlage<br />

dazu sind Steuerdaten, die mit weiteren<br />

Administrativdaten zu den Bedarfsleistungen<br />

sowie mit Registerdaten zur Wohnund<br />

Haushaltssituation verknüpft werden.<br />

Dank dieser Datenbasis kann ein detailliertes<br />

und valides Bild der finanziellen Situation<br />

der Bevölkerung erstellt werden. Da<br />

Administrativdaten im Rahmen der staatlichen<br />

Aufgaben laufend anfallen, können<br />

diese für ein Armutsmonitoring genutzt<br />

werden, ohne dass neue Daten erhoben<br />

werden müssen. Dabei muss jedoch festgelegt<br />

werden, welche Methoden und Konzepte<br />

zur Berechnung von steuerungsrelevanten<br />

Indikatoren verwendet werden.<br />

Diesbezüglich bietet der Modellvorschlag<br />

von Caritas Schweiz und der Berner Fachhochschule<br />

Hand.<br />

Modell Armutsmonitoring BFH/Caritas<br />

(vgl. die interaktive Visualisierung des Modells: « Armutsmonitoring – das Instrument gegen Armut»<br />

https://www.knoten-maschen.ch/armutsmonitoring-das-instrument-gegen-armut/)<br />

6 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong>


Modellvorschlag der Berner Fachhochschule<br />

und von Caritas Schweiz<br />

Unter Einbezug des nationalen und internationalen<br />

Forschungsstandes haben die<br />

beiden Organisationen Grundlagen erarbeitet,<br />

die es erleichtern, ein systematisches<br />

Armutsmonitoring zu erstellen. Damit<br />

können wichtige Kenntnisse zur<br />

kantonalen Situation gewonnen werden.<br />

Das Modell zeigt auf, wie die vorhandenen<br />

Daten genutzt werden können. Das<br />

Monitoring besteht aus einem «Kernmodul»,<br />

welches mittels wiederkehrender Indikatoren<br />

die Armutsrisiken gesamthaft<br />

und für bestimmte Bevölkerungsgruppen<br />

ausweist.<br />

Aus präventiver Sicht ist es wichtig, Armut<br />

nicht nur auf etablierte Indikatoren<br />

wie die absolute Armut oder den Bezug<br />

von Sozialleistungen eingegrenzt zu messen.<br />

Deshalb wird im Modell eine mehr-<br />

Viele Haushalte leben nur knapp über der<br />

Armutsgrenze. <br />

Bild: Caritas<br />

<br />

Neue Armutsstrategie für den Kanton<br />

Basel-Landschaft<br />

In der Schweiz haben 18 Kantone Sozialoder<br />

Armutsberichte publiziert. Der neuste<br />

Bericht kommt aus dem Kanton Basel-<br />

Landschaft. Er wurde im Mai <strong>20</strong><strong>20</strong><br />

publiziert. Gleichzeitig legte der Regierungsrat<br />

eine Armutsstrategie vor, die 46<br />

Massnahmen zur Armutsbekämpfung<br />

zur Diskussion stellt. Die Baselbieter Regierung<br />

will damit die Armut im Kanton<br />

bekämpfen. Mit einer Reihe von Massnahmen<br />

soll die Armut innerhalb der<br />

nächsten zehn Jahre um die Hälfte reduziert<br />

werden, wie in der von der Schweiz<br />

mitgetragenen Agenda <strong>20</strong>30 der UNO<br />

vorgesehen.<br />

«Die Strategie soll Voraussetzungen<br />

dafür schaffen, dass die Leute schon gar<br />

nicht in Armut gelangen», sagte Finanzund<br />

Kirchendirektor Anton Lauber (CVP)<br />

anlässlich der Präsentation der Strategie<br />

vor den Medien. Es gehe aber gleichzeitig<br />

auch darum, Betroffene aus der Armut<br />

herauszulösen.<br />

Die Strategie beinhaltet die Handlungsfelder<br />

Bildungschancen, Erwerbsintegration,<br />

Wohnversorgung, gesellschaftliche<br />

Teilhabe und Alltagsbewältigung<br />

sowie soziale Existenzsicherung. Die finanzielle<br />

Armut stehe im Vordergrund,<br />

doch sollen laut Lauber die unterschiedlichsten<br />

Lebensbereiche ins Urteil miteinbezogen<br />

werden.<br />

46 Massnahmen werden geprüft<br />

Die Baselbieter Regierung hat insgesamt<br />

46 zu prüfende Massnahmen verabschiedet.<br />

Diese sind noch sehr allgemein formuliert<br />

und reichen von der Intensivierung<br />

der frühen Förderung von Kindern<br />

im Bildungsbereich über die verbesserte<br />

Arbeitsmarktintegration von arbeitslosen<br />

Personen sowie der Sicherung der Wohnversorgung<br />

bis zur Ausgestaltung situativer<br />

Leistungen in der Sozialhilfe. So soll<br />

en der Zugang zum Wohnungsmarkt<br />

trotz Schulden und der Ausbau der Mietzinsbeiträge<br />

für arme Familien geprüft<br />

werden.<br />

Koordinationsstelle für Armutsfragen<br />

Der Kanton Basel-Landschaft prüft ferner<br />

die Einrichtung einer Koordinationsstelle<br />

für Armutsfragen. In den nächsten zwei<br />

Jahren möchte die Regierung die 46<br />

Massnahmen einer Detailprüfung unterziehen,<br />

anschliessend soll über die Umsetzung<br />

entschieden werden. «Die Verabschiedung<br />

der Strategie kommt in Bezug<br />

zu Covid-19 zu einem guten Zeitpunkt»,<br />

sagte Lauber.<br />

Knapp 9 Prozent der Baselbieter Bevölkerung<br />

sind gemäss Zahlen aus dem<br />

Jahr <strong>20</strong>17 von Armut betroffen – rund<br />

15 Prozent sind armutsgefährdet. Es<br />

gebe keine Hinweise darauf, dass die Armut<br />

im Kanton Basel-Landschaft zurückgegangen<br />

sei, vielmehr habe sie eher zugenommen,<br />

sagte Jörg Dittmann von<br />

der Hochschule für Soziale Arbeit der<br />

FHNW, der den Armutsbericht im Auftrag<br />

des Kantons Basel-Landschaft verfasst<br />

hat. (ih)<br />

•<br />

4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />

7


perspektivische Betrachtung mittels fünf<br />

Basisindikatoren vorgeschlagen:<br />

• Absolute Armut: Umfasst Haushalte,<br />

die mit weniger Einkommen als dem<br />

Existenzminimum gemäss Richtlinien<br />

der SKOS leben.<br />

• Armutsgefährdung: Umfasst Haushalte,<br />

deren Äquivalenzeinkommen unter<br />

60 Prozent des Medianeinkommens<br />

der Bevölkerung liegt. Damit werden<br />

auch Haushalte erfasst, deren Einkommen<br />

geringfügig über der absoluten Armutsgrenze<br />

liegt.<br />

• Armut unter Einbezug von finanziellen<br />

Reserven: Hier werden neben dem Einkommen<br />

auch finanzielle Reserven zur<br />

zeitlich begrenzten Überbrückung von<br />

Einkommensausfällen berücksichtigt.<br />

• P<strong>20</strong>-Indikator: Die Einkommen der<br />

einkommensschwächsten <strong>20</strong> Prozent<br />

der Bevölkerung werden im Verhältnis<br />

zum Durchschnittseinkommen und zu<br />

den Topeinkommen betrachtet. Dieser<br />

Ungleichheitsindikator zeigt auf, wo die<br />

Schwächsten der Gesellschaft in Bezug<br />

zu anderen Bevölkerungsschichten stehen.<br />

• Nichtbezug von Sozialhilfe: Damit wird<br />

abgebildet, wie gut der Zugang zum<br />

letzten Netz der Existenzsicherung generell<br />

und für verschiedene Bevölkerungsgruppen<br />

ist.<br />

Dazu kommt ein Vertiefungsmodul, das<br />

wechselnde Indikatoren heranzieht. Diese<br />

ermöglichen Erkenntnisse zu aktuellen<br />

sozialpolitischen Themen. Bei der Umsetzung<br />

ist zudem entscheidend, dass die<br />

kantonalen wohlfahrtsstaatlichen Instrumente<br />

sowie die regionalen Eigenheiten<br />

der Wirtschafts- und Bevölkerungsstruktur<br />

bei der Analyse berücksichtigt werden.<br />

Die Analysen sollen in regelmässigen Abständen<br />

wiederholt werden. Durch die Vereinheitlichung<br />

der Indikatoren können die<br />

Kantone miteinander in Austausch treten,<br />

Entwicklungen vergleichen und besonders<br />

erfolgreiche Massnahmen identifizieren.<br />

Armut im Kanton Bern – Resultate der<br />

Pilotstudie<br />

Das entwickelte Modell wurde anhand des<br />

Kantons Bern getestet. Die Ergebnisse des<br />

Armutsmonitorings Bern für das Jahr<br />

<strong>20</strong>15 zeigen auf, dass eine grosse Anzahl<br />

Die Ergebnisse des<br />

Armutsmonitoring<br />

Bern für das Jahr<br />

<strong>20</strong>15 zeigen auf,<br />

dass eine grosse<br />

Anzahl Haushalte<br />

im Kanton Bern von<br />

Armut betroffen ist.<br />

Haushalte im Kanton Bern von Armut betroffen<br />

ist. Gemessen an der absoluten Armutsgrenze<br />

leben im Kanton 94 000 Personen<br />

oder 10 Prozent der Bevölkerung in<br />

Armut. Fasst man Armut mit der Armutsgefährdung<br />

etwas breiter, so sind es gar<br />

15 Prozent der Bevölkerung. Daran zeigt<br />

sich, dass relativ viele Haushalte knapp<br />

über der Armutsgrenze leben.<br />

Einige Haushalte können den täglichen<br />

Bedarf mit Reserven überbrücken. Werden<br />

finanzielle Reserven bei der Armutsmessung<br />

mitberücksichtigt, so beträgt die<br />

Armutsquote 5.4 Prozent. Bei Berücksichtigung<br />

von Reserven reduziert sich die Armutsquote<br />

besonders bei Rentnerhaushalten<br />

von 18.7 Prozent auf 3.4 Prozent. Bei<br />

Rentnerinnen und Rentnern spielen Reserven<br />

in Form von Kapitalbezügen aus der<br />

zweiten und dritten Säule und der privaten<br />

Selbstvorsorge eine wichtige Rolle zur Bestreitung<br />

des Lebensunterhaltes. Bei der<br />

Erwerbsbevölkerung ist der Unterschied<br />

bei Berücksichtigung von Reserven wesentlich<br />

geringer. So reduziert sich die Armutsquote<br />

bei Personen im Alter von 16 bis 64<br />

Jahren nur von 7.1 Prozent auf 5 Prozent.<br />

Somit verfügt der grosse Teil dieser Haushalte<br />

nicht über Reserven, um längere Einkommensausfälle<br />

oder finanzielle Lücken<br />

aufgrund von zusätzlichen Ausgaben zu<br />

überbrücken.<br />

Der P<strong>20</strong>-Indikator rückt die Bestandesaufnahme<br />

in den Kontext ökonomischer<br />

Ungleichheit. Dabei wird sichtbar, dass die<br />

Ungleichheit beträchtlich ist. Die <strong>20</strong>-Prozent<br />

einkommensschwächsten Haushalte<br />

verfügen nur über halb so viel Einkommen<br />

wie der Durchschnittshaushalt und<br />

nur über einen Zehntel des Einkommens<br />

des reichsten Prozentes. Wenn auch finanzielle<br />

Mittel in Form von Bankguthaben<br />

und Wertschriften berücksichtigt werden,<br />

verschärfen sich die Unterschiede weiter.<br />

Während sich die Ressourcenlage bei den<br />

untersten <strong>20</strong> Prozent dadurch kaum verbessert,<br />

verfügen Haushalte aus dem Top-<br />

1-Prozent der Einkommensverteilung im<br />

Schnitt zusätzlich über CHF 3.4 Mio. flüssige<br />

Mittel (ohne Liegenschaften und Betriebsvermögen).<br />

Anzumerken ist, dass der<br />

Kanton Bern im schweizerischen Vergleich<br />

ein Kanton mit einer eher unterdurchschnittlich<br />

ausgeprägten Einkommensungleichheit<br />

ist.<br />

Der Indikator zum Nichtbezug von Sozialhilfe<br />

verweist auf den Zugang zum letzten<br />

Netz der Existenzsicherung. Wird anhand<br />

des Einkommens und Vermögens<br />

sowie des Bedarfs der Haushalte die Anspruchsberechtigung<br />

auf Sozialhilfe identifiziert,<br />

so kann festgestellt werden, dass<br />

36 Prozent der Anspruchsberechtigten keine<br />

Sozialhilfeleistungen beziehen. Dabei<br />

gibt es erhebliche Unterschiede zwischen<br />

städtischen und ländlichen Regionen. Der<br />

Nichtbezug von Sozialleistungen kann die<br />

Problemsituation der betreffenden Personen<br />

verschärfen, da es zu einer Verschuldung<br />

oder zu einer Verschlechterung des<br />

Gesundheitszustandes als Folge eines Verzichtes<br />

auf Gesundheitsleistungen kommen<br />

kann. Deswegen ist es wichtig, diese<br />

Gruppe bei präventiven Massnahmen stärker<br />

in den Fokus zu nehmen.<br />

Armutsmonitoring muss der föderalen<br />

Struktur gerecht werden<br />

Armutspolitik muss am Puls der gesellschaftlichen<br />

Entwicklung bleiben. Derzeit<br />

ist die Armutsbeobachtung in der Schweiz<br />

noch lückenhaft. Eine deutliche Verbesserung<br />

könnte durch eine einheitliche Verwendung<br />

bestehender Administrativdaten<br />

erreicht werden. Mithilfe des Modells der<br />

BFH und der Caritas kann erstmals ein flächendeckendes<br />

Armutsmonitoring erstellt<br />

werden, das der föderalistischen Struktur<br />

der Schweiz Rechnung trägt. Mit einem<br />

gutem Armutsmonitoring kann eine solide<br />

Grundlage für eine wirksamere Armutspolitik<br />

geschaffen werden. <br />

•<br />

Prof. Oliver Hümbelin, Prof. Robert Fluder<br />

Berner Fachhochschule<br />

Soziale Arbeit<br />

8 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong>


Wie ist die Hilflosenentschädigung<br />

zu berücksichtigen?<br />

PRAXIS Wer aufgrund einer Beeinträchtigung der Gesundheit eine Hilflosenentschädigung und<br />

allenfalls auch einen Intensivpflegezuschlag erhält, muss diese bei gleichzeitigem Sozialhilfebezug<br />

als Einnahme anrechnen lassen. Gesundheitsbedingte Nebenkosten können dafür als<br />

situationsbedingte Leistungen (SIL) von der Sozialhilfe übernommen werden.<br />

Familie Müller, ein Ehepaar und zwei Kinder,<br />

wird mit Sozialhilfe unterstützt und<br />

lebt gemeinsam in einem Haushalt. Eines<br />

der Kinder ist gesundheitlich stark beeinträchtigt<br />

und erhält dafür eine Hilflosenentschädigung<br />

und einen Intensivpflegezuschlag<br />

von der Invalidenversicherung<br />

(IV). Pflege und Betreuung werden von<br />

den Eltern erbracht.<br />

FRAGEN<br />

1. Wie werden Hilflosenentschädigung<br />

und Intensivpflegezuschlag bei der Berechnung<br />

der wirtschaftlichen Sozialhilfe<br />

angerechnet?<br />

2. Wie ist die Situation, nachdem das beeinträchtigte<br />

Kind volljährig wird?<br />

3. Wie ist in diesem Fall mit gesundheitsbedingten<br />

Mehrkosten für das Kind<br />

umzugehen, bspw. wenn die Eltern das<br />

Kind zur Entlastung jedes zweite Wochenende<br />

in einer spezialisierten Institution<br />

pflegen und betreuen lassen?<br />

4. Kann einem Elternteil eine Integrationszulage<br />

(IZU) gewährt werden?<br />

GRUNDLAGEN<br />

Gemäss Art. 9 ATSG gilt eine Person als<br />

hilflos, wenn sie wegen gesundheitlicher<br />

Beeinträchtigungen für alltägliche Lebensverrichtungen<br />

dauernd Hilfe von Dritten<br />

oder persönliche Überwachung benötigt.<br />

Hilflosenentschädigungen der IV und<br />

AHV werden daher ausgerichtet, damit<br />

sich eine unterstützte Person die für sie<br />

notwendige Hilfe finanzieren kann. Es<br />

PRAXIS<br />

In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen, die<br />

an die «SKOS-Line»gestellt werden, beantwortet<br />

und publiziert. Die «SKOS-Line» ist ein Beratungsangebot<br />

für SKOS-Mitglieder.<br />

Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />

(einloggen) Beratungsangebot<br />

geht dabei um Leistungen, die im Grundbedarf<br />

für den Lebensunterhalt der Sozialhilfe<br />

nicht vorgesehen sind.<br />

Grundsätzlich handelt es sich bei der<br />

Hilflosenentschädigung um eine frei verfügbare<br />

Einnahme, die bei der Bedarfsberechnung<br />

der Sozialhilfe zu berücksichtigen<br />

ist (SKOS-RL D.1). Die Entschädigung<br />

wird aber von einer Sozialversicherung mit<br />

einer klaren Zweckbestimmung erbracht,<br />

weshalb sie aus Gründen der Systemlogik<br />

bei der anspruchsberechtigten Person<br />

nicht ohne Weiteres als Einnahme angerechnet<br />

werden darf. Die Entschädigung<br />

darf bei der Bedarfsbemessung der Sozialhilfe<br />

für die berechtigte Person dann nicht<br />

berücksichtigt werden, wenn damit Hilfe<br />

von Dritten eingekauft wird.<br />

Wenn die Hilfe durch eine Drittperson<br />

im selben Haushalt erbracht wird, soll<br />

die Entschädigung grundsätzlich dieser<br />

Person zustehen. Wenn die Person selber<br />

bedürftig ist, ist die Entschädigung ihrer<br />

Unterstützungseinheit als Einnahme anzurechnen.<br />

Wenn mit der Entschädigung<br />

andere Hilfe von Dritten eingekauft wird,<br />

dann bestehen zwei Varianten für das weitere<br />

Vorgehen. Entweder wird die Hilflosenentschädigung<br />

der bedürftigen Person<br />

als Einnahme angerechnet. In diesem<br />

Fall muss die Hilfe von Dritten als grundversorgende<br />

situationsbedingte Leistung<br />

(grundversorgende SIL) übernommen<br />

werden (SKOS-RL C.1 und C.6.1). Oder<br />

aber die Entschädigung wird nicht angerechnet,<br />

damit die Hilfe von Dritten direkt<br />

damit finanziert werden kann. In diesem<br />

Umfang besteht dann aber kein entsprechender<br />

Anspruch auf eine grundversorgende<br />

SIL.<br />

Pflegenden Elternteilen kann für ihre<br />

Bemühungen in gewissen Fällen eine Integrationszulage<br />

(IZU) gewährt werden, obschon<br />

sie dadurch keinen Beitrag für die<br />

eigene soziale oder berufliche Integration<br />

leisten (SKOS-RL C.6.7 Erläuterungen c).<br />

ANTWORTEN<br />

1. Die Hilflosenentschädigung und der Intensivpflegebeitrag<br />

werden im Familienbudget<br />

als Einnahmen angerechnet.<br />

2. Wenn das Kind volljährig wird und im<br />

Haushalt der Eltern wohnen bleibt,<br />

die sich weiterhin um Pflege und Betreuung<br />

kümmern, dann werden ihrer<br />

Unterstützungseinheit die Hilflosenentschädigung<br />

und der Intensivpflegezuschlag<br />

als Einnahmen angerechnet.<br />

Dies gilt auch dann, wenn das volljährige<br />

Kind selber weiterhin auf Sozialhilfe<br />

angewiesen ist.<br />

3. Wenn trotz Pflege und Betreuung der<br />

Eltern notwendige Leistungen Dritter<br />

eingekauft werden, bspw. wenn die Eltern<br />

das Kind zur Entlastung jedes zweite<br />

Wochenende in einer spezialisierten<br />

Institution pflegen und betreuen lassen,<br />

dann sind diese als grundversorgende<br />

SIL von der Sozialhilfe zu vergüten. Ein<br />

Anspruch auf SIL besteht dann nicht,<br />

wenn die Leistungen im Einverständnis<br />

mit dem Sozialhilfeorgan direkt mit der<br />

Hilflosenentschädigung oder dem Intensivpflegezuschlag<br />

finanziert werden.<br />

4. Weil die Eltern ihr hilfsbedürftiges Kind<br />

pflegen, kann ihnen eine angemessene<br />

IZU gewährt werden.<br />

•<br />

WICHTIGER HINWEIS<br />

Christoph Hostettler<br />

Mitglied RiP AG<br />

Die Verweise auf die SKOS-Richtlinien<br />

beziehen sich bereits auf die ab <strong>20</strong>21 neu<br />

geltende Richtlinien-Struktur.<br />

4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />

9


«Fortschritt bedeutet, den Kreis<br />

der Solidarität auszuweiten»<br />

INTERVIEW Jonas Lüscher ist einer der renommiertesten Schriftsteller der Schweiz. Der Wahl-<br />

Münchner ist aber auch politischer Beobachter und Kommentator. Für seinen Roman «Kraft» erhielt<br />

er <strong>20</strong>17 den Schweizer Buchpreis. In seinem neusten Band «ins Erzählen flüchten» schreibt Lüscher<br />

über die politische Bedeutung der Literatur. Die Corona-Krise ist für Lüscher, der selbst schwer an<br />

Covid-19 erkrankte, ein Brennglas für die Schwächen des gesellschaftlichen Systems.<br />

«<strong>ZESO</strong>»: Herr Lüscher, seit wir zum<br />

ersten Mal Ende Februar miteinander<br />

gesprochen haben, ist viel passiert. Die<br />

Schweiz war wie viele andere Länder<br />

auch wochenlang im Shutdown. Sie<br />

selbst lagen sieben Wochen als Folge<br />

Ihrer Covid-19-Erkrankung in einem<br />

künstlichen Koma. Schön, sind Sie<br />

wieder gesund.<br />

Jonas Lüscher: Danke, ich hatte Glück.<br />

Oder besser: Glück im Pech.<br />

Corona prägt unser Leben seit Mitte<br />

März massgeblich. Hat diese Krise die<br />

Gesellschaft grundlegend verändert?<br />

Wir stecken ja noch mitten drin, deshalb<br />

ist es noch zu früh, das jetzt schon abschliessend<br />

zu beurteilen. Aber was sich<br />

jetzt schon zeigt, ist, dass die Krise wie ein<br />

Brennglas funktioniert und die Stärken<br />

und Schwächen unser Gesellschaft und<br />

unseres politischen Systems offen legt. Sie<br />

zeigt, wie wichtig die Solidarität und ein<br />

funktionierender Sozialstaat sind, denn<br />

auch in dieser Krise sind es die Armen,<br />

die am meisten unter den Auswirkungen<br />

leiden. Mich beschäftigt aber auch, was es<br />

mit uns als Gesellschaft macht, wenn jeder<br />

Mitmensch eine potentielle Gefahr darstellt.<br />

Das ist, finde ich, eine fast unerträgliche<br />

Art miteinander zu leben.<br />

Für das Retten von Leben waren wir<br />

bereit, auf sehr vieles zu verzichten<br />

und auch Wohlstand preiszugeben.<br />

War oder ist das Verhalten vieler<br />

Menschen während der Corona-Krise<br />

ein Zeichen des Wiederauflebens des<br />

Solidaritätsgedankens?<br />

Es war tatsächlich erfreulich festzustellen,<br />

dass man sich ganz sicher war, dass<br />

es jetzt darum gehen muss, Leben zu retten,<br />

und wirtschaftliche Interessen hintangestellt<br />

wurden. Das zeigt, dass so etwas<br />

möglich ist und die sonst üblichen austeritätspolitischen<br />

Argumente Humbug sind.<br />

Staaten – allen voran die Schweiz – haben<br />

sehr viel Geld zur Verfügung, wenn sie wollen.<br />

Sie sind Botschafter der Charta Sozialhilfe<br />

Schweiz und sagten: «In der<br />

Sozialhilfe findet der grundlegende<br />

Gedanke einer solidarischen Gesellschaft<br />

seinen Ausdruck. Sie ist nicht<br />

nur ein wichtiges Instrument gegen<br />

die Verelendung und eine Garantie für<br />

die Teilhabe an der Gesellschaft, sie<br />

definiert auch, welche Art von Gemeinschaft<br />

wir sein wollen.» Was genau<br />

meinen Sie damit?<br />

Es sagt viel über eine Gemeinschaft aus,<br />

ob sie einen starken Sozialstaat hat oder<br />

eben nicht. Wir sind doch in unserem Leben<br />

sehr von schicksalhaften Umständen<br />

abhängig: In welche Umstände ich hineingeboren<br />

werde, vor allem in welches<br />

Bildungsmilieu; komme ich gesund auf<br />

die Welt oder vielleicht mit einer Behinderung,<br />

wurde ich mit schönen Talenten<br />

ausgestattet, mit einem gewinnenden<br />

Aussehen, mit Klugheit gesegnet? Das<br />

sind Dinge, zu denen wir nichts beizutragen<br />

haben, und die doch unser Leben so<br />

stark definieren. In Gesellschaften, die keinen<br />

Sozialstaat haben, bleibt das Schicksal<br />

stark bestimmend für das eigene Leben.<br />

In Gesellschaften mit Sozialstaat gelingt<br />

es doch, dem Schicksal dann und wann<br />

ein Schnippchen zu schlagen. Mit einem<br />

Sozialstaat können wir nicht alle Schicksalsschläge<br />

verhindern, aber ihre Auswirkungen<br />

zumindest häufig abschwächen.<br />

Der Sozialstaat ist eine junge Errungenschaft,<br />

aber er ist doch heute<br />

hierzulande nicht wirklich in Frage<br />

gestellt.<br />

10 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong>


Eine Selbstverständlichkeit ist er trotzdem<br />

nicht. Er musste hart erkämpft werden<br />

und in vielen Ländern Europas bestehen<br />

starke Gegenbewegungen. Schauen<br />

Sie nach Österreich, nach Grossbritannien,<br />

aber auch in die USA. Wir sollten uns<br />

nicht auf der sicheren Seite fühlen.<br />

Bilder: Palma Fiacco<br />

«Ich glaube ehrlich<br />

gesagt, dass schon<br />

alleinerziehende<br />

Schweizer Mütter<br />

für manche ein Problem<br />

sind.»<br />

Personen, die auf Sozialhilfe angewiesen<br />

sind, werden in der Öffentlichkeit<br />

mehrheitlich negativ dargestellt. Warum?<br />

Es ist eben eine Frage, welches Menschenbild<br />

wir pflegen. Und die Rechtspopulisten<br />

haben es hierzulande geschafft,<br />

ein ganz altes Menschenbild – das vom<br />

faulen Sozialhilfeempfänger – aus der<br />

Mottenkiste zu holen, und dazu haben sie<br />

noch ein neues Schreckensbild geschaffen,<br />

das vom eben so faulen Sozialarbeiter<br />

und Lehrer. Menschenbilder verändern<br />

sich zum Glück durch die Geschichte. Es<br />

gab eine Zeit, in der sowieso jeder seinen<br />

von Gott zugedachten Platz hatte – da war<br />

Gleichheit noch nicht einmal ein Ideal.<br />

Erst mit der französischen Revolution hat<br />

sich der Mensch neu erfunden, als Individuum<br />

unter gleichen in Freiheit und Solidarität.<br />

Dennoch hat ein konservatives<br />

Menschenbild überdauert, in dem der<br />

Arme an seinem Elend irgendwie selber<br />

Schuld sein muss – nicht fleissig genug,<br />

nicht gottesfürchtig genug, nicht brav genug.<br />

Auch einem solchen Armen standen<br />

ein paar Almosen zu, aber eben nur aus<br />

Mildtätigkeit. Die Realität einer solidarischen<br />

Gesellschaft, in der man gemeinsam<br />

dem Schicksal trotzt, ist eine relativ<br />

neue – und sie ist eben keinesfalls selbstverständlich<br />

und muss immer wieder gegen<br />

alte Narrative verteidigt werden.<br />

Überdurchschnittlich viele Sozialhilfebeziehende<br />

haben Migrationshintergrund.<br />

Würde die Sozialhilfe<br />

weniger kritisch betrachtet, wenn sie<br />

nur Schweizerinnen und Schweizern<br />

zugute käme?<br />

Ich glaube ehrlich gesagt, dass schon alleinerziehende<br />

Schweizer Mütter für manche<br />

ein Problem sind.<br />

<br />

4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />

11


«Die Realität einer<br />

solidarischen Gesellschaft,<br />

in der man<br />

gemeinsam dem<br />

Schicksal trotzt, ist<br />

relativ neu.»<br />

<br />

Das heisst, Solidarität braucht ein<br />

ganz spezifisches «Gegenüber»?<br />

Ja, für manche Menschen schon. Es<br />

gibt jene, die den Kreis der Solidarität<br />

möglichst eng ziehen wollen, auf ihre Nation,<br />

ihre Glaubensgemeinschaft, ihre Familie<br />

beschränkt. Und es gibt jene, die den<br />

Kreis der Solidarität immer mehr ausweiten<br />

wollen – in Letzterem findet der Fortschritt<br />

der Menschheit ihren Ausdruck.<br />

Die Diskussionen um die Kostenentwicklung<br />

in der Sozialhilfe oder Missbrauch<br />

nimmt in der reichen Schweiz<br />

einen hohen Stellenwert ein. Warum?<br />

In der politischen Diskussion werden<br />

Ängste bewirtschaftet. Die Philosophie unterscheidet<br />

zwischen Angst und Furcht.<br />

Die Angst ist immer diffus und nicht zielgerichtet.<br />

Angst hat im politischen Diskurs<br />

deshalb eigentlich nichts zu suchen.<br />

Die Furcht ist konkret. Gerade in einem<br />

Land mit direkter Demokratie wäre es die<br />

Aufgabe eines jeden von uns, die Angst in<br />

konkrete Furcht umzuformulieren, sie zu<br />

konkretisieren und zu überprüfen, ob die<br />

Furcht wirklich begründet ist. Ja, das ist<br />

anstrengend und deshalb können die Ängste<br />

von den rechten Parteien bewirtschaftet<br />

werden. In meinem Essai «das Geisterhaus»<br />

habe ich dieses Phänomen mal so<br />

beschrieben: Ein Kind fürchtet sich eines<br />

Nachts davor, dass unter seinem Bett ein<br />

Gespenst ist, die Eltern sagen zu ihm, vielleicht<br />

sind es ja sogar zwei oder drei, komm<br />

zu uns ins Bett! Richtig wäre, das Kind an<br />

der Hand zu nehmen und mit ihm unter<br />

das Bett zu sehen, ob dort ein Gespenst ist.<br />

Gerade in einer globalisierten Welt sind<br />

viele Probleme komplex und schwer verständlich,<br />

dennoch kann man sie verstehen,<br />

wenn man sich anstrengt. Das kann<br />

12 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong>


man von den Bürgern eines demokratischen<br />

Staates verlangen.<br />

Welche Rolle spielen Ihrer Meinung<br />

nach die sozialen Medien in der<br />

öffentlichen Debatte über sozialpolitische<br />

Fragen?<br />

Es klingt vielleicht etwas altmodisch<br />

und kulturpessimistisch, aber mir scheint<br />

offensichtlich, dass die sozialen Medien<br />

den Diskurs verroht haben. Selbst in den<br />

Schweizer Zeitungsforen, wo nur publiziert<br />

wird, was irgendwie noch zu verant-<br />

JONAS LÜSCHER<br />

Jonas Lüscher wuchs in Bern auf, wo er auch<br />

von 1994 bis 1998 das Evangelische Lehrerseminar<br />

Muristalden besuchte. Nach einigen<br />

Jahren als Dramaturg und Stoffentwickler in der<br />

Münchner Filmwirtschaft studierte er an der<br />

Hochschule für Philosophie München (<strong>20</strong>05 bis<br />

<strong>20</strong>09). Sein Studium schloss er <strong>20</strong>09 mit der<br />

Erlangung eines Magistergrades ab. Anschliessend<br />

folgten zwei Jahre als Wissenschaftlicher<br />

Mitarbeiter am Institut TTN (Technik-Theologie-<br />

Naturwissenschaften) an der Ludwig-Maximilians-Universität,<br />

gleichzeitig arbeitete er als<br />

Ethiklehrer an der Staatlichen Wirtschaftsschule<br />

München/Pasing.<br />

<strong>20</strong>11 wechselte Lüscher an die ETH Zürich.<br />

Er schrieb dort an einer Dissertation über die<br />

Bedeutung von Narrationen für die Beschreibung<br />

sozialer Komplexität vor dem Hintergrund<br />

von Richard Rortys Neo-Pragmatismus.<br />

<strong>20</strong>12/<strong>20</strong>13 verbrachte er mit einem Stipendium<br />

des Schweizerischen Nationalfonds neun<br />

Monate als Visiting Researcher am Comparative<br />

Literature Department der Stanford University.<br />

Zum Jahresende <strong>20</strong>14 verliess Lüscher die<br />

ETH, ohne seine Dissertation abzuschliessen.<br />

Lüscher lebt seit <strong>20</strong>01 in München. Seine erste<br />

Novelle «Frühling der Barbaren» wurde <strong>20</strong>13 für<br />

den Deutschen Buchpreis nominiert, ebenso<br />

für den Schweizer Buchpreis. Für seinen Roman<br />

«Kraft» wurde Lüscher <strong>20</strong>17 der Schweizer<br />

Buchpreis verliehen. <strong>20</strong><strong>20</strong> erschien «Ins Erzählen<br />

flüchten».<br />

worten ist, ist der Ton heftig und das Niveau<br />

tief. Foren wie 4chan und Gruppen<br />

auf Telegram sind vollständig unmoderiert<br />

und bieten gleichzeitig Anonymität.<br />

Rechtsfreie Räume also, in denen alles gesagt<br />

werden darf, egal wie rassistisch, misogyn,<br />

hasserfüllt oder einfach nur unwahr<br />

es ist.<br />

Sie leben seit mehr als <strong>20</strong> Jahren in<br />

München. Wie geht es Ihnen dort?<br />

Es ist eine lebenswerte Stadt, vielleicht<br />

manchmal ein bisschen langweilig. Aber<br />

eine gute Basis. Ich bin viel auf Lesereise<br />

und München ist gut angebunden.<br />

Warum sind Sie ausgewandert?<br />

Mit 23 wollte ich weg von Bern, etwas<br />

Neues sehen. Ich bin dann erst mit einer<br />

Gruppe Freunden – alles deutsche Filmemacher<br />

– nach Köln. Und dann habe ich<br />

meine Frau kennengelernt – eine Münchnerin.<br />

Sie haben sogar die deutsche Staatsbürgerschaft<br />

angenommen. Warum?<br />

Wenn man lange in einem Land lebt,<br />

soll man nach Möglichkeit die Staatsbürgerschaft<br />

annehmen, damit man wählen<br />

kann. Und ich fühle mich in Deutschland<br />

sehr zu Hause. Zudem hat der deutsche<br />

Pass den Vorteil, dass man damit auch EU-<br />

Bürger ist. Das ist mir wichtig.<br />

Die EU hat in der Schweiz wenig Sympathie<br />

und ist nach wie vor vor allem<br />

eine Wirtschaftsgemeinschaft. Warum<br />

sind Sie gerne EU-Bürger?<br />

Auf viele der heute wichtigen Fragen<br />

finden die einzelnen Nationalstaaten alleine<br />

keine Antworten. Dazu gehört die<br />

Klimaerwärmung ebenso wie die Steuergerechtigkeit,<br />

die Migrationsfrage, die Deregulierung<br />

von Finanzmärkten und viele<br />

wirtschaftspolitische Fragen, wie sie jetzt<br />

auch durch die Konzernverantwortungsinitiative<br />

zum Thema gemacht werden.<br />

Und dann hat es aber auch etwas mit der<br />

eben skizzierten Idee von Solidarität zu<br />

tun. Dass es Fortschritt bedeutet, den Kreis<br />

der Solidarität auszuweiten – auch wenn<br />

die EU, was die Solidarität angeht, noch<br />

viel Luft nach oben hat.<br />

•<br />

Das Gespräch führte<br />

Ingrid Hess<br />

«Es klingt vielleicht etwas altmodisch und kulturpessimistisch,<br />

aber mir scheint offensichtlich, dass die sozialen Medien den<br />

Diskurs verroht haben.»<br />

4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />

13


Bild: Palma Fiacco<br />

14 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong> SCHWERPUNKT


Soziale Integration – der eigenständige<br />

Auftrag der Sozialhilfe<br />

Die soziale Integration gehört zum Kernauftrag der Sozialhilfe. Die SKOS-Richtlinien haben sie in<br />

ihren Zielsetzungen festgehalten und die Kantone in ihren Sozialhilfegesetzgebungen implizit oder<br />

explizit erwähnt. Aber was bedeutet soziale Integration für die einzelne Person und für den Auftrag,<br />

den die Sozialarbeitenden zu erfüllen haben?<br />

Die Begriffe Integration und soziale Integration werden auf vielfältigste<br />

Art und Weise beschrieben, unter anderem als:<br />

• «Teilhabe benachteiligter Personen an der Gesellschaft»,<br />

• «Handlungsbefähigung, d.h. Verwirklichungschancen von Individuen,<br />

die sich in der persönlichen und sozialen Wohlfahrtsproduktion<br />

niederschlagen. Kriterium dafür ist die Nutzung<br />

verfügbarer Ressourcen, die Überwindung von Armut und Deprivation<br />

und die Suche nach gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten»;<br />

• «Ausgleich von Interessen, Bewältigung von Konflikten und Befriedigung<br />

von Bedürfnissen».<br />

Mit Bezug auf die Sozialhilfe betrachtet, bedeutet soziale Integration<br />

Teilhabe am sozialen Leben und die Integration in den Arbeitsmarkt.<br />

Bei diesem Integrationsansatz wird implizit davon<br />

ausgegangen, dass ein Mensch nicht integriert sein kann, wenn er<br />

keinen Anschluss zur Arbeitswelt hat. Der indische Wirtschaftswissenschaftler<br />

und Philosoph Amartya Sen verlangt demgegenüber<br />

in seinem Ansatz der verwehrten Verwirklichungsmöglichkeiten<br />

eine Perspektivenverschiebung: «Es gibt gute Gründe dafür, Armut<br />

als Mangel an fundamentalen Verwirklichungschancen zu<br />

betrachten und nicht bloss als zu niedriges Einkommen.» Auch in<br />

wohlhabenden Gesellschaften sei diese Perspektive von Armut einzunehmen,<br />

da das Individuum in seinen Freiheiten, Initiativen<br />

und Begabungen behindert wird.<br />

Soziale Integration als eigenständiger Auftrag der Sozialhilfe<br />

Die SKOS-RL <strong>20</strong>21 halten in ihren Zielsetzungen fest, dass die Sozialhilfe<br />

zur Förderung der beruflichen und sozialen Integration<br />

Angebote und Programme anzubieten hat (SKOS-RL, <strong>20</strong>21, A.2).<br />

Die Teilhabe am wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen<br />

Leben ist zu garantieren. In den Erläuterungen wird präzisiert,<br />

dass nebst der Hilfe zur Selbsthilfe auch Hilfestellungen zur<br />

Bewältigung individueller Notlagen und zur Kompensation struktureller<br />

Ursachen bereitzuhalten sind. Kompensierende Angebote,<br />

welche den beruflichen Voraussetzungen, dem Alter, dem Gesundheitszustand,<br />

den persönlichen Verhältnissen und den Fähigkeiten<br />

der unterstützten Person entsprechen, sind bereitzustellen. Ergänzt<br />

wird zudem die Zulassung einer selbständigen Erwerbstätigkeit<br />

mit dem alleinigen Ziel der sozialen Integration. Fraglich ist inwieweit<br />

die Priorisierung, welche die SKOS-RL der beruflichen Integration<br />

vor der sozialen geben, einen Einfluss auf die Praxis hat.<br />

Soziale und/oder berufliche Integrationsbemühungen sind mit<br />

einer Integrationszulage zu honorieren. Die SKOS-RL empfehlen<br />

hierbei einen Betrag zwischen 100 und 300 Franken pro Person<br />

und Monat je nach erbrachter Leistung und deren Bedeutung.<br />

Eng verknüpft mit dem Begriff der sozialen Integration ist in<br />

der Sozialhilfe und in den Richtlinien der Begriff der persönlichen<br />

Hilfe. Diese soll durch gezielte Unterstützungsangebote sowohl in<br />

präventiver wie auch in akuter Hinsicht integrierend wirken. Persönliche<br />

Hilfe versteht sich sowohl als integraler Bestandteil der<br />

wirtschaftlichen Hilfe wie auch als präventiver Beratungsauftrag<br />

ohne Sozialhilfe. Die SKOS-RL <strong>20</strong>21 widmen neu der persönlichen<br />

Hilfe ein ganzes Kapitel (B). Beratung, Begleitung und Vermittlung<br />

umfassen Unterstützungen bei Arbeits- und Wohnungssuche,<br />

administrativer Korrespondenz mit Sozialversicherungen<br />

bis hin zu aufwändigen Abklärungen, freiwillige Einkommensverwaltung,<br />

Schuldenberatung und -sanierungen. Im Kern ist das<br />

kein neuer Auftrag. Diese Aufgaben können an spezialisierte Stellen<br />

delegiert werden.<br />

Die Umsetzung in den Kantonen<br />

Die explizite Erwähnung des sozialen Integrationsauftrages fehlt<br />

in vielen kantonalen Sozialhilfegesetzgebungen. Implizit kann der<br />

Auftrag jedoch abgeleitet werden. Ausdrücke wie die Förderung<br />

der «persönlichen Selbstständigkeit», der «Hilfe zur Selbsthilfe»,<br />

der «gesellschaftlichen Integration», der «Verhinderung von Ausgrenzung»<br />

sowie der «Eingliederung» werden in den jeweiligen<br />

Rechtsnormen ausgeführt.<br />

Interessant ist hierbei festzustellen, dass sich die Prioritätensetzung<br />

in der Reihenfolge der Wortwahl «berufliche und soziale»<br />

oder «soziale und berufliche» Integration durchaus im Verständnis<br />

eines eigenständigen Auftrages zur sozialen Integration in der<br />

Sozialhilfe niederschlägt. Eine stichprobenartige Umfrage bei<br />

einzelnen Kantonen zeigt interessante Ansätze der sozialen Integration:<br />

Beispiel Bern<br />

Unter der Leistung «Soziale Integration (SI)» in seinem Detailkonzept<br />

zu den Beschäftigungs- und Integrationsangeboten der Sozialhilfe<br />

bietet der Kanton Bern für Sozialhilfebeziehende, die mittelfristig<br />

kaum eine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt haben,<br />

Angebote zur sozialen Stabilisierung an. Diese beinhalten Gruppen-<br />

oder Einzelarbeitsplätze, Projekte für stunden- oder tageweise<br />

Aktivitäten, Dauernischenarbeitsplätze, Unterstützung in Alltagsfragen,<br />

Hilfestellung bei der Bewältigung lebensweltlicher Fragen<br />

und regelmässige Standortbestimmungen. Das Ziel dieser Angebote<br />

liegt explizit darin, eine soziale Stabilisierung zu erreichen.<br />

16 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong> SCHWERPUNKT


SOZIALE INTEGRATION<br />

Freiwilligenarbeit, zum Beispiel Nachbarschaftshilfe, wird häufig nicht<br />

als Massnahme zur sozialen Integration anerkannt. Bild: Keystone/G. Bally<br />

Weitere Entwicklungen in Richtung einer niederschwelligen Arbeitsintegration<br />

werden ermöglicht.<br />

Beispiel Zürich<br />

Die Stadt Zürich bietet zielgruppenspezifische, modular aufgebaute<br />

Angebote. Gemeinnützige Arbeit wird explizit als Integrationsmassnahme<br />

aufgeführt (vgl. S. 18).<br />

Beispiel Genf<br />

Der in Genf verwendete Begriff der sozialen Begleitung (accompagnement<br />

social) beinhaltet Dienstleistungen sowohl im präventiven<br />

Bereich, also ohne wirtschaftliche Hilfe, wie auch Beratung,<br />

Begleitung und Vernetzungsarbeit als Ergänzung zur wirtschaftlichen<br />

Hilfe. Die Angebotspalette der sozialen Begleitung ist in beiden<br />

Bereichen dieselbe. Die soziale Begleitung hat zum Ziel, den<br />

Nutzerinnen und Nutzern (usagers) die Wiedererlangung ihrer<br />

Selbständigkeit zu ermöglichen. Dies ohne den Druck einer Teilnahme<br />

an Programmen.<br />

Beispiel Waadt<br />

Der im Kanton Waadt verwendete Begriff der sozialen Unterstützung<br />

(appui social) ist Teil eines 3-Säulen-Konzepts der Sozialhilfe.<br />

Das Angebot steht sowohl Personen mit wie auch ohne wirtschaftliche<br />

Hilfe zur Verfügung und beinhaltet eine individualisierte Beratungs-,<br />

Begleitungs-, Informations- und Vernetzungsarbeit. Die<br />

Dienstleistung des «appui social» ist gegliedert in zehn Lebensbereiche:<br />

Finanzen, finanzielle Ansprüche gegenüber Dritten inklusive<br />

administrative Abklärungen, Wohnen, Gesundheit, Arbeit, Familie,<br />

Grundkompetenzen, Bildung, soziales Netzwerk und<br />

Mobilität. Die soziale Integration wird dann als erfüllt bezeichnet,<br />

wenn alle vereinbarten Bereiche gelöst sind. Die sozialen Integrationsmassnahmen<br />

(mesures d’insertion social, MIS) ihrerseits finden<br />

sich in einem Katalog mit 70 Angeboten zu verschiedenen<br />

Themen: MIS socio-professionelles, MIS Familien, MIS 50+, MIS<br />

Übergang, MIS Grundkompetenzen, MIS finanzielle Stabilität<br />

und MIS soziale Kontakte. Diese Angebote werden in enger Zusammenarbeit<br />

mit externen Partnerorganisationen realisiert.<br />

Die kantonalen Beispiele zeigen, dass es verschiedene Formen<br />

der Umsetzung des Auftrags der sozialen Integration gibt:<br />

• Soziale Integration neben der beruflichen Integration als eigenständiges<br />

Ziel der Eingliederungsmassnahmen.<br />

• Soziale Integration mittels beruflicher Integrationsmassnahmen.<br />

• Soziale Integration als Betreuung und Beratung in Abgrenzung<br />

zur wirtschaftlichen Hilfe.<br />

Interessant ist zudem festzustellen, dass individuelle soziale<br />

Integrationsbemühungen wie zum Beispiel Freiwilligenarbeit,<br />

Nachbarschaftshilfe oder Therapien nicht von allen Kantonen in<br />

der Liste der sozialen Integration aufgeführt werden. Entsprechend<br />

werden solche Bemühungen entweder mit einer Integrationszulage<br />

oder gar nicht belohnt.<br />

Soziale Integration als eigenständiger Auftrag der Sozialhilfe<br />

Das Primat der Erwerbsarbeit prägt die moderne Gesellschaft und<br />

den Status der einzelnen Menschen darin. Die gesellschaftlichen<br />

und politischen Erwartungen der letzten Jahre an die Sozialhilfe<br />

waren deshalb, die berufliche (Re-)Integration zu forcieren. Die<br />

soziale Realität einer Mehrheit der Personen, die wirtschaftliche<br />

Hilfe benötigen, kann diesem Anspruch nicht genügen. Das St.<br />

Galler Handbuch beschreibt dieses Dilemma wie folgt: «Für einen<br />

nicht unbedeutenden Teil der Hilfesuchenden sind aus gesundheitlichen<br />

oder anderen persönlichen Gründen rein berufliche<br />

Integrationsmassnahmen entweder nicht angezeigt oder nicht<br />

möglich: Für sie sollen soziale Integrationsmassnahmen bereitstehen,<br />

welche eine Alltagsstruktur vermitteln und das Selbstbewusstsein<br />

der Betroffenen stärken» (Handbuch KOS, <strong>20</strong>19, Kapitel<br />

D.2, S. 81).<br />

Neuorientierung des Integrationsauftrages<br />

Die SKOS-RL legen zwar den Grundstein für einen sozialen Integrationsauftrag<br />

in der Sozialhilfe. Selbstkritisch darf aber darüber<br />

nachgedacht werden, ob komplementär zum Begriff der beruflichen<br />

und sozialen Integration von der beruflichen oder sozialen<br />

Integration beziehungsweise von der sozialen oder beruflichen<br />

Integration gesprochen werden könnte. Davon ausgehend, dass<br />

eine berufliche Integration bei nur rund einem Drittel der sozialhilfebeziehenden<br />

Personen in Betracht gezogen werden kann, ist<br />

beim übrigen Mehrheitsanteil die soziale Integration in den Fokus<br />

zu stellen. Eine Neuorientierung des Integrationsauftrages wäre<br />

also angezeigt (vgl. Seite 22), damit die «soziale Integration» der<br />

Sozialhilfebeziehenden zu einem eigenständigen Ziel im Bereich<br />

der öffentlichen Sozialhilfe aufsteigt. <br />

•<br />

Corinne Hutmacher-Perret<br />

Fachbereich Grundlagen der SKOS<br />

SCHWERPUNKT 4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />


Befähigung und Motivation der<br />

Sozialhilfebeziehenden<br />

Der Schweizer Arbeitsmarkt verändert sich: Neben den bekannten Trends der Automatisierung<br />

und Digitalisierung wird niedrigqualifizierte Arbeit ins Ausland verlagert. Menschen mit kleinem<br />

Bildungsrucksack fällt es immer schwerer, einen Arbeitsplatz zu finden. Durch verschiedene<br />

Massnahmen je nach Arbeitsmarktfähigkeit und Motivation bieten die Sozialen Dienste Zürich<br />

individuelle Förderung zur sozialen Integration.<br />

Die Stadt Zürich setzt seit Juli <strong>20</strong>18 die Strategie zur beruflichen<br />

und sozialen Integration von Sozialhilfebeziehenden um. Deren<br />

Kern ist ein Paradigmenwechsel weg von Verpflichtung und Sanktionierung<br />

hin zu Befähigung und Motivation der Betroffenen. Die<br />

Strategie teilt alle grundsätzlich arbeitsfähigen Personen, die auf<br />

Unterstützung durch die Sozialhilfe angewiesen sind, basierend<br />

auf ihrer Arbeitsmarktfähigkeit und Motivation in vier Zielgruppen<br />

ein. Je nachdem, wie arbeitsmarktfähig und motiviert jemand<br />

ist, unterscheiden sich die Ziele und Massnahmen (vgl. den Beitrag<br />

«Von der Verpflichtung zur Motivation» von Raphael Golta in<br />

der <strong>ZESO</strong> 01/<strong>20</strong>18).<br />

Die Strategie richtet sich in erster Linie an Personen ab 25<br />

Jahren, die grundsätzlich mindestens für ein 50-Prozentpensum<br />

arbeitsfähig und verfügbar sind. Jedoch sind sie auf Unterstützung<br />

angewiesen, um den Eintritt in den ersten Arbeitsmarkt zu<br />

bewältigen. Für Jugendliche und junge Erwachsene bis 25 Jahre<br />

gilt der Grundsatz «Ausbildung vor Beschäftigung», weshalb in<br />

der Regel andere Lösungen (z.B. Ausbildungs- oder Praktikumsplatz,<br />

berufsvorbereitende Angebote, Coaching) gesucht werden.<br />

Teilnehmende der Strategie durchlaufen ein Grundangebot mit<br />

sinnvoller Arbeitstätigkeit und besuchen qualifizierende Zusatzmodule<br />

sowie gegebenenfalls die Stellenvermittlung. Dies trifft<br />

auf ca. <strong>20</strong> Prozent aller erwachsenen Sozialhilfebeziehenden der<br />

Stadt Zürich zu.<br />

Rund 80 Prozent der erwachsenen Sozialhilfebeziehenden in<br />

der Stadt Zürich befinden sich in einer Situation, aufgrund welcher<br />

sie (noch) nicht zur Zielgruppe der Strategie zur beruflichen<br />

und sozialen Integration gehören:<br />

• Rund die Hälfte der Betroffenen ist für die Arbeitsintegration<br />

nicht bereit oder verfügbar, weil sie an einer psychischen und/<br />

oder körperlichen Erkrankung leidet oder Betreuungspflichten<br />

für kleine Kinder hat.<br />

• Weitere ca. <strong>20</strong> Prozent arbeiten zwar – dies aber zu einem<br />

nicht-existenzsichernden Lohn (Tieflohn oder Mini-Pensum).<br />

ANGEBOTE «SOZIALE INTEGRATION» UND «BERUFLICHE UND SOZIALE INTEGRATION»<br />

Abbildung: Das durchlässige System zur sozialen und beruflichen Integration von<br />

Sozialhilfebeziehenden in der Stadt Zürich<br />

18 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong> SCHWERPUNKT


SOZIALE INTEGRATION<br />

• Rund 10 Prozent erhalten Gelder aus anderen Sozialen Sicherungssystemen<br />

wie beispielsweise Taggelder der Arbeitslosenkasse.<br />

Diese Unterstützung sichert aber nicht deren Existenz.<br />

Die Stadt Zürich ist überzeugt, dass auch Personen, die (noch)<br />

nicht an der beruflichen und sozialen Integration teilnehmen,<br />

nicht zurückgelassen werden dürfen. Doch welche Massnahmen<br />

werden eingesetzt, um zu unterstützen?<br />

Stabilisierung und soziale Teilhabe dank Mitarbeit in<br />

Beschäftigungs- und Förderangeboten<br />

Mit diesen nicht arbeitsfähigen Personen wird daran gearbeitet,<br />

ihre individuelle Situation zu stabilisieren sowie eine Tagesstruktur<br />

aufzubauen oder zu erhalten, damit sie nicht in eine Negativspirale<br />

geraten. Klientinnen und Klienten können im Rahmen der<br />

sozialen Integration entweder einer stundenweisen Beschäftigung<br />

nachgehen oder sie erhalten einen Förderarbeitsplatz (vgl. Abbildung,<br />

blauer Teil). Hauptsächliches Ziel dieser Massnahmen ist es<br />

nicht, eine Anstellung im ersten Arbeitsmarkt zu finden. Vielmehr<br />

geht es darum, soziale Teilhabe sowie ein weitgehend selbstbestimmtes<br />

Leben zu ermöglichen.<br />

In den Angeboten der stundenweisen Beschäftigung arbeiten<br />

die Teilnehmenden in verschiedenen Bereichen wie Administration,<br />

Lagerarbeiten, Reinigung und Unterhalt, Holzverarbeitung,<br />

Reparaturen, Wäscherei, Küche oder Wald- und Gartenarbeiten.<br />

Dies ist unbefristet möglich. Neben dem Aufbau einer Tagesstruktur<br />

geht es insbesondere auch darum, dass die Klientinnen und<br />

Investition in soziale Integration lohnt sich. Bild: Palma Fjacco<br />

Klienten mehr Handlungsautonomie und Lebensqualität erlangen.<br />

Im Vordergrund der Förderarbeitsplätze steht, dass Teilnehmende<br />

die Voraussetzungen für einen Übertritt in die berufliche<br />

und soziale Integration erreichen. Dafür werden sie entsprechend<br />

ihrer Ressourcen und Fähigkeiten gezielt gefördert und so zur beruflichen<br />

und sozialen Integration begleitet. Eine Beschäftigung<br />

in den Förderarbeitsplätzen ist befristet. Für den Besuch eines Angebots<br />

der sozialen Integration erhalten Klientinnen und Klienten<br />

für ihre Arbeitstätigkeit eine Integrationszulage.<br />

In beiden Angebotsbereichen der sozialen Integration ist zudem<br />

vorgesehen, dass Teilnehmende Kurse zur Förderung ihrer<br />

Grundkompetenzen besuchen. Dabei verbessern sie Deutschkenntnisse,<br />

Fähigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen und<br />

sie erarbeiten sich Kenntnisse in der Informations- und Kommunikationstechnologie<br />

(z.B. Bedienung Touch-Screens, PC-Kurse,<br />

Nutzung des Internets zur Stellensuche).<br />

Individuell passende Angebote dank durchlässigem System<br />

Ein grosser Vorteil des beschriebenen Systems ist seine Durchlässigkeit<br />

(vgl. Abbildung). Je nach individuellen Voraussetzungen<br />

und vorhandenem Potenzial wird neben der sozialen Integration<br />

auch auf die berufliche Integration hingearbeitet. So können Klientinnen<br />

und Klienten aus einem Angebot der stundenweisen Beschäftigung<br />

oder einem Förderarbeitsplatz den Schritt in die Angebote<br />

der Strategie zur beruflichen und sozialen Integration machen<br />

– sobald sie die Kriterien für die Basisbeschäftigung erfüllen. Auch<br />

in den niederschwelligsten Angeboten im Rahmen der stundenweisen<br />

Beschäftigung ist eine Steigerung des Arbeitspensums<br />

möglich. Durch regelmässige Standortbestimmungen werden die<br />

Teilnehmenden somit individuell abgeholt. Je nach aktueller Situation<br />

und vorhandenen Ressourcen können passende Entwicklungsschritte<br />

eingeleitet werden.<br />

Dank der grossen Angebotsvielfalt in der Stadt Zürich kann für<br />

die Klientinnen und Klienten ein zum jeweiligen Zeitpunkt passendes<br />

Angebot gefunden werden. Für viele Betroffene ist der Weg<br />

in den ersten Arbeitsmarkt zwar lang und steinig – und teilweise<br />

nicht realistisch. Die Stadt Zürich ist jedoch überzeugt, dass sich<br />

die Investition nicht nur in die berufliche, sondern auch in die soziale<br />

Integration von Sozialhilfebeziehenden lohnt. Denn einer regelmässigen<br />

(wenn auch nur stundenweisen) Beschäftigung nachzugehen,<br />

hat für das Selbstwert- und Zugehörigkeitsgefühl einen<br />

nicht zu unterschätzenden Wert und hilft allenfalls, aus den Fugen<br />

geratene Lebenssituationen wieder zu stabilisieren.<br />

•<br />

Mirjam Schlup<br />

Direktorin Soziale Dienste Zürich<br />

Christine Koradi<br />

Geschäftsleitung Soziale Dienste Zürich<br />

Iris Pulfer<br />

Leiterin Fachstab Soziale Integration<br />

SCHWERPUNKT 4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />


«Soziale Integration» am Beispiel<br />

der jungen Erwachsenen<br />

Die Sozialhilfe verfolgt zwei Ziele: Existenzsicherung und Integration. Beide Ziele sind<br />

eng miteinander verknüpft. In der Politik und Praxis haben sich die Prioritäten in den<br />

letzten Jahrzehnten stark auf das Ziel der beruflichen Integration fokussiert. Für junge,<br />

sozialhilfebeziehende Erwachsene hat dies ambivalente Auswirkungen: Jene mit guten Aussichten<br />

auf dem Ausbildungsmarkt werden langfristig unterstützt und solche, die sich in sogenannten<br />

«mehrfachkomplexen» Lebenslagen befinden und über kein Ausbildungsprojekt verfügen, werden<br />

finanziell benachteiligt und stärker unter Druck gesetzt.<br />

Der sozialethische Gedanke, allen Menschen unabhängig ihrer<br />

wirtschaftlichen Situation eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben<br />

zu ermöglichen, ist in der materiellen Gewährung der Existenzsicherung<br />

angelegt: Das soziale Existenzminimum ermöglicht<br />

nicht nur ein knappes Überleben, sondern deckt beispielsweise<br />

auch Ausgaben für einen Kinobesuch oder Vereinsbeiträge.<br />

Eine gesicherte Existenz ist unabdingbare Voraussetzung für<br />

die Integrationsarbeit in der Sozialhilfepraxis. Wenn jemandem<br />

beispielsweise die Wohnung gekündigt wurde, wird er oder sie<br />

grosse Mühe haben, sich um die Erwerbsintegration zu bemühen.<br />

Gemeinsam beugen die Existenzsicherung und der Integrationsauftrag<br />

dem gesellschaftlichem Ausschluss vor. Im Idealfall ergänzen<br />

sie sich im Rahmen der konkreten Unterstützung der Sozialhilfebeziehenden<br />

und werden gleichwertig angewandt.<br />

Soziale Integration dient der Arbeitsmarktintegration<br />

Die Realität sieht allerdings häufig anders aus. Die beiden Ziele stehen<br />

heute in einem ambivalenten Verhältnis zueinander. Auch<br />

wenn die Sozialhilfepraxis sehr heterogen und vielfältig bleibt, zeigt<br />

sich ein klarer Trend. Die Sozialhilfe ist sozialpolitisch unter Druck<br />

geraten und das auf Solidarität basierende Menschenbild hat an Gewicht<br />

verloren. Insbesondere wirtschaftliche Rationalitäten haben<br />

an Wichtigkeit gewonnen. Beispiele hierfür sind die Missbrauchsdebatte<br />

in den <strong>20</strong>00er Jahren, die fachlich kritisierte Herabsetzung<br />

des Existenzminimums, die Einführung des Bonus-Malus-System<br />

und die Etablierung der Aktivierungslogik.<br />

Nachweise für die individuellen Bemühungen um die rasche<br />

Erwerbsintegration und Ablösung aus der Sozialhilfe zählen heutzutage<br />

mehr als die sozialethischen Zielsetzungen der gesellschaftlichen<br />

Teilhabe, wenn es um die politische Legitimation von Sozialhilfebezug<br />

geht. Im Fokus der öffentlichen Debatte steht die<br />

Vermeidung von dauerhafter «Sozialhilfeabhängigkeit» und der<br />

damit einhergehenden Kosten. Zum einen steigen aber die Ansprüche<br />

im Ausbildungs- und Arbeitsmarkt, womit die Eintrittsschwelle<br />

immer höher ansteigt. Zum anderen haben sogenannte<br />

«mehrfachkomplexe» Fälle, also Menschen mit Benachteiligungen<br />

in mehreren Lebensbereichen (Gesundheit, soziales Umfeld, finanzielle<br />

Situation, Ausbildung) zugenommen. Beide Entwicklungen<br />

erschweren die Integrationsarbeit in der Sozialhilfepraxis<br />

und die Verhinderung von Langzeitbezug.<br />

Betrachtet man die konkrete Umsetzung der in den SKOS-<br />

Richtlinien festgeschriebenen Formel «soziale und berufliche<br />

Integration» genauer, fällt auf, dass es in der Tendenz de facto<br />

um Arbeitsmarktintegration und wirtschaftliche Selbständigkeit<br />

geht. Zu diesem Zweck haben die Kantone «Abklärungszentren»<br />

kreiert, die systematisch Sozialhilfebeziehende entlang ihrer Arbeitsmarktpotenziale<br />

evaluieren und segmentieren. Investitionen<br />

mit dem Ziel, die «soziale Integration» der Sozialhilfebeziehenden<br />

zu verbessern, sind nur dann sozialpolitisch legitimiert, wenn sie<br />

mittelfristig auch der Arbeitsmarktintegration dienen.<br />

«Ausbildung vor Arbeit» für junge Erwachsene<br />

Diese Entwicklung lässt sich am Beispiel der sozialhilfebeziehenden<br />

jungen Erwachsenen illustrieren. Zunächst wurde diese Zielgruppe<br />

Opfer der erwähnten Leistungskürzungen im Bereich der<br />

Existenzsicherung. Das Richtlinien-Monitoring <strong>20</strong>18 der SKOS<br />

zeigt, dass die meisten Kantone die alleinlebenden 18 bis 25-jährigen<br />

Sozialhilfebeziehenden finanziell benachteiligen im Vergleich<br />

zu älteren Alterskategorien (je nach Haushaltsstruktur 500<br />

Franken bis 986 Franken). Auch in den SKOS-Richtlinien ist seit<br />

der Revision <strong>20</strong>18 festgehalten, dass junge Erwachsene mit eigenem<br />

Haushalt «in jedem Fall» mit einem um <strong>20</strong> Prozent reduzierten<br />

Grundbedarf leben sollen – es sei denn, sie sind erwerbstätig,<br />

betreuen Kinder oder nehmen an einer Integrationsmassnahme<br />

teil. Die Begründung für diese Kürzung: Zu viel Sozialhilfe könnte<br />

die Arbeitsmoral der jungen Menschen negativ beeinflussen und<br />

sie davon abhalten, eine Ausbildung zu machen und später wirtschaftlich<br />

auf eigenen Beinen zu stehen. Je jünger eine Person,<br />

desto grösser ist die Gefahr einer längeren und damit teuren «Sozialhilfeabhängigkeit».<br />

Diese Gefahr wird allerdings nicht mit fehlenden<br />

Möglichkeiten auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt<br />

begründet, sondern den jungen Erwachsenen selber zugeschrieben.<br />

Ein solches Verständnis läuft dem Ziel der «sozialen Integration»<br />

zuwider, weil es eine Altersgruppe unter Generalverdacht stellt<br />

und das sozialethische Fundament des Existenzminimums dadurch<br />

relativiert wird.<br />

Für junge, sozialhilfebeziehende Erwachsene bleibt die Realität<br />

in den verschiedenen Sozialdiensten ambivalent, denn gleichzeitig<br />

haben sich die meisten kantonalen Sozialämter – gemeinsam<br />

mit ihren Partnerinnen und Partnern, den Berufsbildungs- und<br />

<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong> SCHWERPUNKT


SOZIALE INTEGRATION<br />

Arbeitsämtern – neu ausgerichtet und verfolgen nun konsequent<br />

die Strategie «Ausbildung vor Arbeit» (siehe SKOS-Richtlinien<br />

B.4). Es besteht allerdings kein Recht auf Ausbildung. Vielmehr<br />

besteht eine neue Nachweispflicht für die jungen Erwachsenen,<br />

über ein realistisches Ausbildungsprojekt zu verfügen. Falls sie<br />

dieser Pflicht nicht nachkommen, laufen sie Gefahr finanziell<br />

sanktioniert zu werden. Trotzdem wird sozialpolitisch damit signalisiert,<br />

dass die Sozialhilfe bereit ist, junge Erwachsene auch<br />

langfristig auf dem Weg zu einer Erstausbildung zu begleiten.<br />

Die «sozialen» Grundkompetenzen der ausbildungslosen<br />

jungen Erwachsenen fördern<br />

Was bedeutet «soziale Integration» für junge Erwachsene vor diesem<br />

sozialpolitischen Hintergrund? Einem Grossteil gelingt mit<br />

Unterstützung der kantonalen Übergangsregimes (Case Management<br />

Berufsbildung, Coaching, individuelle Beratung und Begleitung,<br />

Bewerbungstrainings etc.) früher oder später der Sprung in<br />

eine Berufsausbildung. Die Sozialhilfe finanziert dabei in der Ausbildungszeit<br />

die Existenz dieser jungen Menschen ohne weitere<br />

Forderungen nach Ablösung. Die SKOS setzt sich hier für existenzsichernde<br />

Stipendien ein, unter anderem mit dem Argument,<br />

Letztere seien weniger stigmatisierend als Sozialhilfeleistungen.<br />

Diese Kategorie von jungen Erwachsenen ist aus sozial- und bildungspolitischer<br />

Sicht auf Kurs.<br />

Soziale Integration wird über Bildungsintegration und später<br />

die Teilhabe am Arbeitsmarkt erreicht. Problematischer ist es für<br />

jene, die ausbildungslos und gesundheitlich angeschlagen sind,<br />

sich in vielfältigen benachteiligten Lebenslagen befinden (Kontaktabbruch<br />

mit den Eltern, Obdachlosigkeit, Schulden), nicht<br />

über das nötige schulische Niveau verfügen, Kinder betreuen, und<br />

aufgrund schlechter Erfahrungen mit dem Bildungssystem (Lehrstellenabbrüche)<br />

demotiviert sind. In solchen «mehrfachkomplexen»<br />

Fällen arbeiten die Sozialdienste vermehrt mit externen<br />

Anbietern zusammen, die befristete Massnahmen zur Förderung<br />

von «sozialen» Grundkompetenzen anbieten. Beispiele hierfür<br />

sind etwa Integrationsprogramme wie «Move On!» in Genf oder<br />

das «Lernhaus» in Basel-Stadt. Der Fokus in diesen Programmen<br />

liegt auf der Verbesserung von Kompetenzen wie «Teamfähigkeit»,<br />

«Pünktlichkeit», «Belastbarkeit» oder «Selbstorganisation». Bei<br />

diesen «sozialen» Grundkompetenzen geht es also faktisch um die<br />

Vermittlung von Fähigkeiten, die insbesondere im aktuellen beruflichen<br />

Kontext von Bedeutung sind. Soziale Integration ist auch<br />

hier kein eigenständiges Ziel der Sozialhilfepraxis.<br />

Alternative Strategien für die Sozialhilfe im Umgang mit<br />

«mehrfachkomplexen» Fällen<br />

Die Förderung von sozialen Grundkompetenzen mag für einen<br />

Teil der jungen Erwachsenen eine adäquate Lösung sein, doch was<br />

ist mit denjenigen, die zurückbleiben und auch nach einer solchen<br />

Massnahme den Anschluss nicht finden oder gar nicht teilnehmen?<br />

Ein innovativer Umgang könnte bedeuten, Freiräume für<br />

diese jungen Menschen zu schaffen, indem man sie aus einer leistungsorientierten<br />

Integrationslogik herausnimmt. Das innovative<br />

Projekt «Scène Active» in Genf könnte dabei als Vorbild dienen.<br />

«Scène Active» bietet bis zu 40 Plätze spezifisch für junge Erwachsene<br />

an, die aktuell ohne berufliche Perspektive sind und auf brüchige<br />

Laufbahnen zurückblicken. Der Fokus liegt dabei auf das<br />

Wiedererlangen eines Selbstwertgefühls. Die Teilnahme ist freiwillig<br />

und Ziel ist es, innerhalb eines Jahres ein öffentliches Theaterprojekt<br />

auf die Beine zu stellen.<br />

Die Verantwortlichen verzichten bewusst auf die Anwendung<br />

eines klassischen, auf berufliche Integration ausgerichteten<br />

Ansatzes, da ein solcher Ansatz für diese Kategorie von jungen<br />

Menschen als nicht zielführend betrachtet wird. Falls die Teilnehmenden<br />

im Anschluss im Stande sind, eine berufliche Ausbildung<br />

anzustreben, gut, aber es ist nicht das vorrangige Ziel. Somit kann<br />

die Angst vor dem Scheitern reduziert werden und der Erfolg wird<br />

nicht anhand von «Ablösequoten» gemessen, sondern anhand von<br />

qualitativen Kriterien, wie die Verbesserung der Lebenslagen der<br />

jungen Menschen. Interessant ist dieses Projekt auch deshalb,<br />

weil es von einer Stiftung («Accroche») initiiert wurde, die von<br />

verschiedenen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren getragen<br />

wird (Sozialhilfe, Berufsbildung, Arbeitsamt, aufsuchende Soziale<br />

Arbeit, Privatpersonen, Stiftungen). Sie finanzieren das Projekt<br />

gemeinsam. Somit sind die Verantwortlichen nicht an innerkantonale,<br />

institutionelle Abläufe gebunden. Ausserdem fördert eine<br />

solche Struktur den Austausch mit allen involvierten Akteuren<br />

über institutionelle Grenzen hinweg.<br />

Auf sozialpolitischer Ebene müsste zudem die Neuorientierung<br />

des Integrationsauftrages der Sozialhilfe diskutiert werden. Fachleute<br />

der Sozialen Arbeit müssten sich dafür einsetzen, dass die «soziale<br />

Integration» der Sozialhilfebeziehenden zu einem eigenständigen<br />

Ziel im Bereich der öffentlichen Sozialhilfe aufsteigt. Damit<br />

könnten die einseitige Arbeitsmarktorientierung und der damit<br />

einhergehende Erfolgsdruck abgeschwächt werden, die aktuell<br />

auf den Schultern der öffentlichen Sozialhilfe lasten. Zu diesem<br />

Zweck müssten die kantonalen Sozialhilfegesetzgebungen nicht<br />

geändert werden. Die aktuelle rechtliche Rahmung – beispielsweise<br />

mit sozialgesetzgeberischen Zielsetzungen wie der persönlichen<br />

Hilfe oder der Vorbeugung von sozialen Notlagen – erlaubt in den<br />

meisten Kantonen eine solche Interpretation des Integrationsauftrages.<br />

In der aktuellen sozialpolitischen Stimmungslage ist eine<br />

solche strategische Kehrtwende allerdings unwahrscheinlich. Eine<br />

weitere Bedingung wäre zudem, dass der Bezug von Sozialhilfe im<br />

Sinne einer sozialen Unterstützung an sich nicht als unerwünscht<br />

oder gar schädlich für die Entwicklung dieser jungen Menschen<br />

interpretiert würde, sondern als ein Anrecht in einer prekären Lebenslage.<br />

•<br />

Yann Bochsler<br />

Fachhochschule Nordwestschweiz<br />

www.skos.ch/publikationen/monitoring-sozialhilfe<br />

SCHWERPUNKT 4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />


(K)ein Teil der Gesellschaft<br />

Soziale Ausgrenzung und Isolation können schwere Folgen haben. Das trifft ganz besonders auf<br />

obdachlose Personen zu, was ihnen die Rückkehr in die Gesellschaft zusätzlich erschwert. La<br />

Cloche ist eine Organisation in Frankreich. Sie zeigt mit Projekten in acht Städten, dass soziale die<br />

Integration von Obdachlosen möglich und wirksam ist.<br />

«Die Leute haben mich anders angeschaut. Obwohl sie nicht wissen<br />

konnten, dass ich auf der Strasse lebe, gaben sie mir das Gefühl,<br />

nicht dazuzugehören. Als ob sie wüssten, dass ich anders bin.<br />

Ich hatte keinen Platz in der Gesellschaft und litt unter der Last der<br />

Blicke anderer», sagt Cédric. Er verbrachte sein halbes Leben auf<br />

der Strasse. Er verlor sein Selbstwertgefühl und hatte Schwierigkeiten,<br />

seinen Platz in der Gesellschaft wiederzufinden. So wie Cédric<br />

fühlen viele. Studien zeigen, dass in Frankreich 84 Prozent der<br />

Menschen, die kein Zuhause haben, unter der Nichtbeachtung<br />

und Ablehnung der Passanten leiden, was ihre Wiedereingliederung<br />

in die Gesellschaft behindert. Cédric ist heute Benevol bei der<br />

Organisation la Cloche. Dort berichtet er von seiner Vergangenheit<br />

auf der Strasse und teilt seine Erfahrungen und Sichtweisen mit.<br />

Damit entsteht mehr Verständnis für das Thema der Obdachlosigkeit.<br />

Er möchte Menschen auf der Strasse helfen, so wie ihm selbst<br />

geholfen wurde, und ihnen das weitergeben, was er erfahren durfte<br />

und was ihn von der Strasse holte, die soziale Integration.<br />

Unsichtbar und ausgegrenzt<br />

Auch in der Schweiz werden Obdachlose nicht nur auf der Strasse<br />

beim Vorbeigehen nicht beachtet. Sie sind in offiziellen Statistiken<br />

und Studien unsichtbar. Auch gibt es keine gesellschaftliche Diskussion<br />

über die Thematik. Ein Grund dafür ist, dass wohnungslose<br />

Menschen schwer zu erfassen sind, denn viele kommen in befristeten<br />

Wohnlösungen oder bei Bekannten unter und werden<br />

deshalb nicht als obdachlos wahrgenommen. Der erste, der verlässliche<br />

Zahlen in der Schweiz über Obdachlosigkeit nennt, ist<br />

FÜR LOKALE SOLIDARITÄT<br />

Die Änderung der Sichtweise und die gesellschaftliche Integration<br />

helfen wohnungslosen Personen, aus ihrer sozialen<br />

Isolation auszubrechen und ihre Würde und ihr Selbstvertrauen<br />

wiederzugewinnen. La Cloche hat zum Ziel, das tägliche<br />

Leben von obdachlosen Personen zu erleichtern und Kontakte<br />

im Quartier zu knüpfen.<br />

Das gelingt mit den drei Programmen: le Carillon, les Clochettes,<br />

la Cloche à Biscuit und den Medien (Gazette, Radio,<br />

Podcasts), in denen die Menschen auf der Strasse das Wort<br />

ergreifen. Mit zahlreichen Aktivitäten, Schulungen und Veranstaltungen<br />

kann jeder, mit oder ohne Zuhause, auf seiner<br />

Ebene dazu beitragen, die Gesellschaft und sein Umfeld<br />

integrativer zu gestalten.<br />

Die Überzeugung der Organisation: Soziale Bindungen und<br />

ein Perspektivenwechsel sind im Kampf gegen die extreme<br />

Ausgrenzung ebenso wichtig wie materielle Hilfe.<br />

Matthias Drilling von der Fachhochschule Nordwestschweiz, der<br />

im Januar <strong>20</strong><strong>20</strong> gemeinsam mit Esther Mühlethaler und Gosalya<br />

Iyadurai den «Ersten Länderbericht Schweiz» herausgab. Die Studie<br />

liefert konkrete Zahlen zur Obdachlosigkeit im Raum Basel<br />

und zeigt auf, dass Obdachlosigkeit eine nähere Beachtung erfordert.<br />

Soziale Integration ist lebenswichtig<br />

Wie Cédric sind obdachlose Personen meist sozial nicht integriert<br />

und finden daher keinen Halt in der Gesellschaft. Soziale Ausgeschlossenheit<br />

und soziale Isolation gehen mit einer markant tieferen<br />

Lebenserwartung einher. Studien in Deutschland und Frankreich<br />

weisen darauf hin, dass obdachlose Menschen im<br />

Durchschnitt eine Lebenserwartung von 49 Jahren haben. Der<br />

allgemeingesellschaftliche Durchschnitt liegt bei 83 Jahren. Auch<br />

in der Schweiz liegt die Lebenserwartung von wohnungslosen Personen<br />

deutlich unter dem landesweiten Durchschnitt. Eine Studie<br />

der US-Forscherin und Psychologin Susan Pinker zeigt, dass der<br />

wichtigste Einflussfaktor für ein langen Lebens die soziale Integration<br />

ist. Unter sozialer Isolation leidet nicht nur die psychische,<br />

sondern auch die physische Gesundheit. Das Immunsystem wird<br />

geschwächt und der Level an Stresshormonen steigt. Das zweitwichtigste<br />

Bedürfnis laut der Meta-Studie sind nahe Beziehungen.<br />

Soziale Kontakte stimulieren die Ausschüttung von Glückshormonen,<br />

die förderlich für eine gute Gesundheit sind. Die soziale Integration<br />

ist also wichtig für ein langes und gesundes Leben. Das<br />

soziale Geflecht und die Art und Weise, wie wir miteinander agieren,<br />

sind für den Menschen als soziales Wesen entscheidend. Es<br />

vermittelt das Gefühl, ein Teil der Gesellschaft zu sein, dazuzugehören.<br />

Das bedeutet, dass es nicht einfach damit getan ist, obdachlosen<br />

Menschen ein Dach über den Kopf zu geben. Ebenso zentral<br />

ist es, die soziale Integration und die Verbindung zur Gesellschaft<br />

wiederherzustellen.<br />

Eine Tasse Kaffee, die Teilnahme am öffentlichen Leben<br />

Ohne Hilfe der Obdachlosigkeit zu entkommen, ist schwierig.<br />

Dass der Mangel an bezahlbaren Wohnungen in der Schweiz nicht<br />

nur materielle Missstände zur Folge hat, sondern auch die Möglichkeiten<br />

zur gesellschaftlichen Teilhabe stark einschränkt, berichtet<br />

auch Caritas in einem Positionsbericht von <strong>20</strong>14. Hilfsangebote<br />

gib es in der Schweiz viele: von Gassenküchen und<br />

Notschlafstellen bis zu begleitetem Wohnen. Meist sind es primäre<br />

Hilfestellungen, die sicherstellen, dass Betroffene nicht mehr auf<br />

der Strasse sein müssen. Das Projekt Housing First wurde in diversen<br />

Ländern erfolgreich eingeführt und wird auch in der Schweiz<br />

getestet. Das Konzept Housing First will Obdachlosen durch die<br />

Zurverfügungstellung von Wohnraum Voraussetzungen schaffen,<br />

22 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong> SCHWERPUNKT


SOZIALE INTEGRATION<br />

Teilnehmende der Organisation la Cloche bei einem Stadtrundgang durch Paris Bild: Julie Bernet<br />

damit sie den Weg zurück in die Gesellschaft finden. Einen anderen<br />

Ansatz der Thematik verfolgt die französische Organisation La<br />

Cloche. Die Organisation knüpft mit ihren Programmen an die<br />

Erkenntnisse der Psychologin Susan Pinker an. Diese zeigten, dass<br />

soziale Integration und soziale Einbindung wichtige Voraussetzungen<br />

für gesundes Leben sind. Schon kleine alltägliche Gesten<br />

in der Nachbarschaft verbessern das Leben obdachloser Menschen<br />

und tragen entscheidend zu ihrer sozialen Integration bei. Deshalb<br />

hat La Cloche verschiedene Programme für die Integration von<br />

Obdachlosen in die Gesellschaft ins Leben gerufen. Die Programme<br />

fördern die soziale Bindung zwischen Menschen mit und ohne<br />

Zuhause. Es ist ein Miteinander um den Kampf gegen die Ausgrenzung<br />

von Personen ohne Zuhause. Dieser «Faire ensemble»-<br />

Ansatz ermöglichte es Cédric, Kontakte zur Nachbarschaft zu<br />

knüpfen sowie Würde, Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen in sich<br />

selbst und Vertrauen in die Gesellschaft wiederzufinden. So gelang<br />

es ihm schliesslich ein neues Leben zu beginnen.<br />

Eingliederung – gegenseitige Bereicherung<br />

Das erste Projekt der in Paris gegründeten Organisation ist «Le Carillon»,<br />

ein lokales Solidaritätsnetz zwischen Ladenbesitzern und<br />

Anwohnern mit oder ohne Zuhause, das darauf abzielt, das tägliche<br />

Leben obdachloser Menschen zu verbessern und gegen ihre<br />

Isolation anzukämpfen. 10<strong>20</strong> solidarische Einzelhändler bieten<br />

alltägliche Dienstleistungen an (das Benutzen der Toilette, Aufladen<br />

des Telefons, ein Glas Wasser trinken etc.), während die Bewohner<br />

im Voraus für Produkte (Kaffee, Gebäck, Mahlzeiten…)<br />

bezahlen, die den Obdachlosen in Form von Gutscheinen für<br />

Dienstleistungen in ihrer Nachbarschaft angeboten werden. La<br />

Cloche handelt in der Überzeugung, dass Individuen eine Gesellschaft<br />

ausmachen. Alle Menschen sollen so akzeptiert werden, wie<br />

sie sind: in ihrer Einzigartigkeit, mit ihren Ideen und Talenten,<br />

aber auch mit ihrer Zerbrechlichkeit und ihren diversen Hintergründen.<br />

«Les Clochettes» ist ein Programm städtischer Initiativen, die<br />

darauf abzielen, die Isolation von Obdachlosen durch die Förderung<br />

des «Faire ensemble» anzugehen. In einem Netzwerk von<br />

Gemeinschaftsgärten kommen Menschen mit und ohne Wohnsitz<br />

in der Nachbarschaft zusammen und sind aktiv im Garten, beim<br />

Heimwerken oder bei gemeinsamen Mahlzeiten. Cédric mag das<br />

Anpacken im Garten, fühlt sich nützlich und lernt neue Leute kennen.<br />

La Cloche ermöglichte Cédric, Fuss in der Gesellschaft zu fassen.<br />

Er konnte Kontakte knüpfen, investiert in die Freiwilligenarbeit<br />

und traut sich, mit anderen Leuten in Kontakt zu treten, ohne<br />

sich minderwertig zu fühlen. Er fand sein Selbstvertrauen, seine<br />

Lebensfreude und seinen Platz in der Gesellschaft wieder und<br />

lernte, Hilfe anzunehmen. Dies sind die ersten wichtigen Schritte,<br />

vom Leben auf der Strasse wegzukommen. Cédric hat inzwischen<br />

eine Arbeit auf dem Bau und wohnt in einer eigenen Wohnung.<br />

«Heute ermöglicht mir la Cloche, zurückzugeben, was mir die Organisation<br />

gegeben hat, als ich auf der Strasse war.» •<br />

<br />

SCHWERPUNKT 4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />

Julie Bernet<br />


«Die Erfahrung zeigt, dass man<br />

nur mit Leuten arbeiten kann, die<br />

man im Boot hat.»<br />

NACHGEFRAGT Das Hilfswerk HEKS bietet mit seinem Projekt HEKS-Visite seit über <strong>20</strong> Jahren in<br />

mehreren Kantonen Arbeitsintegrationsprojekte für Langzeitarbeitslose und Sozialhilfebezüger an.<br />

Etwa 600 Sozialhilfebeziehende alleine in Zürich und Schaffhausen finden seither jedes Jahr eine<br />

sinnstiftende Tätigkeit, Tagesstruktur und persönliche Kontakte. Der Gründer Roland Bänziger zieht<br />

Bilanz.<br />

«<strong>ZESO</strong>»: Herr Bänziger, wie kamen Sie 1998 auf die Idee, das Projekt<br />

HEKS-Visite ins Leben zu rufen?<br />

Roland Bänziger: In Zürich gab es damals 11 000 Sozialhilfebeziehende,<br />

in Winterthur 3500. Viele von ihnen hatten im<br />

Grunde keine reale Chance, eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt<br />

zu finden. Mit Visite wollte ich erreichen, dass möglichst viele<br />

von ihnen die Möglichkeit erhalten, via kleine Pensen dennoch<br />

an der hohen sozialen Integrationskraft der Arbeit teilzuhaben.<br />

Wie finden Sie die passenden Stelle für diese Menschen?<br />

Wir hören ihnen gut zu, und so erfahren wir, wann sie bereit<br />

sind, eine Arbeit anzunehmen, wie viele Stunden und in<br />

welchem Bereich sie etwas machen wollen. Wenn wir gerade<br />

in diesem Moment nicht die richtige Arbeit anbieten können,<br />

dann machen wir uns auf die Suche nach einer geeignten Stelle.<br />

Wir arbeiten in den Kantonen Zürich und Schaffhausen mit<br />

über 300 Institutionen zusammen. Auch wenn wir nicht immer<br />

auf die perfekte Stelle treffen, so gelingt es uns in der Regel<br />

doch, etwas sehr Ähnliches zu finden. Wäre dem nicht so, würde<br />

es nicht funktionieren. Es sind Menschen, die sich in der<br />

Regel schon sehr oft beworben haben – ohne Erfolg, und häufig<br />

weisen sie körperliche oder psychische Beschwerden auf<br />

oder haben Suchtprobleme. Mein Ziel ist, dass die Betroffenen<br />

etwas machen können und so etwas für sie Sinnvolles leisten.<br />

Sinnstiftend wäre auch, wenn sie mit ihrer Arbeit Geld verdienen<br />

würden. Das tun sie aber nicht.<br />

Ja, es ist ein Wermutstropfen, dass sie keinen Lohn für ihre<br />

Arbeit bekommen. Sie erhalten nur die Integrationszulage im<br />

Rahmen der Sozialhilfe. Es ist doch erstaunlich, dass viele dennoch<br />

mitmachen.<br />

Sie arbeiten für das Projekt Visite eng mit den Sozialdiensten<br />

zusammen. Wie und aufgrund welcher Kriterien erfolgt die Zuweisung<br />

zu Visite?<br />

Oftmals kommt der Anstoss von den Betroffenen selber,<br />

weil sie etwas Sinnvolles leisten wollen. Zugewiesen werden<br />

sie dann jedoch von den Sozialdiensten. Die Stadt Zürich weist<br />

uns jährlich etwa 300 Leute zu, Winterthur <strong>20</strong>0 und weitere<br />

etwa 100 sind aus dem Kanton. Die Sozialdienste Zürich und<br />

Winterthur machen den älteren Sozialhilfebeziehenden, die<br />

über 50 Jahre alt sind, keinen Druck mehr, ein Integrationsprogramm<br />

zu absolvieren. Wenn es aus sozialarbeiterischer Sicht<br />

Sinn machen würde teilzunehmen, können die Betroffenen<br />

das dennoch tun. Sie werden aber nicht dazu gezwungen. Die<br />

Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter verweisen ganz generell<br />

Sozialhilfeempfangende an uns, weil sie etwas tun wollen.<br />

Ganz selten spielt Zwang eine Rolle.<br />

Was ist Ihre Erfahrung mit Leuten, die mit Druck zu Visite kommen?<br />

Ich bin der Auffassung, dass Druck und Sanktionen in der<br />

Sozialarbeit selten erfolgreich sind. Die Erfahrung zeigt, dass<br />

man nur mit Leuten arbeiten kann, die man im Boot hat. Eine<br />

Ausnahme sind für mich die jungen Erwachsenen. Hier kann<br />

Druck die Lösung sein, etwas Neues zu erleben und damit positive<br />

Erfahrungen zu machen. Es dürfen jedoch nicht wir sein,<br />

die Druck ausüben, sondern Visite muss die Lösung für das<br />

Problem sein.<br />

Eigentlich gehören junge Erwachsene in die Ausbildung.<br />

Das stimmt natürlich, dennoch kann es vorkommen, dass<br />

wir in einem bestimmten Moment die Richtigen für sie sind.<br />

Wir prüfen und setzen voraus, dass vorgängig alle Abklärungen<br />

betreffend Ausbildung, Krankheit etc. stattgefunden haben<br />

und ein Helfernetz vorhanden ist. Grundsätzlich bräuchten<br />

junge Erwachsene oftmals eher eine sozialpädagogische Begleitung.<br />

Die können wir nicht bieten, da unsere Partnerinnen<br />

und Partner in den Einsatzbetrieben in dieser Hinsicht keine<br />

geschulten Fachleute sind.<br />

Verlassen viele ihre Stelle vorzeitig?<br />

Zwischen Anmeldung, Erstgespräch, Einführungskurs und<br />

Platzierung geht ca. eine von drei Personen verloren. Ich finde<br />

das nicht schlimm, wenn es nicht funktioniert. Durchschnitt-<br />

24 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong> SCHWERPUNKT


SOZIALE INTEGRATION<br />

HEKS-VISITE<br />

Das 1998 von Roland Bänziger ins Leben gerufene Projekt<br />

HEKS-Visite existiert heute als eigenständiges Programm in<br />

den Regionen Zürich/Schaffhausen, Solothurn/Aargau und<br />

Ostschweiz. Es richtet sich an Menschen, die Sozialhilfe<br />

beanspruchen und auf dem Arbeitsmarkt geringe Chancen<br />

haben. Ohne Erwerbsarbeit sind nicht nur die finanziellen<br />

Möglichkeiten der Betroffenen eingeschränkt, es fehlen ihnen<br />

auch soziale Kontakte, eine Tagesstruktur und neue Impulse.<br />

Mit einer Beschäftigung in gemeinnützigen Organisationen<br />

erhalten sie wieder eine Struktur in ihrem Alltag und lernen<br />

neue Menschen und Situationen kennen. Die Organisationen<br />

profitieren, weil sie Dienstleistungen zur Verfügung stellen<br />

können, die sie sonst nicht anbieten würden.<br />

Visite-Gründer Roland Bänziger will Menschen, die keine Chance im<br />

Arbeitsmarkt haben, die Möglichkeit geben, etwas Sinnvolles zu tun<br />

und damit auch Vereinsamung und Isolation zu durchbrechen.<br />

Bild: HEKS<br />

lich sind diejenigen, die eine Arbeit annehmen, 18 bis 24 Monate<br />

dabei. Es gibt aber auch Leute, die 15 oder 18 Jahre dabei<br />

bleiben, weil sie kriegstraumatisiert sind oder andere schwerwiegende<br />

Einschränkungen aufweisen. Das macht durchaus<br />

Sinn, denn sie kommen so regelmässig aus dem Haus, strapazieren<br />

unter Umständen wegen ihrer Untätigkeit ihre Familie<br />

nicht, sehen andere Menschen und bleiben somit sozial integriert.<br />

Visite ist ausdrücklich kein Programm zur Integration in den ersten<br />

Arbeitsmarkt. Dennoch schaffen es manche.<br />

Zirka 10 Prozent der austretenden Teilnehmenden schaffen<br />

den Schritt in den ersten Arbeitsmarkt. Ich finde, das ist recht<br />

viel, wenn man bedenkt, dass die Leute zu uns kommen, weil<br />

sie gar keine Chance hatten, sich wieder in den ersten Arbeitsmarkt<br />

zu integrieren. Wir überprüfen die Nachhaltigkeit aber<br />

nicht, und auch nicht, ob die Arbeit existenzsichernd ist.<br />

Seit einigen Monaten herrschen aufgrund der Covid-19-Pandemie<br />

erschwerte Bedingungen für solche Einsätze. Wie gehen Sie damit<br />

um?<br />

Die Corona-Krise hat eine einschneidende Wirkung. Wegen<br />

einem Zuweisungsstopp hatten wir während drei Monaten fast<br />

keine Zuweisungen, aber die normale Fluktuation. Ende Februar<br />

hatten wir über 6<strong>20</strong> Personen im Einsatz. Im April arbeiteten<br />

gerade noch ca. 80 Personen. Nur dank grossen Anstrengungen<br />

meines 14-köpfigen Teams haben wir es geschafft,<br />

dass heute wieder ca. 570 Personen einer regelmässigen Tätigkeit<br />

nachgehen können. Visite ist ein Programm, das komplett<br />

ohne Subventionen auskommt und keine Programmbeiträge<br />

erhält. Wir werden ausschliesslich über geleistete Arbeit<br />

bezahlt. Wenn die Arbeit ausbleibt – wie jetzt wegen Corona,<br />

ergibt sich daraus direkt ein Verlust.<br />

Was möchten Sie nach so vielen Jahren noch ändern oder<br />

verbessern?<br />

Visite ist ein sehr schönes Programm. Unschön ist, dass all<br />

die Arbeit, die geleistet wird, nicht bezahlt wird. Ich wünschte<br />

mir, dass die Betroffenen einen Lohn erhielten. Die Leute arbeiten<br />

im Durchschnitt 7 Stunden pro Woche, manche arbeiten<br />

nur zwei, andere <strong>20</strong> Stunden. Bei <strong>20</strong> Franken pro Stunde<br />

und 7 Stunden pro Woche würden sie 560 Franken pro Monat<br />

verdienen. Sie hätten also einen richtigen Lohn, und die Sozialhilfe<br />

käme ergänzend dazu. Das wäre aus Sicht der Sozialhilfe<br />

ein Nullsummenspiel. Dass die Leute arbeiten, obwohl sie nur<br />

eine minimale Integrationszulage von meistens 100 Franken<br />

pro Monat erhalten, zeigt umso mehr, wie motiviert sie sind.<br />

Das zeigt doch, dass der oft gehörte Vorwurf in der politischen<br />

Debatte, dass Sozialhilfebeziehende einfach nur zu faul zum<br />

Arbeiten sind, komplett falsch ist. Die Leute wollen arbeiten,<br />

wenn sie können. Ich finde es sehr schade, dass es das Angebot<br />

nicht in allen Regionen der Schweiz gibt. Ich finde, solche<br />

Angebote sollte es überall geben. <br />

•<br />

Das Gespräch führte<br />

Ingrid Hess<br />


26 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong><br />

Bilder: Palma Fiacco


Unter Beobachtung<br />

die Persönlichkeit stärken<br />

REPORTAGE Auf der Beobachtungsstation der FoyersBasel finden weibliche Jugendliche in schwierigen<br />

Umständen eine Zwischenstation, um sich eine neue Zukunft aufzubauen. Der Weg dahin ist eine<br />

Gratwanderung.<br />

Glitschig tropft die orange Masse vom Löffel.<br />

Glibberige Kerne werden beim nächsten<br />

Griff in den Kürbis mit einem schabenden<br />

Geräusch ausgekratzt. «Wääh,<br />

siie!», ruft Alva*, eines der sechs Mädchen,<br />

das um den Tisch der offenen Küche im<br />

Erdgeschoss der Beobachtungsstation der<br />

FoyersBasel sitzt, weit vornübergebeugt,<br />

die langen Haare zu einem Knoten gebunden.<br />

Es ist Ferienzeit auf der Station, die<br />

meisten Bewohnerinnen nehmen an der<br />

geplanten Aktivität teil. «Es ist wichtig,<br />

auch während unterrichtsfreien Zeiten<br />

Strukturen zu bieten», sagt Karen Schröder<br />

zum heutigen Programm, die Sozialpädagogin<br />

ist für den Abenddienst eingeteilt.<br />

Für weibliche Jugendliche, deren<br />

Erfahrung es ist, durch alle Maschen zu<br />

fallen, sollen geregelte Abläufe für engere<br />

Maschen sorgen. Für solche, die Halt geben.<br />

Ida* schnappt sich einen Riesenkürbis<br />

und macht sich mit geübten Handgriffen<br />

an die harte Schale. Hartnäckig<br />

schnitzt sie mit dem Messer in die widerborstige<br />

Melonenfrucht. Wie bei den betreuten<br />

Bewohnerinnen braucht es auch<br />

da Geduld, um an den weichen Kern heranzukommen.<br />

«Heute ist ein ruhiger Tag», schildert Institutionsleiterin<br />

Barbara Jenny ihren Eindruck,<br />

die Stimmung sei verhältnismässig<br />

entspannt. Es gibt sie auch, die anderen<br />

Tage. Ist die Beobachtungsstation voll belegt<br />

– was sie in der Regel ist – treffen hier<br />

Mädchen und junge Frauen aufeinander,<br />

die schwer an ihrem Erfahrungsrucksack<br />

tragen. Alva murrt und verdreht die Augen,<br />

lustlos stochert sie im Gemüse und pult<br />

Löffel für Löffel des Inhaltes heraus. Neben<br />

ihr steht Christina Uecker, sie studiert an<br />

der Höheren Fachschule Soziale Arbeit und<br />

übernimmt heute den Nachtdienst, der<br />

sich einige Stunden mit dem Abenddienst<br />

überschneidet. «Ich fühle mich wie im Kindergarten»,<br />

blafft die 17-Jährige sie an, den<br />

Strukturen zu bieten, sei wichtig, sagt<br />

Sozialpädagogin Karen Schröder.<br />

BEOBACHTUNGSSTATION<br />

DER FOYERSBASEL<br />

Die Beobachtungsstation ist neben der<br />

Durchgangsstation, der Wohngruppe und<br />

dem Interkulturellen Foyer Bildung und Beruf<br />

einer der vier Bereiche der FoyersBasel. Aufgenommen<br />

werden normalbegabte weibliche<br />

Jugendliche von 13 – 18 Jahren mit Abklärungsbedarf<br />

ihrer persönlichen, familiären<br />

und schulischen Situation. Sie verfügt über<br />

acht Abklärungsplätze und zwei Progressionsplätze.<br />

Während des Aufenthaltes wird<br />

die Gesamtsituation und die Persönlichkeitsstruktur<br />

der einzelnen Jugendlichen und<br />

die Struktur des Bezugssystems erfasst.<br />

Das interdisziplinäre Team setzt sich aus<br />

Fachleuten der Bereiche Pädagogik, Psychologie<br />

und Psychiatrie zusammen. Ziel ist es,<br />

umfassende, multidisziplinäre Gutachten<br />

über die Bewohnerinnen zu erstellen und Lösungen<br />

für ihre zukünftigen Möglichkeiten<br />

zu erarbeiten.<br />

Blick auf Uecker geheftet. Diese hält ihrem<br />

Blick Stand, mit Widerstand scheint sie<br />

umgehen zu können. Auf Provokationen<br />

reagiert sie sachlich, geht aber mit Ernsthaftigkeit<br />

auf Fragen ein, die ihr gestellt<br />

werden. «Wir kennen ja die Geschichten<br />

der Mädchen», erklärt Schröder, «das Verständnis<br />

hilft, einen Zugang zu finden».<br />

Ordnung ins Leben bringen<br />

Später steht Alva in ihrem Zimmer, ein<br />

Hauch von Klinik weht durch den weissen<br />

Flur mit dem starken Deckenlicht, der<br />

dorthin führt. Der Raum wirkt karg, Weiss<br />

dominiert, auf den Regalen stehen einzelne<br />

Gegenstände. Es herrscht eine Ordnung,<br />

die im Leben der jugendlichen Bewohnerin<br />

vor ihrem Eintritt in die<br />

Institution weitgehend fehlte. «Am Anfang<br />

fand ich die Regeln hier furchtbar», erzählt<br />

sie, sie wirkt nun viel ruhiger als im Nachmittagsprogramm.<br />

Unterdessen sehe sie<br />

nicht mehr alles so negativ. «Zuhause habe<br />

ich keine Grenzen gekannt, ich war immer<br />

draussen, habe viel zu viel Alkohol konsumiert»,<br />

erzählt sie. «Natürlich gibt es auch<br />

das Gegenteil», sagt Institutionsleiterin<br />

Jenny dazu, «andere Mädchen wurden mit<br />

starker Hand geführt und hatten damit zu<br />

kämpfen». Psychische Belastungen, kriminelle<br />

Handlungen oder Schwierigkeiten<br />

im Umgang mit der eigenen Sexualität,<br />

auch das sind Ursachen, die zu einer Einweisung<br />

in die Beobachtungsstation beigetragen<br />

haben können. Gerade für Letzteres<br />

sieht die Psychotherapeutin Constanze<br />

Veigel-Maruschke einen Vorteil darin, dass<br />

weibliche Jugendliche hier unter sich sind.<br />

«Manchmal müssen sie gerade in Bezug<br />

auf sexuelle Handlungen geschützt werden<br />

– vor sich und anderen.»<br />

Veigel-Maruschke begleitet die Jugendlichen<br />

durch Höhen, aber auch oft und<br />

umso intensiver durch Tiefen während<br />

ihres Aufenthaltes. Alva besetzt einen der <br />

4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />

27


acht Abklärungsplätze und sieht unterdessen<br />

wieder eine Zukunft für sich. Eine<br />

Lehre scheint durch die enge Begleitung<br />

hier wieder im Bereich des Möglichen, das<br />

war nicht immer so. Auch der Kontakt zur<br />

Mutter hat sich stark gebessert, jedes zweite<br />

Wochenende verbringt sie bei ihr. «Ich<br />

habe das Gefühl, mein Leben wieder besser<br />

in den Griff zu bekommen.» Es ist ein<br />

auf und ab, vor Kurzem ist sie wieder im<br />

hier genutzten Phasenmodell in die «Phase<br />

Orange» abgestiegen. Was das heisst? Weniger<br />

Freiheiten. Es ist die zweitunterste<br />

Stufe im sechsstufigen Phasenmodell,<br />

nach dem auf der Beobachtungsstation gearbeitet<br />

wird.<br />

Gemeinsame Aktivitäten sorgen für eine<br />

tragende Struktur.<br />

«Konfrontation,<br />

Provokation, Selbstreflexion,<br />

das gehört<br />

hier alles dazu.»<br />

Zurück im Erdgeschoss beugt sich Ida über<br />

eine schwarze Katze, streicht ihr über den<br />

Kopf und stellt ihr den gefüllten Futternapf<br />

vor die Nase. Nach sechs Monaten Abklärung<br />

hat sie sich unterdessen weitere vier<br />

Monate auf einem der zwei sogenannten<br />

Progressionsplätze den eigenen Schwierigkeiten<br />

gestellt. «Diese Plätze sind dazu da,<br />

die Persönlichkeit weiter zu festigen, um<br />

draussen besser klarzukommen», sagt Veigel-Maruschke<br />

dazu. Dafür brauche es viel<br />

Geduld, gerade wenn die Bewohnerinnen<br />

immer wieder in ihrem Leben gescheitert<br />

seien. Ida kann Hilfestellungen unterdes-<br />

sen besser annehmen. «Ticke ich wieder<br />

mal aus, kann ich selbst einen Termin abmachen»,<br />

sagt sie, eine Möglichkeit, die sie<br />

zu schätzen gelernt hat. Die Katze streicht<br />

nun um ihre Beine, Ida lässt sie gewähren.<br />

«Auch wenn sie es nicht immer selbst sieht,<br />

hat Ida hier grosse Fortschritte gemacht»,<br />

erklärt die Institutionsleiterin, «gerade<br />

dass sie die Verantwortung für die Institutionskatzen<br />

übernommen hat, zeigt, dass sie<br />

soziale Fähigkeiten besitzt, die sie aktivieren<br />

kann». Die Vierbeiner sind der Institution<br />

ähnlich wie ihre Bewohnerinnen zugelaufen.<br />

«Sie kamen, brauchten ein Dach<br />

über dem Kopf und etwas zu essen», erzählt<br />

Ida über deren Ankunft. «Und Liebe», fügt<br />

sie an. Ein bisschen so, wie wir Menschen?<br />

Sie nickt.<br />

Konfrontation, die Nähe schafft<br />

An den Entwicklungsmöglichkeiten der<br />

Bewohnerinnen zweifelt auch Mitarbeiterin<br />

Uecker nicht. Sie steht in der Küche vor<br />

Bergen von Kürbisfleisch, das sie weiterverwenden<br />

möchte. Unterdessen ist es später<br />

Nachmittag geworden. Sie mag es,<br />

wenn der Tag sich gegen Abend neigt. «Am<br />

Abend ist die Stimmung oft sehr familiär»,<br />

sagt sie, dann seien auch Einzelgespräche<br />

möglich, die auf einer guten Ebene stattfinden<br />

können. Sie schätzt die Beziehungsarbeit,<br />

die gerade durch die nahe Begleitung<br />

entsteht. «Konfrontation, Provokation,<br />

Selbstreflexion, das gehört hier alles dazu»,<br />

erklärt sie, «aber eben auch die Momente<br />

der Nähe, in denen ersichtlich wird, was<br />

diese Arbeit hier bewirken kann».<br />

Im angrenzenden Wohnzimmer ist es<br />

ruhig. Alva liegt zwischen den anderen<br />

Bewohnerinnen auf einem der drei riesigen<br />

rostbraunen Ledersofas und streckt<br />

die langen Beine von sich, das Handy in<br />

der Hand. Ida sitzt auf dem Sofa daneben,<br />

mit wendigen Fingern tippt sie Nachrichten<br />

in ihr Natel. Ein bisschen Freiheit, ein<br />

bisschen Freizeit, eine Pause im geregelten<br />

Tagesablauf. Der Weg zurück in einen<br />

selbstbestimmten Alltag ist kräftezehrend.<br />

Aber vielleicht rückt er durch die Zeit hier<br />

nach und nach ein bisschen näher. •<br />

Susanna Valentin<br />

*Name geändert<br />

28 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong>


Schub für die Förderung von<br />

Grundkompetenzen<br />

FACHBEITRAG Bildung ist zentral für eine nachhaltige Integration in die Gesellschaft und die Arbeitswelt.<br />

Doch viele Sozialhilfebeziehende haben ein tiefes Bildungsniveau. Fast 30 Prozent der Sozialhilfebeziehenden<br />

haben Schwierigkeiten mit den Grundkompetenzen. Der Kanton Luzern geht im Bereich Grundkompetenzen<br />

neue Wege.<br />

Wer nicht genügend Grundkompetenzen<br />

aufweist, hat oft Schwierigkeiten, sich im<br />

Alltag zurecht zu finden. Bei Strukturveränderungen<br />

im Berufsleben sind Personen<br />

mit wenig Grundkompetenzen schnell von<br />

Arbeitslosigkeit bedroht und haben wenig<br />

Chancen, den Wiedereinstieg in die Arbeitswelt<br />

zu schaffen. Ein Mangel an<br />

Grundkompetenzen geht häufig mit einem<br />

tiefen Selbstwertgefühl in Bezug auf<br />

die Arbeits- und Lernfähigkeiten und einer<br />

schlechteren Gesundheit als der Durchschnitt<br />

der Bevölkerung einher.<br />

Der Kanton Luzern geht in der Förderung<br />

der Grundkompetenzen schweizweit<br />

neue Wege. Er stellt seit September <strong>20</strong><strong>20</strong><br />

für die Bildung im Bereich der Grundkompetenzen<br />

Gutscheine aus. Für das laufende<br />

Jahr stehen maximal 1000 Bildungsgutscheine<br />

à 500 Franken zur Verfügung.<br />

Der Kanton will damit Menschen mit Bildungsdefiziten<br />

helfen, ihre Kompetenzen<br />

in Lesen, Schreiben, Rechnen und Computer<br />

zu verbessern. Für <strong>20</strong>21 und <strong>20</strong>22<br />

hat der Regierungsrat je 350 000 Franken<br />

für Bildungsgutscheine gesprochen.<br />

Weitere 175 000 Franken finanziert der<br />

Bund.<br />

QUALIFIZIERUNGSMODELL<br />

Berufsabschluss<br />

Niederschwellige<br />

berufliche Qualifikation<br />

Parallel wurde das Kursangebot im<br />

Kanton Luzern stark ausgebaut. Der Kurs<br />

«Lesen und Schreiben für deutschsprachige<br />

Erwachsene» wird neu kostenlos angeboten.<br />

Zielgruppe der Fördermassnahmen<br />

sind erwerbsfähige Erwachsene im<br />

Alter von 18 bis 65 Jahren, die sich nicht<br />

in einer obligatorischen Ausbildung befinden<br />

und im Kanton Luzern wohnhaft sind.<br />

In den ersten zwei Monaten wurden 100<br />

Gutscheine eingelöst, darunter auch von<br />

Sozialhilfebeziehenden.<br />

Weiterbildungsoffensive: erste<br />

Resultate<br />

Auch in der Weiterbildungsoffensive des<br />

SVEB und der SKOS ist die Förderung der<br />

Grundkompetenzen als erste Stufe im<br />

Qualifizierungsmodell ein wichtiges Anliegen<br />

(vgl. Grafik). Die teilnehmenden Sozialdienste<br />

im Projekt haben sich unter anderem<br />

das Ziel gesetzt, den Bedarf der<br />

Klientinnen und Klienten im Bereich<br />

Grundkompetenzen systematisch zu erkennen,<br />

anzusprechen und Angebote zu<br />

vermitteln. Im Projekt wurde deshalb eine<br />

Checkliste erarbeitet, mit der Sozialarbeitende<br />

niederschwellig prüfen können, ob<br />

Ziel: Nachhaltige Arbeitsmarktintegration durch berufliche<br />

Qualifikation<br />

Fördergrundlage: Berufsbildungsgesetz<br />

Ziel: Erhöhung der Arbeitsmarktchancen durch Erwerb von<br />

beruflichen Kompetenzen<br />

Fördergrundlage: AviG (AMM) Branchenfonds, BBG, Sozialhilfe<br />

und was sie bereits im Rahmen der Beratungsgespräche<br />

bezüglich Bildung und<br />

Kompetenzen ihrer Klientinnen und Klienten<br />

erfahren haben und welche Aspekte<br />

noch unbekannt sind. Auch enthält die<br />

Checkliste Hinweise, wie gewisse Kompetenzen<br />

im Gespräch erfragt oder beobachtet<br />

werden können. Die Checkliste ist frei<br />

zugänglich (www.skos.ch/themen/bildung/weiterbildungsoffensive).<br />

Der nächste<br />

Schritt ist das Vermitteln in geeignete<br />

Angebote. Die Projektteilnehmenden vernetzen<br />

sich hierzu mit Bildungsanbietern<br />

oder den Bildungsdirektionen, erstellen<br />

Angebotslandkarten und machen bei Bedarf<br />

auf fehlende Angebote aufmerksam.<br />

Mehr Bundesgelder stehen bereit<br />

Auf Bundesebene wurden in den letzten<br />

Monaten die Grundlagen zur Förderung<br />

der Bildung verbessert, welche die Kantone<br />

für die Bildung im Bereich Grundkompetenzen<br />

nutzen können. Seit Inkrafttreten<br />

des Weiterbildungsgesetz des Bundes<br />

<strong>20</strong>17 erhalten die Kantone Mittel, um die<br />

Grundkompetenzen von Erwachsenen (Lesen,<br />

Schreiben, Rechnen, Grundkenntnisse<br />

der Anwendung von Informations- und<br />

Kommunikationstechnologien, Verständigung<br />

in einer Landessprache) zu fördern.<br />

Für die Jahre <strong>20</strong>21 bis <strong>20</strong>24 wurde der<br />

Kredit zur Förderung der Grundkompetenzen<br />

in den Kantonen von 15 auf 43<br />

Mio. Franken erhöht. Die Kantone müssen<br />

zusätzlich zu den Bundesgeldern den gleichen<br />

Betrag zur Verfügung stellen. Nun ist<br />

dafür zu sorgen, dass auch Sozialhilfebeziehende<br />

vermehrt Zugang zu Kursen für<br />

Grundkompetenzen finden. •<br />

Grundkompetenzen<br />

Ziel: Verbessert Voraussetzungen für die berufliche<br />

Integration und Förderung der gesellschaftlichen Teilhabe<br />

Fördergrundlage: Weiterbildungsgesetz<br />

Andrea Beeler<br />

SKOS, Fachbereich Grundlagen<br />

4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />

29


Von der IV in die Sozialhilfe:<br />

Neues Eingliederungsziel ist nötig<br />

FACHBEITRAG «Eingliederung vor Rente» und Abtragen der IV-Schulden: Diese beiden Ziele wurden mit<br />

den letzten drei Revisionen des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG) verfolgt. Verschiedene<br />

Evaluationen zur Zielerreichung wurden bisher publiziert. Umstritten blieb lange die Frage, in<br />

welchem Ausmass der IV-Rentenrückgang zu einer Zunahme der Fälle bei der Sozialhilfe führt. Eine Studie<br />

im Auftrag des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) schafft endlich Klarheit.<br />

Im August <strong>20</strong>19 bezifferte die IV-Stellenkonferenz<br />

die Einsparungen der IV von<br />

<strong>20</strong><strong>04</strong>- <strong>20</strong>16 auf rund 10 Milliarden Franken.<br />

Sie schloss daraus, dass sich die Investition<br />

in die berufliche Eingliederung in<br />

allen Belangen lohnt – gesellschaftlich, sozialpolitisch<br />

und finanziell. In der Publikation<br />

«IV: Zahlen und Fakten <strong>20</strong>14» hatte<br />

das BSV festgestellt: «Die Auswertungen<br />

zeigen keine wesentlichen Verlagerungen<br />

vom Leistungssystem der IV in die Sozialhilfe.»<br />

Behindertenverbände, Psychiaterinnen<br />

und Psychiater oder Sozialdienste hielten<br />

entschieden dagegen und monierten, dass<br />

die Sanierung der IV zu Lasten der Versicherten<br />

erfolge und eine starke Verschiebung<br />

in die Sozialhilfe zu beobachten sei.<br />

Die Zürcher Psychiaterin Doris Brühlmeier-Rosenthal<br />

wertete im Jahr <strong>20</strong>16 über<br />

400 Dossiers von Berufskolleginnen und<br />

-kollegen aus. 60 Prozent der Patienten<br />

mit einem negativen Rentenentscheid und<br />

93 Prozent der Gruppe mit einer Rentenaufhebung<br />

wurden von der Sozialhilfe<br />

unterstützt. Beim Vergleich der Statistiken<br />

von IV und Sozialhilfe im Zeitraum <strong>20</strong>05-<br />

<strong>20</strong>17 zeigte die SKOS in der Zeitschrift<br />

für Sozialhilfe (<strong>ZESO</strong> 1/<strong>20</strong>19) auf, dass<br />

die Zunahme der Fallzahlen bei der Sozialhilfe<br />

parallel zur Abnahme der IV-Renten<br />

verlief.<br />

IV- und Sozialhilfevertreter wiesen<br />

jeweils auf die Mängel der Studien und<br />

Analysen der anderen Seite hin. Ob und<br />

in welchem Masse eine Verlagerung von<br />

der IV in die Sozialhilfe stattfindet, blieb<br />

wissenschaftlich sowie politisch umstritten.<br />

Der im November veröffentlichte<br />

BSV-Forschungsbericht Nr. 8/<strong>20</strong> mit dem<br />

Titel «Entwicklung der Übertritte von der<br />

Invalidenversicherung in die Sozialhilfe»<br />

schafft nun die nötige Klarheit. Die Studie<br />

ist methodisch sehr gut konzipiert und leistet<br />

damit einen wesentlichen Beitrag zur<br />

Versachlichung der Diskussion.<br />

Erwerbstätigkeit bei IV-Anmeldung als<br />

entscheidender Erfolgsfaktor<br />

Seit <strong>20</strong>05 hat sich die Zahl der jährlichen<br />

Neurenten in der IV halbiert, die Neuanmeldungen<br />

nahmen gleichzeitig um ein<br />

Drittel zu. Dieser scheinbare Widerspruch<br />

erklärt sich durch die Verdreifachung von<br />

Eingliederungsmassnahmen. Das Ziel der<br />

IVG-Revisionen, möglichst früh zu intervenieren,<br />

wenn sich Probleme am Arbeitsplatz<br />

abzeichnen, wird damit erreicht. Die<br />

Studie zeigt den Erfolg dieser Massnahmen<br />

bei jenen, die zum Zeitpunkt der Neu-<br />

30 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong>


anmeldung noch erwerbstätig waren: Hatte<br />

<strong>20</strong>05 noch fast jede vierte Person<br />

(23,6 %) vier Jahre nach der IV-Anmeldung<br />

eine Rente, war es beim Anmeldejahrgang<br />

<strong>20</strong>13 noch jeder Siebte (14,4 %).<br />

Dafür hatten deutlich mehr Personen vier<br />

Jahre nach dem IV-Antrag eine Arbeitsstelle<br />

mit existenzsicherndem Lohn. Rund die<br />

Hälfte der Kohorte <strong>20</strong>13 schaffte diesen<br />

Schritt. In der Kohorte <strong>20</strong>05 waren es nur<br />

43 Prozent. Vom Rentenrückgang lassen<br />

sich mehrstufigen Rechnungen zufolge 70<br />

Prozent mit einer nachhaltigen Integration<br />

im Arbeitsmarkt erklären.<br />

Ganz anders präsentiert sich die Situation<br />

für die Menschen, welche bei der<br />

IV-Anmeldung nicht erwerbstätig waren.<br />

Auch sie bezogen deutlich seltener eine<br />

Die heutige Generation<br />

der gesundheitlich<br />

Beeinträchtigten<br />

muss die historische<br />

Schuld der IV in 10<br />

Jahren begleichen.<br />

IV-Rente: <strong>20</strong>05 erhielten 32,5 Prozent<br />

der Personen, die sich neu anmeldeten,<br />

eine Rente, <strong>20</strong>13 waren es nur noch <strong>20</strong>,5<br />

Prozent. Doch nur ein sehr kleiner Teil davon<br />

(13,9 %) vermochte nach vier Jahren<br />

wieder im Arbeitsmarkt Fuss zu fassen.<br />

Viele sind auf Sozialhilfe angewiesen. Aus<br />

der Kohorte <strong>20</strong>05 waren es 13,4 Prozent,<br />

<strong>20</strong>13 bereits 21,2 Prozent. «Eingliederung<br />

vor Rente» scheint vor allem dann zu<br />

funktionieren, wenn IV und Arbeitgeber<br />

die Betroffenen gemeinsam unterstützen.<br />

Wenn der Support der Arbeitgebenden<br />

fehlt, wird das Integrationsziel zu oft verfehlt.<br />

Es gilt dann: «Zu gesund für die IV,<br />

aber zu krank für den Arbeitsmarkt.»<br />

Verlagerungseffekt beträgt<br />

4,2 Prozent<br />

Gemäss Forschungsbericht lebt in einem<br />

von sechs durch die Sozialhilfe unterstützten<br />

Haushalten eine Person, die ein IV-Gesuch<br />

gestellt hat. Familienangehörige eingerechnet,<br />

sind rund 47 500 Personen<br />

betroffen. 21 Prozent würden heute eine<br />

IV-Rente statt Sozialhilfe beziehen, wenn<br />

die IV-Revisionen nicht stattgefunden hätten.<br />

Der Verlagerungseffekt wird auf insgesamt<br />

4,2 Prozent beziffert. 3,1 Prozent<br />

fallen auf nicht gesprochene Renten, 1,1<br />

Prozent auf Rentenaufhebungen. Das entspricht<br />

11 700 Personen (Stand <strong>20</strong>17).<br />

Der Anteil an den Nettokosten in der Sozialhilfe<br />

entspricht CHF 1<strong>20</strong> Millionen.<br />

Widerstand gegen IV-Revisionen, die in erster<br />

Linie der Sanierung der IV-Kasse dienen.<br />

Bild: Keystone/M.Flückiger<br />

Neue Herausforderungen für die<br />

Sozialhilfe<br />

In den letzten Jahren stieg mit der beschriebenen<br />

Verlagerung nicht nur die<br />

Zahl der Personen, die von der Sozialhilfe<br />

unterstützt werden, sondern diese sind gesundheitlich<br />

auch stärker belastet. Dadurch<br />

müssen sie länger unterstützt werden<br />

und schaffen den Schritt in den<br />

Arbeitsmarkt seltener. Es sind oft die komplexen<br />

und diffusen gesundheitlichen Situationen,<br />

in denen die IV keine Rente<br />

spricht und Eingliederungsmassnahmen<br />

nicht greifen. Sozialdienste im ganzen<br />

Land sind daran, sich auf die neuen Herausforderungen<br />

einzustellen. So hat die<br />

Stadt Bern im Mai <strong>20</strong><strong>20</strong> ihr Grundlagenpapier<br />

«Gesundheit in der Sozialhilfe» veröffentlicht<br />

und einen Massnahmenkatalog<br />

präsentiert. Unter anderem sieht sie eine<br />

Zusammenarbeit mit den Universitären<br />

Psychiatrischen Diensten (UPD) und Gesundheitsligen<br />

vor.<br />

Visionäres Eingliederungsziel für IV<br />

Die Sozialhilfe kann die Aufgaben, die sich<br />

durch die Verlagerung ergeben, aber nicht<br />

alleine tragen. Die IV muss Massnahmen<br />

ergreifen, damit sie das Integrationsziel<br />

auch bei Personen erreichen kann, die bei<br />

der Gesucheingabe keine Anstellung mehr<br />

haben. Für diese Gruppe braucht es spezifische<br />

Massnahmen und eine klare Zielsetzung.<br />

Anzustreben ist eine Erwerbsquote,<br />

die nach vier Jahren mindestens halb so<br />

gross ist wie jene der Gruppe, die beim IV-<br />

Antrag noch erwerbstätig sind. Um dieses<br />

Ziel zu erreichen, braucht es spezifische<br />

Eingliederungsmassnahmen für Stellenlose.<br />

Überdacht werden muss auch die Mindestgrenze<br />

für einen Rentenanspruch von<br />

40 Prozent Arbeitsunfähigkeit. Heute werden<br />

damit all jene ausgeschlossen, die längere<br />

Zeit stellenlos waren oder nur ein kleines<br />

Arbeitspensum hatten.<br />

Die IV verfolgt weiterhin das Ziel der<br />

Entschuldung bis <strong>20</strong>30. Konkret heisst<br />

das: Die heutige Generation der gesundheitlich<br />

Beeinträchtigten muss die historische<br />

Schuld der IV in zehn Jahren<br />

begleichen. Das wird ohne rigorose Sparprogramme<br />

und noch mehr Verlagerung<br />

in die Sozialhilfe nicht möglich sein. Es<br />

ist deshalb an der Zeit, an einen Schuldenschnitt<br />

zu denken.<br />

•<br />

Markus Kaufmann<br />

Geschäftsführer SKOS<br />

4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />

31


Menschenrecht auf gleiche<br />

soziale Rechte<br />

FACHBEITRAG Die Bundesverfassung überlässt den Kantonen einen grossen Spielraum bei der Regelung<br />

der Sozialhilfe. Es bestehen nach wie vor grosse Unterschiede sowohl zwischen den Sozialhilfegesetzen<br />

im engeren Sinne als auch bei anderen bedarfsabhängigen Leistungen. Nicht alle in der<br />

Schweiz lebenden Personen haben Zugang zu den gleichen Leistungen. Diese Leistungen spielen eine<br />

wichtige Rolle im Kampf gegen Armut, von der <strong>20</strong>18 in der Schweiz 7,9 Prozent der Bevölkerung betroffen<br />

waren.<br />

Die Armut hat einen bedeutenden Einfluss<br />

auf die Verwirklichung von Menschenrechten,<br />

zu denen sich die Schweiz mit der Ratifikation<br />

von internationalen Konventionen<br />

bekannt hat. Kantonale<br />

Sozialhilfegesetze sind aber bisweilen so<br />

ausgestaltet, dass sie den internationalen<br />

Mindeststandards nicht genügen, obwohl<br />

sich die Schweiz zu deren Einhaltung verpflichtet<br />

hat. Es stellt sich daher die Frage,<br />

ob die Einhaltung internationaler Menschenrechtsgarantien<br />

eine Harmonisierung<br />

der Sozialhilferechte in der Schweiz<br />

bedingt.<br />

Wenn es um die Harmonisierung kantonaler<br />

Rechte auf Bundesebene geht,<br />

wird die Debatte jedoch lebhaft. Denn die<br />

Befürworter eines landesweit harmonisierten<br />

Grundschutzes der Menschenrechte<br />

scheinen gleichzeitig gegen die Abschaffung<br />

kantonaler Kompetenzen und der Autonomie<br />

der Kantone zu sein. Die Schweiz<br />

steht daher vor einem grossen Dilemma:<br />

Sie muss einerseits ihren Verpflichtungen<br />

zur Umsetzung der internationalen Menschenrechtsverträge<br />

nachkommen und andererseits<br />

föderalistische Prinzipien und<br />

kantonale Autonomien respektieren.<br />

Leitplanken der Harmonisierung<br />

Die Forschungsarbeit kommt anhand einer<br />

Analyse des internationalen Menschenrechtsschutzes<br />

zu dem Schluss, dass die<br />

Schweiz eigentlich verpflichtet wäre, die<br />

kantonalen Sozialhilfegesetze bis zu einem<br />

gewissen Grad zu harmonisieren. Unter<br />

Berücksichtigung der Autonomie der Kantone<br />

wurde die Harmonisierungspflicht<br />

der Schweiz anhand von drei Kriterien aufgezeigt:<br />

• Erstens stehen Mindeststandards für<br />

bestimmte Menschenrechte im Zentrum.<br />

Die Analyse fokussiert dabei auf<br />

folgende Grundrechte: die Menschenwürde,<br />

Recht auf Nahrung und Wasser,<br />

Recht auf Wohnung, Recht auf Gesundheit,<br />

Recht auf soziale Sicherheit,<br />

Recht auf Bildung und den spezifischen<br />

Rechten für Frauen und Kinder. Die<br />

Verpflichtung zur Umsetzung dieser<br />

Garantie verlangt vom Bund, dass er<br />

eine korrekte Umsetzung in den Kantonen<br />

garantiert. Ist dies nicht der Fall,<br />

ist der Bund verpflichtet, Massnahmen<br />

zur Harmonisierung der kantonalen<br />

Gesetze zu unternehmen.<br />

• Zweitens verpflichtet auch das Diskriminierungsverbot<br />

die Kantone zur<br />

Harmonisierung. In der herrschenden<br />

Lehre wird zwar abgelehnt, das Diskriminierungsverbot<br />

im föderalen Kontext<br />

als anwendbar zu erklären. Diese Aussa-<br />

Armut, verschlimmert<br />

durch die aktuelle<br />

Lage mit einer Pandemie,<br />

die sich nicht an<br />

Kantonsgrenzen hält,<br />

macht eine Harmonisierung<br />

der Existenzsicherung<br />

um so dringender.<br />

ge ist in ganz konkreten Situationen zu<br />

relativieren und damit eine völkerrechtliche<br />

Dimension in die Verfassungsdebatte<br />

einzubringen. Dies muss insbesondere<br />

für jene Fälle gelten, in denen<br />

Personen in ihrer Wahl des Wohnsitzes<br />

eingeschränkt sind, wie z.B. Kinder<br />

und Armutsbetroffene. Wenn eine Person<br />

aufgrund ihres Alters oder ihrer<br />

wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit die<br />

Wahl des Wohnsitzes nicht ausüben<br />

kann, dann müssen menschenrechtliche<br />

Mindeststandards in Bezug auf<br />

diese Person umso mehr respektiert<br />

werden.<br />

• Drittens haben empirische Analysen<br />

der kantonalen Sozialhilfegesetze verschiedene<br />

Defizite bei der Umsetzung<br />

der Menschenrechte gezeigt. Das wiederum<br />

bestärkte die Forderung nach<br />

einer Harmonisierung.<br />

In der Forschungsarbeit werden<br />

schliesslich verschiedene Bereiche aufgezeigt,<br />

in denen eine Harmonisierung der<br />

kantonalen Bestimmungen zu empfehlen<br />

ist. Diese Anforderungen wurden jedoch<br />

nur für bestimmte wesentliche Elemente<br />

der kantonalen Gesetze nachgewiesen.<br />

Bei der Sozialhilfe im engeren Sinne<br />

handelt es sich dabei um den Zugang zu<br />

und die Höhe von Leistungen, Sonderregelungen<br />

für junge Erwachsene, die<br />

Übernahme von Mieten und Arztkosten,<br />

den Umfang von Sanktionen und situationsbedingte<br />

Leistungen. Hinsichtlich der<br />

Ergänzungsleistungen für Familien vereinheitlicht<br />

werden sollten der Zugang zu<br />

den Leistungen, ihre Höhe und die Dauer<br />

der Auszahlung. Im Bereich der Bildung<br />

32 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong>


Wird das Bundesgericht die kantonale Harmonisierung von bestimmten Regelungen der Sozialhilfe durchsetzen?<br />

Bild: zVg<br />

zu harmonisieren sind die Deckung der<br />

Primarschulgebühren, die Fähigkeit der<br />

kantonalen Programme zur Förderung<br />

der Chancengleichheit im Bildungssystem<br />

und Leistungen des Stipendienwesens. Bei<br />

den übrigen Regelungen behalten die Kantone<br />

ihre Autonomie.<br />

Harmonisierung durch<br />

Rechtsprechung<br />

Ebenfalls untersucht wurden die Möglichkeiten<br />

für Einzelpersonen, sich vor Gericht<br />

auf menschenrechtliche Verpflichtungen<br />

der Schweiz zu berufen. Die Garantie des<br />

Rechtswegs ist ein wirksames Mittel zur<br />

Verwirklichung von Menschenrechten in<br />

den Kantonen. Viele internationale Verpflichtungen<br />

im Bereich der sozialen Sicherheit<br />

gelten in der Schweiz jedoch nicht<br />

als direkt anwendbar, sondern als an den<br />

Gesetzgeber gerichtet. Eine Analyse am<br />

Beispiel der Europäischen Menschenrechtskonvention<br />

(EMRK) zeigt jedoch<br />

Möglichkeiten auf, dass auch solche Bestimmungen<br />

von Gerichten direkt gewürdigt<br />

werden können.<br />

Die Berücksichtigung von völkerrechtlichen<br />

Garantien durch die Rechtsprechung,<br />

und allen voran durch das Bundesgericht,<br />

fördert die Harmonisierung der<br />

Sozialhilfe. Wo sich Verpflichtungen nicht<br />

direkt einklagen lassen, stehen aber auch<br />

noch andere Mittel zur Harmonisierung<br />

zur Verfügung. Der Bund kann auch seine<br />

Aufsichtsfunktion dazu gebrauchen, um<br />

die Kantone zur Harmonisierung und Einhaltung<br />

menschenrechtlicher Garantien<br />

zu verpflichten. Wie in der Forschungsarbeit<br />

gezeigt wird, ist die Harmonisierung<br />

durch Rechtsprechung aber wirksamer<br />

und mit Blick auf die Gewaltenteilung, die<br />

Verfassungsgerichtsbarkeit und föderalistische<br />

Prinzipien eher zu begrüssen.<br />

Armut, verschlimmert durch die aktuelle<br />

Lage mit einer Pandemie, die sich<br />

nicht an Kantonsgrenzen hält, macht eine<br />

Harmonisierung der Existenzsicherung<br />

umso dringender. Die internationalen<br />

Menschenrechte, zu deren Einhaltung sich<br />

die Schweiz verpflichtet hat, bieten dafür<br />

eine passende Grundlage.<br />

•<br />

Raphaël Marlétaz<br />

Université de Lausanne<br />

4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />

33


Jean-Michel Bonvin, Pascal Maeder,<br />

Carlo Knöpfel, Valérie Hugentobler,<br />

Ueli Tecklenburg (Hrsg.)<br />

Vom Arbeiterkind zur Professur<br />

Noch immer gibt es grosse Hürden für einen<br />

Bildungsaufstieg – nach wie vor stammt nur<br />

eine Minderheit der Professorinnen und Professoren<br />

aus der Arbeiterklasse. Was bedeutet es<br />

diesen Aufsteigenden, eine Professur erreicht<br />

zu haben? Wie erleben sie die Universität und<br />

das Versprechen der Chancengleichheit? Und<br />

wie haben ihre eigenen Aufstiegserfahrungen<br />

sie als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geprägt? Professorinnen<br />

und Professoren äussern sich zu ihrem «Klassenübergang» und<br />

zur Verknüpfung von sozialer Herkunft und Wissenschaft.<br />

Reuter Julia, Gamper Markus, Möller Christina, Blome Frerk (Hrsg.), Vom Arbeiterkind<br />

zur Professur. Sozialer Aufstieg in der Wissenschaft, Transcript Verlag,<br />

<strong>20</strong><strong>20</strong>, 438 Seiten, CHF 39, ISBN 978-3-8376-4778-5<br />

COVID-19: Eine sozialwissenschaftliche<br />

Perspektive<br />

Die Sozialwissenschaften ordnen die Herausforderungen<br />

von COVID-19 in die Dynamiken<br />

unserer Gesellschaft ein. Aufgrund ihrer<br />

Geschichte und ihrer Praxis sind die Sozialwissenschaften<br />

besonders geeignet, die sozialen,<br />

politischen und ökonomischen Folgen einer<br />

Krankheit zu verstehen, die für die einen die<br />

Züge des Teufels trägt, während sie für die anderen als banale Grippe<br />

in Erscheinung tritt. Dieses Buch entschlüsselt, wie Einzelpersonen,<br />

Organisationen und Gemeinschaften COVID-19 begegnen, darunter<br />

leiden und darauf reagieren. In diesem Buch teilen 27 Forschende ihre<br />

Erkenntnisse zu COVID-19.<br />

Fiorenza Gamba, Marco Nardone, Toni Ricciardi, Sandro Cattacin (Hrsg.),<br />

COVID-19: Eine sozialwissenschaftliche Perspektive. Seismo Verlag, <strong>20</strong><strong>20</strong>, 364<br />

Seiten, CHF 38, ISBN 978-3-03777-219-5<br />

Integration geflüchteter Menschen<br />

in Arbeit und Bildung<br />

Wörterbuch der Schweizer Sozialpolitik<br />

Wörterbuch der Schweizer<br />

Sozialpolitik<br />

Ein Meilenstein im Prozess einer gelingenden<br />

gesellschaftlichen Integration geflüchteter Menschen<br />

ist der Zugang zu Arbeit und Bildung. Das<br />

Themenheft erklärt die komplexe Rechtslage,<br />

benennt institutionelle und individuelle Hürden<br />

und stellt Hilfestrukturen und konkrete Förderangebote<br />

vor. Praxisbeispiele zeigen, welche<br />

Unterstützung insbesondere für geflüchtete junge Menschen und Frauen<br />

zielführend ist. Dabei wird auch betrachtet, wie Zivilgesellschaft und<br />

Unternehmen zur Erwerbsintegration Geflüchteter beitragen können.<br />

Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V., ARCHIV für Wissenschaft und Praxis<br />

der sozialen Arbeit, Integration geflüchteter Menschen in Arbeit und Bildung, Heft<br />

3/<strong>20</strong><strong>20</strong>, 96 Seiten, Euro 16, ISBN 978-3-7841-3259-4<br />

Die Sozialpolitik trägt massgeblich zur Wohlfahrt<br />

der Schweiz bei. Sie prägt den gesamten<br />

Lebenslauf und beeinflusst wesentlich<br />

die Lebensqualität der Bevölkerung. Ihre<br />

Ausgestaltung, Ziele und Auswirkungen hält<br />

das neuaufgelegte und völlig überarbeitete<br />

Wörterbuch der Schweizer Sozialpolitik ebenso<br />

fest wie historische, wirtschaftliche, soziale und rechtliche Bezüge. Weit<br />

über 250 ausgewählte Beiträge nehmen verschiedenste sozialpolitische<br />

Massnahmen und Zusammenhänge kritisch in den Blick und weisen auf<br />

Schweizer Besonderheiten, Handlungsbedürfnisse sowie aktuelle und<br />

zukünftige Herausforderungen für Politik und Gesellschaft hin.<br />

Hugentobler Valérie, Knöpfel Carlo, Maeder Pascal, Tecklenburg Ueli, Bonvin Jean-<br />

Michel (Hrsg.), Wörterbuch der Schweizer Sozialpolitik, Sozialpolitik/Soziale Sicherheit,<br />

Seismo Verlag, <strong>20</strong><strong>20</strong>, 6<strong>20</strong> Seiten, CHF 48, ISBN 978-3-03777-177-8<br />

Nationale Tagung<br />

Gesundheit und Armut<br />

Auch in der reichen Schweiz gibt es soziale<br />

Ungleichheiten in der Gesundheit. An der<br />

4. Nationalen Tagung Gesundheit & Armut der<br />

BFH wird an Fragestellungen aus sozialethischer,<br />

ökonomischer und politischer Perspektive orientiert<br />

und die Sicht von Betroffenen integriert.<br />

Die Tagung will mögliche Handlungsoptionen<br />

aufzeigen und im Dialog von Wissenschaft,<br />

Zivilgesellschaft, Politik und Praxis Lösungsansätze<br />

entwickeln, damit gerade armutsbetroffene<br />

Personen als besonders vulnerable Bevölkerungsgruppe<br />

den Weg zu Gesundheitsleistungen<br />

(wieder) finden.<br />

Berner Fachhochschule<br />

Donnerstag, 21. Januar <strong>20</strong>21, online<br />

www.bfh.ch<br />

Caritas-Forum<br />

«Armut grenzt aus»<br />

Noch nie waren Menschen so stark in Rechtsverhältnisse<br />

und Marktbeziehungen eingebunden<br />

– doch das damit verbundene Inklusionsversprechen<br />

entpuppt sich als Illusion. Was sind die<br />

Gründe dieser gegenwärtigen Krise, in der gerade<br />

Armutsbetroffene in verschiedener Hinsicht<br />

soziale Ausgrenzung erfahren? Das Forum, die<br />

sozialpolitische Tagung der Caritas Schweiz,<br />

fokussiert auf die Exklusionsmechanismen in<br />

wohlhabenden Gesellschaften und geht der Frage<br />

nach, wie diese erfolgreich bekämpft werden<br />

können.<br />

Caritas<br />

Freitag, 29. Januar <strong>20</strong>21, Bern<br />

www.caritas.ch<br />

Partizipation Betroffener bei<br />

der Armutsbekämpfung<br />

Wie können armutsbetroffene und -gefährdete<br />

Personen an der Planung, Umsetzung und Evaluation<br />

von Massnahmen der Armutsprävention<br />

und -bekämpfung mitwirken? Die Tagung richtet<br />

sich sowohl an Fachpersonen der Armutsprävention<br />

und -bekämpfung wie auch an armutsbetroffene<br />

oder -gefährdete Menschen selbst. Sie wird<br />

zusammen mit armutsbetroffenen und -gefährdeten<br />

Personen vorbereitet und durchgeführt.<br />

Die Tagung der Nationalen Plattform gegen Armut<br />

findet am 4. Februar <strong>20</strong>21 im Stadion Wankdorf<br />

statt.<br />

Nationale Plattform gegen Armut<br />

Donnerstag 4. Februar <strong>20</strong>21, Bern<br />

www.gegenarmut.ch<br />

34 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong>


LESETIPPS<br />

Sozialpädagogische<br />

Theoriegeschichten<br />

Sozialpädagogische Theorien beschreiben die<br />

Soziale Arbeit auf unterschiedliche Weise. Zu<br />

wichtigen Fragen, etwa zur Beschaffenheit der<br />

Gesellschaft und der Rolle der Sozialen Arbeit in<br />

ihr, existiert kein Konsens. Der Band analysiert<br />

deshalb am Beispiel von sieben älteren und<br />

neueren Theorien, wie sozialpädagogische<br />

Theorien konzipiert sind. Sie werden als Narrationen identifiziert, um zu<br />

erschliessen, wie sich die Theorien argumentativ darstellen und wie sie<br />

kontextuell verortet sind. Es wird gefragt, welche Welten sie entwerfen<br />

und wie sie die Soziale Arbeit in sie einbetten.<br />

Dollinger Bernd, Sozialpädagogische Theoriengeschichten. Eine narrative Analyse<br />

historischer und neuerer Theorien Sozialer Arbeit, Beltz Juventa Verlag, <strong>20</strong><strong>20</strong>,<br />

256 Seiten, CHF 44, ISBN 978-3-7799-6385-1<br />

Integration im Sozialraum<br />

Zusammenhänge von Sozialraum, Migration und<br />

Integration werden systematisch aus theoretischen<br />

und empirischen Perspektiven in ihren<br />

Interdependenzen beschrieben. Fluchtmigration<br />

und Integration werden im Kontext sozialräumlicher<br />

Ansätze analysiert, erforderliche Theorie-<br />

Praxis-Transfers reflektiert und theoretische<br />

Konzepte durch empirische Studien begründet.<br />

Die sozialräumliche Perspektive fokussiert hierbei die relevanten Handlungsfelder<br />

der Integration: Kommunale Integrationspolitiken, Unterbringung<br />

und Wohnen, Bildung, Erwerbsarbeit und Zivilgesellschaftliches<br />

Engagement.<br />

Jepkens Katja, Scholten Lisa, van Riessen, Anne (Hrsg.), Integration im Sozialraum.<br />

Theoretische Konzepte und empirische Bewertungen. Springer VS, <strong>20</strong><strong>20</strong>, 454<br />

Seiten, CHF 73, ISBN 978-3-658-28<strong>20</strong>2-8<br />

Fachkräfte! Mangel!<br />

Die Geschichte der Sozialen Arbeit kann nach<br />

dem sozialpädagogischen Jahrhundert nur<br />

als Expansionsgeschichte gelesen werden. Mit<br />

dem quantitativen Ausbau der Sozialen Arbeit<br />

gehen auch umfassende qualitative Veränderungen<br />

einher. Insgesamt wird aktuell vor allem<br />

ein Fachkräftemangel in unterschiedlichen<br />

Feldern der Sozialen Arbeit beklagt. Im Vergleich<br />

zu anderen Professionen kann nach wie vor von einem Mangel an Anerkennung,<br />

Wertschätzung und angemessener Bezahlung gesprochen<br />

werden. Diese aktuellen Entwicklungen werden in diesem Sonderband<br />

diskutiert und Perspektiven entfaltet.<br />

Grasshoff Gunther, Fischer Jörg (Hrsg.), Fachkräfte! Mangel! Die Situation des<br />

Personals in der Sozialen Arbeit. 3. Sonderband Sozialmagazin. Beltz Verlag,<br />

<strong>20</strong><strong>20</strong>, 180 Seiten, CHF 45, ISBN 978-3-7799-3540-7<br />

Bieler Tagung: Persönliche Hilfe<br />

in der Sozialberatung<br />

Die Nationale Tagung der SKOS in Biel befasst<br />

sich mit dem Auftrag und der Ausgestaltung<br />

der persönlichen Hilfe in der Sozialberatung.<br />

Welchen Stellenwert hat sie angesichts knapper<br />

Zeitressourcen? Wie kann ein optimales Angebot<br />

aussehen? Die Workshops bieten die Möglichkeit,<br />

Praxisbeispiele und Konzepte aus der Stadt Zürich,<br />

der Gemeinde Hochdorf, dem Kanton Waadt,<br />

dem Kanton Genf, der Wohnhilfe Casanostra in<br />

Biel und des Supported-Employment-Ansatzes<br />

des Vereins maxi.mumm kennenzulernen.<br />

Donnerstag, 11. März, Kongresshaus Biel<br />

Verschiebungsdatum: Donnerstag, 23. Sept. <strong>20</strong>21, Biel<br />

www.skos.ch<br />

Forum Nachhaltige Entwicklung:<br />

Leave no one behind<br />

«Leave no one behind» lautet das Thema der<br />

Leitveranstaltung des Bundesamtes für Raumentwicklung<br />

zur Förderung der nachhaltigen<br />

Entwicklung in der Schweiz. Dabei stehen folgende<br />

Fragen im Zentrum: Wie stellen wir sicher,<br />

dass wir bei der Umsetzung der Agenda <strong>20</strong>30<br />

für nachhaltige Entwicklung niemanden aussen<br />

vorlassen? Wie können soziale Belange in engem<br />

Zusammenspiel mit den ökologischen und wirtschaftlichen<br />

Anliegen umgesetzt werden? Und<br />

welche Rolle übernehmen darin Kantone, Städte<br />

und Gemeinden?<br />

Dienstag, 18. Mai <strong>20</strong>21, Bern<br />

www.are.admin.ch<br />

Gesprächsführung in der<br />

Sozialen Arbeit<br />

Das Buch begründet professionelle Gesprächsarbeit<br />

als Kernmethode der Sozialen<br />

Arbeit. Es führt theoretisch und methodisch<br />

– spezifisch für die Soziale Arbeit – in die<br />

Grundlagen der professionellen Gesprächsführung<br />

ein. Es beschreibt die bedeutendsten<br />

Gesprächsformen der Praxis Sozialer Arbeit und<br />

gibt konkrete Hilfen zur Analyse, Planung und Gestaltung von Gesprächen.<br />

So macht es professionelle, adressaten- und anlassgerechte<br />

Gesprächsführung lehr- und lernbar.<br />

Widulle Wolfgang, Gesprächsführung in der Sozialen Arbeit. Grundlagen und<br />

Gestaltungshilfen, 2., durchgesehene Auflage, Springer VS, <strong>20</strong><strong>20</strong>, 235 Seiten, CHF<br />

37, ISBN 978-3-658-292<strong>04</strong>-1<br />

VERANSTALTUNGEN<br />

SKOS-Weiterbildung:<br />

Einführung in die Sozialhilfe<br />

Die Weiterbildung der SKOS vermittelt Grundlagen<br />

zur Ausgestaltung der Sozialhilfe und zur<br />

Umsetzung der SKOS-Richtlinien, zu Verfahrensgrundsätzen<br />

und zum Prinzip der Subsidiarität.<br />

Insbesondere werden auch die Änderungen der<br />

Richtlinienrevision erläutert, die <strong>20</strong>21 in Kraft<br />

treten. Es stehen vier Module zur Auswahl, von<br />

denen jeweils zwei besucht werden können. Ein<br />

Modul widmet sich Praxisfragen zu aktuellen<br />

Themen.<br />

Hotel Olten<br />

Dienstag, 29. Juni <strong>20</strong>21, Olten<br />

www.skos.ch<br />

4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />

35


TÜRE AUF<br />

BEI SANDRA ANGELOVIC<br />

Sozialdienst:<br />

Soziale Dienste Asyl Zug<br />

Anzahl Mitarbeitende: 68<br />

Ausbildung/Funktion: BA Sozialarbeit & Sozialpolitik/Sozialarbeiterin<br />

Angestellt seit: 1.8.<strong>20</strong>19<br />

Alter:<br />

32 Jahre<br />

Zur Zeit einen Tag pro Woche im Homeoffice.<br />

Bild: zVg<br />

Was zeichnet den Sozialdienst Zug<br />

aus?<br />

Die Sozialen Dienste Asyl Zug legen einen<br />

grossen Fokus auf die Integration.<br />

Deutschkurse bis B2 werden finanziert.<br />

Durch Potentialabklärungen werden<br />

zusammen mit den Klientinnen und<br />

Klienten individuelle Integrationspläne<br />

zusammengestellt. Aber auch bei den<br />

Kleinsten halten wir uns nicht zurück.<br />

Neben Spielgruppen werden auch Kitas<br />

finanziert, ohne dass die Eltern der<br />

Kinder unbedingt einer Erwerbsarbeit<br />

nachgehen. Das Ziel ist, das Kind so auf<br />

die Einschulung vorzubereiten, damit<br />

es nach der Beschulung finanziell unabhängig<br />

wird.<br />

Was genau ist Ihre Aufgabe?<br />

Ich bin für die wirtschaftliche und persönliche<br />

Sozialhilfe im Asyl-, Flüchtlings-,<br />

Härtefall- und Nothilfebereich<br />

zuständig.<br />

Wieso haben Sie sich für Soziale Arbeit<br />

als Beruf entschieden?<br />

Während der Bachelor-Arbeit merkte<br />

ich, dass mir die Feldarbeit am meisten<br />

gefiel. Wir haben u.a. Migrantinnen zu<br />

einem Integrationsprojekt interviewt.<br />

Ich wollte mit Menschen arbeiten. Die<br />

Theorien überlasse ich gerne anderen,<br />

auch wenn ich sehr an Migrations- und<br />

Flüchtlingsthemen interessiert bin.<br />

Die Corona-Krise hat alle Sozialarbeitende<br />

vor enorme Herausforderungen<br />

gestellt. Was beschäftigt<br />

Sie in diesem Zusammenhang speziell?<br />

Als im Lockdown die Schulen geschlossen<br />

wurden, hat mich das Wohl und das<br />

Weiterkommen der Kinder beschäftigt.<br />

Die meisten Kinder unserer Klienten<br />

erfahren wenig Unterstützung zuhause<br />

beim Lernen, hauptsächlich wegen den<br />

sprachlichen Barrieren. Aktuell scheint<br />

es schwierig zu sein, Arbeit ohne Ausbildung<br />

zu finden, was die Arbeitssuche<br />

bei der Klientel auf den Kopf stellt.<br />

Welche Reaktionen haben Sie von<br />

Mitarbeitenden oder Klienten erhalten?<br />

Immer schön ist es, die Dankbarkeit<br />

der Klientinnen und Klienten zu sehen,<br />

wenn ich sie bei ihren Herausforderungen<br />

unterstützen konnte. Mehrmals<br />

haben sie mich einen Engel genannt,<br />

bezugnehmend auf meinem Nachnamen.<br />

Solche Erinnerungen helfen mir<br />

auch in schwierigen Situationen durchzuhalten.<br />

Wie gingen Sie mit einer besonders<br />

belastenden Situation um?<br />

Belastend empfinde ich, wenn mich die<br />

Klienten des Lügens bezichtigen, denn<br />

ich bezeichne mich selber als notorische<br />

Wahrheitssagerin. Mir hilft dann<br />

die Psychohygiene im Team. Ich bin ein<br />

offenes Buch und glaube, dass mein gesamtes<br />

15-köpfiges Sozialarbeitenden-<br />

Team von meinen belastenden Situationen<br />

Kenntnis nimmt. So verteile ich<br />

die Last und habe das Gefühl, dass ich<br />

sie nicht alleine tragen muss.<br />

Was machte Ihnen in den letzten<br />

Wochen an Ihrer Arbeit besonders<br />

Freude?<br />

Die Balance zwischen Klientenkontakt<br />

und Administration schätze ich sehr.<br />

Seit dem Lockdown im März <strong>20</strong><strong>20</strong> hat<br />

sich bei uns das Homeoffice etabliert.<br />

Einen Tag pro Woche können wir jetzt<br />

auch nach dem Lockdown zuhause arbeiten.<br />

So gehe ich viel entspannter in<br />

die Woche und kann mich an den anderen<br />

drei Arbeitstagen auf die Gespräche<br />

konzentrieren.<br />

Was wünschen Sie sich für die Zukunft<br />

in Bezug auf Ihre Arbeit auf dem<br />

Sozialdienst?<br />

Ich wünsche mir mehr Verständnis in<br />

der Bevölkerung und von Seiten der<br />

Klienten, dass die wirtschaftliche Sozialhilfe<br />

auf Richtlinien und Gesetzen<br />

basiert und nicht auf persönlicher Willkür<br />

der einzelnen Sozialarbeitenden. Es<br />

passiert noch viel zu oft, dass Personen<br />

die Sozialarbeitenden beschuldigen, ihnen<br />

nicht genügend auszubezahlen.<br />

» dieser<br />

In der Schweiz gibt es Hunderte von Sozialdiensten mit unzähligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Sie unterstützen Kinder, Jugendliche<br />

und Erwachsene in unterschiedlichen Lebenslagen und leisten damit einen wichtigen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt. In<br />

Serie berichten sie aus ihrem Berufsalltag, den schönen und den schwierigen Seiten ihrer Arbeit.<br />

36 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong>


Unsere Fachseminare im<br />

Bereich Sozialhilfe<br />

Örtliche Zuständigkeit<br />

<strong>20</strong>./21. Januar <strong>20</strong>21<br />

Bedürftigkeit und Bemessung der persönlichen<br />

und wirtschaftlichen Hilfe<br />

11./12. Februar <strong>20</strong>21<br />

Bevorschussung, Verrechnung und Rückerstattung<br />

22./23. Februar <strong>20</strong>21<br />

Zivilrechtliche Unterhaltspflichten und Finanzierung<br />

von Kindesschutzmassnahmen<br />

11./12. März <strong>20</strong>21<br />

Pflichtverletzungen<br />

23./24. März <strong>20</strong>21<br />

Anrechnung von Einkommen und Vermögen<br />

6./7. April <strong>20</strong>21<br />

Weitere Informationen unter hslu.ch/s164<br />

Integration und Partizipation<br />

Beratung und Coaching<br />

Kinder- und Jugendhilfe<br />

Management, Recht und Ethik<br />

Gesundheit<br />

Alle Weiterbildungsangebote zu diesen und vielen<br />

weiteren interessanten Themen finden Sie online:<br />

Neue Impulse für Ihren professionellen Berufsalltag<br />

Die Weiterbildungen an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW in Olten und Muttenz unterstützen Sie<br />

dabei, sich fachlich und persönlich weiterzuentwickeln. Sie erhalten neustes Wissen aus der Forschung<br />

und verknüpfen dieses mit Ihren Erfahrungen aus dem Berufsalltag.<br />

www.fhnw.ch/soziale-arbeit/weiterbildung


Weiterbildung,<br />

die wirkt!<br />

Fachkurs Arbeitsintegration<br />

6 Kurstage, Februar bis März <strong>20</strong>21<br />

Fachkurs Potenzialabklärung bei<br />

Migrantinnen und Migranten<br />

6 Kurstage, März bis Mai <strong>20</strong>21<br />

Fachkurs Sozialberatung<br />

In Kooperation mit der Hochschule Luzern<br />

8 Kurstage, Mai bis Juli <strong>20</strong>21<br />

CAS Mediatives Handeln in transkulturellen<br />

Kontexten<br />

<strong>20</strong> Studientage, März <strong>20</strong>21 bis März <strong>20</strong>22<br />

Weitere Informationen und Anmeldung<br />

bfh.ch/soziale-sicherheit und<br />

bfh.ch/mediation<br />

‣ Soziale Arbeit<br />

Roman Bernhard<br />

Absolvent CAS Case Management<br />

Jetzt weiterbilden.<br />

Sozialwesen<br />

ost.ch/wb-sozialwesen<br />

Ins_ZeSo_OST_170x130_4c_CoachingSA.indd 1 30.10.<strong>20</strong><strong>20</strong> 09:44:15

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!