ZESO 04/20
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SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
<strong>ZESO</strong><br />
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE<br />
<strong>04</strong>/<strong>20</strong><br />
ARMUT<br />
Modell für Monitoring der<br />
Armut in der Schweiz<br />
FOYERSBASEL<br />
Fluchtort für junge Frauen<br />
in Schwierigkeiten<br />
IV-BERICHT<br />
Die Folgen der IV-Revisionen<br />
auf die Sozialhilfe<br />
SOZIALE INTEGRATION<br />
ALS AUFTRAG<br />
Was ist darunter zu verstehen – wie kann er umgesetzt werden?
Bieler Tagung, 11. März <strong>20</strong>21<br />
Persönliche Hilfe – Ansätze und<br />
Möglichkeiten in der Praxis<br />
Die neuen SKOS-Richtlinien geben der persönlichen Hilfe einen besonderen<br />
Stellenwert. Persönliche Hilfe ist im Bedarfsfall auch dann zu erbringen,<br />
wenn kein Anspruch auf wirtschaftliche Unterstützung besteht. Persönliche<br />
Hilfe zielt darauf ab, Menschen in belastenden Lebenslagen durch indi -<br />
vidualisierte Massnahmen zu stabilisieren und zu stärken. Die nationale<br />
Tagung in Biel befasst sich mit dem Auftrag und der Ausgestaltung der<br />
persönlichen Hilfe in der Sozialberatung. Welchen Stellenwert hat sie angesichts<br />
der knappen Zeitressourcen? Wie kann ein optimales Angebot<br />
aussehen? Die nationale Tagung in Biel bietet eine Plattform für Präsentationen<br />
und Diskussionen. Praktikerinnen und Praktiker erhalten Inputs<br />
und Impulse für ihre tägliche Arbeit. Die Workshops bieten die Möglichkeit<br />
Praxisbeispiele kennenzulernen.<br />
Anmeldung bis 22. Februar <strong>20</strong>21<br />
Programm und Anmeldungen unter www.skos.ch/Veranstaltungen<br />
Soziale Arbeit<br />
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<strong>20</strong>. Januar <strong>20</strong>21<br />
14. April <strong>20</strong>21<br />
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Hochschulcampus Toni-Areal, Zürich<br />
Inserat_<strong>ZESO</strong>_halbseitig_4_<strong>20</strong><strong>20</strong>.indd 6 02.11.<strong>20</strong><strong>20</strong> 12:59:46
Ingrid Hess<br />
Redaktionsleitung<br />
EDITORIAL<br />
SOZIALE INTEGRATION<br />
ALS SCHLÜSSEL<br />
Geselligkeit und sozialer Austausch ist im Moment nicht wirklich<br />
angesagt. Vermutlich ist das für viele von uns eine Herausforderung,<br />
für manche eine grosse. Tatsache ist jedoch, dass<br />
es eine Reihe von Menschen gibt, für die das gar nichts Besonderes<br />
ist, weil sie seit langer Zeit keine Arbeit, keinen Lohn<br />
oder womöglich nicht mal eine Wohnung haben und in der<br />
Folge auch kaum sozialen Anschluss (Seite 14). Die soziale Integration<br />
ist ein zentrales Thema in der Sozialhilfe und sie ist<br />
der Schlüssel für Befähigung und Motivation. Insbesondere für<br />
die Menschen, die fast komplett ausserhalb der Gesellschaft<br />
leben, ist sie ein mindestens so wichtiger Überlebensfaktor<br />
wie ein Dach über dem Kopf und wirtschaftliche Hilfe. In Paris<br />
engagiert sich deshalb die Organisation la Cloche mit kleinen<br />
alltäglichen Gesten und Kontakten in der Nachbarschaft, Obdachlosen<br />
den Weg aus der Isolation zu erleichtern (Seite 22).<br />
Soll Armut wirksam bekämpft werden, ist eine solide Faktenlage<br />
nötig. Das Eidg. Parlament hat sich davon überzeugen lassen.<br />
Ein erstes Konzept, wie ein Armutsmonitoring aussehen<br />
könnte, liegt bereits vor (Seite 6).<br />
Die Regelung der Sozialhilfe orientiert sich weitgehend an den<br />
SKOS-Richtlinien. Dennoch bestehen zwischen den Kantonen<br />
erhebliche Unterschiede. Eine Dissertation an der Universität<br />
Lausanne ging der Frage nach, ob dies nicht verfassungswidrig<br />
sei (Seite 32).<br />
4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
1
SCHWERPUNKT<br />
Berufliche und<br />
soziale<br />
Integration<br />
Die Sozialhilfe hat zwei<br />
zentrale Aufgaben: die Existenz<br />
finanziell zu sichern und<br />
die soziale Integration zu<br />
unterstützen. In der Praxis<br />
ist vor allem Letzteres eine<br />
schwierige Aufgabe, denn<br />
Zeit und Ressourcen sind<br />
in der Regel knapp. Für<br />
junge, sozialhilfebeziehende<br />
Erwachsene hat die<br />
Fokussierung auf die<br />
Arbeitsmarktintegration<br />
ambivalente Auswirkungen.<br />
12–23<br />
14–25<br />
<strong>ZESO</strong><br />
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE HERAUSGEBERIN Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS, www.skos.ch REDAKTIONSADRESSE<br />
Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS, Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch, Tel. 031 326 19 13<br />
© SKOS. Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin<br />
Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich<br />
ISSN 1422-0636 / 117. Jahrgang<br />
Erscheinungsdatum: 7. Dezember <strong>20</strong><strong>20</strong><br />
Die nächste Ausgabe erscheint am 8. März <strong>20</strong>21<br />
REDAKTION Ingrid Hess, Julie Bernet MITARBEITERINNEN UND MITARBEITER DIESER AUSGABE Andrea Beeler,<br />
Yann Bochsler, Palma Fiacco, Robert Fluder, Christoph Hostettler, Oliver Hümbelin, Corinne Hutmacher-Perret,<br />
Markus Kaufmann, Christine Koradi, Raphaël Marlétaz, Iris Pulfer, Mirjam Schlup, Max Spring, Susanna Valentin<br />
TITELBILD Palma Fiacco LAYOUT Marco Bernet, Projekt Athleten GmbH Zürich KORREKTORAT Karin Meier<br />
DRUCK UND ABOVERWALTUNG rubmedia AG, Postfach, 3001 Bern, zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740 97 86<br />
PREISE Jahresabonnement CHF 89.– (SKOS-Mitglieder CHF 74.–), Jahresabonnement Ausland CHF 125.–,<br />
Einzelnummer CHF 25.–.<br />
2 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong>
INHALT<br />
10<br />
5 KOMMENTAR<br />
Neue SKOS-Strategie als Wegweiser für die<br />
kommenden vier Jahre<br />
6 FACHBEITRAG<br />
Ein Monitoring zur Erkennung und Bewältigung<br />
der Armut<br />
9 PRAXIS<br />
Berücksichtigung der Hilflosenentschädigung<br />
bei Sozialhilfebezug<br />
10 INTERVIEW: JONAS LÜSCHER<br />
Der renommierte Schweizer Schriftsteller über<br />
die Corona-Krise und deren Auswirkungen auf<br />
die Solidarität<br />
6<br />
26<br />
14–25 SOZIALE INTEGRATION<br />
16 Soziale Integration als Kernauftrag der<br />
Sozialhilfe<br />
18 Die individuelle Förderung zur sozialen Integration<br />
durch die Sozialen Dienste der Stadt<br />
Zürich<br />
<strong>20</strong> Der erste Schritt der langfristigen Arbeitsmarktintegration<br />
ist die soziale Integration<br />
22 Die Teilhabe der Obdachlosen in Paris an der<br />
Gesellschaft<br />
24 Roland Bänziger über die soziale Integration<br />
durch das Arbeitsintegrationsprojekt HEKS-<br />
Visite<br />
30<br />
26 REPORTAGE<br />
Die Beobachtungsstation des FoyersBasel<br />
unterstützt weibliche Jugendliche in der Krise<br />
29 SCHUB FÜR DIE FÖRDERUNG VON GRUND-<br />
KOMPETENZEN<br />
Bildung als zentraler Faktor für eine nachhaltige<br />
Integration in die Gesellschaft<br />
30 IV-REVISIONEN<br />
Der Zusammenhang des IV-Rentenrückgangs<br />
mit der Zunahme der Sozialhilfefälle<br />
32 HARMONISIERUNG DER SOZIALHILFE<br />
Menschenrecht auf gleiche soziale Rechte<br />
und die unterschiedliche Umsetzung der<br />
kantonalen Sozialhilfegesetze<br />
34 LESETIPPS UND VERANSTALTUNGEN<br />
36 TÜRE AUF<br />
Sandra Angelovic von den Sozialen Diensten<br />
Asyl Zug wünscht sich mehr Verständnis in<br />
der Bevölkerung und seitens der Klienten,<br />
dass die Sozialhilfe auf Richtlinien und<br />
Gesetzen basiert und nicht auf persönlicher<br />
Willkür<br />
32<br />
36<br />
4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
3
NACHRICHTEN<br />
Neue SKOS-Richtlinien:<br />
Umsetzung in den<br />
Kantonen<br />
Die neuen SKOS-Richtlinien treten Anfang<br />
<strong>20</strong>21 in Kraft. Fast alle Kantone<br />
werden die neuen SKOS-Richtlinien fristgerecht<br />
umsetzen, manche wenden sie<br />
direkt an, andere indirekt. Die Kantone<br />
Aargau, Bern, Genf und Schaffhausen<br />
haben eine spätere Anpassung ihrer<br />
Rechtsgrundlagen an die Richtlinien in<br />
Aussicht gestellt. Das Portal für die neuen<br />
SKOS-Richtlinien <strong>20</strong>21 ist bereits online:<br />
https://rl.skos.ch<br />
GBL-Anpassung für<br />
<strong>20</strong>22 beschlossen<br />
Nachdem der Bundesrat im Oktober die<br />
AHV/IV-Minimalrenten um CHF 10 erhöht<br />
hat, soll auch der Grundbedarf für<br />
den Lebensunterhalt (GBL) in der Sozialhilfe<br />
angepasst werden. Die SODK hat<br />
den Antrag der SKOS im November gutgeheissen.<br />
Demnach soll bis 1.1.<strong>20</strong>22<br />
der GBL für einen Einpersonenhaushalt<br />
von derzeit CHF 997 auf 1006 angehoben<br />
werden. Dies entspricht dem in den<br />
SKOS-Richtlinien festgehaltenen Mechanismus.<br />
Seit <strong>20</strong>09 ist die Anpassung des<br />
Grundbedarfs in der Sozialhilfe an die<br />
AHV/IV-Renten gekoppelt. Seither wurde<br />
der Grundbedarf dreimal erhöht (<strong>20</strong>11,<br />
<strong>20</strong>13 und <strong>20</strong><strong>20</strong>). Aktuell wenden 16<br />
Kantone den von der SKOS empfohlenen<br />
Ansatz von CHF 997 an, zwei Kantone<br />
planen die Anpassung per 1.1.<strong>20</strong>21. Fünf<br />
Kantone übernahmen die Anpassung<br />
<strong>20</strong><strong>20</strong> nicht und bleiben bei CHF 986.<br />
Zwei weitere Kantone haben die Anpassungen<br />
<strong>20</strong><strong>20</strong> und <strong>20</strong>13 nicht übernommen<br />
und bleiben bei CHF 977. Ein Kanton<br />
hat einen höheren Satz (CHF 1110) angelegt,<br />
jedoch ohne Integrationszuslage.<br />
ÜL ab 1. Juli <strong>20</strong>21<br />
Das Referendum gegen die Überbrückungsleistungen<br />
für ältere Langzeitarbeitslose<br />
ist nicht zustandegekommen.<br />
Die entsprechenden Verordnungen<br />
befinden sich bis Februar <strong>20</strong>21 in der<br />
Vernehmlassung. Die Inkraftsetzung<br />
erfolgt daher nicht wie ursprünglich angekündigt<br />
auf Anfang <strong>20</strong>21, sondern am<br />
1. Juli <strong>20</strong>21. (ih)<br />
Vorläufig kein Lockdown wegen Corona. <br />
Corona-Krise: Stabile Zahlen – Absicherung<br />
für Selbständigerwerbende<br />
Seit Juni <strong>20</strong><strong>20</strong> publiziert die SKOS jeden<br />
Monat die neuen Resultate des Fallzahlen-<br />
Monitorings. Damit werden die Auswirkungen<br />
der Corona-Krise auf die Sozialhilfe<br />
beobachtet. Gesamtschweizerisch war in<br />
der Sozialhilfe zu Beginn der Corona-Krise<br />
ein leichter Anstieg der Fallzahlen bemerkbar.<br />
Ende September <strong>20</strong><strong>20</strong> liegen die Fallzahlen<br />
bei 99.9 Prozentpunkten (PP) und<br />
sind damit praktisch wieder auf dem Niveau<br />
des Durchschnittsmonats <strong>20</strong>19. Im<br />
Moment wirken nach wie vor die Instrumente<br />
der Arbeitslosenversicherung und<br />
die Corona-Erwerbsersatzentschädigung.<br />
Die SKOS wird sich in den nächsten<br />
Monaten insbesondere mit den Selbständigerwerbenden<br />
befassen, die besonders<br />
Bieler Tagung im Web<br />
Bild: Mila Hess<br />
stark von den wirtschaftlichen Auswirkungen<br />
der Covid-19-Pandemie betroffen<br />
sind. Denn sie haben keinen Anspruch auf<br />
Leistungen der Arbeitslosenversicherung.<br />
Mit dem Corona-Erwerbsersatz wurde diese<br />
Lücke im Netz der sozialen Sicherheit<br />
zwar kurzfristig geschlossen. Wie lange<br />
und in welchem Umfang dieser Erwerbsersatz<br />
fortgeführt wird, ist jedoch ungewiss.<br />
Die SKOS geht in ihren Analysen davon<br />
aus, dass sich in den kommenden Jahren<br />
deutlich mehr Selbständigerwerbende bei<br />
der Sozialhilfe melden werden als bisher.<br />
Ziel ist einerseits die Erarbeitung eines<br />
Merkblattes und andererseits die Durchführung<br />
einer halbtägigen Veranstaltung<br />
im Spätfrühling <strong>20</strong>21. (ih)<br />
•<br />
Während das SKOS-Forum im September<br />
noch vor Ort stattfinden konnte, wurde die<br />
Bieler Tagung am 2. November als Webinar<br />
durchgeführt. 130 Personen nahmen<br />
an der Tagung, welche in verkürzter Form<br />
stattfand, teil. Unter dem Titel «Der steinige<br />
Weg in den ersten Arbeitsmarkt» präsentierte<br />
Prof. Dr. Michelle Beyeler von der<br />
Berner Fachhochschule die Sicht der Wissenschaft.<br />
Thomas Michel, Leiter Abteilung<br />
Soziales der Stadt Biel, berichtete aus<br />
der Perspektive der Praxis in der Sozialhilfe.<br />
In einem Streitgespräch unter dem Titel<br />
«Was braucht es für mehr berufliche Integration?»<br />
diskutierten Felix Wolffers, ehem.<br />
Leiter Sozialamt Stadt Bern, Jérôme Cosandey,<br />
Avenir Suisse, und Daniel Lampart,<br />
Schweizerischer Gewerkschaftsbund<br />
(SGB). Die nächste Bieler Tagung befasst<br />
sich mit dem Thema persönliche Hilfe. Sie<br />
findet voraussichtlich im Kongresshaus<br />
Biel am 11. März <strong>20</strong>21 statt. Als Ausweichdatum<br />
wurde vorsorglich der 23.<br />
September festgelegt. (ih)<br />
•<br />
4 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong>
KOMMENTAR<br />
Eine neue Strategie in unsicheren Zeiten<br />
Die Covid-19-Krise bestimmt weiterhin unser<br />
Leben. Sie stellt uns vor grosse Herausforderungen<br />
in Bezug auf unseren beruflichen<br />
und privaten Alltag, aber auch in Bezug auf<br />
die Planung der kommenden Monate und<br />
Jahre. Es ist zurzeit nicht möglich abzuschätzen,<br />
wie viele Klientinnen und Klienten<br />
in einem Jahr betreut werden müssen und<br />
welche Gruppen besonders betroffen sein<br />
werden. Trotz oder gerade wegen dieser<br />
unsicheren Situation hat die SKOS beschlossen,<br />
eine neue Strategie für die kommenden<br />
vier Jahre zu erarbeiten. Im Oktober trafen<br />
sich die Geschäftsleitungsmitglieder in<br />
Zürich zur jährlichen Retraite und luden<br />
dazu sieben externe Experten ein, die einen<br />
Blick von aussen auf die SKOS warfen.<br />
Insgesamt steht die Sozialhilfe<br />
und die SKOS<br />
gefestigter<br />
da als vor vier Jahren. Damals kündigten<br />
mehrere Gemeinden ihre Mitgliedschaft, der<br />
Kanton Zürich diskutierte einen Austritt. In<br />
der Zwischenzeit fielen wichtige Entscheide,<br />
die das Prinzip von national gültigen Richtlinien<br />
stützten, allen voran der Volksentscheid<br />
im Kanton Bern im Mai <strong>20</strong>19. Die<br />
SKOS gab wichtige sozialpolitische Impulse<br />
im Bereich der Integration von Flüchtlingen,<br />
der sozialen Absicherung von Arbeitslosen<br />
über 55 und für die Weiterbildung. Die Richtlinien<br />
wurden modernisiert.<br />
Die neue Strategie will an diesen positiven<br />
Entwicklungen anknüpfen. Sie stellt die<br />
methodische und inhaltliche Weiterentwicklung<br />
der Sozialhilfe und der Richtlinien<br />
ins Zentrum. Es braucht neue Modelle zur<br />
Unterstützung von Selbständigen, die von<br />
der Pandemie besonders betroffen sind. Die<br />
gesellschaftliche Entwicklung bringt bisherige<br />
Konzepte wie den Konkubinatsbeitrag<br />
auf den Prüfstein. Die<br />
SKOS will auch weiterhin soziale Probleme<br />
aufgreifen, die sich oft zuerst in der Sozialhilfe<br />
zeigen, und dafür umsetzbare Modelle<br />
erarbeiten. Wichtig bleibt auch der Anspruch,<br />
den Mitgliedern qualitativ gute und praxisnahe<br />
Dienstleistungen zu erbringen, von<br />
der Rechtsberatung über Tagungen bis hin<br />
zu Grundlagenpapieren. Dabei sollen die<br />
unterschiedlichen Interessen berücksichtigt<br />
werden, sei es der Sozialdienst einer kleinen<br />
Gemeinde wie Eschlikon mit rund 50 Sozialhilfebeziehenden<br />
oder das für den ganzen<br />
Kanton Genf zuständige Hospice général<br />
mit fast 30 000 Sozialhilfebeziehenden.<br />
In den nächsten Monaten werden Vorstand<br />
und Kommissionen ihre Anliegen einbringen.<br />
Willkommen sind auch Vorschläge<br />
der Mitglieder. Im April <strong>20</strong>21 wird die neue<br />
Strategie verabschiedet und publiziert. Als<br />
Wegweiser für die nächsten vier Jahre, die<br />
unser System der sozialen Sicherheit vor<br />
neue und grössere Aufgaben stellen werden.<br />
Markus Kaufmann<br />
Geschäftsführer SKOS<br />
4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
5
Mit einem Monitoring Armut<br />
erkennen und angehen<br />
FACHBEITRAG Globalisierung, Digitalisierung und Krisen verändern die Armutsrisiken. Um rechtzeitig<br />
darauf reagieren zu können, ist die Armutspolitik auf eine regelmässige und solide Faktenlage<br />
angewiesen. Als Grundlage für die Erstellung dieser Informationen hat die Berner Fachhochschule<br />
deshalb gemeinsam mit Caritas Schweiz ein Modell entwickelt, mit dem die Armutsbeobachtung in<br />
der Schweiz erheblich verbessert werden kann.<br />
Armut in einem reichen Land wie der<br />
Schweiz? Laut offiziellen Statistiken leben<br />
in der Schweiz rund 660 000 Menschen<br />
in Armut. Ihr Einkommen reicht nicht, um<br />
das soziale Existenzminimum zu finanzieren.<br />
Die Armut trägt verschiedene Gesichter:<br />
Vom Langzeitarbeitslosen mit gesundheitlichen<br />
Beeinträchtigungen über die<br />
Rentnerin mit knappen Einkünften bis hin<br />
zum Alleinerziehenden. Armut kann in allen<br />
Lebensphasen und bei unterschiedlichen<br />
Bevölkerungsgruppen zu einem Thema<br />
werden. Allen gemeinsam sind die<br />
eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten,<br />
die ihre Alltagsbewältigung und die<br />
gesellschaftliche Teilhabe erschweren. Um<br />
den armutsbetroffenen Menschen mit<br />
wirksamen Massnahmen zu helfen und Armut<br />
möglichst präventiv zu verhindern, ist<br />
eine systematische Beobachtung der Armutssituation<br />
ganz entscheidend.<br />
Lückenhafte Armutsbeobachtung in<br />
der Schweiz<br />
In der Schweiz gibt es bereits Instrumente<br />
zur Beobachtung der Entwicklung der Armutsbetroffenheit.<br />
So publiziert das Bundesamt<br />
für Statistik regelmässig Indikatoren<br />
zur Armut. Damit existiert ein<br />
Monitoring auf nationaler Ebene, das mit<br />
der EU abgestimmt ist und Vergleiche zwischen<br />
den europäischen Ländern ermöglicht.<br />
In der Armutspolitik der Schweiz<br />
spielen jedoch die Kantone eine entscheidende<br />
Rolle. Deshalb unterscheidet sich<br />
die Politik der Armutsbekämpfung stark<br />
von Kanton zu Kanton. Auch die Informationslage<br />
der Kantone ist sehr unterschiedlich:<br />
Nur einige Kantone erstellen Sozialoder<br />
Armutsberichte, die Berichterstattung<br />
erfolgt unregelmässig. Die betreffenden<br />
Indikatoren sind nur beschränkt vergleichbar.<br />
Ein Teil der Kantone fokussiert ausschliesslich<br />
auf die gewährten Sozialleistungen<br />
und vernachlässigt so, dass Armut<br />
breiter gefasst werden muss. In anderen<br />
wiederum ist die Armutssituation gänzlich<br />
unbekannt. Diese Uneinheitlichkeit führt<br />
zu einem fragmentierten Bild, das eine<br />
zielgerichtete Armutspolitik erschwert. Im<br />
Parlament wurde diese unbefriedigende<br />
Situation erkannt. Durch die Motion<br />
19.3953 ist der Bundesrat aufgefordert<br />
ein regelmässiges Monitoring der Armutssituation<br />
unter Einbezug der föderalen<br />
Struktur der Schweiz zu etablieren.<br />
Neue Möglichkeiten dank<br />
Digitalisierung<br />
Aktuell ist die Situation ungenügend. Möglichkeiten<br />
für eine permanente Armutsbeobachtung<br />
haben sich aber wesentlich<br />
verbessert. Dank technologischen<br />
Fortschritten in der Datenverarbeitung<br />
können Administrativ- und Registerdaten<br />
seit Kurzem für die Armutsforschung genutzt<br />
werden. Eine wichtige Grundlage<br />
dazu sind Steuerdaten, die mit weiteren<br />
Administrativdaten zu den Bedarfsleistungen<br />
sowie mit Registerdaten zur Wohnund<br />
Haushaltssituation verknüpft werden.<br />
Dank dieser Datenbasis kann ein detailliertes<br />
und valides Bild der finanziellen Situation<br />
der Bevölkerung erstellt werden. Da<br />
Administrativdaten im Rahmen der staatlichen<br />
Aufgaben laufend anfallen, können<br />
diese für ein Armutsmonitoring genutzt<br />
werden, ohne dass neue Daten erhoben<br />
werden müssen. Dabei muss jedoch festgelegt<br />
werden, welche Methoden und Konzepte<br />
zur Berechnung von steuerungsrelevanten<br />
Indikatoren verwendet werden.<br />
Diesbezüglich bietet der Modellvorschlag<br />
von Caritas Schweiz und der Berner Fachhochschule<br />
Hand.<br />
Modell Armutsmonitoring BFH/Caritas<br />
(vgl. die interaktive Visualisierung des Modells: « Armutsmonitoring – das Instrument gegen Armut»<br />
https://www.knoten-maschen.ch/armutsmonitoring-das-instrument-gegen-armut/)<br />
6 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong>
Modellvorschlag der Berner Fachhochschule<br />
und von Caritas Schweiz<br />
Unter Einbezug des nationalen und internationalen<br />
Forschungsstandes haben die<br />
beiden Organisationen Grundlagen erarbeitet,<br />
die es erleichtern, ein systematisches<br />
Armutsmonitoring zu erstellen. Damit<br />
können wichtige Kenntnisse zur<br />
kantonalen Situation gewonnen werden.<br />
Das Modell zeigt auf, wie die vorhandenen<br />
Daten genutzt werden können. Das<br />
Monitoring besteht aus einem «Kernmodul»,<br />
welches mittels wiederkehrender Indikatoren<br />
die Armutsrisiken gesamthaft<br />
und für bestimmte Bevölkerungsgruppen<br />
ausweist.<br />
Aus präventiver Sicht ist es wichtig, Armut<br />
nicht nur auf etablierte Indikatoren<br />
wie die absolute Armut oder den Bezug<br />
von Sozialleistungen eingegrenzt zu messen.<br />
Deshalb wird im Modell eine mehr-<br />
Viele Haushalte leben nur knapp über der<br />
Armutsgrenze. <br />
Bild: Caritas<br />
<br />
Neue Armutsstrategie für den Kanton<br />
Basel-Landschaft<br />
In der Schweiz haben 18 Kantone Sozialoder<br />
Armutsberichte publiziert. Der neuste<br />
Bericht kommt aus dem Kanton Basel-<br />
Landschaft. Er wurde im Mai <strong>20</strong><strong>20</strong><br />
publiziert. Gleichzeitig legte der Regierungsrat<br />
eine Armutsstrategie vor, die 46<br />
Massnahmen zur Armutsbekämpfung<br />
zur Diskussion stellt. Die Baselbieter Regierung<br />
will damit die Armut im Kanton<br />
bekämpfen. Mit einer Reihe von Massnahmen<br />
soll die Armut innerhalb der<br />
nächsten zehn Jahre um die Hälfte reduziert<br />
werden, wie in der von der Schweiz<br />
mitgetragenen Agenda <strong>20</strong>30 der UNO<br />
vorgesehen.<br />
«Die Strategie soll Voraussetzungen<br />
dafür schaffen, dass die Leute schon gar<br />
nicht in Armut gelangen», sagte Finanzund<br />
Kirchendirektor Anton Lauber (CVP)<br />
anlässlich der Präsentation der Strategie<br />
vor den Medien. Es gehe aber gleichzeitig<br />
auch darum, Betroffene aus der Armut<br />
herauszulösen.<br />
Die Strategie beinhaltet die Handlungsfelder<br />
Bildungschancen, Erwerbsintegration,<br />
Wohnversorgung, gesellschaftliche<br />
Teilhabe und Alltagsbewältigung<br />
sowie soziale Existenzsicherung. Die finanzielle<br />
Armut stehe im Vordergrund,<br />
doch sollen laut Lauber die unterschiedlichsten<br />
Lebensbereiche ins Urteil miteinbezogen<br />
werden.<br />
46 Massnahmen werden geprüft<br />
Die Baselbieter Regierung hat insgesamt<br />
46 zu prüfende Massnahmen verabschiedet.<br />
Diese sind noch sehr allgemein formuliert<br />
und reichen von der Intensivierung<br />
der frühen Förderung von Kindern<br />
im Bildungsbereich über die verbesserte<br />
Arbeitsmarktintegration von arbeitslosen<br />
Personen sowie der Sicherung der Wohnversorgung<br />
bis zur Ausgestaltung situativer<br />
Leistungen in der Sozialhilfe. So soll<br />
en der Zugang zum Wohnungsmarkt<br />
trotz Schulden und der Ausbau der Mietzinsbeiträge<br />
für arme Familien geprüft<br />
werden.<br />
Koordinationsstelle für Armutsfragen<br />
Der Kanton Basel-Landschaft prüft ferner<br />
die Einrichtung einer Koordinationsstelle<br />
für Armutsfragen. In den nächsten zwei<br />
Jahren möchte die Regierung die 46<br />
Massnahmen einer Detailprüfung unterziehen,<br />
anschliessend soll über die Umsetzung<br />
entschieden werden. «Die Verabschiedung<br />
der Strategie kommt in Bezug<br />
zu Covid-19 zu einem guten Zeitpunkt»,<br />
sagte Lauber.<br />
Knapp 9 Prozent der Baselbieter Bevölkerung<br />
sind gemäss Zahlen aus dem<br />
Jahr <strong>20</strong>17 von Armut betroffen – rund<br />
15 Prozent sind armutsgefährdet. Es<br />
gebe keine Hinweise darauf, dass die Armut<br />
im Kanton Basel-Landschaft zurückgegangen<br />
sei, vielmehr habe sie eher zugenommen,<br />
sagte Jörg Dittmann von<br />
der Hochschule für Soziale Arbeit der<br />
FHNW, der den Armutsbericht im Auftrag<br />
des Kantons Basel-Landschaft verfasst<br />
hat. (ih)<br />
•<br />
4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
7
perspektivische Betrachtung mittels fünf<br />
Basisindikatoren vorgeschlagen:<br />
• Absolute Armut: Umfasst Haushalte,<br />
die mit weniger Einkommen als dem<br />
Existenzminimum gemäss Richtlinien<br />
der SKOS leben.<br />
• Armutsgefährdung: Umfasst Haushalte,<br />
deren Äquivalenzeinkommen unter<br />
60 Prozent des Medianeinkommens<br />
der Bevölkerung liegt. Damit werden<br />
auch Haushalte erfasst, deren Einkommen<br />
geringfügig über der absoluten Armutsgrenze<br />
liegt.<br />
• Armut unter Einbezug von finanziellen<br />
Reserven: Hier werden neben dem Einkommen<br />
auch finanzielle Reserven zur<br />
zeitlich begrenzten Überbrückung von<br />
Einkommensausfällen berücksichtigt.<br />
• P<strong>20</strong>-Indikator: Die Einkommen der<br />
einkommensschwächsten <strong>20</strong> Prozent<br />
der Bevölkerung werden im Verhältnis<br />
zum Durchschnittseinkommen und zu<br />
den Topeinkommen betrachtet. Dieser<br />
Ungleichheitsindikator zeigt auf, wo die<br />
Schwächsten der Gesellschaft in Bezug<br />
zu anderen Bevölkerungsschichten stehen.<br />
• Nichtbezug von Sozialhilfe: Damit wird<br />
abgebildet, wie gut der Zugang zum<br />
letzten Netz der Existenzsicherung generell<br />
und für verschiedene Bevölkerungsgruppen<br />
ist.<br />
Dazu kommt ein Vertiefungsmodul, das<br />
wechselnde Indikatoren heranzieht. Diese<br />
ermöglichen Erkenntnisse zu aktuellen<br />
sozialpolitischen Themen. Bei der Umsetzung<br />
ist zudem entscheidend, dass die<br />
kantonalen wohlfahrtsstaatlichen Instrumente<br />
sowie die regionalen Eigenheiten<br />
der Wirtschafts- und Bevölkerungsstruktur<br />
bei der Analyse berücksichtigt werden.<br />
Die Analysen sollen in regelmässigen Abständen<br />
wiederholt werden. Durch die Vereinheitlichung<br />
der Indikatoren können die<br />
Kantone miteinander in Austausch treten,<br />
Entwicklungen vergleichen und besonders<br />
erfolgreiche Massnahmen identifizieren.<br />
Armut im Kanton Bern – Resultate der<br />
Pilotstudie<br />
Das entwickelte Modell wurde anhand des<br />
Kantons Bern getestet. Die Ergebnisse des<br />
Armutsmonitorings Bern für das Jahr<br />
<strong>20</strong>15 zeigen auf, dass eine grosse Anzahl<br />
Die Ergebnisse des<br />
Armutsmonitoring<br />
Bern für das Jahr<br />
<strong>20</strong>15 zeigen auf,<br />
dass eine grosse<br />
Anzahl Haushalte<br />
im Kanton Bern von<br />
Armut betroffen ist.<br />
Haushalte im Kanton Bern von Armut betroffen<br />
ist. Gemessen an der absoluten Armutsgrenze<br />
leben im Kanton 94 000 Personen<br />
oder 10 Prozent der Bevölkerung in<br />
Armut. Fasst man Armut mit der Armutsgefährdung<br />
etwas breiter, so sind es gar<br />
15 Prozent der Bevölkerung. Daran zeigt<br />
sich, dass relativ viele Haushalte knapp<br />
über der Armutsgrenze leben.<br />
Einige Haushalte können den täglichen<br />
Bedarf mit Reserven überbrücken. Werden<br />
finanzielle Reserven bei der Armutsmessung<br />
mitberücksichtigt, so beträgt die<br />
Armutsquote 5.4 Prozent. Bei Berücksichtigung<br />
von Reserven reduziert sich die Armutsquote<br />
besonders bei Rentnerhaushalten<br />
von 18.7 Prozent auf 3.4 Prozent. Bei<br />
Rentnerinnen und Rentnern spielen Reserven<br />
in Form von Kapitalbezügen aus der<br />
zweiten und dritten Säule und der privaten<br />
Selbstvorsorge eine wichtige Rolle zur Bestreitung<br />
des Lebensunterhaltes. Bei der<br />
Erwerbsbevölkerung ist der Unterschied<br />
bei Berücksichtigung von Reserven wesentlich<br />
geringer. So reduziert sich die Armutsquote<br />
bei Personen im Alter von 16 bis 64<br />
Jahren nur von 7.1 Prozent auf 5 Prozent.<br />
Somit verfügt der grosse Teil dieser Haushalte<br />
nicht über Reserven, um längere Einkommensausfälle<br />
oder finanzielle Lücken<br />
aufgrund von zusätzlichen Ausgaben zu<br />
überbrücken.<br />
Der P<strong>20</strong>-Indikator rückt die Bestandesaufnahme<br />
in den Kontext ökonomischer<br />
Ungleichheit. Dabei wird sichtbar, dass die<br />
Ungleichheit beträchtlich ist. Die <strong>20</strong>-Prozent<br />
einkommensschwächsten Haushalte<br />
verfügen nur über halb so viel Einkommen<br />
wie der Durchschnittshaushalt und<br />
nur über einen Zehntel des Einkommens<br />
des reichsten Prozentes. Wenn auch finanzielle<br />
Mittel in Form von Bankguthaben<br />
und Wertschriften berücksichtigt werden,<br />
verschärfen sich die Unterschiede weiter.<br />
Während sich die Ressourcenlage bei den<br />
untersten <strong>20</strong> Prozent dadurch kaum verbessert,<br />
verfügen Haushalte aus dem Top-<br />
1-Prozent der Einkommensverteilung im<br />
Schnitt zusätzlich über CHF 3.4 Mio. flüssige<br />
Mittel (ohne Liegenschaften und Betriebsvermögen).<br />
Anzumerken ist, dass der<br />
Kanton Bern im schweizerischen Vergleich<br />
ein Kanton mit einer eher unterdurchschnittlich<br />
ausgeprägten Einkommensungleichheit<br />
ist.<br />
Der Indikator zum Nichtbezug von Sozialhilfe<br />
verweist auf den Zugang zum letzten<br />
Netz der Existenzsicherung. Wird anhand<br />
des Einkommens und Vermögens<br />
sowie des Bedarfs der Haushalte die Anspruchsberechtigung<br />
auf Sozialhilfe identifiziert,<br />
so kann festgestellt werden, dass<br />
36 Prozent der Anspruchsberechtigten keine<br />
Sozialhilfeleistungen beziehen. Dabei<br />
gibt es erhebliche Unterschiede zwischen<br />
städtischen und ländlichen Regionen. Der<br />
Nichtbezug von Sozialleistungen kann die<br />
Problemsituation der betreffenden Personen<br />
verschärfen, da es zu einer Verschuldung<br />
oder zu einer Verschlechterung des<br />
Gesundheitszustandes als Folge eines Verzichtes<br />
auf Gesundheitsleistungen kommen<br />
kann. Deswegen ist es wichtig, diese<br />
Gruppe bei präventiven Massnahmen stärker<br />
in den Fokus zu nehmen.<br />
Armutsmonitoring muss der föderalen<br />
Struktur gerecht werden<br />
Armutspolitik muss am Puls der gesellschaftlichen<br />
Entwicklung bleiben. Derzeit<br />
ist die Armutsbeobachtung in der Schweiz<br />
noch lückenhaft. Eine deutliche Verbesserung<br />
könnte durch eine einheitliche Verwendung<br />
bestehender Administrativdaten<br />
erreicht werden. Mithilfe des Modells der<br />
BFH und der Caritas kann erstmals ein flächendeckendes<br />
Armutsmonitoring erstellt<br />
werden, das der föderalistischen Struktur<br />
der Schweiz Rechnung trägt. Mit einem<br />
gutem Armutsmonitoring kann eine solide<br />
Grundlage für eine wirksamere Armutspolitik<br />
geschaffen werden. <br />
•<br />
Prof. Oliver Hümbelin, Prof. Robert Fluder<br />
Berner Fachhochschule<br />
Soziale Arbeit<br />
8 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong>
Wie ist die Hilflosenentschädigung<br />
zu berücksichtigen?<br />
PRAXIS Wer aufgrund einer Beeinträchtigung der Gesundheit eine Hilflosenentschädigung und<br />
allenfalls auch einen Intensivpflegezuschlag erhält, muss diese bei gleichzeitigem Sozialhilfebezug<br />
als Einnahme anrechnen lassen. Gesundheitsbedingte Nebenkosten können dafür als<br />
situationsbedingte Leistungen (SIL) von der Sozialhilfe übernommen werden.<br />
Familie Müller, ein Ehepaar und zwei Kinder,<br />
wird mit Sozialhilfe unterstützt und<br />
lebt gemeinsam in einem Haushalt. Eines<br />
der Kinder ist gesundheitlich stark beeinträchtigt<br />
und erhält dafür eine Hilflosenentschädigung<br />
und einen Intensivpflegezuschlag<br />
von der Invalidenversicherung<br />
(IV). Pflege und Betreuung werden von<br />
den Eltern erbracht.<br />
FRAGEN<br />
1. Wie werden Hilflosenentschädigung<br />
und Intensivpflegezuschlag bei der Berechnung<br />
der wirtschaftlichen Sozialhilfe<br />
angerechnet?<br />
2. Wie ist die Situation, nachdem das beeinträchtigte<br />
Kind volljährig wird?<br />
3. Wie ist in diesem Fall mit gesundheitsbedingten<br />
Mehrkosten für das Kind<br />
umzugehen, bspw. wenn die Eltern das<br />
Kind zur Entlastung jedes zweite Wochenende<br />
in einer spezialisierten Institution<br />
pflegen und betreuen lassen?<br />
4. Kann einem Elternteil eine Integrationszulage<br />
(IZU) gewährt werden?<br />
GRUNDLAGEN<br />
Gemäss Art. 9 ATSG gilt eine Person als<br />
hilflos, wenn sie wegen gesundheitlicher<br />
Beeinträchtigungen für alltägliche Lebensverrichtungen<br />
dauernd Hilfe von Dritten<br />
oder persönliche Überwachung benötigt.<br />
Hilflosenentschädigungen der IV und<br />
AHV werden daher ausgerichtet, damit<br />
sich eine unterstützte Person die für sie<br />
notwendige Hilfe finanzieren kann. Es<br />
PRAXIS<br />
In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen, die<br />
an die «SKOS-Line»gestellt werden, beantwortet<br />
und publiziert. Die «SKOS-Line» ist ein Beratungsangebot<br />
für SKOS-Mitglieder.<br />
Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />
(einloggen) Beratungsangebot<br />
geht dabei um Leistungen, die im Grundbedarf<br />
für den Lebensunterhalt der Sozialhilfe<br />
nicht vorgesehen sind.<br />
Grundsätzlich handelt es sich bei der<br />
Hilflosenentschädigung um eine frei verfügbare<br />
Einnahme, die bei der Bedarfsberechnung<br />
der Sozialhilfe zu berücksichtigen<br />
ist (SKOS-RL D.1). Die Entschädigung<br />
wird aber von einer Sozialversicherung mit<br />
einer klaren Zweckbestimmung erbracht,<br />
weshalb sie aus Gründen der Systemlogik<br />
bei der anspruchsberechtigten Person<br />
nicht ohne Weiteres als Einnahme angerechnet<br />
werden darf. Die Entschädigung<br />
darf bei der Bedarfsbemessung der Sozialhilfe<br />
für die berechtigte Person dann nicht<br />
berücksichtigt werden, wenn damit Hilfe<br />
von Dritten eingekauft wird.<br />
Wenn die Hilfe durch eine Drittperson<br />
im selben Haushalt erbracht wird, soll<br />
die Entschädigung grundsätzlich dieser<br />
Person zustehen. Wenn die Person selber<br />
bedürftig ist, ist die Entschädigung ihrer<br />
Unterstützungseinheit als Einnahme anzurechnen.<br />
Wenn mit der Entschädigung<br />
andere Hilfe von Dritten eingekauft wird,<br />
dann bestehen zwei Varianten für das weitere<br />
Vorgehen. Entweder wird die Hilflosenentschädigung<br />
der bedürftigen Person<br />
als Einnahme angerechnet. In diesem<br />
Fall muss die Hilfe von Dritten als grundversorgende<br />
situationsbedingte Leistung<br />
(grundversorgende SIL) übernommen<br />
werden (SKOS-RL C.1 und C.6.1). Oder<br />
aber die Entschädigung wird nicht angerechnet,<br />
damit die Hilfe von Dritten direkt<br />
damit finanziert werden kann. In diesem<br />
Umfang besteht dann aber kein entsprechender<br />
Anspruch auf eine grundversorgende<br />
SIL.<br />
Pflegenden Elternteilen kann für ihre<br />
Bemühungen in gewissen Fällen eine Integrationszulage<br />
(IZU) gewährt werden, obschon<br />
sie dadurch keinen Beitrag für die<br />
eigene soziale oder berufliche Integration<br />
leisten (SKOS-RL C.6.7 Erläuterungen c).<br />
ANTWORTEN<br />
1. Die Hilflosenentschädigung und der Intensivpflegebeitrag<br />
werden im Familienbudget<br />
als Einnahmen angerechnet.<br />
2. Wenn das Kind volljährig wird und im<br />
Haushalt der Eltern wohnen bleibt,<br />
die sich weiterhin um Pflege und Betreuung<br />
kümmern, dann werden ihrer<br />
Unterstützungseinheit die Hilflosenentschädigung<br />
und der Intensivpflegezuschlag<br />
als Einnahmen angerechnet.<br />
Dies gilt auch dann, wenn das volljährige<br />
Kind selber weiterhin auf Sozialhilfe<br />
angewiesen ist.<br />
3. Wenn trotz Pflege und Betreuung der<br />
Eltern notwendige Leistungen Dritter<br />
eingekauft werden, bspw. wenn die Eltern<br />
das Kind zur Entlastung jedes zweite<br />
Wochenende in einer spezialisierten<br />
Institution pflegen und betreuen lassen,<br />
dann sind diese als grundversorgende<br />
SIL von der Sozialhilfe zu vergüten. Ein<br />
Anspruch auf SIL besteht dann nicht,<br />
wenn die Leistungen im Einverständnis<br />
mit dem Sozialhilfeorgan direkt mit der<br />
Hilflosenentschädigung oder dem Intensivpflegezuschlag<br />
finanziert werden.<br />
4. Weil die Eltern ihr hilfsbedürftiges Kind<br />
pflegen, kann ihnen eine angemessene<br />
IZU gewährt werden.<br />
•<br />
WICHTIGER HINWEIS<br />
Christoph Hostettler<br />
Mitglied RiP AG<br />
Die Verweise auf die SKOS-Richtlinien<br />
beziehen sich bereits auf die ab <strong>20</strong>21 neu<br />
geltende Richtlinien-Struktur.<br />
4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
9
«Fortschritt bedeutet, den Kreis<br />
der Solidarität auszuweiten»<br />
INTERVIEW Jonas Lüscher ist einer der renommiertesten Schriftsteller der Schweiz. Der Wahl-<br />
Münchner ist aber auch politischer Beobachter und Kommentator. Für seinen Roman «Kraft» erhielt<br />
er <strong>20</strong>17 den Schweizer Buchpreis. In seinem neusten Band «ins Erzählen flüchten» schreibt Lüscher<br />
über die politische Bedeutung der Literatur. Die Corona-Krise ist für Lüscher, der selbst schwer an<br />
Covid-19 erkrankte, ein Brennglas für die Schwächen des gesellschaftlichen Systems.<br />
«<strong>ZESO</strong>»: Herr Lüscher, seit wir zum<br />
ersten Mal Ende Februar miteinander<br />
gesprochen haben, ist viel passiert. Die<br />
Schweiz war wie viele andere Länder<br />
auch wochenlang im Shutdown. Sie<br />
selbst lagen sieben Wochen als Folge<br />
Ihrer Covid-19-Erkrankung in einem<br />
künstlichen Koma. Schön, sind Sie<br />
wieder gesund.<br />
Jonas Lüscher: Danke, ich hatte Glück.<br />
Oder besser: Glück im Pech.<br />
Corona prägt unser Leben seit Mitte<br />
März massgeblich. Hat diese Krise die<br />
Gesellschaft grundlegend verändert?<br />
Wir stecken ja noch mitten drin, deshalb<br />
ist es noch zu früh, das jetzt schon abschliessend<br />
zu beurteilen. Aber was sich<br />
jetzt schon zeigt, ist, dass die Krise wie ein<br />
Brennglas funktioniert und die Stärken<br />
und Schwächen unser Gesellschaft und<br />
unseres politischen Systems offen legt. Sie<br />
zeigt, wie wichtig die Solidarität und ein<br />
funktionierender Sozialstaat sind, denn<br />
auch in dieser Krise sind es die Armen,<br />
die am meisten unter den Auswirkungen<br />
leiden. Mich beschäftigt aber auch, was es<br />
mit uns als Gesellschaft macht, wenn jeder<br />
Mitmensch eine potentielle Gefahr darstellt.<br />
Das ist, finde ich, eine fast unerträgliche<br />
Art miteinander zu leben.<br />
Für das Retten von Leben waren wir<br />
bereit, auf sehr vieles zu verzichten<br />
und auch Wohlstand preiszugeben.<br />
War oder ist das Verhalten vieler<br />
Menschen während der Corona-Krise<br />
ein Zeichen des Wiederauflebens des<br />
Solidaritätsgedankens?<br />
Es war tatsächlich erfreulich festzustellen,<br />
dass man sich ganz sicher war, dass<br />
es jetzt darum gehen muss, Leben zu retten,<br />
und wirtschaftliche Interessen hintangestellt<br />
wurden. Das zeigt, dass so etwas<br />
möglich ist und die sonst üblichen austeritätspolitischen<br />
Argumente Humbug sind.<br />
Staaten – allen voran die Schweiz – haben<br />
sehr viel Geld zur Verfügung, wenn sie wollen.<br />
Sie sind Botschafter der Charta Sozialhilfe<br />
Schweiz und sagten: «In der<br />
Sozialhilfe findet der grundlegende<br />
Gedanke einer solidarischen Gesellschaft<br />
seinen Ausdruck. Sie ist nicht<br />
nur ein wichtiges Instrument gegen<br />
die Verelendung und eine Garantie für<br />
die Teilhabe an der Gesellschaft, sie<br />
definiert auch, welche Art von Gemeinschaft<br />
wir sein wollen.» Was genau<br />
meinen Sie damit?<br />
Es sagt viel über eine Gemeinschaft aus,<br />
ob sie einen starken Sozialstaat hat oder<br />
eben nicht. Wir sind doch in unserem Leben<br />
sehr von schicksalhaften Umständen<br />
abhängig: In welche Umstände ich hineingeboren<br />
werde, vor allem in welches<br />
Bildungsmilieu; komme ich gesund auf<br />
die Welt oder vielleicht mit einer Behinderung,<br />
wurde ich mit schönen Talenten<br />
ausgestattet, mit einem gewinnenden<br />
Aussehen, mit Klugheit gesegnet? Das<br />
sind Dinge, zu denen wir nichts beizutragen<br />
haben, und die doch unser Leben so<br />
stark definieren. In Gesellschaften, die keinen<br />
Sozialstaat haben, bleibt das Schicksal<br />
stark bestimmend für das eigene Leben.<br />
In Gesellschaften mit Sozialstaat gelingt<br />
es doch, dem Schicksal dann und wann<br />
ein Schnippchen zu schlagen. Mit einem<br />
Sozialstaat können wir nicht alle Schicksalsschläge<br />
verhindern, aber ihre Auswirkungen<br />
zumindest häufig abschwächen.<br />
Der Sozialstaat ist eine junge Errungenschaft,<br />
aber er ist doch heute<br />
hierzulande nicht wirklich in Frage<br />
gestellt.<br />
10 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong>
Eine Selbstverständlichkeit ist er trotzdem<br />
nicht. Er musste hart erkämpft werden<br />
und in vielen Ländern Europas bestehen<br />
starke Gegenbewegungen. Schauen<br />
Sie nach Österreich, nach Grossbritannien,<br />
aber auch in die USA. Wir sollten uns<br />
nicht auf der sicheren Seite fühlen.<br />
Bilder: Palma Fiacco<br />
«Ich glaube ehrlich<br />
gesagt, dass schon<br />
alleinerziehende<br />
Schweizer Mütter<br />
für manche ein Problem<br />
sind.»<br />
Personen, die auf Sozialhilfe angewiesen<br />
sind, werden in der Öffentlichkeit<br />
mehrheitlich negativ dargestellt. Warum?<br />
Es ist eben eine Frage, welches Menschenbild<br />
wir pflegen. Und die Rechtspopulisten<br />
haben es hierzulande geschafft,<br />
ein ganz altes Menschenbild – das vom<br />
faulen Sozialhilfeempfänger – aus der<br />
Mottenkiste zu holen, und dazu haben sie<br />
noch ein neues Schreckensbild geschaffen,<br />
das vom eben so faulen Sozialarbeiter<br />
und Lehrer. Menschenbilder verändern<br />
sich zum Glück durch die Geschichte. Es<br />
gab eine Zeit, in der sowieso jeder seinen<br />
von Gott zugedachten Platz hatte – da war<br />
Gleichheit noch nicht einmal ein Ideal.<br />
Erst mit der französischen Revolution hat<br />
sich der Mensch neu erfunden, als Individuum<br />
unter gleichen in Freiheit und Solidarität.<br />
Dennoch hat ein konservatives<br />
Menschenbild überdauert, in dem der<br />
Arme an seinem Elend irgendwie selber<br />
Schuld sein muss – nicht fleissig genug,<br />
nicht gottesfürchtig genug, nicht brav genug.<br />
Auch einem solchen Armen standen<br />
ein paar Almosen zu, aber eben nur aus<br />
Mildtätigkeit. Die Realität einer solidarischen<br />
Gesellschaft, in der man gemeinsam<br />
dem Schicksal trotzt, ist eine relativ<br />
neue – und sie ist eben keinesfalls selbstverständlich<br />
und muss immer wieder gegen<br />
alte Narrative verteidigt werden.<br />
Überdurchschnittlich viele Sozialhilfebeziehende<br />
haben Migrationshintergrund.<br />
Würde die Sozialhilfe<br />
weniger kritisch betrachtet, wenn sie<br />
nur Schweizerinnen und Schweizern<br />
zugute käme?<br />
Ich glaube ehrlich gesagt, dass schon alleinerziehende<br />
Schweizer Mütter für manche<br />
ein Problem sind.<br />
<br />
4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
11
«Die Realität einer<br />
solidarischen Gesellschaft,<br />
in der man<br />
gemeinsam dem<br />
Schicksal trotzt, ist<br />
relativ neu.»<br />
<br />
Das heisst, Solidarität braucht ein<br />
ganz spezifisches «Gegenüber»?<br />
Ja, für manche Menschen schon. Es<br />
gibt jene, die den Kreis der Solidarität<br />
möglichst eng ziehen wollen, auf ihre Nation,<br />
ihre Glaubensgemeinschaft, ihre Familie<br />
beschränkt. Und es gibt jene, die den<br />
Kreis der Solidarität immer mehr ausweiten<br />
wollen – in Letzterem findet der Fortschritt<br />
der Menschheit ihren Ausdruck.<br />
Die Diskussionen um die Kostenentwicklung<br />
in der Sozialhilfe oder Missbrauch<br />
nimmt in der reichen Schweiz<br />
einen hohen Stellenwert ein. Warum?<br />
In der politischen Diskussion werden<br />
Ängste bewirtschaftet. Die Philosophie unterscheidet<br />
zwischen Angst und Furcht.<br />
Die Angst ist immer diffus und nicht zielgerichtet.<br />
Angst hat im politischen Diskurs<br />
deshalb eigentlich nichts zu suchen.<br />
Die Furcht ist konkret. Gerade in einem<br />
Land mit direkter Demokratie wäre es die<br />
Aufgabe eines jeden von uns, die Angst in<br />
konkrete Furcht umzuformulieren, sie zu<br />
konkretisieren und zu überprüfen, ob die<br />
Furcht wirklich begründet ist. Ja, das ist<br />
anstrengend und deshalb können die Ängste<br />
von den rechten Parteien bewirtschaftet<br />
werden. In meinem Essai «das Geisterhaus»<br />
habe ich dieses Phänomen mal so<br />
beschrieben: Ein Kind fürchtet sich eines<br />
Nachts davor, dass unter seinem Bett ein<br />
Gespenst ist, die Eltern sagen zu ihm, vielleicht<br />
sind es ja sogar zwei oder drei, komm<br />
zu uns ins Bett! Richtig wäre, das Kind an<br />
der Hand zu nehmen und mit ihm unter<br />
das Bett zu sehen, ob dort ein Gespenst ist.<br />
Gerade in einer globalisierten Welt sind<br />
viele Probleme komplex und schwer verständlich,<br />
dennoch kann man sie verstehen,<br />
wenn man sich anstrengt. Das kann<br />
12 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong>
man von den Bürgern eines demokratischen<br />
Staates verlangen.<br />
Welche Rolle spielen Ihrer Meinung<br />
nach die sozialen Medien in der<br />
öffentlichen Debatte über sozialpolitische<br />
Fragen?<br />
Es klingt vielleicht etwas altmodisch<br />
und kulturpessimistisch, aber mir scheint<br />
offensichtlich, dass die sozialen Medien<br />
den Diskurs verroht haben. Selbst in den<br />
Schweizer Zeitungsforen, wo nur publiziert<br />
wird, was irgendwie noch zu verant-<br />
JONAS LÜSCHER<br />
Jonas Lüscher wuchs in Bern auf, wo er auch<br />
von 1994 bis 1998 das Evangelische Lehrerseminar<br />
Muristalden besuchte. Nach einigen<br />
Jahren als Dramaturg und Stoffentwickler in der<br />
Münchner Filmwirtschaft studierte er an der<br />
Hochschule für Philosophie München (<strong>20</strong>05 bis<br />
<strong>20</strong>09). Sein Studium schloss er <strong>20</strong>09 mit der<br />
Erlangung eines Magistergrades ab. Anschliessend<br />
folgten zwei Jahre als Wissenschaftlicher<br />
Mitarbeiter am Institut TTN (Technik-Theologie-<br />
Naturwissenschaften) an der Ludwig-Maximilians-Universität,<br />
gleichzeitig arbeitete er als<br />
Ethiklehrer an der Staatlichen Wirtschaftsschule<br />
München/Pasing.<br />
<strong>20</strong>11 wechselte Lüscher an die ETH Zürich.<br />
Er schrieb dort an einer Dissertation über die<br />
Bedeutung von Narrationen für die Beschreibung<br />
sozialer Komplexität vor dem Hintergrund<br />
von Richard Rortys Neo-Pragmatismus.<br />
<strong>20</strong>12/<strong>20</strong>13 verbrachte er mit einem Stipendium<br />
des Schweizerischen Nationalfonds neun<br />
Monate als Visiting Researcher am Comparative<br />
Literature Department der Stanford University.<br />
Zum Jahresende <strong>20</strong>14 verliess Lüscher die<br />
ETH, ohne seine Dissertation abzuschliessen.<br />
Lüscher lebt seit <strong>20</strong>01 in München. Seine erste<br />
Novelle «Frühling der Barbaren» wurde <strong>20</strong>13 für<br />
den Deutschen Buchpreis nominiert, ebenso<br />
für den Schweizer Buchpreis. Für seinen Roman<br />
«Kraft» wurde Lüscher <strong>20</strong>17 der Schweizer<br />
Buchpreis verliehen. <strong>20</strong><strong>20</strong> erschien «Ins Erzählen<br />
flüchten».<br />
worten ist, ist der Ton heftig und das Niveau<br />
tief. Foren wie 4chan und Gruppen<br />
auf Telegram sind vollständig unmoderiert<br />
und bieten gleichzeitig Anonymität.<br />
Rechtsfreie Räume also, in denen alles gesagt<br />
werden darf, egal wie rassistisch, misogyn,<br />
hasserfüllt oder einfach nur unwahr<br />
es ist.<br />
Sie leben seit mehr als <strong>20</strong> Jahren in<br />
München. Wie geht es Ihnen dort?<br />
Es ist eine lebenswerte Stadt, vielleicht<br />
manchmal ein bisschen langweilig. Aber<br />
eine gute Basis. Ich bin viel auf Lesereise<br />
und München ist gut angebunden.<br />
Warum sind Sie ausgewandert?<br />
Mit 23 wollte ich weg von Bern, etwas<br />
Neues sehen. Ich bin dann erst mit einer<br />
Gruppe Freunden – alles deutsche Filmemacher<br />
– nach Köln. Und dann habe ich<br />
meine Frau kennengelernt – eine Münchnerin.<br />
Sie haben sogar die deutsche Staatsbürgerschaft<br />
angenommen. Warum?<br />
Wenn man lange in einem Land lebt,<br />
soll man nach Möglichkeit die Staatsbürgerschaft<br />
annehmen, damit man wählen<br />
kann. Und ich fühle mich in Deutschland<br />
sehr zu Hause. Zudem hat der deutsche<br />
Pass den Vorteil, dass man damit auch EU-<br />
Bürger ist. Das ist mir wichtig.<br />
Die EU hat in der Schweiz wenig Sympathie<br />
und ist nach wie vor vor allem<br />
eine Wirtschaftsgemeinschaft. Warum<br />
sind Sie gerne EU-Bürger?<br />
Auf viele der heute wichtigen Fragen<br />
finden die einzelnen Nationalstaaten alleine<br />
keine Antworten. Dazu gehört die<br />
Klimaerwärmung ebenso wie die Steuergerechtigkeit,<br />
die Migrationsfrage, die Deregulierung<br />
von Finanzmärkten und viele<br />
wirtschaftspolitische Fragen, wie sie jetzt<br />
auch durch die Konzernverantwortungsinitiative<br />
zum Thema gemacht werden.<br />
Und dann hat es aber auch etwas mit der<br />
eben skizzierten Idee von Solidarität zu<br />
tun. Dass es Fortschritt bedeutet, den Kreis<br />
der Solidarität auszuweiten – auch wenn<br />
die EU, was die Solidarität angeht, noch<br />
viel Luft nach oben hat.<br />
•<br />
Das Gespräch führte<br />
Ingrid Hess<br />
«Es klingt vielleicht etwas altmodisch und kulturpessimistisch,<br />
aber mir scheint offensichtlich, dass die sozialen Medien den<br />
Diskurs verroht haben.»<br />
4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
13
Bild: Palma Fiacco<br />
14 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong> SCHWERPUNKT
Soziale Integration – der eigenständige<br />
Auftrag der Sozialhilfe<br />
Die soziale Integration gehört zum Kernauftrag der Sozialhilfe. Die SKOS-Richtlinien haben sie in<br />
ihren Zielsetzungen festgehalten und die Kantone in ihren Sozialhilfegesetzgebungen implizit oder<br />
explizit erwähnt. Aber was bedeutet soziale Integration für die einzelne Person und für den Auftrag,<br />
den die Sozialarbeitenden zu erfüllen haben?<br />
Die Begriffe Integration und soziale Integration werden auf vielfältigste<br />
Art und Weise beschrieben, unter anderem als:<br />
• «Teilhabe benachteiligter Personen an der Gesellschaft»,<br />
• «Handlungsbefähigung, d.h. Verwirklichungschancen von Individuen,<br />
die sich in der persönlichen und sozialen Wohlfahrtsproduktion<br />
niederschlagen. Kriterium dafür ist die Nutzung<br />
verfügbarer Ressourcen, die Überwindung von Armut und Deprivation<br />
und die Suche nach gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten»;<br />
• «Ausgleich von Interessen, Bewältigung von Konflikten und Befriedigung<br />
von Bedürfnissen».<br />
Mit Bezug auf die Sozialhilfe betrachtet, bedeutet soziale Integration<br />
Teilhabe am sozialen Leben und die Integration in den Arbeitsmarkt.<br />
Bei diesem Integrationsansatz wird implizit davon<br />
ausgegangen, dass ein Mensch nicht integriert sein kann, wenn er<br />
keinen Anschluss zur Arbeitswelt hat. Der indische Wirtschaftswissenschaftler<br />
und Philosoph Amartya Sen verlangt demgegenüber<br />
in seinem Ansatz der verwehrten Verwirklichungsmöglichkeiten<br />
eine Perspektivenverschiebung: «Es gibt gute Gründe dafür, Armut<br />
als Mangel an fundamentalen Verwirklichungschancen zu<br />
betrachten und nicht bloss als zu niedriges Einkommen.» Auch in<br />
wohlhabenden Gesellschaften sei diese Perspektive von Armut einzunehmen,<br />
da das Individuum in seinen Freiheiten, Initiativen<br />
und Begabungen behindert wird.<br />
Soziale Integration als eigenständiger Auftrag der Sozialhilfe<br />
Die SKOS-RL <strong>20</strong>21 halten in ihren Zielsetzungen fest, dass die Sozialhilfe<br />
zur Förderung der beruflichen und sozialen Integration<br />
Angebote und Programme anzubieten hat (SKOS-RL, <strong>20</strong>21, A.2).<br />
Die Teilhabe am wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen<br />
Leben ist zu garantieren. In den Erläuterungen wird präzisiert,<br />
dass nebst der Hilfe zur Selbsthilfe auch Hilfestellungen zur<br />
Bewältigung individueller Notlagen und zur Kompensation struktureller<br />
Ursachen bereitzuhalten sind. Kompensierende Angebote,<br />
welche den beruflichen Voraussetzungen, dem Alter, dem Gesundheitszustand,<br />
den persönlichen Verhältnissen und den Fähigkeiten<br />
der unterstützten Person entsprechen, sind bereitzustellen. Ergänzt<br />
wird zudem die Zulassung einer selbständigen Erwerbstätigkeit<br />
mit dem alleinigen Ziel der sozialen Integration. Fraglich ist inwieweit<br />
die Priorisierung, welche die SKOS-RL der beruflichen Integration<br />
vor der sozialen geben, einen Einfluss auf die Praxis hat.<br />
Soziale und/oder berufliche Integrationsbemühungen sind mit<br />
einer Integrationszulage zu honorieren. Die SKOS-RL empfehlen<br />
hierbei einen Betrag zwischen 100 und 300 Franken pro Person<br />
und Monat je nach erbrachter Leistung und deren Bedeutung.<br />
Eng verknüpft mit dem Begriff der sozialen Integration ist in<br />
der Sozialhilfe und in den Richtlinien der Begriff der persönlichen<br />
Hilfe. Diese soll durch gezielte Unterstützungsangebote sowohl in<br />
präventiver wie auch in akuter Hinsicht integrierend wirken. Persönliche<br />
Hilfe versteht sich sowohl als integraler Bestandteil der<br />
wirtschaftlichen Hilfe wie auch als präventiver Beratungsauftrag<br />
ohne Sozialhilfe. Die SKOS-RL <strong>20</strong>21 widmen neu der persönlichen<br />
Hilfe ein ganzes Kapitel (B). Beratung, Begleitung und Vermittlung<br />
umfassen Unterstützungen bei Arbeits- und Wohnungssuche,<br />
administrativer Korrespondenz mit Sozialversicherungen<br />
bis hin zu aufwändigen Abklärungen, freiwillige Einkommensverwaltung,<br />
Schuldenberatung und -sanierungen. Im Kern ist das<br />
kein neuer Auftrag. Diese Aufgaben können an spezialisierte Stellen<br />
delegiert werden.<br />
Die Umsetzung in den Kantonen<br />
Die explizite Erwähnung des sozialen Integrationsauftrages fehlt<br />
in vielen kantonalen Sozialhilfegesetzgebungen. Implizit kann der<br />
Auftrag jedoch abgeleitet werden. Ausdrücke wie die Förderung<br />
der «persönlichen Selbstständigkeit», der «Hilfe zur Selbsthilfe»,<br />
der «gesellschaftlichen Integration», der «Verhinderung von Ausgrenzung»<br />
sowie der «Eingliederung» werden in den jeweiligen<br />
Rechtsnormen ausgeführt.<br />
Interessant ist hierbei festzustellen, dass sich die Prioritätensetzung<br />
in der Reihenfolge der Wortwahl «berufliche und soziale»<br />
oder «soziale und berufliche» Integration durchaus im Verständnis<br />
eines eigenständigen Auftrages zur sozialen Integration in der<br />
Sozialhilfe niederschlägt. Eine stichprobenartige Umfrage bei<br />
einzelnen Kantonen zeigt interessante Ansätze der sozialen Integration:<br />
Beispiel Bern<br />
Unter der Leistung «Soziale Integration (SI)» in seinem Detailkonzept<br />
zu den Beschäftigungs- und Integrationsangeboten der Sozialhilfe<br />
bietet der Kanton Bern für Sozialhilfebeziehende, die mittelfristig<br />
kaum eine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt haben,<br />
Angebote zur sozialen Stabilisierung an. Diese beinhalten Gruppen-<br />
oder Einzelarbeitsplätze, Projekte für stunden- oder tageweise<br />
Aktivitäten, Dauernischenarbeitsplätze, Unterstützung in Alltagsfragen,<br />
Hilfestellung bei der Bewältigung lebensweltlicher Fragen<br />
und regelmässige Standortbestimmungen. Das Ziel dieser Angebote<br />
liegt explizit darin, eine soziale Stabilisierung zu erreichen.<br />
16 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong> SCHWERPUNKT
SOZIALE INTEGRATION<br />
Freiwilligenarbeit, zum Beispiel Nachbarschaftshilfe, wird häufig nicht<br />
als Massnahme zur sozialen Integration anerkannt. Bild: Keystone/G. Bally<br />
Weitere Entwicklungen in Richtung einer niederschwelligen Arbeitsintegration<br />
werden ermöglicht.<br />
Beispiel Zürich<br />
Die Stadt Zürich bietet zielgruppenspezifische, modular aufgebaute<br />
Angebote. Gemeinnützige Arbeit wird explizit als Integrationsmassnahme<br />
aufgeführt (vgl. S. 18).<br />
Beispiel Genf<br />
Der in Genf verwendete Begriff der sozialen Begleitung (accompagnement<br />
social) beinhaltet Dienstleistungen sowohl im präventiven<br />
Bereich, also ohne wirtschaftliche Hilfe, wie auch Beratung,<br />
Begleitung und Vernetzungsarbeit als Ergänzung zur wirtschaftlichen<br />
Hilfe. Die Angebotspalette der sozialen Begleitung ist in beiden<br />
Bereichen dieselbe. Die soziale Begleitung hat zum Ziel, den<br />
Nutzerinnen und Nutzern (usagers) die Wiedererlangung ihrer<br />
Selbständigkeit zu ermöglichen. Dies ohne den Druck einer Teilnahme<br />
an Programmen.<br />
Beispiel Waadt<br />
Der im Kanton Waadt verwendete Begriff der sozialen Unterstützung<br />
(appui social) ist Teil eines 3-Säulen-Konzepts der Sozialhilfe.<br />
Das Angebot steht sowohl Personen mit wie auch ohne wirtschaftliche<br />
Hilfe zur Verfügung und beinhaltet eine individualisierte Beratungs-,<br />
Begleitungs-, Informations- und Vernetzungsarbeit. Die<br />
Dienstleistung des «appui social» ist gegliedert in zehn Lebensbereiche:<br />
Finanzen, finanzielle Ansprüche gegenüber Dritten inklusive<br />
administrative Abklärungen, Wohnen, Gesundheit, Arbeit, Familie,<br />
Grundkompetenzen, Bildung, soziales Netzwerk und<br />
Mobilität. Die soziale Integration wird dann als erfüllt bezeichnet,<br />
wenn alle vereinbarten Bereiche gelöst sind. Die sozialen Integrationsmassnahmen<br />
(mesures d’insertion social, MIS) ihrerseits finden<br />
sich in einem Katalog mit 70 Angeboten zu verschiedenen<br />
Themen: MIS socio-professionelles, MIS Familien, MIS 50+, MIS<br />
Übergang, MIS Grundkompetenzen, MIS finanzielle Stabilität<br />
und MIS soziale Kontakte. Diese Angebote werden in enger Zusammenarbeit<br />
mit externen Partnerorganisationen realisiert.<br />
Die kantonalen Beispiele zeigen, dass es verschiedene Formen<br />
der Umsetzung des Auftrags der sozialen Integration gibt:<br />
• Soziale Integration neben der beruflichen Integration als eigenständiges<br />
Ziel der Eingliederungsmassnahmen.<br />
• Soziale Integration mittels beruflicher Integrationsmassnahmen.<br />
• Soziale Integration als Betreuung und Beratung in Abgrenzung<br />
zur wirtschaftlichen Hilfe.<br />
Interessant ist zudem festzustellen, dass individuelle soziale<br />
Integrationsbemühungen wie zum Beispiel Freiwilligenarbeit,<br />
Nachbarschaftshilfe oder Therapien nicht von allen Kantonen in<br />
der Liste der sozialen Integration aufgeführt werden. Entsprechend<br />
werden solche Bemühungen entweder mit einer Integrationszulage<br />
oder gar nicht belohnt.<br />
Soziale Integration als eigenständiger Auftrag der Sozialhilfe<br />
Das Primat der Erwerbsarbeit prägt die moderne Gesellschaft und<br />
den Status der einzelnen Menschen darin. Die gesellschaftlichen<br />
und politischen Erwartungen der letzten Jahre an die Sozialhilfe<br />
waren deshalb, die berufliche (Re-)Integration zu forcieren. Die<br />
soziale Realität einer Mehrheit der Personen, die wirtschaftliche<br />
Hilfe benötigen, kann diesem Anspruch nicht genügen. Das St.<br />
Galler Handbuch beschreibt dieses Dilemma wie folgt: «Für einen<br />
nicht unbedeutenden Teil der Hilfesuchenden sind aus gesundheitlichen<br />
oder anderen persönlichen Gründen rein berufliche<br />
Integrationsmassnahmen entweder nicht angezeigt oder nicht<br />
möglich: Für sie sollen soziale Integrationsmassnahmen bereitstehen,<br />
welche eine Alltagsstruktur vermitteln und das Selbstbewusstsein<br />
der Betroffenen stärken» (Handbuch KOS, <strong>20</strong>19, Kapitel<br />
D.2, S. 81).<br />
Neuorientierung des Integrationsauftrages<br />
Die SKOS-RL legen zwar den Grundstein für einen sozialen Integrationsauftrag<br />
in der Sozialhilfe. Selbstkritisch darf aber darüber<br />
nachgedacht werden, ob komplementär zum Begriff der beruflichen<br />
und sozialen Integration von der beruflichen oder sozialen<br />
Integration beziehungsweise von der sozialen oder beruflichen<br />
Integration gesprochen werden könnte. Davon ausgehend, dass<br />
eine berufliche Integration bei nur rund einem Drittel der sozialhilfebeziehenden<br />
Personen in Betracht gezogen werden kann, ist<br />
beim übrigen Mehrheitsanteil die soziale Integration in den Fokus<br />
zu stellen. Eine Neuorientierung des Integrationsauftrages wäre<br />
also angezeigt (vgl. Seite 22), damit die «soziale Integration» der<br />
Sozialhilfebeziehenden zu einem eigenständigen Ziel im Bereich<br />
der öffentlichen Sozialhilfe aufsteigt. <br />
•<br />
Corinne Hutmacher-Perret<br />
Fachbereich Grundlagen der SKOS<br />
SCHWERPUNKT 4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
Befähigung und Motivation der<br />
Sozialhilfebeziehenden<br />
Der Schweizer Arbeitsmarkt verändert sich: Neben den bekannten Trends der Automatisierung<br />
und Digitalisierung wird niedrigqualifizierte Arbeit ins Ausland verlagert. Menschen mit kleinem<br />
Bildungsrucksack fällt es immer schwerer, einen Arbeitsplatz zu finden. Durch verschiedene<br />
Massnahmen je nach Arbeitsmarktfähigkeit und Motivation bieten die Sozialen Dienste Zürich<br />
individuelle Förderung zur sozialen Integration.<br />
Die Stadt Zürich setzt seit Juli <strong>20</strong>18 die Strategie zur beruflichen<br />
und sozialen Integration von Sozialhilfebeziehenden um. Deren<br />
Kern ist ein Paradigmenwechsel weg von Verpflichtung und Sanktionierung<br />
hin zu Befähigung und Motivation der Betroffenen. Die<br />
Strategie teilt alle grundsätzlich arbeitsfähigen Personen, die auf<br />
Unterstützung durch die Sozialhilfe angewiesen sind, basierend<br />
auf ihrer Arbeitsmarktfähigkeit und Motivation in vier Zielgruppen<br />
ein. Je nachdem, wie arbeitsmarktfähig und motiviert jemand<br />
ist, unterscheiden sich die Ziele und Massnahmen (vgl. den Beitrag<br />
«Von der Verpflichtung zur Motivation» von Raphael Golta in<br />
der <strong>ZESO</strong> 01/<strong>20</strong>18).<br />
Die Strategie richtet sich in erster Linie an Personen ab 25<br />
Jahren, die grundsätzlich mindestens für ein 50-Prozentpensum<br />
arbeitsfähig und verfügbar sind. Jedoch sind sie auf Unterstützung<br />
angewiesen, um den Eintritt in den ersten Arbeitsmarkt zu<br />
bewältigen. Für Jugendliche und junge Erwachsene bis 25 Jahre<br />
gilt der Grundsatz «Ausbildung vor Beschäftigung», weshalb in<br />
der Regel andere Lösungen (z.B. Ausbildungs- oder Praktikumsplatz,<br />
berufsvorbereitende Angebote, Coaching) gesucht werden.<br />
Teilnehmende der Strategie durchlaufen ein Grundangebot mit<br />
sinnvoller Arbeitstätigkeit und besuchen qualifizierende Zusatzmodule<br />
sowie gegebenenfalls die Stellenvermittlung. Dies trifft<br />
auf ca. <strong>20</strong> Prozent aller erwachsenen Sozialhilfebeziehenden der<br />
Stadt Zürich zu.<br />
Rund 80 Prozent der erwachsenen Sozialhilfebeziehenden in<br />
der Stadt Zürich befinden sich in einer Situation, aufgrund welcher<br />
sie (noch) nicht zur Zielgruppe der Strategie zur beruflichen<br />
und sozialen Integration gehören:<br />
• Rund die Hälfte der Betroffenen ist für die Arbeitsintegration<br />
nicht bereit oder verfügbar, weil sie an einer psychischen und/<br />
oder körperlichen Erkrankung leidet oder Betreuungspflichten<br />
für kleine Kinder hat.<br />
• Weitere ca. <strong>20</strong> Prozent arbeiten zwar – dies aber zu einem<br />
nicht-existenzsichernden Lohn (Tieflohn oder Mini-Pensum).<br />
ANGEBOTE «SOZIALE INTEGRATION» UND «BERUFLICHE UND SOZIALE INTEGRATION»<br />
Abbildung: Das durchlässige System zur sozialen und beruflichen Integration von<br />
Sozialhilfebeziehenden in der Stadt Zürich<br />
18 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong> SCHWERPUNKT
SOZIALE INTEGRATION<br />
• Rund 10 Prozent erhalten Gelder aus anderen Sozialen Sicherungssystemen<br />
wie beispielsweise Taggelder der Arbeitslosenkasse.<br />
Diese Unterstützung sichert aber nicht deren Existenz.<br />
Die Stadt Zürich ist überzeugt, dass auch Personen, die (noch)<br />
nicht an der beruflichen und sozialen Integration teilnehmen,<br />
nicht zurückgelassen werden dürfen. Doch welche Massnahmen<br />
werden eingesetzt, um zu unterstützen?<br />
Stabilisierung und soziale Teilhabe dank Mitarbeit in<br />
Beschäftigungs- und Förderangeboten<br />
Mit diesen nicht arbeitsfähigen Personen wird daran gearbeitet,<br />
ihre individuelle Situation zu stabilisieren sowie eine Tagesstruktur<br />
aufzubauen oder zu erhalten, damit sie nicht in eine Negativspirale<br />
geraten. Klientinnen und Klienten können im Rahmen der<br />
sozialen Integration entweder einer stundenweisen Beschäftigung<br />
nachgehen oder sie erhalten einen Förderarbeitsplatz (vgl. Abbildung,<br />
blauer Teil). Hauptsächliches Ziel dieser Massnahmen ist es<br />
nicht, eine Anstellung im ersten Arbeitsmarkt zu finden. Vielmehr<br />
geht es darum, soziale Teilhabe sowie ein weitgehend selbstbestimmtes<br />
Leben zu ermöglichen.<br />
In den Angeboten der stundenweisen Beschäftigung arbeiten<br />
die Teilnehmenden in verschiedenen Bereichen wie Administration,<br />
Lagerarbeiten, Reinigung und Unterhalt, Holzverarbeitung,<br />
Reparaturen, Wäscherei, Küche oder Wald- und Gartenarbeiten.<br />
Dies ist unbefristet möglich. Neben dem Aufbau einer Tagesstruktur<br />
geht es insbesondere auch darum, dass die Klientinnen und<br />
Investition in soziale Integration lohnt sich. Bild: Palma Fjacco<br />
Klienten mehr Handlungsautonomie und Lebensqualität erlangen.<br />
Im Vordergrund der Förderarbeitsplätze steht, dass Teilnehmende<br />
die Voraussetzungen für einen Übertritt in die berufliche<br />
und soziale Integration erreichen. Dafür werden sie entsprechend<br />
ihrer Ressourcen und Fähigkeiten gezielt gefördert und so zur beruflichen<br />
und sozialen Integration begleitet. Eine Beschäftigung<br />
in den Förderarbeitsplätzen ist befristet. Für den Besuch eines Angebots<br />
der sozialen Integration erhalten Klientinnen und Klienten<br />
für ihre Arbeitstätigkeit eine Integrationszulage.<br />
In beiden Angebotsbereichen der sozialen Integration ist zudem<br />
vorgesehen, dass Teilnehmende Kurse zur Förderung ihrer<br />
Grundkompetenzen besuchen. Dabei verbessern sie Deutschkenntnisse,<br />
Fähigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen und<br />
sie erarbeiten sich Kenntnisse in der Informations- und Kommunikationstechnologie<br />
(z.B. Bedienung Touch-Screens, PC-Kurse,<br />
Nutzung des Internets zur Stellensuche).<br />
Individuell passende Angebote dank durchlässigem System<br />
Ein grosser Vorteil des beschriebenen Systems ist seine Durchlässigkeit<br />
(vgl. Abbildung). Je nach individuellen Voraussetzungen<br />
und vorhandenem Potenzial wird neben der sozialen Integration<br />
auch auf die berufliche Integration hingearbeitet. So können Klientinnen<br />
und Klienten aus einem Angebot der stundenweisen Beschäftigung<br />
oder einem Förderarbeitsplatz den Schritt in die Angebote<br />
der Strategie zur beruflichen und sozialen Integration machen<br />
– sobald sie die Kriterien für die Basisbeschäftigung erfüllen. Auch<br />
in den niederschwelligsten Angeboten im Rahmen der stundenweisen<br />
Beschäftigung ist eine Steigerung des Arbeitspensums<br />
möglich. Durch regelmässige Standortbestimmungen werden die<br />
Teilnehmenden somit individuell abgeholt. Je nach aktueller Situation<br />
und vorhandenen Ressourcen können passende Entwicklungsschritte<br />
eingeleitet werden.<br />
Dank der grossen Angebotsvielfalt in der Stadt Zürich kann für<br />
die Klientinnen und Klienten ein zum jeweiligen Zeitpunkt passendes<br />
Angebot gefunden werden. Für viele Betroffene ist der Weg<br />
in den ersten Arbeitsmarkt zwar lang und steinig – und teilweise<br />
nicht realistisch. Die Stadt Zürich ist jedoch überzeugt, dass sich<br />
die Investition nicht nur in die berufliche, sondern auch in die soziale<br />
Integration von Sozialhilfebeziehenden lohnt. Denn einer regelmässigen<br />
(wenn auch nur stundenweisen) Beschäftigung nachzugehen,<br />
hat für das Selbstwert- und Zugehörigkeitsgefühl einen<br />
nicht zu unterschätzenden Wert und hilft allenfalls, aus den Fugen<br />
geratene Lebenssituationen wieder zu stabilisieren.<br />
•<br />
Mirjam Schlup<br />
Direktorin Soziale Dienste Zürich<br />
Christine Koradi<br />
Geschäftsleitung Soziale Dienste Zürich<br />
Iris Pulfer<br />
Leiterin Fachstab Soziale Integration<br />
SCHWERPUNKT 4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
«Soziale Integration» am Beispiel<br />
der jungen Erwachsenen<br />
Die Sozialhilfe verfolgt zwei Ziele: Existenzsicherung und Integration. Beide Ziele sind<br />
eng miteinander verknüpft. In der Politik und Praxis haben sich die Prioritäten in den<br />
letzten Jahrzehnten stark auf das Ziel der beruflichen Integration fokussiert. Für junge,<br />
sozialhilfebeziehende Erwachsene hat dies ambivalente Auswirkungen: Jene mit guten Aussichten<br />
auf dem Ausbildungsmarkt werden langfristig unterstützt und solche, die sich in sogenannten<br />
«mehrfachkomplexen» Lebenslagen befinden und über kein Ausbildungsprojekt verfügen, werden<br />
finanziell benachteiligt und stärker unter Druck gesetzt.<br />
Der sozialethische Gedanke, allen Menschen unabhängig ihrer<br />
wirtschaftlichen Situation eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben<br />
zu ermöglichen, ist in der materiellen Gewährung der Existenzsicherung<br />
angelegt: Das soziale Existenzminimum ermöglicht<br />
nicht nur ein knappes Überleben, sondern deckt beispielsweise<br />
auch Ausgaben für einen Kinobesuch oder Vereinsbeiträge.<br />
Eine gesicherte Existenz ist unabdingbare Voraussetzung für<br />
die Integrationsarbeit in der Sozialhilfepraxis. Wenn jemandem<br />
beispielsweise die Wohnung gekündigt wurde, wird er oder sie<br />
grosse Mühe haben, sich um die Erwerbsintegration zu bemühen.<br />
Gemeinsam beugen die Existenzsicherung und der Integrationsauftrag<br />
dem gesellschaftlichem Ausschluss vor. Im Idealfall ergänzen<br />
sie sich im Rahmen der konkreten Unterstützung der Sozialhilfebeziehenden<br />
und werden gleichwertig angewandt.<br />
Soziale Integration dient der Arbeitsmarktintegration<br />
Die Realität sieht allerdings häufig anders aus. Die beiden Ziele stehen<br />
heute in einem ambivalenten Verhältnis zueinander. Auch<br />
wenn die Sozialhilfepraxis sehr heterogen und vielfältig bleibt, zeigt<br />
sich ein klarer Trend. Die Sozialhilfe ist sozialpolitisch unter Druck<br />
geraten und das auf Solidarität basierende Menschenbild hat an Gewicht<br />
verloren. Insbesondere wirtschaftliche Rationalitäten haben<br />
an Wichtigkeit gewonnen. Beispiele hierfür sind die Missbrauchsdebatte<br />
in den <strong>20</strong>00er Jahren, die fachlich kritisierte Herabsetzung<br />
des Existenzminimums, die Einführung des Bonus-Malus-System<br />
und die Etablierung der Aktivierungslogik.<br />
Nachweise für die individuellen Bemühungen um die rasche<br />
Erwerbsintegration und Ablösung aus der Sozialhilfe zählen heutzutage<br />
mehr als die sozialethischen Zielsetzungen der gesellschaftlichen<br />
Teilhabe, wenn es um die politische Legitimation von Sozialhilfebezug<br />
geht. Im Fokus der öffentlichen Debatte steht die<br />
Vermeidung von dauerhafter «Sozialhilfeabhängigkeit» und der<br />
damit einhergehenden Kosten. Zum einen steigen aber die Ansprüche<br />
im Ausbildungs- und Arbeitsmarkt, womit die Eintrittsschwelle<br />
immer höher ansteigt. Zum anderen haben sogenannte<br />
«mehrfachkomplexe» Fälle, also Menschen mit Benachteiligungen<br />
in mehreren Lebensbereichen (Gesundheit, soziales Umfeld, finanzielle<br />
Situation, Ausbildung) zugenommen. Beide Entwicklungen<br />
erschweren die Integrationsarbeit in der Sozialhilfepraxis<br />
und die Verhinderung von Langzeitbezug.<br />
Betrachtet man die konkrete Umsetzung der in den SKOS-<br />
Richtlinien festgeschriebenen Formel «soziale und berufliche<br />
Integration» genauer, fällt auf, dass es in der Tendenz de facto<br />
um Arbeitsmarktintegration und wirtschaftliche Selbständigkeit<br />
geht. Zu diesem Zweck haben die Kantone «Abklärungszentren»<br />
kreiert, die systematisch Sozialhilfebeziehende entlang ihrer Arbeitsmarktpotenziale<br />
evaluieren und segmentieren. Investitionen<br />
mit dem Ziel, die «soziale Integration» der Sozialhilfebeziehenden<br />
zu verbessern, sind nur dann sozialpolitisch legitimiert, wenn sie<br />
mittelfristig auch der Arbeitsmarktintegration dienen.<br />
«Ausbildung vor Arbeit» für junge Erwachsene<br />
Diese Entwicklung lässt sich am Beispiel der sozialhilfebeziehenden<br />
jungen Erwachsenen illustrieren. Zunächst wurde diese Zielgruppe<br />
Opfer der erwähnten Leistungskürzungen im Bereich der<br />
Existenzsicherung. Das Richtlinien-Monitoring <strong>20</strong>18 der SKOS<br />
zeigt, dass die meisten Kantone die alleinlebenden 18 bis 25-jährigen<br />
Sozialhilfebeziehenden finanziell benachteiligen im Vergleich<br />
zu älteren Alterskategorien (je nach Haushaltsstruktur 500<br />
Franken bis 986 Franken). Auch in den SKOS-Richtlinien ist seit<br />
der Revision <strong>20</strong>18 festgehalten, dass junge Erwachsene mit eigenem<br />
Haushalt «in jedem Fall» mit einem um <strong>20</strong> Prozent reduzierten<br />
Grundbedarf leben sollen – es sei denn, sie sind erwerbstätig,<br />
betreuen Kinder oder nehmen an einer Integrationsmassnahme<br />
teil. Die Begründung für diese Kürzung: Zu viel Sozialhilfe könnte<br />
die Arbeitsmoral der jungen Menschen negativ beeinflussen und<br />
sie davon abhalten, eine Ausbildung zu machen und später wirtschaftlich<br />
auf eigenen Beinen zu stehen. Je jünger eine Person,<br />
desto grösser ist die Gefahr einer längeren und damit teuren «Sozialhilfeabhängigkeit».<br />
Diese Gefahr wird allerdings nicht mit fehlenden<br />
Möglichkeiten auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt<br />
begründet, sondern den jungen Erwachsenen selber zugeschrieben.<br />
Ein solches Verständnis läuft dem Ziel der «sozialen Integration»<br />
zuwider, weil es eine Altersgruppe unter Generalverdacht stellt<br />
und das sozialethische Fundament des Existenzminimums dadurch<br />
relativiert wird.<br />
Für junge, sozialhilfebeziehende Erwachsene bleibt die Realität<br />
in den verschiedenen Sozialdiensten ambivalent, denn gleichzeitig<br />
haben sich die meisten kantonalen Sozialämter – gemeinsam<br />
mit ihren Partnerinnen und Partnern, den Berufsbildungs- und<br />
<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong> SCHWERPUNKT
SOZIALE INTEGRATION<br />
Arbeitsämtern – neu ausgerichtet und verfolgen nun konsequent<br />
die Strategie «Ausbildung vor Arbeit» (siehe SKOS-Richtlinien<br />
B.4). Es besteht allerdings kein Recht auf Ausbildung. Vielmehr<br />
besteht eine neue Nachweispflicht für die jungen Erwachsenen,<br />
über ein realistisches Ausbildungsprojekt zu verfügen. Falls sie<br />
dieser Pflicht nicht nachkommen, laufen sie Gefahr finanziell<br />
sanktioniert zu werden. Trotzdem wird sozialpolitisch damit signalisiert,<br />
dass die Sozialhilfe bereit ist, junge Erwachsene auch<br />
langfristig auf dem Weg zu einer Erstausbildung zu begleiten.<br />
Die «sozialen» Grundkompetenzen der ausbildungslosen<br />
jungen Erwachsenen fördern<br />
Was bedeutet «soziale Integration» für junge Erwachsene vor diesem<br />
sozialpolitischen Hintergrund? Einem Grossteil gelingt mit<br />
Unterstützung der kantonalen Übergangsregimes (Case Management<br />
Berufsbildung, Coaching, individuelle Beratung und Begleitung,<br />
Bewerbungstrainings etc.) früher oder später der Sprung in<br />
eine Berufsausbildung. Die Sozialhilfe finanziert dabei in der Ausbildungszeit<br />
die Existenz dieser jungen Menschen ohne weitere<br />
Forderungen nach Ablösung. Die SKOS setzt sich hier für existenzsichernde<br />
Stipendien ein, unter anderem mit dem Argument,<br />
Letztere seien weniger stigmatisierend als Sozialhilfeleistungen.<br />
Diese Kategorie von jungen Erwachsenen ist aus sozial- und bildungspolitischer<br />
Sicht auf Kurs.<br />
Soziale Integration wird über Bildungsintegration und später<br />
die Teilhabe am Arbeitsmarkt erreicht. Problematischer ist es für<br />
jene, die ausbildungslos und gesundheitlich angeschlagen sind,<br />
sich in vielfältigen benachteiligten Lebenslagen befinden (Kontaktabbruch<br />
mit den Eltern, Obdachlosigkeit, Schulden), nicht<br />
über das nötige schulische Niveau verfügen, Kinder betreuen, und<br />
aufgrund schlechter Erfahrungen mit dem Bildungssystem (Lehrstellenabbrüche)<br />
demotiviert sind. In solchen «mehrfachkomplexen»<br />
Fällen arbeiten die Sozialdienste vermehrt mit externen<br />
Anbietern zusammen, die befristete Massnahmen zur Förderung<br />
von «sozialen» Grundkompetenzen anbieten. Beispiele hierfür<br />
sind etwa Integrationsprogramme wie «Move On!» in Genf oder<br />
das «Lernhaus» in Basel-Stadt. Der Fokus in diesen Programmen<br />
liegt auf der Verbesserung von Kompetenzen wie «Teamfähigkeit»,<br />
«Pünktlichkeit», «Belastbarkeit» oder «Selbstorganisation». Bei<br />
diesen «sozialen» Grundkompetenzen geht es also faktisch um die<br />
Vermittlung von Fähigkeiten, die insbesondere im aktuellen beruflichen<br />
Kontext von Bedeutung sind. Soziale Integration ist auch<br />
hier kein eigenständiges Ziel der Sozialhilfepraxis.<br />
Alternative Strategien für die Sozialhilfe im Umgang mit<br />
«mehrfachkomplexen» Fällen<br />
Die Förderung von sozialen Grundkompetenzen mag für einen<br />
Teil der jungen Erwachsenen eine adäquate Lösung sein, doch was<br />
ist mit denjenigen, die zurückbleiben und auch nach einer solchen<br />
Massnahme den Anschluss nicht finden oder gar nicht teilnehmen?<br />
Ein innovativer Umgang könnte bedeuten, Freiräume für<br />
diese jungen Menschen zu schaffen, indem man sie aus einer leistungsorientierten<br />
Integrationslogik herausnimmt. Das innovative<br />
Projekt «Scène Active» in Genf könnte dabei als Vorbild dienen.<br />
«Scène Active» bietet bis zu 40 Plätze spezifisch für junge Erwachsene<br />
an, die aktuell ohne berufliche Perspektive sind und auf brüchige<br />
Laufbahnen zurückblicken. Der Fokus liegt dabei auf das<br />
Wiedererlangen eines Selbstwertgefühls. Die Teilnahme ist freiwillig<br />
und Ziel ist es, innerhalb eines Jahres ein öffentliches Theaterprojekt<br />
auf die Beine zu stellen.<br />
Die Verantwortlichen verzichten bewusst auf die Anwendung<br />
eines klassischen, auf berufliche Integration ausgerichteten<br />
Ansatzes, da ein solcher Ansatz für diese Kategorie von jungen<br />
Menschen als nicht zielführend betrachtet wird. Falls die Teilnehmenden<br />
im Anschluss im Stande sind, eine berufliche Ausbildung<br />
anzustreben, gut, aber es ist nicht das vorrangige Ziel. Somit kann<br />
die Angst vor dem Scheitern reduziert werden und der Erfolg wird<br />
nicht anhand von «Ablösequoten» gemessen, sondern anhand von<br />
qualitativen Kriterien, wie die Verbesserung der Lebenslagen der<br />
jungen Menschen. Interessant ist dieses Projekt auch deshalb,<br />
weil es von einer Stiftung («Accroche») initiiert wurde, die von<br />
verschiedenen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren getragen<br />
wird (Sozialhilfe, Berufsbildung, Arbeitsamt, aufsuchende Soziale<br />
Arbeit, Privatpersonen, Stiftungen). Sie finanzieren das Projekt<br />
gemeinsam. Somit sind die Verantwortlichen nicht an innerkantonale,<br />
institutionelle Abläufe gebunden. Ausserdem fördert eine<br />
solche Struktur den Austausch mit allen involvierten Akteuren<br />
über institutionelle Grenzen hinweg.<br />
Auf sozialpolitischer Ebene müsste zudem die Neuorientierung<br />
des Integrationsauftrages der Sozialhilfe diskutiert werden. Fachleute<br />
der Sozialen Arbeit müssten sich dafür einsetzen, dass die «soziale<br />
Integration» der Sozialhilfebeziehenden zu einem eigenständigen<br />
Ziel im Bereich der öffentlichen Sozialhilfe aufsteigt. Damit<br />
könnten die einseitige Arbeitsmarktorientierung und der damit<br />
einhergehende Erfolgsdruck abgeschwächt werden, die aktuell<br />
auf den Schultern der öffentlichen Sozialhilfe lasten. Zu diesem<br />
Zweck müssten die kantonalen Sozialhilfegesetzgebungen nicht<br />
geändert werden. Die aktuelle rechtliche Rahmung – beispielsweise<br />
mit sozialgesetzgeberischen Zielsetzungen wie der persönlichen<br />
Hilfe oder der Vorbeugung von sozialen Notlagen – erlaubt in den<br />
meisten Kantonen eine solche Interpretation des Integrationsauftrages.<br />
In der aktuellen sozialpolitischen Stimmungslage ist eine<br />
solche strategische Kehrtwende allerdings unwahrscheinlich. Eine<br />
weitere Bedingung wäre zudem, dass der Bezug von Sozialhilfe im<br />
Sinne einer sozialen Unterstützung an sich nicht als unerwünscht<br />
oder gar schädlich für die Entwicklung dieser jungen Menschen<br />
interpretiert würde, sondern als ein Anrecht in einer prekären Lebenslage.<br />
•<br />
Yann Bochsler<br />
Fachhochschule Nordwestschweiz<br />
www.skos.ch/publikationen/monitoring-sozialhilfe<br />
SCHWERPUNKT 4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
(K)ein Teil der Gesellschaft<br />
Soziale Ausgrenzung und Isolation können schwere Folgen haben. Das trifft ganz besonders auf<br />
obdachlose Personen zu, was ihnen die Rückkehr in die Gesellschaft zusätzlich erschwert. La<br />
Cloche ist eine Organisation in Frankreich. Sie zeigt mit Projekten in acht Städten, dass soziale die<br />
Integration von Obdachlosen möglich und wirksam ist.<br />
«Die Leute haben mich anders angeschaut. Obwohl sie nicht wissen<br />
konnten, dass ich auf der Strasse lebe, gaben sie mir das Gefühl,<br />
nicht dazuzugehören. Als ob sie wüssten, dass ich anders bin.<br />
Ich hatte keinen Platz in der Gesellschaft und litt unter der Last der<br />
Blicke anderer», sagt Cédric. Er verbrachte sein halbes Leben auf<br />
der Strasse. Er verlor sein Selbstwertgefühl und hatte Schwierigkeiten,<br />
seinen Platz in der Gesellschaft wiederzufinden. So wie Cédric<br />
fühlen viele. Studien zeigen, dass in Frankreich 84 Prozent der<br />
Menschen, die kein Zuhause haben, unter der Nichtbeachtung<br />
und Ablehnung der Passanten leiden, was ihre Wiedereingliederung<br />
in die Gesellschaft behindert. Cédric ist heute Benevol bei der<br />
Organisation la Cloche. Dort berichtet er von seiner Vergangenheit<br />
auf der Strasse und teilt seine Erfahrungen und Sichtweisen mit.<br />
Damit entsteht mehr Verständnis für das Thema der Obdachlosigkeit.<br />
Er möchte Menschen auf der Strasse helfen, so wie ihm selbst<br />
geholfen wurde, und ihnen das weitergeben, was er erfahren durfte<br />
und was ihn von der Strasse holte, die soziale Integration.<br />
Unsichtbar und ausgegrenzt<br />
Auch in der Schweiz werden Obdachlose nicht nur auf der Strasse<br />
beim Vorbeigehen nicht beachtet. Sie sind in offiziellen Statistiken<br />
und Studien unsichtbar. Auch gibt es keine gesellschaftliche Diskussion<br />
über die Thematik. Ein Grund dafür ist, dass wohnungslose<br />
Menschen schwer zu erfassen sind, denn viele kommen in befristeten<br />
Wohnlösungen oder bei Bekannten unter und werden<br />
deshalb nicht als obdachlos wahrgenommen. Der erste, der verlässliche<br />
Zahlen in der Schweiz über Obdachlosigkeit nennt, ist<br />
FÜR LOKALE SOLIDARITÄT<br />
Die Änderung der Sichtweise und die gesellschaftliche Integration<br />
helfen wohnungslosen Personen, aus ihrer sozialen<br />
Isolation auszubrechen und ihre Würde und ihr Selbstvertrauen<br />
wiederzugewinnen. La Cloche hat zum Ziel, das tägliche<br />
Leben von obdachlosen Personen zu erleichtern und Kontakte<br />
im Quartier zu knüpfen.<br />
Das gelingt mit den drei Programmen: le Carillon, les Clochettes,<br />
la Cloche à Biscuit und den Medien (Gazette, Radio,<br />
Podcasts), in denen die Menschen auf der Strasse das Wort<br />
ergreifen. Mit zahlreichen Aktivitäten, Schulungen und Veranstaltungen<br />
kann jeder, mit oder ohne Zuhause, auf seiner<br />
Ebene dazu beitragen, die Gesellschaft und sein Umfeld<br />
integrativer zu gestalten.<br />
Die Überzeugung der Organisation: Soziale Bindungen und<br />
ein Perspektivenwechsel sind im Kampf gegen die extreme<br />
Ausgrenzung ebenso wichtig wie materielle Hilfe.<br />
Matthias Drilling von der Fachhochschule Nordwestschweiz, der<br />
im Januar <strong>20</strong><strong>20</strong> gemeinsam mit Esther Mühlethaler und Gosalya<br />
Iyadurai den «Ersten Länderbericht Schweiz» herausgab. Die Studie<br />
liefert konkrete Zahlen zur Obdachlosigkeit im Raum Basel<br />
und zeigt auf, dass Obdachlosigkeit eine nähere Beachtung erfordert.<br />
Soziale Integration ist lebenswichtig<br />
Wie Cédric sind obdachlose Personen meist sozial nicht integriert<br />
und finden daher keinen Halt in der Gesellschaft. Soziale Ausgeschlossenheit<br />
und soziale Isolation gehen mit einer markant tieferen<br />
Lebenserwartung einher. Studien in Deutschland und Frankreich<br />
weisen darauf hin, dass obdachlose Menschen im<br />
Durchschnitt eine Lebenserwartung von 49 Jahren haben. Der<br />
allgemeingesellschaftliche Durchschnitt liegt bei 83 Jahren. Auch<br />
in der Schweiz liegt die Lebenserwartung von wohnungslosen Personen<br />
deutlich unter dem landesweiten Durchschnitt. Eine Studie<br />
der US-Forscherin und Psychologin Susan Pinker zeigt, dass der<br />
wichtigste Einflussfaktor für ein langen Lebens die soziale Integration<br />
ist. Unter sozialer Isolation leidet nicht nur die psychische,<br />
sondern auch die physische Gesundheit. Das Immunsystem wird<br />
geschwächt und der Level an Stresshormonen steigt. Das zweitwichtigste<br />
Bedürfnis laut der Meta-Studie sind nahe Beziehungen.<br />
Soziale Kontakte stimulieren die Ausschüttung von Glückshormonen,<br />
die förderlich für eine gute Gesundheit sind. Die soziale Integration<br />
ist also wichtig für ein langes und gesundes Leben. Das<br />
soziale Geflecht und die Art und Weise, wie wir miteinander agieren,<br />
sind für den Menschen als soziales Wesen entscheidend. Es<br />
vermittelt das Gefühl, ein Teil der Gesellschaft zu sein, dazuzugehören.<br />
Das bedeutet, dass es nicht einfach damit getan ist, obdachlosen<br />
Menschen ein Dach über den Kopf zu geben. Ebenso zentral<br />
ist es, die soziale Integration und die Verbindung zur Gesellschaft<br />
wiederherzustellen.<br />
Eine Tasse Kaffee, die Teilnahme am öffentlichen Leben<br />
Ohne Hilfe der Obdachlosigkeit zu entkommen, ist schwierig.<br />
Dass der Mangel an bezahlbaren Wohnungen in der Schweiz nicht<br />
nur materielle Missstände zur Folge hat, sondern auch die Möglichkeiten<br />
zur gesellschaftlichen Teilhabe stark einschränkt, berichtet<br />
auch Caritas in einem Positionsbericht von <strong>20</strong>14. Hilfsangebote<br />
gib es in der Schweiz viele: von Gassenküchen und<br />
Notschlafstellen bis zu begleitetem Wohnen. Meist sind es primäre<br />
Hilfestellungen, die sicherstellen, dass Betroffene nicht mehr auf<br />
der Strasse sein müssen. Das Projekt Housing First wurde in diversen<br />
Ländern erfolgreich eingeführt und wird auch in der Schweiz<br />
getestet. Das Konzept Housing First will Obdachlosen durch die<br />
Zurverfügungstellung von Wohnraum Voraussetzungen schaffen,<br />
22 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong> SCHWERPUNKT
SOZIALE INTEGRATION<br />
Teilnehmende der Organisation la Cloche bei einem Stadtrundgang durch Paris Bild: Julie Bernet<br />
damit sie den Weg zurück in die Gesellschaft finden. Einen anderen<br />
Ansatz der Thematik verfolgt die französische Organisation La<br />
Cloche. Die Organisation knüpft mit ihren Programmen an die<br />
Erkenntnisse der Psychologin Susan Pinker an. Diese zeigten, dass<br />
soziale Integration und soziale Einbindung wichtige Voraussetzungen<br />
für gesundes Leben sind. Schon kleine alltägliche Gesten<br />
in der Nachbarschaft verbessern das Leben obdachloser Menschen<br />
und tragen entscheidend zu ihrer sozialen Integration bei. Deshalb<br />
hat La Cloche verschiedene Programme für die Integration von<br />
Obdachlosen in die Gesellschaft ins Leben gerufen. Die Programme<br />
fördern die soziale Bindung zwischen Menschen mit und ohne<br />
Zuhause. Es ist ein Miteinander um den Kampf gegen die Ausgrenzung<br />
von Personen ohne Zuhause. Dieser «Faire ensemble»-<br />
Ansatz ermöglichte es Cédric, Kontakte zur Nachbarschaft zu<br />
knüpfen sowie Würde, Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen in sich<br />
selbst und Vertrauen in die Gesellschaft wiederzufinden. So gelang<br />
es ihm schliesslich ein neues Leben zu beginnen.<br />
Eingliederung – gegenseitige Bereicherung<br />
Das erste Projekt der in Paris gegründeten Organisation ist «Le Carillon»,<br />
ein lokales Solidaritätsnetz zwischen Ladenbesitzern und<br />
Anwohnern mit oder ohne Zuhause, das darauf abzielt, das tägliche<br />
Leben obdachloser Menschen zu verbessern und gegen ihre<br />
Isolation anzukämpfen. 10<strong>20</strong> solidarische Einzelhändler bieten<br />
alltägliche Dienstleistungen an (das Benutzen der Toilette, Aufladen<br />
des Telefons, ein Glas Wasser trinken etc.), während die Bewohner<br />
im Voraus für Produkte (Kaffee, Gebäck, Mahlzeiten…)<br />
bezahlen, die den Obdachlosen in Form von Gutscheinen für<br />
Dienstleistungen in ihrer Nachbarschaft angeboten werden. La<br />
Cloche handelt in der Überzeugung, dass Individuen eine Gesellschaft<br />
ausmachen. Alle Menschen sollen so akzeptiert werden, wie<br />
sie sind: in ihrer Einzigartigkeit, mit ihren Ideen und Talenten,<br />
aber auch mit ihrer Zerbrechlichkeit und ihren diversen Hintergründen.<br />
«Les Clochettes» ist ein Programm städtischer Initiativen, die<br />
darauf abzielen, die Isolation von Obdachlosen durch die Förderung<br />
des «Faire ensemble» anzugehen. In einem Netzwerk von<br />
Gemeinschaftsgärten kommen Menschen mit und ohne Wohnsitz<br />
in der Nachbarschaft zusammen und sind aktiv im Garten, beim<br />
Heimwerken oder bei gemeinsamen Mahlzeiten. Cédric mag das<br />
Anpacken im Garten, fühlt sich nützlich und lernt neue Leute kennen.<br />
La Cloche ermöglichte Cédric, Fuss in der Gesellschaft zu fassen.<br />
Er konnte Kontakte knüpfen, investiert in die Freiwilligenarbeit<br />
und traut sich, mit anderen Leuten in Kontakt zu treten, ohne<br />
sich minderwertig zu fühlen. Er fand sein Selbstvertrauen, seine<br />
Lebensfreude und seinen Platz in der Gesellschaft wieder und<br />
lernte, Hilfe anzunehmen. Dies sind die ersten wichtigen Schritte,<br />
vom Leben auf der Strasse wegzukommen. Cédric hat inzwischen<br />
eine Arbeit auf dem Bau und wohnt in einer eigenen Wohnung.<br />
«Heute ermöglicht mir la Cloche, zurückzugeben, was mir die Organisation<br />
gegeben hat, als ich auf der Strasse war.» •<br />
<br />
SCHWERPUNKT 4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
Julie Bernet<br />
«Die Erfahrung zeigt, dass man<br />
nur mit Leuten arbeiten kann, die<br />
man im Boot hat.»<br />
NACHGEFRAGT Das Hilfswerk HEKS bietet mit seinem Projekt HEKS-Visite seit über <strong>20</strong> Jahren in<br />
mehreren Kantonen Arbeitsintegrationsprojekte für Langzeitarbeitslose und Sozialhilfebezüger an.<br />
Etwa 600 Sozialhilfebeziehende alleine in Zürich und Schaffhausen finden seither jedes Jahr eine<br />
sinnstiftende Tätigkeit, Tagesstruktur und persönliche Kontakte. Der Gründer Roland Bänziger zieht<br />
Bilanz.<br />
«<strong>ZESO</strong>»: Herr Bänziger, wie kamen Sie 1998 auf die Idee, das Projekt<br />
HEKS-Visite ins Leben zu rufen?<br />
Roland Bänziger: In Zürich gab es damals 11 000 Sozialhilfebeziehende,<br />
in Winterthur 3500. Viele von ihnen hatten im<br />
Grunde keine reale Chance, eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt<br />
zu finden. Mit Visite wollte ich erreichen, dass möglichst viele<br />
von ihnen die Möglichkeit erhalten, via kleine Pensen dennoch<br />
an der hohen sozialen Integrationskraft der Arbeit teilzuhaben.<br />
Wie finden Sie die passenden Stelle für diese Menschen?<br />
Wir hören ihnen gut zu, und so erfahren wir, wann sie bereit<br />
sind, eine Arbeit anzunehmen, wie viele Stunden und in<br />
welchem Bereich sie etwas machen wollen. Wenn wir gerade<br />
in diesem Moment nicht die richtige Arbeit anbieten können,<br />
dann machen wir uns auf die Suche nach einer geeignten Stelle.<br />
Wir arbeiten in den Kantonen Zürich und Schaffhausen mit<br />
über 300 Institutionen zusammen. Auch wenn wir nicht immer<br />
auf die perfekte Stelle treffen, so gelingt es uns in der Regel<br />
doch, etwas sehr Ähnliches zu finden. Wäre dem nicht so, würde<br />
es nicht funktionieren. Es sind Menschen, die sich in der<br />
Regel schon sehr oft beworben haben – ohne Erfolg, und häufig<br />
weisen sie körperliche oder psychische Beschwerden auf<br />
oder haben Suchtprobleme. Mein Ziel ist, dass die Betroffenen<br />
etwas machen können und so etwas für sie Sinnvolles leisten.<br />
Sinnstiftend wäre auch, wenn sie mit ihrer Arbeit Geld verdienen<br />
würden. Das tun sie aber nicht.<br />
Ja, es ist ein Wermutstropfen, dass sie keinen Lohn für ihre<br />
Arbeit bekommen. Sie erhalten nur die Integrationszulage im<br />
Rahmen der Sozialhilfe. Es ist doch erstaunlich, dass viele dennoch<br />
mitmachen.<br />
Sie arbeiten für das Projekt Visite eng mit den Sozialdiensten<br />
zusammen. Wie und aufgrund welcher Kriterien erfolgt die Zuweisung<br />
zu Visite?<br />
Oftmals kommt der Anstoss von den Betroffenen selber,<br />
weil sie etwas Sinnvolles leisten wollen. Zugewiesen werden<br />
sie dann jedoch von den Sozialdiensten. Die Stadt Zürich weist<br />
uns jährlich etwa 300 Leute zu, Winterthur <strong>20</strong>0 und weitere<br />
etwa 100 sind aus dem Kanton. Die Sozialdienste Zürich und<br />
Winterthur machen den älteren Sozialhilfebeziehenden, die<br />
über 50 Jahre alt sind, keinen Druck mehr, ein Integrationsprogramm<br />
zu absolvieren. Wenn es aus sozialarbeiterischer Sicht<br />
Sinn machen würde teilzunehmen, können die Betroffenen<br />
das dennoch tun. Sie werden aber nicht dazu gezwungen. Die<br />
Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter verweisen ganz generell<br />
Sozialhilfeempfangende an uns, weil sie etwas tun wollen.<br />
Ganz selten spielt Zwang eine Rolle.<br />
Was ist Ihre Erfahrung mit Leuten, die mit Druck zu Visite kommen?<br />
Ich bin der Auffassung, dass Druck und Sanktionen in der<br />
Sozialarbeit selten erfolgreich sind. Die Erfahrung zeigt, dass<br />
man nur mit Leuten arbeiten kann, die man im Boot hat. Eine<br />
Ausnahme sind für mich die jungen Erwachsenen. Hier kann<br />
Druck die Lösung sein, etwas Neues zu erleben und damit positive<br />
Erfahrungen zu machen. Es dürfen jedoch nicht wir sein,<br />
die Druck ausüben, sondern Visite muss die Lösung für das<br />
Problem sein.<br />
Eigentlich gehören junge Erwachsene in die Ausbildung.<br />
Das stimmt natürlich, dennoch kann es vorkommen, dass<br />
wir in einem bestimmten Moment die Richtigen für sie sind.<br />
Wir prüfen und setzen voraus, dass vorgängig alle Abklärungen<br />
betreffend Ausbildung, Krankheit etc. stattgefunden haben<br />
und ein Helfernetz vorhanden ist. Grundsätzlich bräuchten<br />
junge Erwachsene oftmals eher eine sozialpädagogische Begleitung.<br />
Die können wir nicht bieten, da unsere Partnerinnen<br />
und Partner in den Einsatzbetrieben in dieser Hinsicht keine<br />
geschulten Fachleute sind.<br />
Verlassen viele ihre Stelle vorzeitig?<br />
Zwischen Anmeldung, Erstgespräch, Einführungskurs und<br />
Platzierung geht ca. eine von drei Personen verloren. Ich finde<br />
das nicht schlimm, wenn es nicht funktioniert. Durchschnitt-<br />
24 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong> SCHWERPUNKT
SOZIALE INTEGRATION<br />
HEKS-VISITE<br />
Das 1998 von Roland Bänziger ins Leben gerufene Projekt<br />
HEKS-Visite existiert heute als eigenständiges Programm in<br />
den Regionen Zürich/Schaffhausen, Solothurn/Aargau und<br />
Ostschweiz. Es richtet sich an Menschen, die Sozialhilfe<br />
beanspruchen und auf dem Arbeitsmarkt geringe Chancen<br />
haben. Ohne Erwerbsarbeit sind nicht nur die finanziellen<br />
Möglichkeiten der Betroffenen eingeschränkt, es fehlen ihnen<br />
auch soziale Kontakte, eine Tagesstruktur und neue Impulse.<br />
Mit einer Beschäftigung in gemeinnützigen Organisationen<br />
erhalten sie wieder eine Struktur in ihrem Alltag und lernen<br />
neue Menschen und Situationen kennen. Die Organisationen<br />
profitieren, weil sie Dienstleistungen zur Verfügung stellen<br />
können, die sie sonst nicht anbieten würden.<br />
Visite-Gründer Roland Bänziger will Menschen, die keine Chance im<br />
Arbeitsmarkt haben, die Möglichkeit geben, etwas Sinnvolles zu tun<br />
und damit auch Vereinsamung und Isolation zu durchbrechen.<br />
Bild: HEKS<br />
lich sind diejenigen, die eine Arbeit annehmen, 18 bis 24 Monate<br />
dabei. Es gibt aber auch Leute, die 15 oder 18 Jahre dabei<br />
bleiben, weil sie kriegstraumatisiert sind oder andere schwerwiegende<br />
Einschränkungen aufweisen. Das macht durchaus<br />
Sinn, denn sie kommen so regelmässig aus dem Haus, strapazieren<br />
unter Umständen wegen ihrer Untätigkeit ihre Familie<br />
nicht, sehen andere Menschen und bleiben somit sozial integriert.<br />
Visite ist ausdrücklich kein Programm zur Integration in den ersten<br />
Arbeitsmarkt. Dennoch schaffen es manche.<br />
Zirka 10 Prozent der austretenden Teilnehmenden schaffen<br />
den Schritt in den ersten Arbeitsmarkt. Ich finde, das ist recht<br />
viel, wenn man bedenkt, dass die Leute zu uns kommen, weil<br />
sie gar keine Chance hatten, sich wieder in den ersten Arbeitsmarkt<br />
zu integrieren. Wir überprüfen die Nachhaltigkeit aber<br />
nicht, und auch nicht, ob die Arbeit existenzsichernd ist.<br />
Seit einigen Monaten herrschen aufgrund der Covid-19-Pandemie<br />
erschwerte Bedingungen für solche Einsätze. Wie gehen Sie damit<br />
um?<br />
Die Corona-Krise hat eine einschneidende Wirkung. Wegen<br />
einem Zuweisungsstopp hatten wir während drei Monaten fast<br />
keine Zuweisungen, aber die normale Fluktuation. Ende Februar<br />
hatten wir über 6<strong>20</strong> Personen im Einsatz. Im April arbeiteten<br />
gerade noch ca. 80 Personen. Nur dank grossen Anstrengungen<br />
meines 14-köpfigen Teams haben wir es geschafft,<br />
dass heute wieder ca. 570 Personen einer regelmässigen Tätigkeit<br />
nachgehen können. Visite ist ein Programm, das komplett<br />
ohne Subventionen auskommt und keine Programmbeiträge<br />
erhält. Wir werden ausschliesslich über geleistete Arbeit<br />
bezahlt. Wenn die Arbeit ausbleibt – wie jetzt wegen Corona,<br />
ergibt sich daraus direkt ein Verlust.<br />
Was möchten Sie nach so vielen Jahren noch ändern oder<br />
verbessern?<br />
Visite ist ein sehr schönes Programm. Unschön ist, dass all<br />
die Arbeit, die geleistet wird, nicht bezahlt wird. Ich wünschte<br />
mir, dass die Betroffenen einen Lohn erhielten. Die Leute arbeiten<br />
im Durchschnitt 7 Stunden pro Woche, manche arbeiten<br />
nur zwei, andere <strong>20</strong> Stunden. Bei <strong>20</strong> Franken pro Stunde<br />
und 7 Stunden pro Woche würden sie 560 Franken pro Monat<br />
verdienen. Sie hätten also einen richtigen Lohn, und die Sozialhilfe<br />
käme ergänzend dazu. Das wäre aus Sicht der Sozialhilfe<br />
ein Nullsummenspiel. Dass die Leute arbeiten, obwohl sie nur<br />
eine minimale Integrationszulage von meistens 100 Franken<br />
pro Monat erhalten, zeigt umso mehr, wie motiviert sie sind.<br />
Das zeigt doch, dass der oft gehörte Vorwurf in der politischen<br />
Debatte, dass Sozialhilfebeziehende einfach nur zu faul zum<br />
Arbeiten sind, komplett falsch ist. Die Leute wollen arbeiten,<br />
wenn sie können. Ich finde es sehr schade, dass es das Angebot<br />
nicht in allen Regionen der Schweiz gibt. Ich finde, solche<br />
Angebote sollte es überall geben. <br />
•<br />
Das Gespräch führte<br />
Ingrid Hess<br />
26 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong><br />
Bilder: Palma Fiacco
Unter Beobachtung<br />
die Persönlichkeit stärken<br />
REPORTAGE Auf der Beobachtungsstation der FoyersBasel finden weibliche Jugendliche in schwierigen<br />
Umständen eine Zwischenstation, um sich eine neue Zukunft aufzubauen. Der Weg dahin ist eine<br />
Gratwanderung.<br />
Glitschig tropft die orange Masse vom Löffel.<br />
Glibberige Kerne werden beim nächsten<br />
Griff in den Kürbis mit einem schabenden<br />
Geräusch ausgekratzt. «Wääh,<br />
siie!», ruft Alva*, eines der sechs Mädchen,<br />
das um den Tisch der offenen Küche im<br />
Erdgeschoss der Beobachtungsstation der<br />
FoyersBasel sitzt, weit vornübergebeugt,<br />
die langen Haare zu einem Knoten gebunden.<br />
Es ist Ferienzeit auf der Station, die<br />
meisten Bewohnerinnen nehmen an der<br />
geplanten Aktivität teil. «Es ist wichtig,<br />
auch während unterrichtsfreien Zeiten<br />
Strukturen zu bieten», sagt Karen Schröder<br />
zum heutigen Programm, die Sozialpädagogin<br />
ist für den Abenddienst eingeteilt.<br />
Für weibliche Jugendliche, deren<br />
Erfahrung es ist, durch alle Maschen zu<br />
fallen, sollen geregelte Abläufe für engere<br />
Maschen sorgen. Für solche, die Halt geben.<br />
Ida* schnappt sich einen Riesenkürbis<br />
und macht sich mit geübten Handgriffen<br />
an die harte Schale. Hartnäckig<br />
schnitzt sie mit dem Messer in die widerborstige<br />
Melonenfrucht. Wie bei den betreuten<br />
Bewohnerinnen braucht es auch<br />
da Geduld, um an den weichen Kern heranzukommen.<br />
«Heute ist ein ruhiger Tag», schildert Institutionsleiterin<br />
Barbara Jenny ihren Eindruck,<br />
die Stimmung sei verhältnismässig<br />
entspannt. Es gibt sie auch, die anderen<br />
Tage. Ist die Beobachtungsstation voll belegt<br />
– was sie in der Regel ist – treffen hier<br />
Mädchen und junge Frauen aufeinander,<br />
die schwer an ihrem Erfahrungsrucksack<br />
tragen. Alva murrt und verdreht die Augen,<br />
lustlos stochert sie im Gemüse und pult<br />
Löffel für Löffel des Inhaltes heraus. Neben<br />
ihr steht Christina Uecker, sie studiert an<br />
der Höheren Fachschule Soziale Arbeit und<br />
übernimmt heute den Nachtdienst, der<br />
sich einige Stunden mit dem Abenddienst<br />
überschneidet. «Ich fühle mich wie im Kindergarten»,<br />
blafft die 17-Jährige sie an, den<br />
Strukturen zu bieten, sei wichtig, sagt<br />
Sozialpädagogin Karen Schröder.<br />
BEOBACHTUNGSSTATION<br />
DER FOYERSBASEL<br />
Die Beobachtungsstation ist neben der<br />
Durchgangsstation, der Wohngruppe und<br />
dem Interkulturellen Foyer Bildung und Beruf<br />
einer der vier Bereiche der FoyersBasel. Aufgenommen<br />
werden normalbegabte weibliche<br />
Jugendliche von 13 – 18 Jahren mit Abklärungsbedarf<br />
ihrer persönlichen, familiären<br />
und schulischen Situation. Sie verfügt über<br />
acht Abklärungsplätze und zwei Progressionsplätze.<br />
Während des Aufenthaltes wird<br />
die Gesamtsituation und die Persönlichkeitsstruktur<br />
der einzelnen Jugendlichen und<br />
die Struktur des Bezugssystems erfasst.<br />
Das interdisziplinäre Team setzt sich aus<br />
Fachleuten der Bereiche Pädagogik, Psychologie<br />
und Psychiatrie zusammen. Ziel ist es,<br />
umfassende, multidisziplinäre Gutachten<br />
über die Bewohnerinnen zu erstellen und Lösungen<br />
für ihre zukünftigen Möglichkeiten<br />
zu erarbeiten.<br />
Blick auf Uecker geheftet. Diese hält ihrem<br />
Blick Stand, mit Widerstand scheint sie<br />
umgehen zu können. Auf Provokationen<br />
reagiert sie sachlich, geht aber mit Ernsthaftigkeit<br />
auf Fragen ein, die ihr gestellt<br />
werden. «Wir kennen ja die Geschichten<br />
der Mädchen», erklärt Schröder, «das Verständnis<br />
hilft, einen Zugang zu finden».<br />
Ordnung ins Leben bringen<br />
Später steht Alva in ihrem Zimmer, ein<br />
Hauch von Klinik weht durch den weissen<br />
Flur mit dem starken Deckenlicht, der<br />
dorthin führt. Der Raum wirkt karg, Weiss<br />
dominiert, auf den Regalen stehen einzelne<br />
Gegenstände. Es herrscht eine Ordnung,<br />
die im Leben der jugendlichen Bewohnerin<br />
vor ihrem Eintritt in die<br />
Institution weitgehend fehlte. «Am Anfang<br />
fand ich die Regeln hier furchtbar», erzählt<br />
sie, sie wirkt nun viel ruhiger als im Nachmittagsprogramm.<br />
Unterdessen sehe sie<br />
nicht mehr alles so negativ. «Zuhause habe<br />
ich keine Grenzen gekannt, ich war immer<br />
draussen, habe viel zu viel Alkohol konsumiert»,<br />
erzählt sie. «Natürlich gibt es auch<br />
das Gegenteil», sagt Institutionsleiterin<br />
Jenny dazu, «andere Mädchen wurden mit<br />
starker Hand geführt und hatten damit zu<br />
kämpfen». Psychische Belastungen, kriminelle<br />
Handlungen oder Schwierigkeiten<br />
im Umgang mit der eigenen Sexualität,<br />
auch das sind Ursachen, die zu einer Einweisung<br />
in die Beobachtungsstation beigetragen<br />
haben können. Gerade für Letzteres<br />
sieht die Psychotherapeutin Constanze<br />
Veigel-Maruschke einen Vorteil darin, dass<br />
weibliche Jugendliche hier unter sich sind.<br />
«Manchmal müssen sie gerade in Bezug<br />
auf sexuelle Handlungen geschützt werden<br />
– vor sich und anderen.»<br />
Veigel-Maruschke begleitet die Jugendlichen<br />
durch Höhen, aber auch oft und<br />
umso intensiver durch Tiefen während<br />
ihres Aufenthaltes. Alva besetzt einen der <br />
4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
27
acht Abklärungsplätze und sieht unterdessen<br />
wieder eine Zukunft für sich. Eine<br />
Lehre scheint durch die enge Begleitung<br />
hier wieder im Bereich des Möglichen, das<br />
war nicht immer so. Auch der Kontakt zur<br />
Mutter hat sich stark gebessert, jedes zweite<br />
Wochenende verbringt sie bei ihr. «Ich<br />
habe das Gefühl, mein Leben wieder besser<br />
in den Griff zu bekommen.» Es ist ein<br />
auf und ab, vor Kurzem ist sie wieder im<br />
hier genutzten Phasenmodell in die «Phase<br />
Orange» abgestiegen. Was das heisst? Weniger<br />
Freiheiten. Es ist die zweitunterste<br />
Stufe im sechsstufigen Phasenmodell,<br />
nach dem auf der Beobachtungsstation gearbeitet<br />
wird.<br />
Gemeinsame Aktivitäten sorgen für eine<br />
tragende Struktur.<br />
«Konfrontation,<br />
Provokation, Selbstreflexion,<br />
das gehört<br />
hier alles dazu.»<br />
Zurück im Erdgeschoss beugt sich Ida über<br />
eine schwarze Katze, streicht ihr über den<br />
Kopf und stellt ihr den gefüllten Futternapf<br />
vor die Nase. Nach sechs Monaten Abklärung<br />
hat sie sich unterdessen weitere vier<br />
Monate auf einem der zwei sogenannten<br />
Progressionsplätze den eigenen Schwierigkeiten<br />
gestellt. «Diese Plätze sind dazu da,<br />
die Persönlichkeit weiter zu festigen, um<br />
draussen besser klarzukommen», sagt Veigel-Maruschke<br />
dazu. Dafür brauche es viel<br />
Geduld, gerade wenn die Bewohnerinnen<br />
immer wieder in ihrem Leben gescheitert<br />
seien. Ida kann Hilfestellungen unterdes-<br />
sen besser annehmen. «Ticke ich wieder<br />
mal aus, kann ich selbst einen Termin abmachen»,<br />
sagt sie, eine Möglichkeit, die sie<br />
zu schätzen gelernt hat. Die Katze streicht<br />
nun um ihre Beine, Ida lässt sie gewähren.<br />
«Auch wenn sie es nicht immer selbst sieht,<br />
hat Ida hier grosse Fortschritte gemacht»,<br />
erklärt die Institutionsleiterin, «gerade<br />
dass sie die Verantwortung für die Institutionskatzen<br />
übernommen hat, zeigt, dass sie<br />
soziale Fähigkeiten besitzt, die sie aktivieren<br />
kann». Die Vierbeiner sind der Institution<br />
ähnlich wie ihre Bewohnerinnen zugelaufen.<br />
«Sie kamen, brauchten ein Dach<br />
über dem Kopf und etwas zu essen», erzählt<br />
Ida über deren Ankunft. «Und Liebe», fügt<br />
sie an. Ein bisschen so, wie wir Menschen?<br />
Sie nickt.<br />
Konfrontation, die Nähe schafft<br />
An den Entwicklungsmöglichkeiten der<br />
Bewohnerinnen zweifelt auch Mitarbeiterin<br />
Uecker nicht. Sie steht in der Küche vor<br />
Bergen von Kürbisfleisch, das sie weiterverwenden<br />
möchte. Unterdessen ist es später<br />
Nachmittag geworden. Sie mag es,<br />
wenn der Tag sich gegen Abend neigt. «Am<br />
Abend ist die Stimmung oft sehr familiär»,<br />
sagt sie, dann seien auch Einzelgespräche<br />
möglich, die auf einer guten Ebene stattfinden<br />
können. Sie schätzt die Beziehungsarbeit,<br />
die gerade durch die nahe Begleitung<br />
entsteht. «Konfrontation, Provokation,<br />
Selbstreflexion, das gehört hier alles dazu»,<br />
erklärt sie, «aber eben auch die Momente<br />
der Nähe, in denen ersichtlich wird, was<br />
diese Arbeit hier bewirken kann».<br />
Im angrenzenden Wohnzimmer ist es<br />
ruhig. Alva liegt zwischen den anderen<br />
Bewohnerinnen auf einem der drei riesigen<br />
rostbraunen Ledersofas und streckt<br />
die langen Beine von sich, das Handy in<br />
der Hand. Ida sitzt auf dem Sofa daneben,<br />
mit wendigen Fingern tippt sie Nachrichten<br />
in ihr Natel. Ein bisschen Freiheit, ein<br />
bisschen Freizeit, eine Pause im geregelten<br />
Tagesablauf. Der Weg zurück in einen<br />
selbstbestimmten Alltag ist kräftezehrend.<br />
Aber vielleicht rückt er durch die Zeit hier<br />
nach und nach ein bisschen näher. •<br />
Susanna Valentin<br />
*Name geändert<br />
28 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong>
Schub für die Förderung von<br />
Grundkompetenzen<br />
FACHBEITRAG Bildung ist zentral für eine nachhaltige Integration in die Gesellschaft und die Arbeitswelt.<br />
Doch viele Sozialhilfebeziehende haben ein tiefes Bildungsniveau. Fast 30 Prozent der Sozialhilfebeziehenden<br />
haben Schwierigkeiten mit den Grundkompetenzen. Der Kanton Luzern geht im Bereich Grundkompetenzen<br />
neue Wege.<br />
Wer nicht genügend Grundkompetenzen<br />
aufweist, hat oft Schwierigkeiten, sich im<br />
Alltag zurecht zu finden. Bei Strukturveränderungen<br />
im Berufsleben sind Personen<br />
mit wenig Grundkompetenzen schnell von<br />
Arbeitslosigkeit bedroht und haben wenig<br />
Chancen, den Wiedereinstieg in die Arbeitswelt<br />
zu schaffen. Ein Mangel an<br />
Grundkompetenzen geht häufig mit einem<br />
tiefen Selbstwertgefühl in Bezug auf<br />
die Arbeits- und Lernfähigkeiten und einer<br />
schlechteren Gesundheit als der Durchschnitt<br />
der Bevölkerung einher.<br />
Der Kanton Luzern geht in der Förderung<br />
der Grundkompetenzen schweizweit<br />
neue Wege. Er stellt seit September <strong>20</strong><strong>20</strong><br />
für die Bildung im Bereich der Grundkompetenzen<br />
Gutscheine aus. Für das laufende<br />
Jahr stehen maximal 1000 Bildungsgutscheine<br />
à 500 Franken zur Verfügung.<br />
Der Kanton will damit Menschen mit Bildungsdefiziten<br />
helfen, ihre Kompetenzen<br />
in Lesen, Schreiben, Rechnen und Computer<br />
zu verbessern. Für <strong>20</strong>21 und <strong>20</strong>22<br />
hat der Regierungsrat je 350 000 Franken<br />
für Bildungsgutscheine gesprochen.<br />
Weitere 175 000 Franken finanziert der<br />
Bund.<br />
QUALIFIZIERUNGSMODELL<br />
Berufsabschluss<br />
Niederschwellige<br />
berufliche Qualifikation<br />
Parallel wurde das Kursangebot im<br />
Kanton Luzern stark ausgebaut. Der Kurs<br />
«Lesen und Schreiben für deutschsprachige<br />
Erwachsene» wird neu kostenlos angeboten.<br />
Zielgruppe der Fördermassnahmen<br />
sind erwerbsfähige Erwachsene im<br />
Alter von 18 bis 65 Jahren, die sich nicht<br />
in einer obligatorischen Ausbildung befinden<br />
und im Kanton Luzern wohnhaft sind.<br />
In den ersten zwei Monaten wurden 100<br />
Gutscheine eingelöst, darunter auch von<br />
Sozialhilfebeziehenden.<br />
Weiterbildungsoffensive: erste<br />
Resultate<br />
Auch in der Weiterbildungsoffensive des<br />
SVEB und der SKOS ist die Förderung der<br />
Grundkompetenzen als erste Stufe im<br />
Qualifizierungsmodell ein wichtiges Anliegen<br />
(vgl. Grafik). Die teilnehmenden Sozialdienste<br />
im Projekt haben sich unter anderem<br />
das Ziel gesetzt, den Bedarf der<br />
Klientinnen und Klienten im Bereich<br />
Grundkompetenzen systematisch zu erkennen,<br />
anzusprechen und Angebote zu<br />
vermitteln. Im Projekt wurde deshalb eine<br />
Checkliste erarbeitet, mit der Sozialarbeitende<br />
niederschwellig prüfen können, ob<br />
Ziel: Nachhaltige Arbeitsmarktintegration durch berufliche<br />
Qualifikation<br />
Fördergrundlage: Berufsbildungsgesetz<br />
Ziel: Erhöhung der Arbeitsmarktchancen durch Erwerb von<br />
beruflichen Kompetenzen<br />
Fördergrundlage: AviG (AMM) Branchenfonds, BBG, Sozialhilfe<br />
und was sie bereits im Rahmen der Beratungsgespräche<br />
bezüglich Bildung und<br />
Kompetenzen ihrer Klientinnen und Klienten<br />
erfahren haben und welche Aspekte<br />
noch unbekannt sind. Auch enthält die<br />
Checkliste Hinweise, wie gewisse Kompetenzen<br />
im Gespräch erfragt oder beobachtet<br />
werden können. Die Checkliste ist frei<br />
zugänglich (www.skos.ch/themen/bildung/weiterbildungsoffensive).<br />
Der nächste<br />
Schritt ist das Vermitteln in geeignete<br />
Angebote. Die Projektteilnehmenden vernetzen<br />
sich hierzu mit Bildungsanbietern<br />
oder den Bildungsdirektionen, erstellen<br />
Angebotslandkarten und machen bei Bedarf<br />
auf fehlende Angebote aufmerksam.<br />
Mehr Bundesgelder stehen bereit<br />
Auf Bundesebene wurden in den letzten<br />
Monaten die Grundlagen zur Förderung<br />
der Bildung verbessert, welche die Kantone<br />
für die Bildung im Bereich Grundkompetenzen<br />
nutzen können. Seit Inkrafttreten<br />
des Weiterbildungsgesetz des Bundes<br />
<strong>20</strong>17 erhalten die Kantone Mittel, um die<br />
Grundkompetenzen von Erwachsenen (Lesen,<br />
Schreiben, Rechnen, Grundkenntnisse<br />
der Anwendung von Informations- und<br />
Kommunikationstechnologien, Verständigung<br />
in einer Landessprache) zu fördern.<br />
Für die Jahre <strong>20</strong>21 bis <strong>20</strong>24 wurde der<br />
Kredit zur Förderung der Grundkompetenzen<br />
in den Kantonen von 15 auf 43<br />
Mio. Franken erhöht. Die Kantone müssen<br />
zusätzlich zu den Bundesgeldern den gleichen<br />
Betrag zur Verfügung stellen. Nun ist<br />
dafür zu sorgen, dass auch Sozialhilfebeziehende<br />
vermehrt Zugang zu Kursen für<br />
Grundkompetenzen finden. •<br />
Grundkompetenzen<br />
Ziel: Verbessert Voraussetzungen für die berufliche<br />
Integration und Förderung der gesellschaftlichen Teilhabe<br />
Fördergrundlage: Weiterbildungsgesetz<br />
Andrea Beeler<br />
SKOS, Fachbereich Grundlagen<br />
4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
29
Von der IV in die Sozialhilfe:<br />
Neues Eingliederungsziel ist nötig<br />
FACHBEITRAG «Eingliederung vor Rente» und Abtragen der IV-Schulden: Diese beiden Ziele wurden mit<br />
den letzten drei Revisionen des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG) verfolgt. Verschiedene<br />
Evaluationen zur Zielerreichung wurden bisher publiziert. Umstritten blieb lange die Frage, in<br />
welchem Ausmass der IV-Rentenrückgang zu einer Zunahme der Fälle bei der Sozialhilfe führt. Eine Studie<br />
im Auftrag des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) schafft endlich Klarheit.<br />
Im August <strong>20</strong>19 bezifferte die IV-Stellenkonferenz<br />
die Einsparungen der IV von<br />
<strong>20</strong><strong>04</strong>- <strong>20</strong>16 auf rund 10 Milliarden Franken.<br />
Sie schloss daraus, dass sich die Investition<br />
in die berufliche Eingliederung in<br />
allen Belangen lohnt – gesellschaftlich, sozialpolitisch<br />
und finanziell. In der Publikation<br />
«IV: Zahlen und Fakten <strong>20</strong>14» hatte<br />
das BSV festgestellt: «Die Auswertungen<br />
zeigen keine wesentlichen Verlagerungen<br />
vom Leistungssystem der IV in die Sozialhilfe.»<br />
Behindertenverbände, Psychiaterinnen<br />
und Psychiater oder Sozialdienste hielten<br />
entschieden dagegen und monierten, dass<br />
die Sanierung der IV zu Lasten der Versicherten<br />
erfolge und eine starke Verschiebung<br />
in die Sozialhilfe zu beobachten sei.<br />
Die Zürcher Psychiaterin Doris Brühlmeier-Rosenthal<br />
wertete im Jahr <strong>20</strong>16 über<br />
400 Dossiers von Berufskolleginnen und<br />
-kollegen aus. 60 Prozent der Patienten<br />
mit einem negativen Rentenentscheid und<br />
93 Prozent der Gruppe mit einer Rentenaufhebung<br />
wurden von der Sozialhilfe<br />
unterstützt. Beim Vergleich der Statistiken<br />
von IV und Sozialhilfe im Zeitraum <strong>20</strong>05-<br />
<strong>20</strong>17 zeigte die SKOS in der Zeitschrift<br />
für Sozialhilfe (<strong>ZESO</strong> 1/<strong>20</strong>19) auf, dass<br />
die Zunahme der Fallzahlen bei der Sozialhilfe<br />
parallel zur Abnahme der IV-Renten<br />
verlief.<br />
IV- und Sozialhilfevertreter wiesen<br />
jeweils auf die Mängel der Studien und<br />
Analysen der anderen Seite hin. Ob und<br />
in welchem Masse eine Verlagerung von<br />
der IV in die Sozialhilfe stattfindet, blieb<br />
wissenschaftlich sowie politisch umstritten.<br />
Der im November veröffentlichte<br />
BSV-Forschungsbericht Nr. 8/<strong>20</strong> mit dem<br />
Titel «Entwicklung der Übertritte von der<br />
Invalidenversicherung in die Sozialhilfe»<br />
schafft nun die nötige Klarheit. Die Studie<br />
ist methodisch sehr gut konzipiert und leistet<br />
damit einen wesentlichen Beitrag zur<br />
Versachlichung der Diskussion.<br />
Erwerbstätigkeit bei IV-Anmeldung als<br />
entscheidender Erfolgsfaktor<br />
Seit <strong>20</strong>05 hat sich die Zahl der jährlichen<br />
Neurenten in der IV halbiert, die Neuanmeldungen<br />
nahmen gleichzeitig um ein<br />
Drittel zu. Dieser scheinbare Widerspruch<br />
erklärt sich durch die Verdreifachung von<br />
Eingliederungsmassnahmen. Das Ziel der<br />
IVG-Revisionen, möglichst früh zu intervenieren,<br />
wenn sich Probleme am Arbeitsplatz<br />
abzeichnen, wird damit erreicht. Die<br />
Studie zeigt den Erfolg dieser Massnahmen<br />
bei jenen, die zum Zeitpunkt der Neu-<br />
30 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong>
anmeldung noch erwerbstätig waren: Hatte<br />
<strong>20</strong>05 noch fast jede vierte Person<br />
(23,6 %) vier Jahre nach der IV-Anmeldung<br />
eine Rente, war es beim Anmeldejahrgang<br />
<strong>20</strong>13 noch jeder Siebte (14,4 %).<br />
Dafür hatten deutlich mehr Personen vier<br />
Jahre nach dem IV-Antrag eine Arbeitsstelle<br />
mit existenzsicherndem Lohn. Rund die<br />
Hälfte der Kohorte <strong>20</strong>13 schaffte diesen<br />
Schritt. In der Kohorte <strong>20</strong>05 waren es nur<br />
43 Prozent. Vom Rentenrückgang lassen<br />
sich mehrstufigen Rechnungen zufolge 70<br />
Prozent mit einer nachhaltigen Integration<br />
im Arbeitsmarkt erklären.<br />
Ganz anders präsentiert sich die Situation<br />
für die Menschen, welche bei der<br />
IV-Anmeldung nicht erwerbstätig waren.<br />
Auch sie bezogen deutlich seltener eine<br />
Die heutige Generation<br />
der gesundheitlich<br />
Beeinträchtigten<br />
muss die historische<br />
Schuld der IV in 10<br />
Jahren begleichen.<br />
IV-Rente: <strong>20</strong>05 erhielten 32,5 Prozent<br />
der Personen, die sich neu anmeldeten,<br />
eine Rente, <strong>20</strong>13 waren es nur noch <strong>20</strong>,5<br />
Prozent. Doch nur ein sehr kleiner Teil davon<br />
(13,9 %) vermochte nach vier Jahren<br />
wieder im Arbeitsmarkt Fuss zu fassen.<br />
Viele sind auf Sozialhilfe angewiesen. Aus<br />
der Kohorte <strong>20</strong>05 waren es 13,4 Prozent,<br />
<strong>20</strong>13 bereits 21,2 Prozent. «Eingliederung<br />
vor Rente» scheint vor allem dann zu<br />
funktionieren, wenn IV und Arbeitgeber<br />
die Betroffenen gemeinsam unterstützen.<br />
Wenn der Support der Arbeitgebenden<br />
fehlt, wird das Integrationsziel zu oft verfehlt.<br />
Es gilt dann: «Zu gesund für die IV,<br />
aber zu krank für den Arbeitsmarkt.»<br />
Verlagerungseffekt beträgt<br />
4,2 Prozent<br />
Gemäss Forschungsbericht lebt in einem<br />
von sechs durch die Sozialhilfe unterstützten<br />
Haushalten eine Person, die ein IV-Gesuch<br />
gestellt hat. Familienangehörige eingerechnet,<br />
sind rund 47 500 Personen<br />
betroffen. 21 Prozent würden heute eine<br />
IV-Rente statt Sozialhilfe beziehen, wenn<br />
die IV-Revisionen nicht stattgefunden hätten.<br />
Der Verlagerungseffekt wird auf insgesamt<br />
4,2 Prozent beziffert. 3,1 Prozent<br />
fallen auf nicht gesprochene Renten, 1,1<br />
Prozent auf Rentenaufhebungen. Das entspricht<br />
11 700 Personen (Stand <strong>20</strong>17).<br />
Der Anteil an den Nettokosten in der Sozialhilfe<br />
entspricht CHF 1<strong>20</strong> Millionen.<br />
Widerstand gegen IV-Revisionen, die in erster<br />
Linie der Sanierung der IV-Kasse dienen.<br />
Bild: Keystone/M.Flückiger<br />
Neue Herausforderungen für die<br />
Sozialhilfe<br />
In den letzten Jahren stieg mit der beschriebenen<br />
Verlagerung nicht nur die<br />
Zahl der Personen, die von der Sozialhilfe<br />
unterstützt werden, sondern diese sind gesundheitlich<br />
auch stärker belastet. Dadurch<br />
müssen sie länger unterstützt werden<br />
und schaffen den Schritt in den<br />
Arbeitsmarkt seltener. Es sind oft die komplexen<br />
und diffusen gesundheitlichen Situationen,<br />
in denen die IV keine Rente<br />
spricht und Eingliederungsmassnahmen<br />
nicht greifen. Sozialdienste im ganzen<br />
Land sind daran, sich auf die neuen Herausforderungen<br />
einzustellen. So hat die<br />
Stadt Bern im Mai <strong>20</strong><strong>20</strong> ihr Grundlagenpapier<br />
«Gesundheit in der Sozialhilfe» veröffentlicht<br />
und einen Massnahmenkatalog<br />
präsentiert. Unter anderem sieht sie eine<br />
Zusammenarbeit mit den Universitären<br />
Psychiatrischen Diensten (UPD) und Gesundheitsligen<br />
vor.<br />
Visionäres Eingliederungsziel für IV<br />
Die Sozialhilfe kann die Aufgaben, die sich<br />
durch die Verlagerung ergeben, aber nicht<br />
alleine tragen. Die IV muss Massnahmen<br />
ergreifen, damit sie das Integrationsziel<br />
auch bei Personen erreichen kann, die bei<br />
der Gesucheingabe keine Anstellung mehr<br />
haben. Für diese Gruppe braucht es spezifische<br />
Massnahmen und eine klare Zielsetzung.<br />
Anzustreben ist eine Erwerbsquote,<br />
die nach vier Jahren mindestens halb so<br />
gross ist wie jene der Gruppe, die beim IV-<br />
Antrag noch erwerbstätig sind. Um dieses<br />
Ziel zu erreichen, braucht es spezifische<br />
Eingliederungsmassnahmen für Stellenlose.<br />
Überdacht werden muss auch die Mindestgrenze<br />
für einen Rentenanspruch von<br />
40 Prozent Arbeitsunfähigkeit. Heute werden<br />
damit all jene ausgeschlossen, die längere<br />
Zeit stellenlos waren oder nur ein kleines<br />
Arbeitspensum hatten.<br />
Die IV verfolgt weiterhin das Ziel der<br />
Entschuldung bis <strong>20</strong>30. Konkret heisst<br />
das: Die heutige Generation der gesundheitlich<br />
Beeinträchtigten muss die historische<br />
Schuld der IV in zehn Jahren<br />
begleichen. Das wird ohne rigorose Sparprogramme<br />
und noch mehr Verlagerung<br />
in die Sozialhilfe nicht möglich sein. Es<br />
ist deshalb an der Zeit, an einen Schuldenschnitt<br />
zu denken.<br />
•<br />
Markus Kaufmann<br />
Geschäftsführer SKOS<br />
4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
31
Menschenrecht auf gleiche<br />
soziale Rechte<br />
FACHBEITRAG Die Bundesverfassung überlässt den Kantonen einen grossen Spielraum bei der Regelung<br />
der Sozialhilfe. Es bestehen nach wie vor grosse Unterschiede sowohl zwischen den Sozialhilfegesetzen<br />
im engeren Sinne als auch bei anderen bedarfsabhängigen Leistungen. Nicht alle in der<br />
Schweiz lebenden Personen haben Zugang zu den gleichen Leistungen. Diese Leistungen spielen eine<br />
wichtige Rolle im Kampf gegen Armut, von der <strong>20</strong>18 in der Schweiz 7,9 Prozent der Bevölkerung betroffen<br />
waren.<br />
Die Armut hat einen bedeutenden Einfluss<br />
auf die Verwirklichung von Menschenrechten,<br />
zu denen sich die Schweiz mit der Ratifikation<br />
von internationalen Konventionen<br />
bekannt hat. Kantonale<br />
Sozialhilfegesetze sind aber bisweilen so<br />
ausgestaltet, dass sie den internationalen<br />
Mindeststandards nicht genügen, obwohl<br />
sich die Schweiz zu deren Einhaltung verpflichtet<br />
hat. Es stellt sich daher die Frage,<br />
ob die Einhaltung internationaler Menschenrechtsgarantien<br />
eine Harmonisierung<br />
der Sozialhilferechte in der Schweiz<br />
bedingt.<br />
Wenn es um die Harmonisierung kantonaler<br />
Rechte auf Bundesebene geht,<br />
wird die Debatte jedoch lebhaft. Denn die<br />
Befürworter eines landesweit harmonisierten<br />
Grundschutzes der Menschenrechte<br />
scheinen gleichzeitig gegen die Abschaffung<br />
kantonaler Kompetenzen und der Autonomie<br />
der Kantone zu sein. Die Schweiz<br />
steht daher vor einem grossen Dilemma:<br />
Sie muss einerseits ihren Verpflichtungen<br />
zur Umsetzung der internationalen Menschenrechtsverträge<br />
nachkommen und andererseits<br />
föderalistische Prinzipien und<br />
kantonale Autonomien respektieren.<br />
Leitplanken der Harmonisierung<br />
Die Forschungsarbeit kommt anhand einer<br />
Analyse des internationalen Menschenrechtsschutzes<br />
zu dem Schluss, dass die<br />
Schweiz eigentlich verpflichtet wäre, die<br />
kantonalen Sozialhilfegesetze bis zu einem<br />
gewissen Grad zu harmonisieren. Unter<br />
Berücksichtigung der Autonomie der Kantone<br />
wurde die Harmonisierungspflicht<br />
der Schweiz anhand von drei Kriterien aufgezeigt:<br />
• Erstens stehen Mindeststandards für<br />
bestimmte Menschenrechte im Zentrum.<br />
Die Analyse fokussiert dabei auf<br />
folgende Grundrechte: die Menschenwürde,<br />
Recht auf Nahrung und Wasser,<br />
Recht auf Wohnung, Recht auf Gesundheit,<br />
Recht auf soziale Sicherheit,<br />
Recht auf Bildung und den spezifischen<br />
Rechten für Frauen und Kinder. Die<br />
Verpflichtung zur Umsetzung dieser<br />
Garantie verlangt vom Bund, dass er<br />
eine korrekte Umsetzung in den Kantonen<br />
garantiert. Ist dies nicht der Fall,<br />
ist der Bund verpflichtet, Massnahmen<br />
zur Harmonisierung der kantonalen<br />
Gesetze zu unternehmen.<br />
• Zweitens verpflichtet auch das Diskriminierungsverbot<br />
die Kantone zur<br />
Harmonisierung. In der herrschenden<br />
Lehre wird zwar abgelehnt, das Diskriminierungsverbot<br />
im föderalen Kontext<br />
als anwendbar zu erklären. Diese Aussa-<br />
Armut, verschlimmert<br />
durch die aktuelle<br />
Lage mit einer Pandemie,<br />
die sich nicht an<br />
Kantonsgrenzen hält,<br />
macht eine Harmonisierung<br />
der Existenzsicherung<br />
um so dringender.<br />
ge ist in ganz konkreten Situationen zu<br />
relativieren und damit eine völkerrechtliche<br />
Dimension in die Verfassungsdebatte<br />
einzubringen. Dies muss insbesondere<br />
für jene Fälle gelten, in denen<br />
Personen in ihrer Wahl des Wohnsitzes<br />
eingeschränkt sind, wie z.B. Kinder<br />
und Armutsbetroffene. Wenn eine Person<br />
aufgrund ihres Alters oder ihrer<br />
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit die<br />
Wahl des Wohnsitzes nicht ausüben<br />
kann, dann müssen menschenrechtliche<br />
Mindeststandards in Bezug auf<br />
diese Person umso mehr respektiert<br />
werden.<br />
• Drittens haben empirische Analysen<br />
der kantonalen Sozialhilfegesetze verschiedene<br />
Defizite bei der Umsetzung<br />
der Menschenrechte gezeigt. Das wiederum<br />
bestärkte die Forderung nach<br />
einer Harmonisierung.<br />
In der Forschungsarbeit werden<br />
schliesslich verschiedene Bereiche aufgezeigt,<br />
in denen eine Harmonisierung der<br />
kantonalen Bestimmungen zu empfehlen<br />
ist. Diese Anforderungen wurden jedoch<br />
nur für bestimmte wesentliche Elemente<br />
der kantonalen Gesetze nachgewiesen.<br />
Bei der Sozialhilfe im engeren Sinne<br />
handelt es sich dabei um den Zugang zu<br />
und die Höhe von Leistungen, Sonderregelungen<br />
für junge Erwachsene, die<br />
Übernahme von Mieten und Arztkosten,<br />
den Umfang von Sanktionen und situationsbedingte<br />
Leistungen. Hinsichtlich der<br />
Ergänzungsleistungen für Familien vereinheitlicht<br />
werden sollten der Zugang zu<br />
den Leistungen, ihre Höhe und die Dauer<br />
der Auszahlung. Im Bereich der Bildung<br />
32 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong>
Wird das Bundesgericht die kantonale Harmonisierung von bestimmten Regelungen der Sozialhilfe durchsetzen?<br />
Bild: zVg<br />
zu harmonisieren sind die Deckung der<br />
Primarschulgebühren, die Fähigkeit der<br />
kantonalen Programme zur Förderung<br />
der Chancengleichheit im Bildungssystem<br />
und Leistungen des Stipendienwesens. Bei<br />
den übrigen Regelungen behalten die Kantone<br />
ihre Autonomie.<br />
Harmonisierung durch<br />
Rechtsprechung<br />
Ebenfalls untersucht wurden die Möglichkeiten<br />
für Einzelpersonen, sich vor Gericht<br />
auf menschenrechtliche Verpflichtungen<br />
der Schweiz zu berufen. Die Garantie des<br />
Rechtswegs ist ein wirksames Mittel zur<br />
Verwirklichung von Menschenrechten in<br />
den Kantonen. Viele internationale Verpflichtungen<br />
im Bereich der sozialen Sicherheit<br />
gelten in der Schweiz jedoch nicht<br />
als direkt anwendbar, sondern als an den<br />
Gesetzgeber gerichtet. Eine Analyse am<br />
Beispiel der Europäischen Menschenrechtskonvention<br />
(EMRK) zeigt jedoch<br />
Möglichkeiten auf, dass auch solche Bestimmungen<br />
von Gerichten direkt gewürdigt<br />
werden können.<br />
Die Berücksichtigung von völkerrechtlichen<br />
Garantien durch die Rechtsprechung,<br />
und allen voran durch das Bundesgericht,<br />
fördert die Harmonisierung der<br />
Sozialhilfe. Wo sich Verpflichtungen nicht<br />
direkt einklagen lassen, stehen aber auch<br />
noch andere Mittel zur Harmonisierung<br />
zur Verfügung. Der Bund kann auch seine<br />
Aufsichtsfunktion dazu gebrauchen, um<br />
die Kantone zur Harmonisierung und Einhaltung<br />
menschenrechtlicher Garantien<br />
zu verpflichten. Wie in der Forschungsarbeit<br />
gezeigt wird, ist die Harmonisierung<br />
durch Rechtsprechung aber wirksamer<br />
und mit Blick auf die Gewaltenteilung, die<br />
Verfassungsgerichtsbarkeit und föderalistische<br />
Prinzipien eher zu begrüssen.<br />
Armut, verschlimmert durch die aktuelle<br />
Lage mit einer Pandemie, die sich<br />
nicht an Kantonsgrenzen hält, macht eine<br />
Harmonisierung der Existenzsicherung<br />
umso dringender. Die internationalen<br />
Menschenrechte, zu deren Einhaltung sich<br />
die Schweiz verpflichtet hat, bieten dafür<br />
eine passende Grundlage.<br />
•<br />
Raphaël Marlétaz<br />
Université de Lausanne<br />
4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
33
Jean-Michel Bonvin, Pascal Maeder,<br />
Carlo Knöpfel, Valérie Hugentobler,<br />
Ueli Tecklenburg (Hrsg.)<br />
Vom Arbeiterkind zur Professur<br />
Noch immer gibt es grosse Hürden für einen<br />
Bildungsaufstieg – nach wie vor stammt nur<br />
eine Minderheit der Professorinnen und Professoren<br />
aus der Arbeiterklasse. Was bedeutet es<br />
diesen Aufsteigenden, eine Professur erreicht<br />
zu haben? Wie erleben sie die Universität und<br />
das Versprechen der Chancengleichheit? Und<br />
wie haben ihre eigenen Aufstiegserfahrungen<br />
sie als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geprägt? Professorinnen<br />
und Professoren äussern sich zu ihrem «Klassenübergang» und<br />
zur Verknüpfung von sozialer Herkunft und Wissenschaft.<br />
Reuter Julia, Gamper Markus, Möller Christina, Blome Frerk (Hrsg.), Vom Arbeiterkind<br />
zur Professur. Sozialer Aufstieg in der Wissenschaft, Transcript Verlag,<br />
<strong>20</strong><strong>20</strong>, 438 Seiten, CHF 39, ISBN 978-3-8376-4778-5<br />
COVID-19: Eine sozialwissenschaftliche<br />
Perspektive<br />
Die Sozialwissenschaften ordnen die Herausforderungen<br />
von COVID-19 in die Dynamiken<br />
unserer Gesellschaft ein. Aufgrund ihrer<br />
Geschichte und ihrer Praxis sind die Sozialwissenschaften<br />
besonders geeignet, die sozialen,<br />
politischen und ökonomischen Folgen einer<br />
Krankheit zu verstehen, die für die einen die<br />
Züge des Teufels trägt, während sie für die anderen als banale Grippe<br />
in Erscheinung tritt. Dieses Buch entschlüsselt, wie Einzelpersonen,<br />
Organisationen und Gemeinschaften COVID-19 begegnen, darunter<br />
leiden und darauf reagieren. In diesem Buch teilen 27 Forschende ihre<br />
Erkenntnisse zu COVID-19.<br />
Fiorenza Gamba, Marco Nardone, Toni Ricciardi, Sandro Cattacin (Hrsg.),<br />
COVID-19: Eine sozialwissenschaftliche Perspektive. Seismo Verlag, <strong>20</strong><strong>20</strong>, 364<br />
Seiten, CHF 38, ISBN 978-3-03777-219-5<br />
Integration geflüchteter Menschen<br />
in Arbeit und Bildung<br />
Wörterbuch der Schweizer Sozialpolitik<br />
Wörterbuch der Schweizer<br />
Sozialpolitik<br />
Ein Meilenstein im Prozess einer gelingenden<br />
gesellschaftlichen Integration geflüchteter Menschen<br />
ist der Zugang zu Arbeit und Bildung. Das<br />
Themenheft erklärt die komplexe Rechtslage,<br />
benennt institutionelle und individuelle Hürden<br />
und stellt Hilfestrukturen und konkrete Förderangebote<br />
vor. Praxisbeispiele zeigen, welche<br />
Unterstützung insbesondere für geflüchtete junge Menschen und Frauen<br />
zielführend ist. Dabei wird auch betrachtet, wie Zivilgesellschaft und<br />
Unternehmen zur Erwerbsintegration Geflüchteter beitragen können.<br />
Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V., ARCHIV für Wissenschaft und Praxis<br />
der sozialen Arbeit, Integration geflüchteter Menschen in Arbeit und Bildung, Heft<br />
3/<strong>20</strong><strong>20</strong>, 96 Seiten, Euro 16, ISBN 978-3-7841-3259-4<br />
Die Sozialpolitik trägt massgeblich zur Wohlfahrt<br />
der Schweiz bei. Sie prägt den gesamten<br />
Lebenslauf und beeinflusst wesentlich<br />
die Lebensqualität der Bevölkerung. Ihre<br />
Ausgestaltung, Ziele und Auswirkungen hält<br />
das neuaufgelegte und völlig überarbeitete<br />
Wörterbuch der Schweizer Sozialpolitik ebenso<br />
fest wie historische, wirtschaftliche, soziale und rechtliche Bezüge. Weit<br />
über 250 ausgewählte Beiträge nehmen verschiedenste sozialpolitische<br />
Massnahmen und Zusammenhänge kritisch in den Blick und weisen auf<br />
Schweizer Besonderheiten, Handlungsbedürfnisse sowie aktuelle und<br />
zukünftige Herausforderungen für Politik und Gesellschaft hin.<br />
Hugentobler Valérie, Knöpfel Carlo, Maeder Pascal, Tecklenburg Ueli, Bonvin Jean-<br />
Michel (Hrsg.), Wörterbuch der Schweizer Sozialpolitik, Sozialpolitik/Soziale Sicherheit,<br />
Seismo Verlag, <strong>20</strong><strong>20</strong>, 6<strong>20</strong> Seiten, CHF 48, ISBN 978-3-03777-177-8<br />
Nationale Tagung<br />
Gesundheit und Armut<br />
Auch in der reichen Schweiz gibt es soziale<br />
Ungleichheiten in der Gesundheit. An der<br />
4. Nationalen Tagung Gesundheit & Armut der<br />
BFH wird an Fragestellungen aus sozialethischer,<br />
ökonomischer und politischer Perspektive orientiert<br />
und die Sicht von Betroffenen integriert.<br />
Die Tagung will mögliche Handlungsoptionen<br />
aufzeigen und im Dialog von Wissenschaft,<br />
Zivilgesellschaft, Politik und Praxis Lösungsansätze<br />
entwickeln, damit gerade armutsbetroffene<br />
Personen als besonders vulnerable Bevölkerungsgruppe<br />
den Weg zu Gesundheitsleistungen<br />
(wieder) finden.<br />
Berner Fachhochschule<br />
Donnerstag, 21. Januar <strong>20</strong>21, online<br />
www.bfh.ch<br />
Caritas-Forum<br />
«Armut grenzt aus»<br />
Noch nie waren Menschen so stark in Rechtsverhältnisse<br />
und Marktbeziehungen eingebunden<br />
– doch das damit verbundene Inklusionsversprechen<br />
entpuppt sich als Illusion. Was sind die<br />
Gründe dieser gegenwärtigen Krise, in der gerade<br />
Armutsbetroffene in verschiedener Hinsicht<br />
soziale Ausgrenzung erfahren? Das Forum, die<br />
sozialpolitische Tagung der Caritas Schweiz,<br />
fokussiert auf die Exklusionsmechanismen in<br />
wohlhabenden Gesellschaften und geht der Frage<br />
nach, wie diese erfolgreich bekämpft werden<br />
können.<br />
Caritas<br />
Freitag, 29. Januar <strong>20</strong>21, Bern<br />
www.caritas.ch<br />
Partizipation Betroffener bei<br />
der Armutsbekämpfung<br />
Wie können armutsbetroffene und -gefährdete<br />
Personen an der Planung, Umsetzung und Evaluation<br />
von Massnahmen der Armutsprävention<br />
und -bekämpfung mitwirken? Die Tagung richtet<br />
sich sowohl an Fachpersonen der Armutsprävention<br />
und -bekämpfung wie auch an armutsbetroffene<br />
oder -gefährdete Menschen selbst. Sie wird<br />
zusammen mit armutsbetroffenen und -gefährdeten<br />
Personen vorbereitet und durchgeführt.<br />
Die Tagung der Nationalen Plattform gegen Armut<br />
findet am 4. Februar <strong>20</strong>21 im Stadion Wankdorf<br />
statt.<br />
Nationale Plattform gegen Armut<br />
Donnerstag 4. Februar <strong>20</strong>21, Bern<br />
www.gegenarmut.ch<br />
34 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong>
LESETIPPS<br />
Sozialpädagogische<br />
Theoriegeschichten<br />
Sozialpädagogische Theorien beschreiben die<br />
Soziale Arbeit auf unterschiedliche Weise. Zu<br />
wichtigen Fragen, etwa zur Beschaffenheit der<br />
Gesellschaft und der Rolle der Sozialen Arbeit in<br />
ihr, existiert kein Konsens. Der Band analysiert<br />
deshalb am Beispiel von sieben älteren und<br />
neueren Theorien, wie sozialpädagogische<br />
Theorien konzipiert sind. Sie werden als Narrationen identifiziert, um zu<br />
erschliessen, wie sich die Theorien argumentativ darstellen und wie sie<br />
kontextuell verortet sind. Es wird gefragt, welche Welten sie entwerfen<br />
und wie sie die Soziale Arbeit in sie einbetten.<br />
Dollinger Bernd, Sozialpädagogische Theoriengeschichten. Eine narrative Analyse<br />
historischer und neuerer Theorien Sozialer Arbeit, Beltz Juventa Verlag, <strong>20</strong><strong>20</strong>,<br />
256 Seiten, CHF 44, ISBN 978-3-7799-6385-1<br />
Integration im Sozialraum<br />
Zusammenhänge von Sozialraum, Migration und<br />
Integration werden systematisch aus theoretischen<br />
und empirischen Perspektiven in ihren<br />
Interdependenzen beschrieben. Fluchtmigration<br />
und Integration werden im Kontext sozialräumlicher<br />
Ansätze analysiert, erforderliche Theorie-<br />
Praxis-Transfers reflektiert und theoretische<br />
Konzepte durch empirische Studien begründet.<br />
Die sozialräumliche Perspektive fokussiert hierbei die relevanten Handlungsfelder<br />
der Integration: Kommunale Integrationspolitiken, Unterbringung<br />
und Wohnen, Bildung, Erwerbsarbeit und Zivilgesellschaftliches<br />
Engagement.<br />
Jepkens Katja, Scholten Lisa, van Riessen, Anne (Hrsg.), Integration im Sozialraum.<br />
Theoretische Konzepte und empirische Bewertungen. Springer VS, <strong>20</strong><strong>20</strong>, 454<br />
Seiten, CHF 73, ISBN 978-3-658-28<strong>20</strong>2-8<br />
Fachkräfte! Mangel!<br />
Die Geschichte der Sozialen Arbeit kann nach<br />
dem sozialpädagogischen Jahrhundert nur<br />
als Expansionsgeschichte gelesen werden. Mit<br />
dem quantitativen Ausbau der Sozialen Arbeit<br />
gehen auch umfassende qualitative Veränderungen<br />
einher. Insgesamt wird aktuell vor allem<br />
ein Fachkräftemangel in unterschiedlichen<br />
Feldern der Sozialen Arbeit beklagt. Im Vergleich<br />
zu anderen Professionen kann nach wie vor von einem Mangel an Anerkennung,<br />
Wertschätzung und angemessener Bezahlung gesprochen<br />
werden. Diese aktuellen Entwicklungen werden in diesem Sonderband<br />
diskutiert und Perspektiven entfaltet.<br />
Grasshoff Gunther, Fischer Jörg (Hrsg.), Fachkräfte! Mangel! Die Situation des<br />
Personals in der Sozialen Arbeit. 3. Sonderband Sozialmagazin. Beltz Verlag,<br />
<strong>20</strong><strong>20</strong>, 180 Seiten, CHF 45, ISBN 978-3-7799-3540-7<br />
Bieler Tagung: Persönliche Hilfe<br />
in der Sozialberatung<br />
Die Nationale Tagung der SKOS in Biel befasst<br />
sich mit dem Auftrag und der Ausgestaltung<br />
der persönlichen Hilfe in der Sozialberatung.<br />
Welchen Stellenwert hat sie angesichts knapper<br />
Zeitressourcen? Wie kann ein optimales Angebot<br />
aussehen? Die Workshops bieten die Möglichkeit,<br />
Praxisbeispiele und Konzepte aus der Stadt Zürich,<br />
der Gemeinde Hochdorf, dem Kanton Waadt,<br />
dem Kanton Genf, der Wohnhilfe Casanostra in<br />
Biel und des Supported-Employment-Ansatzes<br />
des Vereins maxi.mumm kennenzulernen.<br />
Donnerstag, 11. März, Kongresshaus Biel<br />
Verschiebungsdatum: Donnerstag, 23. Sept. <strong>20</strong>21, Biel<br />
www.skos.ch<br />
Forum Nachhaltige Entwicklung:<br />
Leave no one behind<br />
«Leave no one behind» lautet das Thema der<br />
Leitveranstaltung des Bundesamtes für Raumentwicklung<br />
zur Förderung der nachhaltigen<br />
Entwicklung in der Schweiz. Dabei stehen folgende<br />
Fragen im Zentrum: Wie stellen wir sicher,<br />
dass wir bei der Umsetzung der Agenda <strong>20</strong>30<br />
für nachhaltige Entwicklung niemanden aussen<br />
vorlassen? Wie können soziale Belange in engem<br />
Zusammenspiel mit den ökologischen und wirtschaftlichen<br />
Anliegen umgesetzt werden? Und<br />
welche Rolle übernehmen darin Kantone, Städte<br />
und Gemeinden?<br />
Dienstag, 18. Mai <strong>20</strong>21, Bern<br />
www.are.admin.ch<br />
Gesprächsführung in der<br />
Sozialen Arbeit<br />
Das Buch begründet professionelle Gesprächsarbeit<br />
als Kernmethode der Sozialen<br />
Arbeit. Es führt theoretisch und methodisch<br />
– spezifisch für die Soziale Arbeit – in die<br />
Grundlagen der professionellen Gesprächsführung<br />
ein. Es beschreibt die bedeutendsten<br />
Gesprächsformen der Praxis Sozialer Arbeit und<br />
gibt konkrete Hilfen zur Analyse, Planung und Gestaltung von Gesprächen.<br />
So macht es professionelle, adressaten- und anlassgerechte<br />
Gesprächsführung lehr- und lernbar.<br />
Widulle Wolfgang, Gesprächsführung in der Sozialen Arbeit. Grundlagen und<br />
Gestaltungshilfen, 2., durchgesehene Auflage, Springer VS, <strong>20</strong><strong>20</strong>, 235 Seiten, CHF<br />
37, ISBN 978-3-658-292<strong>04</strong>-1<br />
VERANSTALTUNGEN<br />
SKOS-Weiterbildung:<br />
Einführung in die Sozialhilfe<br />
Die Weiterbildung der SKOS vermittelt Grundlagen<br />
zur Ausgestaltung der Sozialhilfe und zur<br />
Umsetzung der SKOS-Richtlinien, zu Verfahrensgrundsätzen<br />
und zum Prinzip der Subsidiarität.<br />
Insbesondere werden auch die Änderungen der<br />
Richtlinienrevision erläutert, die <strong>20</strong>21 in Kraft<br />
treten. Es stehen vier Module zur Auswahl, von<br />
denen jeweils zwei besucht werden können. Ein<br />
Modul widmet sich Praxisfragen zu aktuellen<br />
Themen.<br />
Hotel Olten<br />
Dienstag, 29. Juni <strong>20</strong>21, Olten<br />
www.skos.ch<br />
4/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
35
TÜRE AUF<br />
BEI SANDRA ANGELOVIC<br />
Sozialdienst:<br />
Soziale Dienste Asyl Zug<br />
Anzahl Mitarbeitende: 68<br />
Ausbildung/Funktion: BA Sozialarbeit & Sozialpolitik/Sozialarbeiterin<br />
Angestellt seit: 1.8.<strong>20</strong>19<br />
Alter:<br />
32 Jahre<br />
Zur Zeit einen Tag pro Woche im Homeoffice.<br />
Bild: zVg<br />
Was zeichnet den Sozialdienst Zug<br />
aus?<br />
Die Sozialen Dienste Asyl Zug legen einen<br />
grossen Fokus auf die Integration.<br />
Deutschkurse bis B2 werden finanziert.<br />
Durch Potentialabklärungen werden<br />
zusammen mit den Klientinnen und<br />
Klienten individuelle Integrationspläne<br />
zusammengestellt. Aber auch bei den<br />
Kleinsten halten wir uns nicht zurück.<br />
Neben Spielgruppen werden auch Kitas<br />
finanziert, ohne dass die Eltern der<br />
Kinder unbedingt einer Erwerbsarbeit<br />
nachgehen. Das Ziel ist, das Kind so auf<br />
die Einschulung vorzubereiten, damit<br />
es nach der Beschulung finanziell unabhängig<br />
wird.<br />
Was genau ist Ihre Aufgabe?<br />
Ich bin für die wirtschaftliche und persönliche<br />
Sozialhilfe im Asyl-, Flüchtlings-,<br />
Härtefall- und Nothilfebereich<br />
zuständig.<br />
Wieso haben Sie sich für Soziale Arbeit<br />
als Beruf entschieden?<br />
Während der Bachelor-Arbeit merkte<br />
ich, dass mir die Feldarbeit am meisten<br />
gefiel. Wir haben u.a. Migrantinnen zu<br />
einem Integrationsprojekt interviewt.<br />
Ich wollte mit Menschen arbeiten. Die<br />
Theorien überlasse ich gerne anderen,<br />
auch wenn ich sehr an Migrations- und<br />
Flüchtlingsthemen interessiert bin.<br />
Die Corona-Krise hat alle Sozialarbeitende<br />
vor enorme Herausforderungen<br />
gestellt. Was beschäftigt<br />
Sie in diesem Zusammenhang speziell?<br />
Als im Lockdown die Schulen geschlossen<br />
wurden, hat mich das Wohl und das<br />
Weiterkommen der Kinder beschäftigt.<br />
Die meisten Kinder unserer Klienten<br />
erfahren wenig Unterstützung zuhause<br />
beim Lernen, hauptsächlich wegen den<br />
sprachlichen Barrieren. Aktuell scheint<br />
es schwierig zu sein, Arbeit ohne Ausbildung<br />
zu finden, was die Arbeitssuche<br />
bei der Klientel auf den Kopf stellt.<br />
Welche Reaktionen haben Sie von<br />
Mitarbeitenden oder Klienten erhalten?<br />
Immer schön ist es, die Dankbarkeit<br />
der Klientinnen und Klienten zu sehen,<br />
wenn ich sie bei ihren Herausforderungen<br />
unterstützen konnte. Mehrmals<br />
haben sie mich einen Engel genannt,<br />
bezugnehmend auf meinem Nachnamen.<br />
Solche Erinnerungen helfen mir<br />
auch in schwierigen Situationen durchzuhalten.<br />
Wie gingen Sie mit einer besonders<br />
belastenden Situation um?<br />
Belastend empfinde ich, wenn mich die<br />
Klienten des Lügens bezichtigen, denn<br />
ich bezeichne mich selber als notorische<br />
Wahrheitssagerin. Mir hilft dann<br />
die Psychohygiene im Team. Ich bin ein<br />
offenes Buch und glaube, dass mein gesamtes<br />
15-köpfiges Sozialarbeitenden-<br />
Team von meinen belastenden Situationen<br />
Kenntnis nimmt. So verteile ich<br />
die Last und habe das Gefühl, dass ich<br />
sie nicht alleine tragen muss.<br />
Was machte Ihnen in den letzten<br />
Wochen an Ihrer Arbeit besonders<br />
Freude?<br />
Die Balance zwischen Klientenkontakt<br />
und Administration schätze ich sehr.<br />
Seit dem Lockdown im März <strong>20</strong><strong>20</strong> hat<br />
sich bei uns das Homeoffice etabliert.<br />
Einen Tag pro Woche können wir jetzt<br />
auch nach dem Lockdown zuhause arbeiten.<br />
So gehe ich viel entspannter in<br />
die Woche und kann mich an den anderen<br />
drei Arbeitstagen auf die Gespräche<br />
konzentrieren.<br />
Was wünschen Sie sich für die Zukunft<br />
in Bezug auf Ihre Arbeit auf dem<br />
Sozialdienst?<br />
Ich wünsche mir mehr Verständnis in<br />
der Bevölkerung und von Seiten der<br />
Klienten, dass die wirtschaftliche Sozialhilfe<br />
auf Richtlinien und Gesetzen<br />
basiert und nicht auf persönlicher Willkür<br />
der einzelnen Sozialarbeitenden. Es<br />
passiert noch viel zu oft, dass Personen<br />
die Sozialarbeitenden beschuldigen, ihnen<br />
nicht genügend auszubezahlen.<br />
» dieser<br />
In der Schweiz gibt es Hunderte von Sozialdiensten mit unzähligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Sie unterstützen Kinder, Jugendliche<br />
und Erwachsene in unterschiedlichen Lebenslagen und leisten damit einen wichtigen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt. In<br />
Serie berichten sie aus ihrem Berufsalltag, den schönen und den schwierigen Seiten ihrer Arbeit.<br />
36 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>20</strong>
Unsere Fachseminare im<br />
Bereich Sozialhilfe<br />
Örtliche Zuständigkeit<br />
<strong>20</strong>./21. Januar <strong>20</strong>21<br />
Bedürftigkeit und Bemessung der persönlichen<br />
und wirtschaftlichen Hilfe<br />
11./12. Februar <strong>20</strong>21<br />
Bevorschussung, Verrechnung und Rückerstattung<br />
22./23. Februar <strong>20</strong>21<br />
Zivilrechtliche Unterhaltspflichten und Finanzierung<br />
von Kindesschutzmassnahmen<br />
11./12. März <strong>20</strong>21<br />
Pflichtverletzungen<br />
23./24. März <strong>20</strong>21<br />
Anrechnung von Einkommen und Vermögen<br />
6./7. April <strong>20</strong>21<br />
Weitere Informationen unter hslu.ch/s164<br />
Integration und Partizipation<br />
Beratung und Coaching<br />
Kinder- und Jugendhilfe<br />
Management, Recht und Ethik<br />
Gesundheit<br />
Alle Weiterbildungsangebote zu diesen und vielen<br />
weiteren interessanten Themen finden Sie online:<br />
Neue Impulse für Ihren professionellen Berufsalltag<br />
Die Weiterbildungen an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW in Olten und Muttenz unterstützen Sie<br />
dabei, sich fachlich und persönlich weiterzuentwickeln. Sie erhalten neustes Wissen aus der Forschung<br />
und verknüpfen dieses mit Ihren Erfahrungen aus dem Berufsalltag.<br />
www.fhnw.ch/soziale-arbeit/weiterbildung
Weiterbildung,<br />
die wirkt!<br />
Fachkurs Arbeitsintegration<br />
6 Kurstage, Februar bis März <strong>20</strong>21<br />
Fachkurs Potenzialabklärung bei<br />
Migrantinnen und Migranten<br />
6 Kurstage, März bis Mai <strong>20</strong>21<br />
Fachkurs Sozialberatung<br />
In Kooperation mit der Hochschule Luzern<br />
8 Kurstage, Mai bis Juli <strong>20</strong>21<br />
CAS Mediatives Handeln in transkulturellen<br />
Kontexten<br />
<strong>20</strong> Studientage, März <strong>20</strong>21 bis März <strong>20</strong>22<br />
Weitere Informationen und Anmeldung<br />
bfh.ch/soziale-sicherheit und<br />
bfh.ch/mediation<br />
‣ Soziale Arbeit<br />
Roman Bernhard<br />
Absolvent CAS Case Management<br />
Jetzt weiterbilden.<br />
Sozialwesen<br />
ost.ch/wb-sozialwesen<br />
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