Zur Systemtheorie Niklas Luhmanns - Uboeschenstein.ch
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Autoreflexierung der Theorie, <strong>Systemtheorie</strong> und Dekonstruktion als Supertheorien<br />
Die Autoreflexierung geht darauf zurück, dass die <strong>Systemtheorie</strong> zuglei<strong>ch</strong> ihr eigener<br />
Gegenstand sein muss, weil die <strong>Systemtheorie</strong> das vollzieht, wovon sie spri<strong>ch</strong>t, sei es<br />
Gesells<strong>ch</strong>aft, sei es Bewusstsein oder überhaupt strukturelle Koppelung. Die spätere<br />
<strong>Systemtheorie</strong> begnügt si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t damit, dieses Faktum als paradoxales Problem ihrer<br />
eigenen Erkenntnis bewusst zu halten, immer wird dieses Problem selbst zum Problem der<br />
Theorie. Damit ist eine Tendenz vorgezei<strong>ch</strong>net, die die <strong>Systemtheorie</strong> selbst zum<br />
vorherrs<strong>ch</strong>enden Gegenstand der <strong>Systemtheorie</strong> werden ließ.<br />
Diese Tendenz war ni<strong>ch</strong>t nur implizit angelegt, sondern wurde au<strong>ch</strong> im<br />
Universalitätsanspru<strong>ch</strong> explizit ausgespro<strong>ch</strong>en. Die <strong>Systemtheorie</strong> hat si<strong>ch</strong> seit ihrer<br />
methodologis<strong>ch</strong>en Grundlegung als Supertheorie verstanden (vgl. Soziale Systeme,<br />
S.19ff.). Der Universalitätsanspru<strong>ch</strong> einer Theorie wie der <strong>Systemtheorie</strong> besteht darin, dass<br />
sie die Welt, also all das, was potentiell ihren gesamten Gegenstandsberei<strong>ch</strong> ausma<strong>ch</strong>en<br />
könnte, mit ihren Beoba<strong>ch</strong>tungs Instrumenten abdecken kann. Der Universalitätsanspru<strong>ch</strong><br />
von Supertheorien wird erst dort theoretis<strong>ch</strong> relevant, wo im universalen Ausgriff der Theorie<br />
sie selbst in ihren eigenen Fokus gerät, wo die Theorie also autoreflexiv wird. Das trifft auf<br />
die <strong>Systemtheorie</strong> in mehrfa<strong>ch</strong>er Hinsi<strong>ch</strong>t zu. Als Theorie ist sie erstens ein System,<br />
zweitens vollzieht sie Kommunikation, und drittens ist sie s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> ein Beoba<strong>ch</strong>ter.<br />
Damit bekommen Supertheorien wie die <strong>Systemtheorie</strong> eine paradoxale Struktur, die si<strong>ch</strong> als<br />
Selbstbegründungsproblem auswirkt. Wenn Supertheorien zuglei<strong>ch</strong> Theorie und Gegenstand<br />
sind, stellt si<strong>ch</strong> die Frage, wo dann das Fundament ihrer Selbst-)Begründung liegt?<br />
Begründung und Begründendes fallen wie Theorie und Gegenstands zusammen.<br />
Die <strong>Systemtheorie</strong> befindet si<strong>ch</strong> in der klassis<strong>ch</strong> paradoxalen Situation der<br />
Selbstbeoba<strong>ch</strong>tung. Wie für jede Beoba<strong>ch</strong>tung müsste daher für die <strong>Systemtheorie</strong> ein<br />
blinder Fleck konstitutiv sein; wie es für die systemtheoretis<strong>ch</strong>e Auffassung dieses Theorems<br />
<strong>ch</strong>arakteristis<strong>ch</strong> ist, müsste si<strong>ch</strong> aber dieses Paradox ebenso prozessual umlegen lassen.<br />
D.h.: <strong>Systemtheorie</strong> begründet si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t im Rekurs auf irgendwel<strong>ch</strong>e metaphysis<strong>ch</strong>en<br />
Wahrheiten, sie begründet si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> ihren eigenen Vollzug; sie s<strong>ch</strong>öpft ihre<br />
Legitimation aus ihrer Praxis und erweist si<strong>ch</strong> eben gerade dadur<strong>ch</strong> als das,<br />
was sie ist: ein prozessierendes kommunikatives, beoba<strong>ch</strong>tendes Sinnsystem. Die<br />
konstruktivistis<strong>ch</strong>e Wende hat in der <strong>Systemtheorie</strong> gerade das Beoba<strong>ch</strong>tertheorem in den<br />
Vordergrund gerückt: Sie hat si<strong>ch</strong> selbst als Beoba<strong>ch</strong>ter entworfen und damit ihr eigenes<br />
Beoba<strong>ch</strong>terparadox eingeholt, d.h.: sie hat si<strong>ch</strong> selbst eingeholt.<br />
Damit wird die <strong>Systemtheorie</strong> mit der Dekonstruktion von Jacques Derrida verglei<strong>ch</strong>bar.<br />
Au<strong>ch</strong> die Dekonstruktion kann als Supertheorie beoba<strong>ch</strong>tet werden, obs<strong>ch</strong>on oder besser:<br />
gerade weil sie si<strong>ch</strong> selbst weigert, si<strong>ch</strong> als Theorie anzuerkennen. Wo die Dekonstruktion<br />
über Zei<strong>ch</strong>enordnungen und ihre differentielle Auflösung spri<strong>ch</strong>t, kommt sie<br />
zwangsweise als eigene Zei<strong>ch</strong>enordnung in den Blick. Die Folge davon ist, dass die<br />
Dekonstruktion in aller erster Linie von dem betroffen ist, was sie aussagt. Da na<strong>ch</strong><br />
dekonstruktivistis<strong>ch</strong>er Auffassung Zei<strong>ch</strong>enordnungen ni<strong>ch</strong>t stabilisierbar sind, ist sie selbst<br />
als Theorie hinfällig. Deswegen versteht sie si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> als Praxis, die immer wieder neu<br />
ansetzt, indem sie Zei<strong>ch</strong>enordnungen rekonstruiert (konstruktiver Aspekt) und zuglei<strong>ch</strong> diese<br />
in ihrer Auflösung zeigt (destruktiver Aspekt).<br />
<strong>Systemtheorie</strong> und Dekonstruktion sind, strukturell gesehen, mit dem selben Phänomen<br />
konfrontiert, nämli<strong>ch</strong> mit dem der Differentialität. Beide Theorien verabs<strong>ch</strong>ieden die<br />
metaphysis<strong>ch</strong>e Vorstellung, dass Theorien, ja dass das Denken überhaupt auf ein<br />
uners<strong>ch</strong>ütterli<strong>ch</strong>es Fundament, wie es no<strong>ch</strong> Descartes vors<strong>ch</strong>webte, gestellt werden könnte.<br />
Beide Theorien sind Differenztheorien; au<strong>ch</strong> für die Dekonstruktion gilt, was Luhmann für<br />
die <strong>Systemtheorie</strong> - und somit für das Denken selbst - konstatiert: „Am Anfang steht also<br />
ni<strong>ch</strong>t Identität, sondern Differenz.“ (Soziale Systeme, S.112).<br />
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