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Kausale und funktionale Erklärungen in der Sozialforschung - Ruhr ...

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6.1 EINLEITENDE ÜBERLEGUNGEN 81<br />

Kapitel 6<br />

Tätigkeiten <strong>und</strong> Prozesse<br />

Es sollte deutlich geworden se<strong>in</strong>, daß statistische Regressionsmodelle nur<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er sehr äußerlichen Weise zeigen können, wie soziale Systeme funktionieren.<br />

Dies liegt <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie daran, daß <strong>in</strong> solchen Modellen soziale<br />

Prozesse nicht explizit repräsentiert werden können, so daß e<strong>in</strong>e gedankliche<br />

Bezugnahme auf Akteure <strong>und</strong> ihre Tätigkeiten nur <strong>in</strong> mehr o<strong>der</strong><br />

weniger spekulativer Weise mit den empirischen Informationen verknüpft<br />

werden kann, die man durch e<strong>in</strong> Regressionsmodellerhält. Dem entspricht,<br />

daßRegressionsmodelle<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Sozialforschung</strong>meistens garnicht ernsthaft<br />

für <strong>funktionale</strong> Erklärungen verwendet werden, son<strong>der</strong>n hauptsächlich als<br />

Methoden zur Darstellung von Beziehungen zwischen Variablen, an die<br />

sich dann nachträglich e<strong>in</strong>e mehr o<strong>der</strong> weniger beliebige Interpretation anschließt.<br />

1 Aber auch wenn sich die Überlegungen zunächst gar nicht auf<br />

<strong>funktionale</strong>, son<strong>der</strong>n auf kausale Erklärungenrichten, stellt sich die gleiche<br />

Frage: wie man zu begrifflichen Repräsentationen sozialer Prozesse gelangen<br />

kann, die es ermöglichen, sich explizit auf Akteure zu beziehen. Unsere<br />

weiteren Überlegungen beschäftigen sich mit dieser Frage.<br />

6.1 E<strong>in</strong>leitende Überlegungen<br />

1. E<strong>in</strong> erstes Problem besteht bereits dar<strong>in</strong>, daß <strong>der</strong> Ausdruck ‘sozialer<br />

Prozeß’ ke<strong>in</strong>e klare Bedeutung hat. Der Ausdruck deutet nur an, daß man<br />

sich gedanklich irgendwie auf Akteure beziehen möchte, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sozialen<br />

Kontext Tätigkeiten vollziehen. Offenbar benötigt man Bezugsprobleme,<br />

die e<strong>in</strong>en Leitfaden liefern können, um über soziale Prozesse nachzudenken.<br />

Zum Beispiel: Wie f<strong>in</strong>den arbeitslos gewordene Menschen e<strong>in</strong>en<br />

neuen Job? Dann hat man e<strong>in</strong>e Fragestellung <strong>und</strong> kann versuchen, sich e<strong>in</strong><br />

Bild zu machen. Wir orientieren uns also an folgendem Vorverständnis:<br />

E<strong>in</strong> sozialer Prozeß besteht aus e<strong>in</strong>er Abfolge von Tätigkeiten e<strong>in</strong>es o<strong>der</strong><br />

mehrerer Akteure, die ihren Zusammenhang daraus gew<strong>in</strong>nen, daß sie als<br />

Beiträge zur Lösung e<strong>in</strong>es Bezugsproblems verstanden werden können.<br />

2. Bezugsprobleme müssen den beteiligten Akteuren nicht unbed<strong>in</strong>gt bewußtse<strong>in</strong>.Sieverdankensiche<strong>in</strong>ertheoretischen,<strong>in</strong>unseremKontexte<strong>in</strong>er<br />

soziologischen Betrachtungsweise. Oft kann natürlich e<strong>in</strong> Zusammenhang<br />

hergestellt werden. Angenommen, unser Akteur A möchte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e neue<br />

1 Ernsthafte Ansätze, um zu <strong>funktionale</strong>n Erklärungen sozialer Systeme zu gelangen,<br />

f<strong>in</strong>det man fast ausschließlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Literatur, die sich um e<strong>in</strong>e Konstruktion von sog.<br />

Mikrosimulationsmodellen“ bemüht. Als e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> ersten Arbeiten vgl. man G.H. Orcutt<br />

et al.<br />

”<br />

1961.<br />

Wohnung umziehen. Dann stellt sich u.a. das Problem, wie er se<strong>in</strong>en Hausrat<br />

<strong>in</strong> die neue Wohnung transportieren kann. Also muß er e<strong>in</strong>en sozialen<br />

Prozeß <strong>in</strong>gangsetzen, durch den dies erreicht werden kann, z.B. Fre<strong>und</strong>e<br />

bitten, ihm zu helfen, o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Umzugsfirma beauftragen, den Umzug<br />

durchzuführen. An diesem Beispiel kann man sich auch verdeutlichen, daß<br />

Bezugsprobleme für Tätigkeiten von Motiven o<strong>der</strong> Handlungsgründen zu<br />

unterscheiden s<strong>in</strong>d. Sicherlich kann man A unterstellen, daß er möchte,<br />

daß se<strong>in</strong> Hausrat <strong>in</strong> die neue Wohnung gelangt. Aber die Fre<strong>und</strong>e o<strong>der</strong> die<br />

Mitarbeiter e<strong>in</strong>er Umzugsfirma, die ihm helfen, haben für ihre Tätigkeiten<br />

vermutlich ganz an<strong>der</strong>e Motive. Ganz unabhängig von solchen Motiven<br />

kann man jedoch die Tätigkeiten aller beteiligten Akteure auch unter <strong>der</strong><br />

Perspektivebetrachten,wiesiezurLösungdesBezugsproblems–<strong>in</strong>diesem<br />

Beispiel zur Durchführung des Umzugs – beitragen.<br />

3. An diese Überlegung läßt sich e<strong>in</strong>e vorläufige, später zu präzisierende<br />

Unterscheidung von zwei Arten von <strong>Kausale</strong>rklärungen anschließen. Bei<br />

den Beispielen, mit denen wir uns <strong>in</strong> früheren Kapiteln beschäftigt haben,<br />

g<strong>in</strong>g es stets darum, wie man von Wirkungen e<strong>in</strong>es kausalen Sachverhalts<br />

sprechen kann. A öffnet e<strong>in</strong> Fenster o<strong>der</strong> betätigt e<strong>in</strong>en Schalter <strong>und</strong> schaltet<br />

dadurch die Zimmerbeleuchtung an. Bei Beispielen dieser Art bezieht<br />

man sich auf Wirkungen e<strong>in</strong>es kausalen Sachverhalts; wir sprechen von<br />

e<strong>in</strong>fachen <strong>Kausale</strong>rklärungen. Offenbar genügt e<strong>in</strong>e solche Betrachtungsweise<br />

nicht, wenn man erklären möchte, wie <strong>der</strong> Hausrat von A <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e<br />

neue Wohnung gelangt ist. Man muß sich dann gedanklich auf e<strong>in</strong>en Prozeß<br />

beziehen, dessen Ablauf durch die Realisierung e<strong>in</strong>er Vielzahl kausaler<br />

Sachverhalte zustandegekommen ist. Wir sprechen dann von genetische<br />

<strong>Kausale</strong>rklärungen. E<strong>in</strong>e solche Erklärung soll zeigen, wie <strong>der</strong> zu erklärende<br />

Sachverhalt durch e<strong>in</strong> ”<br />

Zusammenwirken“ e<strong>in</strong>er Mehrzahl von im Pr<strong>in</strong>zip<br />

unabhängigen kausalen Sachverhalten entstanden ist. 2<br />

4. Man kann sich beliebig viele Bezugsprobleme ausdenken, um durch sie<br />

soziale Prozesse zu def<strong>in</strong>ieren. Aus soziologischerSicht <strong>in</strong>teressieren vor allem<br />

Bezugsprobleme, die <strong>in</strong> vergleichbarer Weise wie<strong>der</strong>holt auftreten <strong>und</strong><br />

die <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Weise e<strong>in</strong>e Interaktion mehrerer Akteure erfor<strong>der</strong>n. Die<br />

Beschäftigung mit Bezugsproblemen, die <strong>in</strong> vergleichbarer Weise wie<strong>der</strong>holt<br />

auftreten, unterscheidet soziologische von historischen Fragestellungen.<br />

Zwar ist je<strong>der</strong> soziale Prozeß, z.B. A’s Umzug <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e neue Wohnung,<br />

e<strong>in</strong> s<strong>in</strong>gulärer, historisch e<strong>in</strong>maliger Prozeß. Aus soziologischer Sicht <strong>in</strong>teressieren<br />

jedoch nicht, o<strong>der</strong> jedenfalls nicht <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie, die Beson<strong>der</strong>heiten<br />

<strong>der</strong> jeweils s<strong>in</strong>gulären Prozesse; son<strong>der</strong>n die Fragestellungen richten<br />

sich darauf, wie Menschen Bezugsprobleme lösen, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er vergleichbaren<br />

Weise oft auftreten. Zum Beispiel: Wie bewerkstelligen Menschen<br />

2 Wie sich zeigen wird, ist es ziemlich schwierig, diesen Leitgedanken zu präzisieren.<br />

Dieses <strong>und</strong> das nächste Kapitel dienen im wesentlichen dem Zweck, e<strong>in</strong>e Reihe von<br />

Schwierigkeiten zu besprechen, die mit <strong>der</strong> Idee e<strong>in</strong>er genetischen <strong>Kausale</strong>rklärung verb<strong>und</strong>en<br />

s<strong>in</strong>d.

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