Till Eulenspiegel - eine kulturgeschichtliche Betrachtung
Till Eulenspiegel - eine kulturgeschichtliche Betrachtung
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anderen Seite der Welt muß sein eigener Weg sein, auf dem er die<br />
Fähigkeiten sich erwirbt, die Welt tatsächlich von beiden Seiten,<br />
beiden Ufern aus zu betrachten. Er muß selbst die Brücke werden,<br />
die die beiden Ufer verbindet, er kann sich nicht die Brücke bauen<br />
lassen von anderen. Es kommt eben darauf an, wie man ans andere<br />
Ufer gelangt, nicht daß man hingelangt. Wer drüben so ankommt,<br />
wie er hier sich darlebt, hat nichts gewonnen, sondern nur <strong>eine</strong><br />
Hoffnung verloren - die Hoffnung auf sich selbst. Die Hoffnung, daß<br />
in der Gefahr, im Übergang, ja im Untergang ein anderer aus ihm<br />
hervorgeht, <strong>eine</strong>r , der mehr ist als er selbst, als er selber schon<br />
sein kann. So spannt <strong>Till</strong> ein Seil über den Fluß, nachdem er <strong>eine</strong><br />
Zeit lang auf dem ‹Dachboden›, also im ‹Oberstübchen› des<br />
mütterlichen Hauses, geübt hat. <strong>Till</strong> wird zum Seiltänzer. S<strong>eine</strong><br />
eigene Kraft soll ihn selbst zur Brücke machen, soll ihn auf dem<br />
Wege verwandeln in denjenigen, der rechtmäßig am anderen Ufer<br />
ankommt, und dessen Selbst- und Welterleben sich verwandelt hat.<br />
Friedrich Nietzsche sagt über den Seiltänzer:<br />
«Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und<br />
Übermensch - ein Seil über <strong>eine</strong>m Abgrunde.<br />
Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein<br />
gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und<br />
Stehenbleiben.<br />
Was groß ist am Menschen, das ist, daß er <strong>eine</strong> Brücke und<br />
kein Zweck ist; was geliebt werden kann am Menschen, das<br />
ist, daß er ein Übergang und ein Untergang ist.»<br />
(Aus der Vorrede zu ‹Zarathustra›)<br />
Dies alles ist bei <strong>Till</strong> Instinkt, nicht Absicht oder bewußter Entschluß.<br />
S<strong>eine</strong> Natur drängt ihn dazu, den Seiltänzer in sich auszubilden.<br />
Jedes Kind ist solch ein Seiltänzer. Jedes Kind will und muß das<br />
mütterliche Haus verlassen, muß sich verwandeln, muß danach<br />
streben, die Kräfte der Verwandlung aus sich selbst zu holen, aus<br />
dem Gleichgewichtssinn, aus dem Eigenbewegungssinn, aus <strong>eine</strong>m<br />
unbewußten Sich-selbst-in-Frage-Stellen und sich in der instinktiven<br />
Ausübung dieser Frage durch sich selbst, durch s<strong>eine</strong> Gliedmaßen,<br />
die sich in der Welt frei betätigen, zu bewähren.<br />
Indem <strong>Till</strong> das Seil betritt, erlebt er sich selbst ohne den Boden der<br />
Realität, ohne die Last der Bedingungen der physischen Existenz. In<br />
ihm wirken die Bilder s<strong>eine</strong>r Bestimmung unmittelbar als die<br />
leitenden Kräfte s<strong>eine</strong>s Handelns. Er läßt sich nur von s<strong>eine</strong>m<br />
eigenen Willen, s<strong>eine</strong>m in sich selbst geschauten Ziel bestimmen. Er<br />
bewegt sich auf dem Seil aus sich selbst heraus, im Kampf gegen<br />
s<strong>eine</strong> Angst, gegen alles, was ihn an das Herkommen, an die übliche<br />
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