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Schönheit aus Ruß<br />

Betrachtungen zu einigen Blättern von Wolf Kahlen<br />

I<br />

Der erste Blick, eine Menschenlänge auf Abstand, erfasst dunkle, monochrome<br />

Strukturen auf dünnem, hellem Papier. Wie zäh bewegte Rauchwolken in Grau<br />

und Anthrazit quellen sie vor dem sandfarbenen Grund hervor und erwecken die<br />

diffuse Illusion nebliger Ausdehnung und Greifbarkeit.<br />

Tritt man, von solch visueller Haptik angelockt, näher heran, so erkennt<br />

man die feine und immer feiner werdende Binnenstruktur dieser Gebilde. Ihr<br />

wolkiger Eindruck ergibt sich nicht aus modellierten Kurvenscharen, sondern aus<br />

zittrigen, ausfransenden Konturen, die sich in dichten Rhythmen aneinanderfügen.<br />

Der geometrisch, fast kristallin wirkende Umriss dieser Konturen ist scharf<br />

und schwarz; in ihren Zwischenräumen verläuft die unregelmäßige Skala des<br />

Helldunkel.<br />

Immer dichter und kleinteiliger entflechten sich diese geschichteten Lineaturen,<br />

bis man die sensible Oberfläche fast mit der Nase berührt und die Augenschärfe<br />

endet. Die Komplexität des Bildes aber setzt sich, immer zarter werdend,<br />

jenseits der klaren Sichtbarkeit ins Winzige fort. Man bedarf einer Lupe.<br />

Findet der Blick aus dieser kaum fassbaren, überall ähnlichen und doch<br />

in jedem Ausschnitt unterschiedlichen Formenfülle heraus und gewinnt wieder<br />

Abstand, so ergibt sich dem Betrachter eine Flut gedanklich-bildlicher Verbindungen:<br />

Analog zum mathematischen Phänomen der Selbstähnlichkeit scheinen<br />

Mikro- und Makrostruktur, Gesamtgestalt und Detail in ihrer fraktalen Erscheinung<br />

verwandt. (Man vergleiche hierzu eine Verbildlichung der berühmten Mandelbrot-Menge.)<br />

In anderer Hinsicht führt einen die Einbildungskraft zu feinster<br />

Grisaille-Malerei, zu Schraffuren und Kalligraphie, oder zur mikroskopischen<br />

Ansicht eines geschuppten Mottenflügels. Man mag, wie beim Anblick orientalischer<br />

Muster, diese Erscheinungen als zur Meditation anregende Sinnbilder des<br />

Zusammenhanges von Teil und Ganzem, von Ordnung und Chaos auffassen. Im<br />

Konkreten tun sich zudem topographische Verbindungsräume auf, als frontale<br />

Silhouette, ostasiatischen Landschaftszeichnungen ähnlich, oder als Vogelperspektive,<br />

in Erinnerung alter Kartographie und ihrer gestaffelten Höhenlinien. So<br />

mag die Phantasie den Betrachter davontragen, vom ersten Eindruck wallenden,<br />

dreckigen Qualms zum schwarzweißen Luftbild sich auftürmender Berge und<br />

dicht bewaldeter Kuppen, zu Tälern, Böschungen, Küstenlinien, bis hin zur erhabenen<br />

Aufsicht einer Insel, eines Archipels.<br />

51<br />

II<br />

Das Pigment dieser Blätter ist Ruß, ein zumeist ungewolltes Nebenprodukt unvollständiger<br />

Verbrennung, ein Rückstand imperfekter Oxidation. Als eigenständiges<br />

Material und pulvrigen Werkstoff nehmen wir Ruß im Alltag selten wahr; er<br />

tendiert zum Unsichtbaren. Wahrnehmbar sind die dunklen Wolken aus Schloten<br />

und Auspuffrohren, gelegentlich die sich emporwindenden Schlieren nach dem<br />

Verlöschen einer Kerze.<br />

Aus der Fernsicht sind die rot glühende ›verstaubte Sonne‹ und die giftigen<br />

Dreckschwaden am Horizont zu einem moralisch scheinbar eindeutigen Signum,<br />

einer Metapher des Industriezeitalters geworden. Dabei führt schon eine knappe<br />

Betrachtung der Materialmystik des Rußes zu ambivalenter Semantik: Im alten<br />

europäischen Maschinenkapitalismus, im Staatssozialismus allenthalben, sind<br />

rauchenden Schlote Symbol von Fortschritt und Prosperität. Erst der Gedanke<br />

des Umweltschutzes rückt sie in schlechtes Licht. Seit Europa immer häufiger

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