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Der NAGA-Zyklus<br />
Das, was ist und das, was wir denken, dass ist<br />
Das, was hier chinesisch anmutet, ist nicht chinesisch. Original China sind nur<br />
das handgeschöpfte, stark saugfähige Papier und das Erde und Gewässer verschmutzende<br />
alte Motorenöl aus der Tonne der Lastwagenreparaturwerkstatt<br />
gegenüber meinem Wohnatelier auf dem Campus der Zhejiang Universität in<br />
Hangzhou.<br />
Dieses Öl, das sich einsaugt ins Papier, bleibt eine ganze Weile flüssig<br />
lebendig unterwegs, oft wochenlang. Die Ölspur, die ich gelegt habe, begonnen<br />
als klare Linie, lebt vor sich hin und stirbt, wenn sie eintrocknet: Wenn die mitgeschleppten<br />
Eisenspäne und der Ruß, aus explodierenden heissen Motorzylindern,<br />
unterwegs müde und sesshaft geworden sind.<br />
Fast alle westlichen ›Vier Elemente‹ kommen hier zusammen: Das Feuer,<br />
die Erde, die Luft. Nur das Wasser ist längst aus dem handgeschöpften Papier<br />
weggetrocknet. Es würde das Öl empfindlich in seinem Fluss gestört haben.<br />
Aus tibetischer Sicht treffen sich sogar alle ihre ›Fünf Elemente‹: Wasser/<br />
Feuer, Holz/Metall, Luft/Äther, Erde/Fels und Geist/Energie. Das fünfte ist<br />
›die Energie der Idee‹, der sich materialisierende Geist, das, was wir im Westen –<br />
sehr verkürzt – unter Konzept verstehen.<br />
Organisch fließendes, saugendes Wasser mit organischen, fließend gesaugten<br />
Spuren überlasse ich den Aquarellisten, den chinesischen Kalligraphiefreunden,<br />
den verwunderten, in Hangzhou zum Beispiel. Die sofort den Unterschied<br />
zu meinen gesehen haben:<br />
Meine Spuren sind wie auskristallisiert, bauen felsig eine ganz andere Welt.<br />
Der Kalligraph liebt die Linie, ich liebe das Innere der Linie.<br />
Mir sind die tibetischen Elemente näher, das Eisen und Schwefel, Chlor,<br />
Schwermetalle und die Kristalle, die sie wachsen lassen:<br />
Die Welten, die ich bisher nicht kannte, die ich zu überfliege scheine, die<br />
Täler und Höhen, die Schluchten und Gipfel.<br />
Ich gebe unumwunden zu: Ich habe sie nicht geschaffen, ich habe nur den<br />
Anstoß gegeben.<br />
Wie verführerisch doch Umweltverschmutzung auch daherkommen kann.<br />
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Ich weiß nicht mehr, habe es nie gewusst, was mich bewegt hat, gebrauchtes,<br />
riechendes Motorenöl auf feinem Papier Spuren hinterlassen zu lassen.<br />
Zu beobachten, wie es einsinkt , mühsam sich einfrisst und Zentimeter<br />
für Zentimeter seinen Ballast, die erdigen Bestandteile hinter sich lassen muss,<br />
um überhaupt noch weiterzukommen. Schlängelndes erstarrt, eine graziöse Bewegung<br />
friert dickleibig ein. Die Schlange, das Erd- und Wasserwesen, die Naga,<br />
dämmert ein, lauert. Ihre erstarrte Haut aber hat es in sich. Sieht harmlos versteinert<br />
aus, minimalisiert sich oder faltet sich auf wie der Himalaya - und schon<br />
bin ich wieder in Gedanken unterwegs.<br />
Naga, die Erdgeister, die lokalen Gottheiten, Schlangen und Drachen der<br />
hinduistischen und buddhistischen Mythologien, sind auch die Hüter der Schätze,<br />
der Metalle, Edelsteine, Kristalle, der Diamanten und des Goldes und auch<br />
der Kostbarkeiten des Geistes: Der Mahasiddha Nagarjuna verdankt den Naga,<br />
den tibetischen (k)lu, seine Weisheiten. Ebenso der ›Leonardo Tibets‹, Thangtong<br />
Gyalpo einen Teil seiner Mahasiddhakräfte. Naga liegen manchmal langgezogen<br />
in der Landschaft als Drachenberge, sie lauern an Türschwellen und<br />
in Sümpfen, in Höhlen und Baumlöchern, oder leben in Palästen unter Wasser: