6 Das große Wunder von Ilona Dudas-Gürtler
Mit dem Leben, das ist eine komische Sache. Wir wissen nicht, woher wir kommen und nicht, wohin wir gehen. Wir wissen nicht, wie unser Leben verlaufen wird, wie lange wir leben, wann sich etwas in unserem Leben grundlegend ändern wird und überhaupt … Das einzig Sichere im Leben ist der Tod. Alles Leben, was entsteht, vergeht. Darauf ist Verlass. Und doch macht uns das meistens ziemlich zu schaffen, wenn wir begreifen, dass auch wir, also ich selbst, meine Kinder und meine Liebsten, aus dem Leben gehen werden und zwar auch mal unerwartet und ungeplant und viel zu früh und auch mal ganz tragisch oder nach sehr leidvoller Zeit. Das alles gehört zum normalen Leben und trotzdem regt sich in mir Widerstand. Es tobt ein Zwerg in mir und ruft: »Ich will das nicht akzeptieren! Ich will nicht tragisch enden! Keines meiner Kinder soll vorzeitig sterben oder schlimm erkranken! Nicht mein Mann, nicht meine Freundinnen …! Nein! So soll das Leben nicht sein!« Ich erinnere mich an einen Gottesdienst, den ich im Norden Deutschlands besucht habe, bei dem der Pfarrer für einen kürzlich verstorbenen jungen Mann betete, der zwei kleine Kinder und Frau und Familie hinterlassen hatte. Der Pfarrer gab uns danach als Gemeinde im knappen Satz zu bedenken, dass wir alle einmal sterben müssten. Diese Zusage an der genannten Stelle des Gottesdienstes gab mir ein Gefühl großen Trostes. In dem Moment gelang es mir, diese Selbstverständlichkeit des Todes vollkommen zu akzeptieren. Die Be- troffenheit durch den frühen Tod des jungen Vaters wandelte sich direkt in ein Gefühl der Ruhe und der Annahme der Dinge. Es ist alles, wie es ist. Punkt. Und trotzdem ist es eine seltsame Sache mit dem Leben und dem Lauf der Dinge. Erst sind wir so klein, zu vielem unfähig und hilflos, werden groß, können so viel, sind stark und manchmal übermütig, wollen die Welt erobern, verlieren dann von unserer Kraft und merken, dass das Leben auch schwer und traurig sein kann. Dass man auch Federn lässt und Kraft sammeln muss für einen Neubeginn. Und dass es immer wieder Neubeginne gibt, nach dem Hinfallen ein erneutes Aufstehen, manchmal mit Krücken. Ich bewundere oft alte Menschen, die vieles nicht mehr können, die Schmerzen haben und Gebrechen und ihr Leben damit annehmen, tapfer jeden Tag aufstehen und so machen, wie sie können. Alles, was sie tun, dauert eine Ewigkeit. Vieles ist wie bei kleinen Kindern geworden. Es schließt sich ein Kreis. Haben Sie schon einmal wache, neugeborene Babys beobachtet? Aus welchem fernen, wissenden Blick sie die Menschen und die erste Umgebung außerhalb des Mutterleibes betrachten? Als kämen sie von einem anderen Ort und wüssten eine ganze Menge über Dinge, die wir nicht wissen. Doch was ist das für ein ferner Ort, wo sie herkommen, und wie sind sie dort hingekommen? Wenn sich ein Kreis mit dem Altern schließt, könnte es ja sein, dass der Kreis den Menschen wieder zum Ursprung führt. Zum fernen Ort. Und dass dort alles gut ist. Und vielleicht ist der ferne Ort gar nicht so fern, sondern mitten unter uns, ohne dass wir es uns vorstellen können. Möglich ist auch, dass irgendwie alles miteinander zu tun hat: das All, das Leben, das Sterben, der Mensch, die Tiere, die Natur, die Mathematik und alle Gesetze, die es gibt. Dass hinter allem die eine, gleiche Kraft steht, die alles schuf und weiter am Laufen hält. Möglich auch, dass sich immer alles zu Kreisläufen schließt. Aus dem Vergehen wird in der Natur neues Leben. Die neuen Samen bei Pflanzen und Bäumen bilden sich meistens am Verblühten und Vertrockneten. Ein Leben endet und birgt in sich das neue. Verrottetes Biomaterial, wie Laub, wird zum fruchtbaren Dünger. Jedes Unkraut und Geäst, faules Obst und Gemüse, totes Material auf einen Haufen geworfen, verwandelt sich nach einiger Zeit in mineralreiche, Nahrung spendende, wohl riechende dunkle Erde. Alles in der Natur verwandelt sich beständig und bleibt durch den Kreislauf in irgendeiner Weise erhalten. Warum sollten wir Menschen dann verloren gehen? Unbegreiflich, dieses große Wunder, und wir mittendrin. 7 himmel und erde | November – Februar 2013