Vom Werden und Vergehen
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<strong>Vom</strong> <strong>Werden</strong> <strong>und</strong> <strong>Vergehen</strong><br />
Das HELIOS Theater Hamm spielt die großen Themen für die Allerkleinsten – <strong>und</strong> für alle<br />
von Erpho Bell<br />
Spannung im gut gefüllten Foyer des HELIOS Theaters in Hamm. Gut vierzig kleine <strong>und</strong><br />
ebenso viele große Besucher sitzen auf kleinen Bänken. Frühzeitig warten sie an diesem<br />
Sonntagvormittag gemeinsam auf den Beginn von Ha zwei oohh. Die Gesichter der<br />
kleinen Kinder wirken entspannter als die ihrer Eltern <strong>und</strong> Großeltern. Und doch bleiben<br />
sie ganz nah bei ihnen. Hier kennen sie sich nicht aus. Die Situation ist ihnen fremd, aber<br />
nicht unangenehm. Mit der Zeit steigt die Neugier. Unsicher suchen die Kinder-Begleiter<br />
nach Zeichen. Geht es jetzt los? Was muss ich tun? Eine Frau geht von Karree zu Karree<br />
<strong>und</strong> spricht mit den Kleingruppen. Wenige Worte reichen – einige Informationen <strong>und</strong><br />
ein paar Verhaltensregeln. Jetzt geht es gleich los. Es wird etwas stiller im Foyer. Drei<br />
gleich gekleidete Männer erscheinen in der Eingangstür. Sie tragen in jeder Hand einen<br />
vollen Wassereimer <strong>und</strong> über die Schultern ein großes Handtuch. Nicht alle Kinder bemerken<br />
sie sofort. Die Männer schauen jeden Einzelnen an. Es wird leiser im Foyer. Jetzt<br />
durchqueren die Männer den Raum <strong>und</strong> drehen sich vor der Tür zum Theatersaal noch<br />
einmal um. Unschlüssige Stille. Sie fordern mit fre<strong>und</strong>lichen Blicken <strong>und</strong> Kopfnicken alle<br />
auf, ihnen zu folgen. Hierher – auf! Nur zaghaft kommen die ersten Kinder an den Händen<br />
ihrer Eltern dieser Aufforderung nach. Da öffnet sich die große Tür <strong>und</strong> die Männer<br />
mit den Eimern tauchen in das Dunkel des Theatersaals. Im Theatersaal leuchtet eine<br />
Fläche hell <strong>und</strong> blau. Um diese herum stehen Bänke bereit. Die Männer mit den Eimern<br />
treten in die beleuchtete Fläche. Sie beobachten offen, wie sich die Zuschauergruppe<br />
ihre Plätze sucht. Neugierig schauen sich die Kinder die Spielfläche aus sicherer Entfernung<br />
an. Dort über der Folie hängen zwei Eisscheiben. Von ihnen tropft Wasser hinunter<br />
<strong>und</strong> klopft. Es tropft <strong>und</strong> klopft, tropft <strong>und</strong> klopft, tropft <strong>und</strong> klopft …<br />
Mit diesem Tropfen beginnt das Stück Ha zwei oohh. Es ist die dritte von mittlerweile vier<br />
Produktionen des HELIOS Theaters für die Allerkleinsten: Erde, Stock <strong>und</strong> Stein (2005),<br />
Holzklopfen (2008), Ha zwei oohh (2010) <strong>und</strong> Tongestalten (2011). Gerade diese junge<br />
Theaterform gehört fest zur künstlerischen Konzeption des HELIOS Theaters <strong>und</strong> hat es<br />
in Deutschland <strong>und</strong> weit über die Grenzen Deutschlands hinaus noch bekannter gemacht.<br />
Ist ıTheater für die Allerkleinsten„ überhaupt Theater?<br />
Das HELIOS Theater spielt Theater für ein Publikum ab einem Alter von zwei Jahren. Doch<br />
auch jüngere Kinder dürfen die Vorstellungen besuchen. Wesentlich ist die Fähigkeit,<br />
die Situation des Theaterspiels zu erkennen. Die Kinder nehmen wahr, dass jemand<br />
etwas für sie gestaltet. Sie reagieren unmittelbar auf das Geschehen, das sie beobachten.<br />
Allerdings bewerten sie es anders, wenn die Situation als künstlich – also gemacht<br />
– entlarvt werden kann. Ein Beispiel: In Holzklopfen taucht aus den Holzschnitzeln auf<br />
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Holzklopfen, 2008<br />
Michael Lurse, Roman D. Metzner<br />
dem Bühnenboden ein ‚Holzwurm’ auf. Er besteht aus kleinen Holzstücken, die auf einen<br />
schwarzen Faden aufgezogen sind. Dieser Holzwurm erk<strong>und</strong>et die Bühne. Zuerst wandert<br />
er auf dem vorhandenen Holz umher – auf Holzschnitzeln <strong>und</strong> Holzscheiten. Nach<br />
einer Begegnung mit einem riesigen Holzwurm (ein Drache? eine Schlange?) kommt<br />
er ein zweites Mal zu hochkant aufeinander gesetzten Holzscheiten <strong>und</strong> stößt ein paar<br />
von ihnen um. Nur wenige Kinder reagieren. Die meisten Kinder sind unschlüssig: War<br />
das ein Unglück oder Absicht? Der Spieler kommentiert diese Spielsituation mit seiner<br />
Stimme: Geräusche der Überraschung.<br />
Aber erst nach der Wiederholung desselben Vorgangs lachen die Kinder über dieses<br />
‚Missgeschick’ des Holzwurms. Sie haben die Situation als Spielsituation erkannt: Jemand<br />
lässt absichtlich für sie etwas passieren, das sie bewerten können. Diese für das Theaterspielen<br />
gr<strong>und</strong>legende Situationswahrnehmung ist eine Voraussetzung für das Theater<br />
für die Allerkleinsten. Und diese Wahrnehmungsmöglichkeit ist bei Kindern schon sehr<br />
früh vorhanden. Diese Fähigkeit ist zentral in der Aneignung von Fertigkeiten <strong>und</strong> in der<br />
sozialen Interaktion.<br />
Während des Spielens suchen die Spieler immer wieder den Blickkontakt zum Publikum.<br />
Auf diese Weise wird immer wieder deutlich, dass das Spiel für die Zuschauer stattfindet.<br />
Gleichzeitig wird der Kontakt zwischen den Spielern <strong>und</strong> den Zuschauern verstärkt.<br />
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Mit Blick auf eine Vorstellung in Frankreich beschreibt Matthias Damberg die besondere<br />
Verbindung zwischen Spieler <strong>und</strong> Publikum beim Theater für die Allerkleinsten so:<br />
Die Kinder sind in einem Atem mit dem Geschehen auf der Bühne. Wenn da 80 so<br />
kleine Kinder sitzen, ist das wie ein komplett gefüllter Zirkus. Jede Reaktion ist wie eine<br />
riesige Welle. Auf der Bühne merkt man, die fragen sich jetzt: „Was passiert da?“ Und<br />
dann löst sich plötzlich die Anspannung wieder auf – <strong>und</strong> die Energie der Kinder<br />
schwappt fast auf die Bühne. Das ist wie Surfen!<br />
Wiederholungen <strong>und</strong> leichte Veränderungen von Situationen sind wichtige Voraussetzungen<br />
zur Etablierung der Theatersituation für das Theater unerfahrene Publikum. So<br />
lernen die Kinder während der Vorstellung kennen, was Theater ist. Dazu gehört, dass der<br />
Spieler deutlich macht, dass er im Kontakt mit den Zuschauern ist <strong>und</strong> für diese handelt.<br />
Und: Der Spieler lässt Situationen entstehen <strong>und</strong> beendet sie eindeutig – dazu später<br />
mehr.<br />
Der Anfang oder: Wie kommt das Publikum in den Theaterraum?<br />
Barbara Kölling, Regisseurin <strong>und</strong> künstlerische Leiterin des HELIOS Theaters, haben am<br />
Anfang ihrer Theaterarbeiten für dieses Publikum lange die Fragen „Wann fängt das<br />
Holzklopfen, 2008<br />
Michael Lurse, Roman D. Metzner<br />
Theater an? Oder: Wie lasse ich es anfangen?“<br />
beschäftigt. Der Übergang<br />
vom Alltag ins Theater ist ein wesentlicher<br />
Punkt. Viele Zuschauer, nicht nur<br />
die Kinder, kommen beim Theater für<br />
die Allerkleinsten zum ersten Mal mit<br />
Theater in Berührung. Welche Regeln<br />
gelten hier? Wer bin ich hier? Wie muss<br />
ich mich verhalten?<br />
Die Stücke beginnen mit einer Begegnung<br />
zwischen Menschen. Dabei leitet<br />
eine Seite, das Theater, die Regeln<br />
der Begegnung an. Drei Elemente sind<br />
dabei wesentlich. Erstens: Die Spieler<br />
<strong>und</strong> der Musiker sind deutlich von den<br />
Zuschauern zu unterscheiden. Sie tragen<br />
ein Kostüm <strong>und</strong>, wenn sie im Foyer<br />
auftreten, auch ein Requisit oder<br />
ein Instrument bei sich – bei Tongestalten<br />
sitzen die Spieler in ihrem Kostüm<br />
im von Licht begrenzten Bühnen-<br />
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aum. Die Kinder lernen so die Spieler<br />
in ihrer Rolle kennen – als Vertreter des<br />
Theaters. Zweitens: Die Spieler suchen<br />
den Blickkontakt. Sie schauen den Kindern<br />
in die Augen. Ihre Mimik ist dabei<br />
fre<strong>und</strong>lich <strong>und</strong> offen. Drittens: Die<br />
erste Kontaktaufnahme erfolgt über<br />
Körpersprache <strong>und</strong> Musik. Die Begegnungen<br />
werden, anders als gewohnt,<br />
nicht durch direkte Ansprache gestaltet.<br />
So werden künstliche Situationen<br />
geschaffen. Es geht nun ins Theater.<br />
Durch die beiden letzten Elemente<br />
werden den Kindern gleichzeitig auch<br />
die Menschen hinter den Spielern gezeigt.<br />
Bei jeder Produktion experimentiert<br />
das HELIOS-Ensemble mit den<br />
Empfangsritualen.<br />
Im Theaterraum selbst erwarten die<br />
Besucher dann klar abgegrenzte Bereiche:<br />
Hier eine Bühne <strong>und</strong> dort ein<br />
Zuschauerraum. Da die Spieler die Bühne besetzen, nehmen die Kinder ihren Platz im<br />
Zuschauerraum ein. Dieser kleine Vorgang, diese räumliche Abgrenzung des Spiels vom<br />
Zuschauen, schafft die Voraussetzung für die anschließende Theateraufführung. Die Kinder<br />
akzeptieren diese Grenze intuitiv durch die eindeutige Anleitung.<br />
Kleine Kinder haben von sich aus einen natürlichen Respekt oder eine gewisse Zurückhaltung<br />
vor neuen Situationen. Wird diese nicht von außen aufgelöst, bleibt sie bestehen.<br />
Die Spieler ermuntern während des Stückes zum Zusehen, aber nicht zum Mitmachen.<br />
Da der Bühnenraum nicht durch eine Rampe oder andere klassische Bühnenelemente,<br />
wie Vorhang oder Stellwände, eindeutig festgelegt ist, muss das Bühnenbild diese Funktion<br />
mit übernehmen:<br />
Erde, Stock <strong>und</strong> Stein, 2005<br />
Michael Lurse, Roman D. Metzner<br />
- Erde, Stock <strong>und</strong> Stein wird auf einem quadratischen roten Tanzboden gespielt, der<br />
von rohen Holzbrettern zu den beiden Seiten <strong>und</strong> nach hinten eingefasst wird.<br />
- Die Spielfläche von Holzklopfen ist eine achteckige Fläche aus Holzschnitzeln, die<br />
nach hinten noch mit drei Baumscheiben verlängert ist.<br />
- Ha zwei oohh findet auf einer rechteckigen blauen Folie statt, die schräg im<br />
Raum liegt. Hinter der Bühne sind Leinen gespannt. An diesen hängen rechteckige<br />
weiße Tücher, die zusammen eine quadratische Fläche bilden.<br />
- Die Spielfläche von Tongestalten ist ein r<strong>und</strong>es dunkelrotes Bodentuch.<br />
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Dass alle Bühnenräume auf geometrischen Formen aufbauen, unterstützt die klare Abgrenzung<br />
der Spielfläche vom Zuschauerraum. Doch dass die Bühne dies leisten muss,<br />
war nicht von Anfang an klar. Barbara Kölling beschreibt den Prozess aus den Proben mit<br />
einem Probepublikum bei Holzklopfen so:<br />
Am Anfang lagen die Holzspäne wild verstreut <strong>und</strong> es war so, dass die Kinder alle<br />
heranrückten <strong>und</strong> diese anfassen <strong>und</strong> damit spielen wollten. Dann haben wir dem<br />
Spielbereich eine klare Begrenzung gegeben <strong>und</strong> es passierte nicht mehr.<br />
Die Geschichten des Theaters für die Allerkleinsten<br />
Wie entsteht etwas, wie lebt es <strong>und</strong> vergeht? Diese <strong>und</strong> weitere Fragen entstehen aus<br />
den Beobachtungen, die die Mitwirkenden der jeweiligen HELIOS-Produktion im Umgang<br />
mit einem bestimmten Material machen: Erde, Holz, Steine, Ton, Wasser, Wolle sind die<br />
Materialien, die bislang in den Stücken Ausgangspunkte der Recherchen waren.<br />
Bei der Entwicklung der Stücke begeben sich die Ensembles in die Materialien hinein.<br />
Was kann das Material <strong>und</strong> welche Bedeutung hat es für uns? Bei den Vorarbeiten für<br />
Erde, Stock <strong>und</strong> Stein hatte Michael Lurse ein Schlüsselerlebnis:<br />
Es war so, dass ich mich gefragt habe, wie wächst da eigentlich was? Was braucht<br />
es, damit auf einem Feld etwas wachsen kann – möglichst ohne Chemie? Und dann<br />
bin ich mit einem Biobauern auf sein Feld gegangen. Er hat mich zwei St<strong>und</strong>en lang<br />
herumgeführt. Er hat mir gezeigt, warum auf seinem Acker etwas wächst <strong>und</strong> was<br />
dafür notwendig ist. Und dann hat er mir gezeigt, dass in seiner Erde Milliarden von<br />
ganz kleinen Löchern sind. Die kann man nur sehen, wenn man sich herunterbeugt.<br />
Und da kann der Sauerstoff in die Erde hinein. Damit etwas wachsen kann, braucht es<br />
eine Konsistenz von Erde, in der Sauerstoff zirkulieren kann. Und man muss die Steine<br />
in der Erde lassen, sonst hat die Pflanze keine Mineralien mehr. Das war für mich ein<br />
Schlüsselpunkt für das ganze Projekt: Die Pflanzen brauchen Sauerstoff in der Erde<br />
zum Wachsen. Sauerstoff muss also in die Erde können. Und das hat im Gr<strong>und</strong>e den<br />
wesentlichen Impuls für die künstlerische Konzeption der Produktion gegeben – durch<br />
den Biobauern ist eine Dramaturgie entstanden.<br />
Aus dieser Begegnung heraus entstand die Idee für den rechteckig geformten Erdquader,<br />
der während des Stückes ‚belebt’ wird. Gleichzeitig wurde so das passende Instrument<br />
gef<strong>und</strong>en: die Trompete.<br />
Das Material bringt die Geschichten mit. Die Recherchen sind der Ausgangspunkt für die<br />
Proben. Dort wird dann spielerisch mit den Möglichkeiten des Materials gearbeitet. Das<br />
Ergebnis ist spielerisch, will aber nichts ‚erklären’. Anschaulich wird die Übersetzung von<br />
Vorgängen aus der Natur des Materials in das Theater für die Allerkleinsten besonders<br />
an einem Beispiel aus Holzklopfen: Wie lässt sich das Wachsen eines Baumes auf der<br />
Bühne zeigen? Barbara Kölling:<br />
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54<br />
Erde, Stock <strong>und</strong> Stein, 2005<br />
Michael Lurse, Roman D. Metzner
Wir haben zuerst überlegt, ob wir<br />
Projektionen von Bäumen zeigen.<br />
Auslöser war die Frage: Was machen<br />
wir mit Vorgängen oder Abläufen,<br />
die in der Natur stattfinden,<br />
die sich nicht ohne weiteres auf<br />
die Bühne bringen lassen? Ganz<br />
schnell war klar, dass solche Projektionen<br />
kitschig wirken, <strong>und</strong> haben<br />
auf sie verzichtet. Aber ich wollte<br />
unbedingt Wachstum zeigen. Und<br />
dann haben wir weiter gesucht. So<br />
ist die große Figur entstanden, die<br />
aus dem Holz heraus- <strong>und</strong> über ein<br />
Seil nach oben gezogen wird. Das<br />
ist unsere Übersetzung dieses Vorgangs<br />
auf die Bühne.<br />
In der Ausarbeitung der Stücke ist das<br />
Ensemble sehr genau. Nur mit dieser<br />
Ernsthaftigkeit im Umgang mit dem<br />
Material ist es möglich, zusammenhängende Vorgänge zu entwickeln. Bei Holzklopfen<br />
war die Übersetzung des Wachstums auf die Bühne gr<strong>und</strong>legend für die gesamte Erzählweise<br />
des Stückes.<br />
<strong>Werden</strong> <strong>und</strong> <strong>Vergehen</strong> ist jedem Material eigen. Damit begegnet uns in der Materialbetrachtung<br />
zugleich auch das elementarste Themenpaar des Theaters: Leben <strong>und</strong> Tod.<br />
Dramaturgisch ermöglicht dieses Paar die Entwicklung von Spielszenen. Aus dem <strong>und</strong><br />
mit dem Material werden in allen Stücken szenische Momente entwickelt. Scheinbar ‚totes’<br />
Material wird belebt. Spieler, die das Material beleben, sind immer sichtbar. So wird<br />
auch die Beziehung des Menschen zum Material auf der Bühne thematisiert:<br />
- Die Figuren bauen etwas aus dem Material <strong>und</strong> zerstören es oder es wird zerstört.<br />
- Die Figuren entstehen aus dem Material <strong>und</strong> werden selbst wieder zerstört.<br />
- Die Figuren begegnen anderen Figuren, Beziehungen entstehen <strong>und</strong> vergehen.<br />
- Figuren zerstören oder bekämpfen andere Figuren. Dabei werden die Figuren<br />
<strong>und</strong>ramatisch einfach wieder zu den Materialien, aus denen sie bestehen.<br />
Bei der Material-Erk<strong>und</strong>ung verwendet das HELIOS Theater alle möglichen Quellen –<br />
Naturwissenschaft, Philosophie, Expertenwissen… Im Zusammenspiel der Erkenntnisse,<br />
des Spielspaßes <strong>und</strong> der Dramaturgie entstehen so Stücke, die alle Altersklassen<br />
ansprechen – aber eben auch die Allerkleinsten.<br />
Tongestalten, 2011<br />
Katja Wiefel, Manuel Loos<br />
Die dramatische Fabel, die Geschichte des Stückes, lässt sich als Handlung stets in wenigen<br />
Worten zusammenfassen. Doch der Rhythmus des Stückes lässt sich nicht auf die<br />
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Handlung reduzieren: jener inszenierte Wechsel zwischen Spannung <strong>und</strong> Entspannung<br />
für die Spieler <strong>und</strong> die Zuschauer innerhalb des Stückes – von aktionsreichem Spiel bis<br />
zu absoluter Ruhe. Dieser Wechsel ist besonders entscheidend im Umgang mit der Konzentrationsfähigkeit<br />
der allerkleinsten Zuschauer. Dieser Rhythmus <strong>und</strong> der respektvolle<br />
Umgang mit dem Material, der Ruhe <strong>und</strong> Zeit erfordert, bringen immer wieder meditative<br />
Momente hervor. Während des Stücks haben alle Zeit: Spieler <strong>und</strong> Zuschauer,<br />
sich gemeinsam zu konzentrieren – wie beispielsweise auf Holz oder auf Wasser. Dabei<br />
führen die Spieler weit in die Eigenschaften <strong>und</strong> Fähigkeiten des Materials hinein…<br />
Die Arbeit am Stück wird schon früh von einem Probepublikum begleitet. Meist zehn<br />
Tage nach Probenbeginn sehen die ersten Kinder die bis dahin entwickelten Szenen.<br />
Für die Regie sind diese Begegnungen aber auch kreative Impulse: „Durch die Art <strong>und</strong><br />
Weise, wie rezipiert wird, komme ich zu ganz neuen Gedanken <strong>und</strong> Ideen.“ (Barbara<br />
Kölling)<br />
Theaterspielen für die Allerkleinsten<br />
Theater für die Allerkleinsten braucht sehr direkte Spielweisen. Die Allerkleinsten reagieren,<br />
wie alle Kinder, unmittelbar auf das Gesehene. Interessiert oder betrifft sie das Spiel<br />
nicht, beschäftigen sie sich mit anderen Sachen. Deshalb müssen die Spieler die Konzentration<br />
der Zuschauer sehr genau spüren <strong>und</strong> lenken. Dabei steht die Situation – <strong>und</strong><br />
zwar jede Spielsituation – für sich allein. Jedes Entdecken <strong>und</strong> jedes Entwickeln muss mit<br />
wirklicher Neugier <strong>und</strong> tatsächlichem Spaß des Spielers erfolgen. Matthias Damberg<br />
beschreibt dies aus seiner Arbeit in Ha zwei oohh so:<br />
Als Spieler darfst du nicht in ein ‚So tun, als ob’ kommen oder in ein ‚Oh!’, um dem<br />
Zuschauer zu verdeutlichen, dass das jetzt etwas Erstaunliches war. Du musst dich<br />
ständig zurücknehmen. Du musst möglichst nüchtern bleiben, ganz in der Wahrnehmung.<br />
Selber richtig hören. Nicht den Effekt spielen, sondern richtig hinschauen <strong>und</strong><br />
das Phänomen beobachten. Alle Abläufe <strong>und</strong> Ereignisse jedes Mal so beobachten<br />
<strong>und</strong> hören <strong>und</strong> wahrnehmen, als wenn es das erste Mal wäre.<br />
Das Theaterspielen so anzulegen ist keine neue Erfindung. Sie ist im aktuellen Schauspiel<br />
häufig anzutreffen. Mit ihr löst sich die klassische Theaterfigur mehr <strong>und</strong> mehr auf. Sie<br />
wird zu einer Haltung <strong>und</strong> Reaktion in der spezifischen Situation. Und genau solche spezifischen<br />
Situationen braucht das Theater für die Allerkleinsten, um die vorsprachliche<br />
Verbindung zu diesen Zuschauern zu erreichen.<br />
Der nicht-sprachliche Bereich gehört schon sehr lange zur künstlerischen Suche des<br />
HELIOS Theaters. Barbara Kölling hat „viel mit Puppenspielern, mit Tänzern <strong>und</strong> immer<br />
viel mit Musik gearbeitet“. Bei den ersten Begegnungen mit dem Theater für die Allerkleinsten<br />
wurde ihr bewusst, „dass hier künstlerisch hochinteressant gearbeitet werden<br />
kann.“<br />
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Ha zwei oohh 2010<br />
Matthias Damberg, Michael Lurse, Roman D. Metzner<br />
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In der szenischen Umsetzung muss der Blick der Zuschauer gelenkt werden. Hintergr<strong>und</strong><br />
ist eine konzeptionelle Entscheidung: Das Material soll mit seinen Geschichten im Vordergr<strong>und</strong><br />
bleiben. Von einer früheren Arbeit – Aus dem Haus heraus (2003) – berichtet<br />
Barbara Kölling:<br />
Je mehr Geschichten wir erzählen, umso mehr verschwindet das Material – es ist<br />
dann nur Requisite <strong>und</strong> Bühnenbild. Die Geschichte drängt sich nach vorn. Und das<br />
ist unser Untersuchungs-Fokus geworden.<br />
Wie kriege ich das Material stark?<br />
Wie bringe ich es dazu, dass es seine Geschichten erzählt?<br />
Mit dem zweiten Spieler bei Ha zwei oohh kamen mehr spielerische Möglichkeiten auf<br />
die Bühne, die aber auch Probleme mit sich brachten. Die beiden wichtigsten Probleme<br />
in den Proben waren: Erstens nicht zu sehr in das Spiel miteinander zu verfallen <strong>und</strong> so<br />
das Material <strong>und</strong> das Publikum aus den Augen zu verlieren; zweitens die Konkurrenz der<br />
Spieler um die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu verringern.<br />
Barbara Kölling musste auf den Proben häufig das Spiel der beiden Männer, die mit<br />
Wasser spielen, umlenken:<br />
Im Prozess war das manchmal schwierig, weil sich die Beziehungsebenen zwischen<br />
den männlichen Spielern nach vorn drängten. Sie sollten nicht die zentrale Rolle<br />
spielen. Aber es passiert wahnsinnig schnell – dieses typische Schauspiel sozusagen.<br />
Man meint, man hat da irgendwas miteinander, aber darum ging es gar nicht. Wir<br />
mussten im Gr<strong>und</strong>e die Situationen immer wieder auf das Material zurückführen.<br />
Musik als Mitspieler im Theater für die Allerkleinsten<br />
Roman D. Metzner sieht sich in seiner Arbeit im HELIOS Theater mit den elementaren<br />
Fragen der Musik konfrontiert: „Fragen wie: Was ist überhaupt Musik? Was ist Klang? Was<br />
ist Ton? Was ist Rhythmus?“ Im Zusammenhang mit dem jeweiligen Material spürt er<br />
den Antworten auf unterschiedliche Art nach. Er hat bei allen vier Produktionen Musik<br />
gemacht oder diese mit verantwortet. Er beschreibt die Bedeutung der Musik bei<br />
Ha zwei oohh fogendermaßen:<br />
Die Musik ist kaum sichtbar, sie ist unscheinbar. Zentral war die Idee des Fließens. Ich<br />
wollte keine Kontraste oder Kontrapunkte zur szenischen Handlung setzen. Ich habe<br />
versucht, zu verweben – die So<strong>und</strong>s von der Bühne mit denen, die im Zuschauerraum<br />
passieren. Es ist logisch, dass man das dann schnell überhört, aber es trägt<br />
zur Stimmung bei <strong>und</strong> zur Aufmerksamkeit. Mir ging es bei dieser Produktion gar nicht<br />
darum, Musik zu machen, sondern Sensibilität <strong>und</strong> Aufmerksamkeit zu erzeugen. Nur<br />
indem ich Musik spiele oder weglasse.<br />
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Der Weg zur richtigen Musik ist mindestens ebenso schwierig wie das Entwickeln der richtigen<br />
szenischen Abläufe. Michael Lurse:<br />
Das Finden der richtigen Musik für das Stück Ha zwei oohh war das bislang Schwierigste<br />
in unseren Theaterprojekten. Die Frage war: Welchen Impuls gibt sie ins Spiel?<br />
Wie ist sie mit dem Wasser verb<strong>und</strong>en? Bei Erde, Stock <strong>und</strong> Stein war irgendwann klar:<br />
Luft = Trompete. So etwas war beim Wasser viel schwieriger zu finden.<br />
Roman D. Metzner zu seiner Konzeption:<br />
Ich spiele bei Ha zwei oohh nur Strukturen. Ich wollte auf musikalischer Ebene einen<br />
Zugang zum Wasser finden, der dem Verhalten von Wasser entspricht. Aber Wasser<br />
kann man nicht 100 Prozent genau lenken, man weiß nie, was passiert. Dieses Problem<br />
habe ich versucht, in Musik umzusetzen. Das Gr<strong>und</strong>instrument ist für mich dabei<br />
ein Zufallsgenerator. Der erzeugt gewisse Töne, die ich nur in der Lautstärke <strong>und</strong> in<br />
der Anzahl der Töne steuern kann. Doch nur der Zufallsgenerator entscheidet, wann<br />
er welchen Ton spielt.<br />
Am Faden entlang, 2013<br />
Lisa Maria Heigl, Anna-Sophia Zimniak, Michael Lurse<br />
59
Während des Stückes ist die Musik<br />
ein Teil des szenischen Geschehens.<br />
Deshalb findet die Musik auch in den<br />
vier Produktionen offen sichtbar auf<br />
der Bühne oder in ihrer Nähe statt. Bei<br />
Erde, Stock <strong>und</strong> Stein ist die Trompete<br />
ein wichtiges Element, das in einer<br />
Szene beispielsweise das Atmen des<br />
Spielers hörbar macht. Teilweise wird<br />
das Musizieren selbst zum szenischen<br />
Vorgang: Bevor der Musiker die Trompete<br />
laut spielt, stellt er sich deutlich<br />
sichtbar hinter der Bühne auf <strong>und</strong> atmet<br />
sehr tief ein. So wird das Spielen<br />
des Instrumentes zur eigenen Szene<br />
im Spiel. Und weil der Vorgang so offen<br />
gezeigt wird, macht der laute Ton<br />
den Kindern keine Angst.<br />
Aus dem Theater hinaus<br />
Die Stücke enden <strong>und</strong> enden doch<br />
nicht. Es gibt in allen Produktionen des<br />
HELIOS Theaters den Punkt, an denen das inszenierte Spiel endet. Hier wird auch applaudiert.<br />
Dieser Punkt folgt allein der Konzeption der einzelnen Produktion.<br />
In Tongestalten endet eine Spielszene <strong>und</strong> nur die Haltung der Spieler vermittelt, dass es<br />
jetzt auf der Bühne nicht mehr weitergeht, dass kein neues Spiel entsteht. Bei Holzklopfen<br />
dürfen die Kinder am Ende verschiedene eigene Wege durch das Bühnenbild gehen,<br />
begleitet von dem Spiel des Musikers auf dem Balaphon.<br />
Konzeptioneller Gedanke war hier: Es soll eine – allerdings inszenierte – Bewegung der<br />
Kinder durch die Bühne geben. Der Spieler schiebt in der Holzschnitzel-Fläche Wege mit<br />
einer Schaufel frei. Anschließend lädt er die Kinder ein, den Wegen zu folgen. Während<br />
die Kinder durch den Raum laufen, öffnet er weitere Wege – ein Wegenetz entsteht. Die<br />
Kinder müssen selbst entscheiden, welchen Weg sie gehen. Der eigene Aufbruch – das<br />
eigene Wachsen. Barbara Kölling:<br />
Tongestalten, 2011<br />
Katja Wiefel, Manuel Loos<br />
Was passiert in diesem Freiraum? Wahrscheinlich gibt es viele Kinder, die hier zum<br />
ersten Mal entscheiden, gehe ich in meinem Leben jetzt in dieser Sek<strong>und</strong>e nach links<br />
oder nach rechts? Und dann siehst du wirklich, wie ein Kind erst einmal eine Minute<br />
stehen muss, <strong>und</strong> dann entscheidet es sich weiterzugehen oder es entscheidet sich,<br />
umzudrehen <strong>und</strong> wieder zur Mama zu gehen.<br />
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Nach <strong>und</strong> nach wurde für jede Produktion eine Anschlussbegegnung mit dem Material<br />
erarbeitet: Möhren in einem Erdklumpen, die gemeinsam gegessen werden können;<br />
Holzstücke, mit denen gebaut <strong>und</strong> gespielt werden kann; Strohhalme, mit denen Schiffe<br />
angetrieben werden oder ins Wasser geblasen wird; Ton, der geknetet <strong>und</strong> geformt<br />
werden darf. So bestimmen die Zuschauer selbst, wann das Stück im Theater oder im<br />
Theaterfoyer endet.<br />
Theater für die Allerkleinsten = Elementartheater<br />
Das Theater für die Allerkleinsten des HELIOS Theaters nähert sich mit einem hohen<br />
künstlerischen <strong>und</strong> konzeptionellen Anspruch seinen Themen. Die eigene Auseinandersetzung<br />
ist die Basis für die inhaltliche Herangehensweise. Das macht dieses Theater<br />
künstlerisch so anspruchsvoll. Das Ensemble gibt sich nicht mit einfachen Spielformen<br />
zufrieden. Es geht den Materialien auf den Gr<strong>und</strong> – findet eine eigene Fragestellung im<br />
Umgang mit dem Material.<br />
Das HELIOS Theater versteht diese Produktionen auch als politisches Theater. Im Zentrum<br />
stehen der respektvolle Umgang mit einem Material <strong>und</strong> seine Bedeutung für den Menschen.<br />
Auffallend ist, dass die Stücke zu den gr<strong>und</strong>legenden, den elementaren Dingen<br />
zurückkommen. Da ist zunächst einmal das Material selbst: die Elemente Erde, Wasser<br />
<strong>und</strong> Luft; dann die Spielweise der Spieler, ganz elementar aus der Situation <strong>und</strong> der<br />
Begegnung von Mensch zu Mensch; in der Musik sind es die großen Fragen nach Ton,<br />
Klang <strong>und</strong> Rhythmus; in der Dramaturgie nach dem elementarsten Paar des Dramas<br />
– Leben <strong>und</strong> Tod; <strong>und</strong> das Puppenspiel kreist um das Entstehen <strong>und</strong> <strong>Vergehen</strong> aus dem<br />
Material. Nicht zuletzt wird der pädagogische Bereich der vorschulischen Förderung,<br />
Bildung <strong>und</strong> Erziehung als Elementarbildung bezeichnet. Deshalb: Elementartheater.<br />
Das aktuelle Projekt auf europäischer Ebene, an dem von deutscher Seite das HELIOS<br />
Theater beteiligt ist, trägt den Titel „small size – big citizens“ (2009–2014) – frei übersetzt:<br />
„Kleine Größe – große Bürger“. In dieser Dimension ist dieses Theater zu sehen. Das ist<br />
die angemessene künstlerische <strong>und</strong> politische Ebene.<br />
Auf die Frage, ob es ‚Theater für die Allerkleinsten’ / ‚Elementartheater’ geben muss,<br />
lautet die Antwort: Ja! Es gibt keinen Gr<strong>und</strong>, warum man den Kindern in diesem Alter<br />
künstlerische Impulse vorenthalten sollte.<br />
Erpho Bell (geb. 1973) studierte Germanistik, Kunstgeschichte <strong>und</strong><br />
Philosophie in Bochum, Münster <strong>und</strong> Osnabrück. Nach dem Studium<br />
arbeitete er als Schauspieldramaturg am Stadttheater Bremerhaven<br />
<strong>und</strong> als leitender Dramaturg am Schlosstheater Moers. Erpho Bell<br />
schreibt Theaterstücke <strong>und</strong> Kinderbücher, inszeniert Theaterprojekte<br />
<strong>und</strong> unterrichtet in Seminaren <strong>und</strong> Workshops.<br />
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