BLICK - OPUS - Universität Würzburg
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Die Welt zwischen Null und Unendlich<br />
Kaum zu glauben: Mathe ist wieder in Mode. Bücher wie „Die Universalgeschichte der Zahlen“<br />
und „Der Zahlensinn“ sind Bestseller. Wer hätte damit gerechnet? Von Hilmar Schmundt<br />
Acht Uhr, der Wecker klingelt. Gefühlte<br />
Zeit: halb sechs. Raus aus<br />
dem Bett. Ein Blick auf die Waage:<br />
fünf Kilo zuviel. Zum Frühstück also<br />
nur einen Viertelliter Vierfruchttee, 40<br />
Kilokalorien. Die sieben Sachen packen<br />
und warm anziehen, es soll um die null<br />
Grad sein, sagen sie auf Hundertkommasechs,<br />
aber zwanzig Prozent Regenrisiko.<br />
Auf dem Weg zur U3 gießt es<br />
natürlich in Strömen. „Es ist fünf vor<br />
zwölf“, jammert der Buchhalter, das<br />
dreizehnte Gehalt falle aus, hundertpro.<br />
Darauf erst mal eine R1 anzünden.<br />
Mit Zahlen ordnen wir die Welt. Hoffen<br />
auf den Sechser im Lotto und zitterten<br />
vor dem Jahr 2000. Flüstern einander<br />
Telefonnummern zu, plaudern<br />
über Börsenkurse, Wahlergebnisse und<br />
Sehstärken. Zahlen erzählen unser Leben.<br />
„Die Welt ist Zahl“, wusste schon<br />
Pythagoras. Doch für ihn galt die Mathematik<br />
als Gottesdienst, die Zahlen<br />
gehörten für ihn der unirdischen Welt<br />
der reinen Ideen an.<br />
Heute findet ein Umdenken statt, die<br />
Zahlen werden eingebürgert in das<br />
Alltagserleben. Die ägyptische Pyramidenzahl<br />
Pi ziert heute ein mißratenes<br />
Parfümfläschchen von Givenchy. Im<br />
Internet streiten die Fanclubs, ob nun<br />
Die Macht der Zahlen<br />
die Zahl Pi (3,14...) oder die Zahl Phi<br />
(1,61...) cooler sei. Hans Magnus Enzensberger<br />
legt mit „Der Zahlenteufel“<br />
ein Mathebuch für Kinder vor und hält<br />
eine Rede auf dem Weltmathematikerkongress<br />
in Berlin. Und nach dem Jahr<br />
der Geisteswissenschaften, dem Informatik-<br />
und dem Einsteinjahr hat jetzt<br />
die Initiative „Wissenschaft im Dialog“<br />
2008 zum „Jahr der Mathematik“ erklärt.<br />
Mathematik ist die älteste Science-<br />
Fiction der Menschheit<br />
Rechnen gilt neuerdings nicht mehr als<br />
eine Sonderbegabung von Genies, sondern<br />
wahlweise als Hobby, Berufsqualifikation<br />
oder genetische Grundfertigkeit.<br />
Der menschliche Körper sei unser<br />
erster Mathelehrer, schreibt der französische<br />
Mathematik-Anthropologe<br />
Georges Ifrah in seinem sechshundertseitigen<br />
Bestseller „Universalgeschichte<br />
der Zahlen“. Die Hand sei die erste<br />
Rechenmaschine gewesen. Und gäbe es<br />
Menschen mit zwölf Fingern, würden<br />
sie sicher nicht im Zehnersystem rechnen,<br />
wie wir es tun.<br />
Zahlen sind älter als Worte, vermutet<br />
der Neurologe Stanislas Dehaene<br />
gar in seinem französischen Bestseller<br />
„Der Zahlensinn“. Bei seinen Experimenten<br />
stieß er auf das Zentralorgan<br />
der Zahlenwelt: den Parietallappen,<br />
eine Gehirnregion, wo sich auch Hör-,<br />
Seh- und Tastsinn treffen. Dehaene<br />
fordert, Schulmathematik weniger formal<br />
zu lehren und mehr das natürliche,<br />
kreative Zahlenempfinden zu fördern.<br />
In den USA tobt eine Kontroverse um<br />
die „Multikulturelle Mathematik“, von<br />
ihren Gegnern „Jungle Math“ genannt,<br />
denn außer Algebra wird den Schülern<br />
unter anderem die Geschichte der Mathematik<br />
vermittelt, inklusive der Rechenweise<br />
des Dogon-Stammes.<br />
Es gelte heute, die Lücke zwischen<br />
Zählen und Erzählen wieder zu schließen,<br />
mahnt der Mathematiker John<br />
Allen Paulos. Und der Wissenschaftler<br />
Pierre Basieux schreibt: „Mathematik<br />
ist die wohl älteste Science-Fiction der<br />
Menschheit, das älteste Spiel mit vorwiegend<br />
virtuellen, in unseren Köpfen<br />
existierenden Realitäten.“<br />
Die Texte in den Kolumnen „Die<br />
Macht der Zahlen“ auf den folgenden<br />
Seiten sind eine Expedition in die Welt,<br />
die sich zwischen null und Unendlich<br />
auftut, zwischen Vernunft und Magie.<br />
Ein Science-Fiction-Abenteuer, das wir<br />
täglich erleben.<br />
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öffnete er eine Rechenschule, dann veröffentlichte er um<br />
1520 sein berühmtes Rechenbuch, durch das er die arabischen<br />
Zahlen popularisierte und mit ihnen den „Drei-<br />
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satz“. Die damals noch junge Technik des Buchdruckes<br />
erwies sich als perfekte Plattform 0für das importierte „Rechenprogramm“.<br />
Paradoxerweise ermöglichte erst die Null die Schreibung<br />
sehr großer Zahlen, ohne ständig neue Zeichen erfinden<br />
zu müssen: Im alten Rom endeten die Ziffern einfach bei<br />
10.000, erst die Null eröffnete den Ausblick in die Unendlichkeit.<br />
Null - Schwarzmagische Zahl und Rechenmaschine<br />
Die Null ist vielleicht die wichtigste Erfindung der Mathematik,<br />
und das arabische Zahlensystem die Grundlage<br />
aller neuzeitlichen Wissenschaft und Wirtschaft. Durch die<br />
Null wurden Zahlen zu virtuellen Rechenmaschinen, mit<br />
denen sich schriftlich multiplizieren und subtrahieren ließ.<br />
Die klobigen lateinischen Zahlen dagegen taugten nur zum<br />
Zählen. Man könnte vermuten, das römische Reich ging an<br />
diesem Zahlen-Analphabetismus zugrunde.<br />
Die Null selbst ist nichts, steht sie jedoch in unserer<br />
Schreibweise rechts von einer Ziffer, so verzehnfacht sie<br />
diese – „Teufelswerk“, so befanden die Menschen in Europa<br />
im Mittelalter. Dieser Glaube an die schwarzmagische<br />
Kraft der neuen Zahlenschreibung verhinderte jahrhundertelang<br />
die flächendeckende Einführung der Null. „Sifr“<br />
hieß die Null auf arabisch, und dass dieses Wort heute alle<br />
„Ziffern“ bezeichnet, liegt auch daran, dass vielerorts we-<br />
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gen der Null gleich alle arabischen Zahlen verboten waren.<br />
Doch durch den Aufschwung des europäischen Handels<br />
entstand Bedarf nach besseren Rechenverfahren. In<br />
Deutschland war es Adam Ries, im sächsischen Dialekt<br />
auch Riese genannt, der die Marktlücke erkannte: Erst er-<br />
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