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bis ich erreicht habe, was ich will! - Lebenswege für Menschen mit ...

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Um mein zweites Lebensjahr herum wurde <strong>ich</strong> in der Uni-Klinik Frank-<br />

furt/Main untersucht und eine Hirnschädigung diagnostiziert, die eine<br />

spastische Tetraplegie zur Folge hat. Seither wurde <strong>ich</strong> krankengym-<br />

nastisch gefördert und gefordert. Auch heute fahre <strong>ich</strong> einmal in der<br />

Woche zur Krankengymnastik und freue m<strong>ich</strong> regelmäßig über die<br />

kleinen und großen Fortschritte in meiner Bobath-Therapie. Zudem<br />

hatte und <strong>habe</strong> <strong>ich</strong>, auch einmal wöchentl<strong>ich</strong>, Logopädie. Weil <strong>ich</strong><br />

weiß, dass <strong>ich</strong> durch meine Behinderung besonders <strong>für</strong> Außenste-<br />

hende schwer verständl<strong>ich</strong> bin, ist es mir besonders w<strong>ich</strong>tig, sprach-<br />

l<strong>ich</strong> gefördert zu werden. Letztendl<strong>ich</strong> bleibt mir als Einziges meine<br />

Sprache, um das in meinem Leben zu erre<strong>ich</strong>en, <strong>was</strong> <strong>ich</strong> erre<strong>ich</strong>en<br />

möchte! Ich <strong>habe</strong> einen Therapieplatz an der Schule <strong>für</strong> Logopädie in<br />

Berlin-Mitte.<br />

Natürl<strong>ich</strong> kann <strong>ich</strong> nur einige Etappen wiedergeben. Das würde den<br />

Rahmen dieser Veröffentl<strong>ich</strong>ung sprengen. Aber <strong>für</strong> besonders inte-<br />

ressant halte <strong>ich</strong> den Weg wie es zu meiner Einschulung kam:<br />

Als <strong>ich</strong> schulpfl<strong>ich</strong>tig wurde, gab es in meiner Heimatstadt Osna-<br />

brück in Niedersachsen noch keine schulische Förderung <strong>für</strong> körper-<br />

oder auch mehrfach behinderte Kinder. Meine Eltern fuhren mehrere<br />

hundert Kilometer im Landkreis Osnabrück umher, um andere Eltern<br />

ausfindig zu machen, die auch ein behindertes Kind im schulpfl<strong>ich</strong>-<br />

tigen Alter <strong>habe</strong>n. Dem unermüdl<strong>ich</strong>en Einsatz meiner Eltern ist es<br />

zu verdanken, dass im August 1968 die erste Sonderschulklasse <strong>für</strong><br />

behinderte Kinder eröffnet wurde!<br />

Aber schon nach drei Wochen hatte <strong>ich</strong> die Nase von der Schule voll.<br />

Das lag aber n<strong>ich</strong>t am hoch motivierten und ehrgeizigen Lehrer, der<br />

stets das Ziel erre<strong>ich</strong>t hat, uns nach Lehrplänen der allgemein bil-<br />

denden Hauptschule zu unterr<strong>ich</strong>ten. Sondern wir mussten erkennen,<br />

dass <strong>ich</strong> motorisch gar n<strong>ich</strong>t in der Lage war, handschriftl<strong>ich</strong> zu schrei-<br />

ben. Eine Schreibmaschine sollte dieses Problem lösen. Nach langen<br />

Verhandlungen <strong>mit</strong> dem Sozialamt hatte <strong>ich</strong> viele Wochen später eine<br />

elektrische Schreibmaschine auf dem Tisch stehen! Und schon kam<br />

die nächste Enttäuschung ans L<strong>ich</strong>t. Ich konnte auf ihr n<strong>ich</strong>t schrei-<br />

ben! Meine Hände sind einfach motorisch zu ungeschickt, um gezielt<br />

die Taste zu drücken, die <strong>ich</strong> drücken <strong>will</strong>. Ich <strong>habe</strong> meistens mehrere<br />

Tasten gle<strong>ich</strong>zeitig gedrückt oder Tasten, die neben der gewünschten<br />

waren. Und wieder konnte mir mein Vater helfen. Er hat zu dieser<br />

Zeit in einem Stahlwerk gearbeitet. Mein Vater hatte die Idee, die<br />

Tasten der Schreibmaschine komplett »hinter Gitter« zu legen. Als die<br />

selbst angefertigte Lochplatte auf der Tastatur geschraubt war, stand<br />

meiner schulischen Laufbahn n<strong>ich</strong>ts mehr im Weg. Seither kann <strong>ich</strong><br />

ohne Schwierigkeiten schreiben. Mitte der Neunziger wurde aus der<br />

Schreibmaschine ein Computer, aber die Lochplatte auf der Tastatur<br />

ist weiter ein unverz<strong>ich</strong>tbares Hilfs<strong>mit</strong>tel <strong>für</strong> m<strong>ich</strong>. Im Nachhinein hat<br />

s<strong>ich</strong> mein Vater sehr geärgert, seine Idee n<strong>ich</strong>t patentieren zu las-<br />

sen. Eine Lochplatte über einer Tastatur, wie <strong>ich</strong> sie brauche, gab es<br />

vorher in Deutschland n<strong>ich</strong>t. Mein Vater hat <strong>für</strong> m<strong>ich</strong> ein Hilfs<strong>mit</strong>tel<br />

erfunden, das wie selbstverständl<strong>ich</strong> seit vielen Jahrzehnten <strong>für</strong> jede<br />

Tastatur nachgebaut wird!<br />

Als <strong>ich</strong> 1978 meinen Hauptschulabschluss in Osnabrück gemacht<br />

<strong>habe</strong>, war <strong>ich</strong> noch ein Schuljahr lang in Hannover auf der Sonder-<br />

schule <strong>für</strong> Körperbehinderte. Dort <strong>habe</strong> <strong>ich</strong> den erweiterten Haupt-<br />

schulabschluss gemacht, der einem Realschulabschluss entspr<strong>ich</strong>t.<br />

Im November 1972 machten s<strong>ich</strong> meine Eltern <strong>mit</strong> einem Kleinbus-<br />

unternehmen selbstständig. Auch hier dachten sie an m<strong>ich</strong>. Ich sollte<br />

nach meiner Schul- und Ausbildungszeit einen dauerhaft ges<strong>ich</strong>erten<br />

Arbeitsplatz im eigenen Betrieb <strong>habe</strong>n. Weil <strong>ich</strong> vor Ausbildungsbe-<br />

ginn meinen künftigen Arbeitsplatz nachweisen konnte, hat mir das<br />

Arbeitsamt eine Ausbildung zum Bürokaufmann im Heidelberger Re-<br />

hazentrum Schlierbach be<strong>will</strong>igt. Lange bevor <strong>ich</strong> nach Heidelberg<br />

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