In der Tat/4/02 print - schwanger-in-wiesbaden.org
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Diakonie <strong>in</strong> Hessen und Nassau<br />
Hauptversammlung<br />
Gespräch mit Hubertus Röhrig<br />
Bei sich und<br />
mitten im Leben<br />
Nie<strong>der</strong>-Ramstädter Diakonie:<br />
Reflexionen<br />
6<br />
12<br />
22<br />
28<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Tat</strong> 4<br />
D 1086<br />
<strong>02</strong>
2 <strong>in</strong> <strong>der</strong><strong>Tat</strong><br />
Liebe Leser<strong>in</strong>nen, liebe Leser,<br />
Weihnachten floriert, unbekümmert<br />
um Tiefs<strong>in</strong>n und letzte Gründe.<br />
Jedes dritte K<strong>in</strong>d im Alter von 6 bis<br />
12 Jahren — so ergab e<strong>in</strong>e Umfrage<br />
des Münchner Jugendforschungs<strong>in</strong>stituts<br />
„iconkids & youth“ — kennt<br />
den Grund für das Weihnachtsfest<br />
nicht. Bei mehr als siebenhun<strong>der</strong>t<br />
befragten K<strong>in</strong><strong>der</strong>n ergab sich e<strong>in</strong><br />
deutliches Ost-West-Gefälle. <strong>In</strong> den<br />
neuen Bundeslän<strong>der</strong>n lag <strong>der</strong> Anteil<br />
<strong>der</strong> historisch Unbemittelten bei 54%,<br />
im Westen bei 36%. 15% wussten<br />
immerh<strong>in</strong>, „das hat wohl was mit<br />
Jesus zu tun.“ 18% allerd<strong>in</strong>gs me<strong>in</strong>ten,<br />
Weihnachten werde gefeiert,<br />
„weil es W<strong>in</strong>ter ist“, „weil <strong>der</strong> Weihnachtsmann<br />
kommt“, o<strong>der</strong> „es schon<br />
immer so gemacht wurde.“ 9% glaubten,<br />
das Fest werde begangen, „damit<br />
es Geschenke für die K<strong>in</strong><strong>der</strong> gibt.“<br />
Sollte e<strong>in</strong>em da die Weihnachtsfreude<br />
nicht vergehen? Nun wäre es<br />
allerd<strong>in</strong>gs weit gefehlt anzunehmen,<br />
solche Geistesöde erstrecke sich<br />
lediglich auf das Gebiet des sogenannten<br />
„Religiösen“. Auch wann die<br />
Herren Goethe o<strong>der</strong> Luther gelebt,<br />
geschweige denn was sie gewirkt<br />
haben, ist vom größten Teil deutscher<br />
Durchschnittsabiturienten nicht mehr<br />
zu erfahren.<br />
E<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Art <strong>der</strong> vielbeschworenen<br />
Zweidrittelgesellschaft kündet<br />
sich an. Unsere Gesellschaft wird sich<br />
spalten — <strong>in</strong> welchen Anteilen auch<br />
immer — <strong>in</strong> solche, die e<strong>in</strong>e Zeit<br />
haben und solche, die eben ohne<br />
Zeit s<strong>in</strong>d. Die Zeitlosigkeit betrügt<br />
die Jugendlichen, die nichts mehr<br />
wissen von Anfang und von Gründen,<br />
um ihr Leben. Ohne Geschichte<br />
gibt es ke<strong>in</strong>e Zukunft.<br />
Die ersten beiden Verse unserer<br />
Weihnachtsgeschichte nach Lukas 2<br />
Editorial<br />
verweisen auf e<strong>in</strong>e bestimmte Zeit:<br />
„Es begab sich aber zu <strong>der</strong> Zeit, dass<br />
e<strong>in</strong> Gebot von dem Kaiser Augustus<br />
ausg<strong>in</strong>g, dass alle Welt geschätzt<br />
würde. Und diese Schätzung war die<br />
allererste und geschah zu <strong>der</strong> Zeit,<br />
da Cyrenius Landpfleger <strong>in</strong> Syrien<br />
war.“ Von e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>maligen, unwie<strong>der</strong>holbaren<br />
Geschehen her kann sich<br />
<strong>der</strong> Mensch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Entwicklung, <strong>in</strong><br />
se<strong>in</strong>em Lebenszusammenhang begreifen.<br />
Die Kirche muss hier Anwält<strong>in</strong><br />
des Anfangs, <strong>der</strong> Ursachen, dessen<br />
se<strong>in</strong>, was sich e<strong>in</strong>mal begeben hat,<br />
um <strong>der</strong> Hoffnung willen, dass sich<br />
für jeden Menschen e<strong>in</strong>e ihm gemäße<br />
Zukunft ergeben kann. Vor allen Spenden-<br />
und Gut-Menschen-Aufrufen ersche<strong>in</strong>t<br />
<strong>der</strong> Engel den Hirten: „Fürchtet<br />
euch nicht, siehe, ich verkündige<br />
euch große Freude, die allem Volk<br />
wi<strong>der</strong>fahren wird.“ Allem Volk — e<strong>in</strong>er<br />
Volkskirche kann das nicht gleichgültig<br />
se<strong>in</strong>.<br />
Jürgen Albert<br />
Bildnachweis Impressum<br />
DWHN: S. 31<br />
epd-bild: S. 3, 31<br />
epd-bild/Keystone: S. 3, 4<br />
epd-bild/Thiel/WCC: S. 9<br />
epd-bild/transparent: S. 4<br />
epd-bild/version: S. 5<br />
Re<strong>in</strong>er Frey: S.1,3,5-8,9-11,12,13,16,18,20-23,30,31<br />
Bianca Greschuchna: S. 1, 28, 29<br />
Jens Hetzel: S. 1, 23<br />
<strong>In</strong>geb<strong>org</strong> Huber: S. 28, 29, 32<br />
Lutz Igiel: S. 21<br />
Iris Kaczmarczyk: S. 14<br />
Klaus Günter Kohn: S. 16, 21<br />
Jürgen Meyer: S. 3, 5, 16, 21<br />
Oliver Rüther: S. 13, 21<br />
Ramune Pigagaite: S. 3, 21<br />
Andrea Pollmeier: S. 3, 24-27<br />
<strong>In</strong>ge Werth: S. 3, 18<br />
REDAKTION: Dr. Dr. Jürgen Albert (verantw.);<br />
Dr. Re<strong>in</strong>er Frey<br />
HERAUSGEBER: Diakonisches Werk <strong>in</strong> Hessen und<br />
Nassau, E<strong>der</strong>straße 12, 60486 Frankfurt am Ma<strong>in</strong>,<br />
Tel.: 0 69 79 47-0, Fax: 0 69 79 47-3 10,<br />
<strong>In</strong>ternet: www.dwhn.de; E-Mail: kontakt@dwhn.de<br />
LAYOUT: Piva & Piva – Studio für visuelles Design,<br />
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umweltfreundlich<br />
2. Jahrg. – Heft 8, 4. Quartal 20<strong>02</strong>.<br />
4 <strong>02</strong>
<strong>der</strong><strong>Tat</strong><br />
4 <strong>02</strong> <strong>in</strong> <strong>In</strong>halt<br />
20<strong>02</strong><br />
2<br />
3<br />
4<br />
6<br />
9<br />
12<br />
18<br />
22<br />
24<br />
28<br />
30<br />
31<br />
Editorial Jürgen Albert<br />
<strong>In</strong>halt<br />
Gastkommentar: Hoffnung gegen Doppelstress Manfred Krupp<br />
Hauptversammlung des DWHN: Aufbruchstimmung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Diakonie<br />
Kathleen Niepmann<br />
Zum Beispiel Samuel — Gedanken zum Advent Wolfgang Gern<br />
Mutig handeln und fragen: Was brauchen Menschen?<br />
Gespräch mit Hubertus Röhrig Jürgen Albert<br />
Recht auf Hilfe und Eigenständigkeit Annette Bitter<br />
Porträt: Bei sich und mitten im Leben Re<strong>in</strong>er Frey<br />
Gegen die E<strong>in</strong>samkeit <strong>der</strong> Angst Andrea Pollmeier<br />
Tausend kle<strong>in</strong>e Schritte <strong>In</strong>geb<strong>org</strong> Huber<br />
Personalien<br />
Nachruf: Dieter Trautwe<strong>in</strong> Wolfgang Gern<br />
3
4<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
HOFFNUNG<br />
GEGEN<br />
DOPPELSTRESS<br />
<strong>Tat</strong><br />
Bitte erwarten Sie von mir nichts<br />
Bes<strong>in</strong>nliches, Beschauliches o<strong>der</strong> gar<br />
Tröstliches. Denn ich muss Ihnen gleich<br />
zu Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong> Geständnis ablegen:<br />
Ich freue mich nicht auf Weihnachten.<br />
Wenn Vorfreude die schönste Freude<br />
ist, dann müsste die Vorweihnachtszeit<br />
die schönste Zeit des Jahres se<strong>in</strong>.<br />
Ist sie aber nicht, eher die schrecklichste.<br />
Es gibt ke<strong>in</strong>e Phase im Jahr,<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> man weniger Ruhe hat, <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
es hektischer und gehetzter zugeht<br />
als <strong>in</strong> den Wochen vor Weihnachten<br />
und Neujahr. Und das Schreckliche ist,<br />
dass von Jahr zu Jahr diese Phase<br />
früher beg<strong>in</strong>nt. Es wird nicht mehr<br />
lange dauern, dann werden die Osterhasen<br />
<strong>in</strong> den Süßwarenregalen direkt<br />
durch Nikoläuse ersetzt und schon<br />
im Sommer die Werbespots mit e<strong>in</strong>em<br />
penetranten Franz Beckenbauer geschaltet,<br />
<strong>der</strong> uns verkündet, als sei er<br />
Kaiser und Christk<strong>in</strong>dl <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em: „Ja<br />
mei, ist denn schon wie<strong>der</strong> Weihnachten“.<br />
<strong>In</strong> den E<strong>in</strong>kaufsstraßen nervt das<br />
Gedränge, das Schieben und Stoßen<br />
schon seit Wochen, und je leuchten<strong>der</strong><br />
die festlich gekleideten Schaufensterpuppen<br />
frohe E<strong>in</strong>kaufsbotschaften<br />
verkünden, desto trüber schauen<br />
die gehetzten Passanten daran vorbei.<br />
Nimmt man diese Zeit zum Maßstab,<br />
dann ist Weihnachten ke<strong>in</strong> Fest<br />
<strong>der</strong> Harmonie und des Ausgleichs, son-<br />
Gastkommentar<br />
<strong>der</strong>n <strong>der</strong> scharfen Kontraste. <strong>In</strong> Frankfurt<br />
gibt es solche ständigen Wi<strong>der</strong>sprüche<br />
zwischen Arm und Reich,<br />
zwischen Protzigkeit und Elend das<br />
ganze Jahr über nur im Bahnhofsviertel,<br />
wo Drogenmilieu und Straßenstrich<br />
sich <strong>in</strong> glänzenden Bankenfassaden<br />
spiegeln. Dieser Gegensatz<br />
weitet sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vorweihnachtszeit<br />
sche<strong>in</strong>bar auf die ganze Stadt aus.<br />
Überall Lichterglanz, „festliche“ Musik,<br />
schneller Geldwechsel. Und dazwischen<br />
die Bettler, die Obdachlosen und die<br />
unvermeidlichen Sammelbüchsen für<br />
den bedrohten Kle<strong>in</strong>tierzirkus. Manchmal<br />
ist es gut, den Armen, Elenden<br />
und Vernachlässigten nicht ausweichen<br />
zu können. Und doch, es gel<strong>in</strong>gt<br />
tagtäglich tausendfach <strong>in</strong> den E<strong>in</strong>kaufsstraßen.<br />
Das ist ke<strong>in</strong> Vorwurf an uns gestresste<br />
Vorweihnachtsmenschen.<br />
Wissen wir doch schon jetzt, dass<br />
die Stille Nacht nicht still se<strong>in</strong> wird,<br />
son<strong>der</strong>n durchdrungen von dem Piepsen<br />
und Rattern <strong>der</strong> Videospiele, dem<br />
Dolby-Sorround-Effekten des neuen<br />
DVD-Players und den Kl<strong>in</strong>geltönen des<br />
allerneusten WAP-Handys. Weihnachten<br />
wird gerade für Eltern zur Zeit<br />
des permanenten Scheiterns. So viele<br />
Wünsche kann man gar nicht erfüllen,<br />
wie die Werbe<strong>in</strong>dustrie immer<br />
wie<strong>der</strong> neue erzeugt und auswirft.<br />
Dazu kommen dann noch die zahllo-<br />
4 <strong>02</strong>
4 <strong>02</strong> Hoffnung gegen Doppelstress<br />
sen Feierlichkeitsterm<strong>in</strong>e <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schule,<br />
im Musikunterricht, im Sportvere<strong>in</strong> und<br />
was es sonst noch alles an Verpflichtungen<br />
gibt — e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Organisationschaos<br />
an Term<strong>in</strong>en und großem<br />
Aufwand für kle<strong>in</strong>e Aufmerksamkeiten.<br />
Vielleicht könnten wir das alles<br />
noch bewältigen, wenn wir nicht Opfer<br />
e<strong>in</strong>er grandiosen Fehlplanung wären.<br />
Wer immer auf die Idee gekommen<br />
ist, Weihnachten und den Jahresabschluss,<br />
also Neujahr, so knapp h<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />
zu legen, muss Masochist<br />
und Sadist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em gewesen se<strong>in</strong>.<br />
Denn streicht man e<strong>in</strong>en Gutteil <strong>der</strong><br />
Weihnachtsverpflichtungen e<strong>in</strong>fach<br />
e<strong>in</strong>mal aus dem Gedächtnis, dann<br />
bleibt immer noch mehr übrig, als die<br />
meisten verkraften können. Die letzten<br />
Monate des Jahres wachen sie<br />
alle auf: die Buchhalter, die schnell<br />
noch alle Rechnungen begleichen<br />
müssen, die Term<strong>in</strong>verschlepper, die<br />
dr<strong>in</strong>gend Sitzungen und Konferenzen<br />
anberaumen zu dem, was sie das<br />
ganze Jahr über versäumt hatten<br />
und schließlich all jene, die sich zum<br />
Ende des Jahres noch e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong>s<br />
Gedächtnis rufen wollen ober aber<br />
ganz dr<strong>in</strong>gend die Weichen fürs kommende<br />
Jahr stellen müssen. Was man<br />
seit Monaten hätte planen können,<br />
jetzt muss es ganz eilig unter Dach<br />
und Fach gebracht werden, ohne Aufschub,<br />
ohne Nachdenken, ruck zuck.<br />
Und das ist dann auch das Verb<strong>in</strong>dende<br />
zwischen Vorweihnachtszeit<br />
und Jahresabschlusszeit: die doppelte<br />
Hektik erzeugt doppelte <strong>in</strong>nere Leere.<br />
So hat man den E<strong>in</strong>druck, man ist<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Spirale geraten, die sich immer<br />
enger dreht, bis man dann am Heiligen<br />
Abend erschöpft zusammens<strong>in</strong>kt.<br />
Und selbst wer nicht vor <strong>der</strong> fast unvermeidlichen<br />
Frage steht „Zuerst zu<br />
me<strong>in</strong>en Eltern o<strong>der</strong> zu De<strong>in</strong>en o<strong>der</strong> <strong>in</strong><br />
diesem Jahr umgekehrt?“, wer sich<br />
ke<strong>in</strong>e Gedanken über Bratenrezepte<br />
und die Entscheidung zwischen Gans<br />
o<strong>der</strong> diesmal Fondue machen muss,<br />
hat kaum noch den Kopf frei für<br />
frohe Botschaften. Mir ganz persönlich<br />
ist es <strong>in</strong> den letzten Jahren nur<br />
e<strong>in</strong>mal an<strong>der</strong>s gegangen. Da verbrachten<br />
wir, me<strong>in</strong>e Frau, me<strong>in</strong>e Töchter<br />
und ich, Weihnachten bei me<strong>in</strong>em<br />
Bru<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> saudi-arabischen Hafenstadt<br />
Dschidda. Das ist e<strong>in</strong>e Millionenstadt,<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> die Pilger nach Mekka<br />
ankommen und sicher ke<strong>in</strong> ruhiges<br />
Plätzchen. Und doch, weil wir <strong>in</strong><br />
unserer Umgebung vielleicht die e<strong>in</strong>zigen<br />
waren, die das Fest feierten,<br />
gewann es an Bedeutung. Ohne Weihnachtsbaum<br />
und nur mit Kle<strong>in</strong>igkeiten<br />
als Geschenken, hatten wir auf<br />
e<strong>in</strong>mal das, was uns ansonsten am<br />
meisten fehlt: ZEIT. Zeit für Gedanken<br />
und Zeit für Gespräche.<br />
Als ich me<strong>in</strong>er Frau von diesem<br />
Artikel erzählte, hatte sie gleich e<strong>in</strong>e<br />
Handvoll Ideen. „Stell Dir vor, aus<br />
irgende<strong>in</strong>em Grund müssten alle Geschäfte<br />
e<strong>in</strong>e Woche vor Weihnachten<br />
schließen“ o<strong>der</strong> „Es fiele <strong>der</strong> Strom<br />
aus und man müsste Weihnachten<br />
ohne Fernseher, CD-Player und Computer<br />
verbr<strong>in</strong>gen“ und schließlich<br />
„Er<strong>in</strong>nerst Du Dich an die autofreien<br />
Tage während <strong>der</strong> Ölkrise. Das wäre<br />
doch e<strong>in</strong>e gute Idee für Weihnachten.“<br />
Alles unrealistisch und rückwärts<br />
gewandte Romantik könnte man<br />
sagen. Aber es macht e<strong>in</strong>e tiefe Sehnsucht<br />
deutlich. Dass all dass, was wir<br />
<strong>der</strong>zeit als Vorweihnachtszeit und<br />
Weihnachtsrummel erleben, nur e<strong>in</strong>e<br />
plumpe Täuschung ist, e<strong>in</strong> Etikettenschw<strong>in</strong>del,<br />
bei dem sich Scharlatane<br />
Wünsche und Träume zunutze machen,<br />
die mit <strong>der</strong> Idee von Weihnachten<br />
verbunden s<strong>in</strong>d. Denn manchmal ist<br />
dieser Wunsch eben doch stärker als<br />
das laute Getöse <strong>der</strong> Verkäufer<strong>in</strong>nen<br />
und Verkäufer und das grelle Licht<br />
<strong>der</strong> Leuchtreklamen: Die Hoffnung,<br />
dass es so etwas gibt wie e<strong>in</strong> Zuhause,<br />
<strong>in</strong> dem man mit sich e<strong>in</strong>s und<br />
mit an<strong>der</strong>en zusammen ist, <strong>in</strong> dieser<br />
Welt und noch darüber h<strong>in</strong>aus. Das<br />
hat dann doch etwas Tröstliches.<br />
Manfred Krupp ist Chef-Redakteur Fernsehen des<br />
Hessischen Rundfunks.<br />
5
6<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Tat</strong><br />
R UHIGE UND<br />
K ONSTRUKTIV- KRITISCHE<br />
H A UPTVERSAMMLUNG DES<br />
D IAKONISCHEN W ERKES<br />
IN H ESSEN UND N ASSAU<br />
▼<br />
„Diakonie ist die Verän<strong>der</strong>ung zum<br />
Besseren, und sie ist gel<strong>in</strong>gendes Leben<br />
<strong>in</strong>mitten von Krisen. Sie geschieht<br />
durch Menschen, die Hoffnung haben,<br />
und gibt sich nicht mit dem zufrieden,<br />
was sie vorf<strong>in</strong>det. Doch die Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />
für die Diakonie s<strong>in</strong>d<br />
<strong>der</strong>zeit nicht rosig.“ Dies sagte Pfarrer<br />
Dr. Wolfgang Gern, Vorstandsvorsitzen<strong>der</strong><br />
des Diakonischen Werkes <strong>in</strong><br />
Hessen und Nassau (DWHN), anlässlich<br />
<strong>der</strong> Hauptversammlung des DWHN<br />
am 13. November 20<strong>02</strong> <strong>in</strong> Frankfurt<br />
am Ma<strong>in</strong>. Nötig sei daher e<strong>in</strong>e „verantwortliche<br />
Sozialpolitik, die auch<br />
bei E<strong>in</strong>sparungen diesen Namen verdient,<br />
und die hält, was sie verspricht:<br />
Hilfe zur Eigenständigkeit,<br />
Subsidiarität. Aber eben Hilfe.“ Gern<br />
er<strong>in</strong>nerte an die Kürzungen im Sozialbereich<br />
auf Landesebene. Unter an<strong>der</strong>em<br />
die Wohngeme<strong>in</strong>schaft Mutter<br />
und K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Wiesbaden, das Frauenhaus<br />
<strong>in</strong> Wiesbaden, <strong>der</strong> Täter-Opfer-<br />
Ausgleich <strong>in</strong> Frankfurt o<strong>der</strong> die Geme<strong>in</strong>wesenarbeit<br />
<strong>in</strong> Darmstadt und<br />
Gießen — alles Arbeitsbereiche <strong>der</strong><br />
Diakonie — seien davon betroffen.<br />
Der Diakonie-Chef mahnte e<strong>in</strong>e Revision<br />
<strong>der</strong> Kürzungen an, damit die be-<br />
Hauptversammlung<br />
stehende, erfolgreiche Arbeit fortgeführt<br />
werden könne. „40 Prozent <strong>der</strong><br />
professionellen Wohnungslosenhilfe<br />
werden bundesweit von <strong>der</strong> Diakonie<br />
geleistet. Angesichts <strong>der</strong> auch im<br />
Rhe<strong>in</strong>-Ma<strong>in</strong>-Gebiet gestiegenen Zahl<br />
<strong>der</strong> Wohnungs- und Obdachlosen ist<br />
es dr<strong>in</strong>gend nötig, dass diese Arbeit<br />
erhalten bleibt.“ Zehn regionale<br />
Werke <strong>der</strong> hessen-nassauischen Diakonie<br />
s<strong>in</strong>d laut Gern <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gefährdeten-<br />
und Obdachlosenarbeit tätig,<br />
zwei davon (Gießen und Frankfurt)<br />
auch als Träger <strong>der</strong> Bahnhofsmission.<br />
Der Diakonie-Chef setzte sich dafür<br />
Aufbruchstimmung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Diakonie und<br />
Appell an e<strong>in</strong>e verantwortliche Sozialpolitik<br />
Gast auf <strong>der</strong> Hauptversammlung: Pfarrer Albrecht Bähr, <strong>der</strong> Vertreter<br />
<strong>der</strong> drei Diakonischen Werke — Hessen und Nassau,<br />
Rhe<strong>in</strong>land und Pfalz — am Sitz <strong>der</strong> rhe<strong>in</strong>land-pfälzischen<br />
Landesregierung <strong>in</strong> Ma<strong>in</strong>z.<br />
e<strong>in</strong>, „teilsubventionierte Arbeitsplätze<br />
für wohnungslose Menschen auch<br />
zukünftig vorzuhalten.“ Dies sei vor<br />
allem deshalb wichtig, weil wohnungslose<br />
Menschen häufig arbeitswillig,<br />
aber nur e<strong>in</strong>geschränkt arbeitsfähig<br />
seien. Der Schutz <strong>der</strong> Bundesebene für<br />
die Existenzsicherung bei Erwerbslosigkeit<br />
müsse daher gewährleistet<br />
bleiben, appellierte Gern. Die Kommunen<br />
seien damit überfor<strong>der</strong>t.<br />
Bundesweit s<strong>in</strong>d etwa 500.000 Menschen<br />
wohnungs- und obdachlos. Vor<br />
allem <strong>in</strong> Ballungsräumen müsse damit<br />
gerechnet werden, dass die Zahl<br />
4 <strong>02</strong>
4 <strong>02</strong> Aufbruchstimmung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Diakonie<br />
sich um bis zu 30 Prozent erhöhe, so<br />
Gern, <strong>der</strong> auch Vorsitzen<strong>der</strong> des Bundesverbands<br />
<strong>der</strong> Evangelischen Obdachlosenhilfe<br />
ist.<br />
Vernetzung von Kirche<br />
und Diakonie<br />
Durch das im vergangenen Jahr<br />
e<strong>in</strong>geführte Diakoniegesetz hätten die<br />
Vernetzung diakonischer Arbeit und<br />
regionaler Kirche sowie die Kooperation<br />
zwischen großen Trägern und regionalen<br />
Diakonischen Werken e<strong>in</strong>e<br />
gute Basis erhalten, bilanzierte <strong>der</strong><br />
Diakonie-Chef. Auch die neuen Zentren<br />
<strong>der</strong> Evangelischen Kirche <strong>in</strong> Hessen<br />
und Nassau hätten diakonische Anteile.<br />
Die Kanäle <strong>der</strong> Zusammenarbeit<br />
und Kommunikation hätten sich gut<br />
e<strong>in</strong>gespielt. Es gebe bereits verschiedene<br />
Kooperationen, unter an<strong>der</strong>em zu<br />
familienpolitischen Themen o<strong>der</strong> zu<br />
Fragen von Arbeit und Arbeitslosigkeit.<br />
Bessere Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />
für das<br />
Gesundheitswesen<br />
Auf die politische Diskussion um<br />
die Reform im Gesundheitswesen g<strong>in</strong>g<br />
Dr. Bernd Schlüter e<strong>in</strong>, juristisches<br />
Vorstandsmitglied im DWHN. Die Qualität<br />
<strong>der</strong> Pflege müsse durch entsprechende<br />
Rahmenbed<strong>in</strong>gungen gesichert<br />
werden. Nötig seien unter an<strong>der</strong>em e<strong>in</strong><br />
gesetzlich abgesicherter Personalschlüssel,<br />
die Entkoppelung <strong>der</strong> Pflegef<strong>in</strong>anzierung<br />
von den Lohnnebenkosten<br />
und e<strong>in</strong>e sozial gerechte Beteiligung<br />
<strong>der</strong> Pflegebedürftigen und <strong>der</strong><br />
Angehörigen.<br />
Aufklärung unterstützt<br />
Im Zusammenhang mit <strong>der</strong> kostenträchtigen<br />
Fehlentwicklung <strong>der</strong> früheren<br />
DWHN-Tochterfirma ProService<br />
berichtete Schlüter, dass die Verantwortlichen<br />
<strong>in</strong>zwischen straf- und zivilrechtlich<br />
zur Rechenschaft gezogen<br />
worden seien. Der neue Vorstand des<br />
DWHN selbst habe die Aufklärung<br />
des Sachverhaltes mit großem Nachdruck<br />
unterstützt. Dies sei <strong>in</strong> enger<br />
Abstimmung mit <strong>der</strong> EKHN geschehen.<br />
„Niemand soll darauf vertrauen,<br />
dass solche V<strong>org</strong>änge ad acta gelegt<br />
werden. Dies s<strong>in</strong>d wir dem guten Ruf<br />
<strong>der</strong> Diakonie und unseren Mitglie<strong>der</strong>n<br />
und <strong>der</strong> Landeskirche schuldig“,<br />
betonte <strong>der</strong> Jurist. Aufgrund <strong>der</strong> durch<br />
die Diakonie gestellten Strafanzeige<br />
ist <strong>der</strong> ehemalige Geschäftsführer <strong>der</strong><br />
ProService GmbH zu dreie<strong>in</strong>halb Jahren<br />
Haft ohne Bewährung verurteilt<br />
worden. Die wirtschaftliche Abwicklung<br />
von ProService ist laut Schlüter<br />
<strong>in</strong>zwischen <strong>in</strong>soweit abgeschlossen,<br />
dass ke<strong>in</strong>e weiteren Kostenrisiken<br />
mehr bestehen.<br />
Aufbruchstimmung<br />
Wilfried Knapp, seit Mai Mitglied<br />
im Vorstand und zuständig für den<br />
Bereich Personal, Organisation, F<strong>in</strong>anzen,<br />
er<strong>in</strong>nerte daran, dass sich nach<br />
den Wirren <strong>der</strong> 90er Jahre die Organisationen<br />
— sowohl die Geschäftsstelle<br />
<strong>in</strong> Frankfurt als auch die regionalen<br />
Diakonischen Werke — <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em zukunftsweisenden Entwick-<br />
lungsprozess bef<strong>in</strong>den. Nach <strong>der</strong> E<strong>in</strong>führung<br />
<strong>der</strong> neuen Organisationsstruktur<br />
im Jahr 2001 seien viele Referate<br />
mit qualifiziertem Personal besetzt<br />
worden. Auch die wirtschaftliche Beratung<br />
<strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> sei durch die<br />
E<strong>in</strong>stellung e<strong>in</strong>es neuen Fachreferenten<br />
gestärkt worden. „Letztlich b<strong>in</strong><br />
ich mir sicher, dass sich auch die<br />
Diakonie <strong>der</strong> Ökonomisierung nicht<br />
völlig entziehen kann. Die Herausfor<strong>der</strong>ung,<br />
<strong>der</strong> sich die Diakonie stellen<br />
muss, ist das ‚Wie‘: Es geht um<br />
die Frage, wie sich die Diakonie am<br />
Wirtschaftsleben beteiligt“, beschrieb<br />
7
8<br />
Aufbruchstimmung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Diakonie<br />
Knapp. Für die Zukunft gelte es, ethische<br />
und ökonomische Ziele zu def<strong>in</strong>ieren<br />
und Mitarbeiter dafür zu begeistern<br />
und zu för<strong>der</strong>n. „Dies s<strong>in</strong>d<br />
me<strong>in</strong>es Erachtens die wirklichen Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />
für die Diakonie <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Zukunft.“ Außerdem sei es wichtig,<br />
neue F<strong>in</strong>anzmittel e<strong>in</strong>zuwerben.<br />
Budget<br />
Das Budget des DWHN (e<strong>in</strong> gutes<br />
Drittel <strong>der</strong> Zuweisungen kommt von<br />
<strong>der</strong> EKHN) beträgt für 20<strong>02</strong> etwa 45<br />
Millionen Euro, 72 Prozent davon be-<br />
treffen Personalkosten. Für 2003 wird<br />
von unverän<strong>der</strong>ten Zuweisungen seitens<br />
<strong>der</strong> EKHN ausgegangen, Steigerungen<br />
o<strong>der</strong> zusätzliche Mittel zur<br />
Schließung <strong>der</strong> Deckungslücke, die sich<br />
bis 2005 auf etwa 1,6 Millionen Euro<br />
aufsummiert haben wird, s<strong>in</strong>d nicht<br />
zu erwarten. Bislang wurden dafür<br />
von <strong>der</strong> Landeskirche Struktur- und<br />
Überbrückungsmittel zur Verfügung<br />
gestellt. Diese werden bis 2004 aufgebraucht<br />
se<strong>in</strong>. Somit bliebe <strong>der</strong> f<strong>in</strong>anzielle<br />
Spielraum außerordentlich<br />
begrenzt, so Knapp. Vorsichtiges Handeln<br />
und mittelfristige Planungen<br />
für e<strong>in</strong>en Drei-Jahres-Horizont müssten<br />
angestrebt werden.<br />
Nachwahlen <strong>in</strong> den<br />
Hauptausschuss<br />
Clarissa Graz und Dr. Mart<strong>in</strong><br />
Zentgraf komplettieren den Hauptausschuss<br />
des DWHN. Die Nachwahlen<br />
für das Gremium waren nötig<br />
geworden, nachdem zwei von <strong>der</strong><br />
Hauptversammlung benannte Mitglie<strong>der</strong><br />
– Susanne Schmuck-Schätzel und<br />
Christof Schuster — ausgeschieden<br />
waren. Clarissa Graz, seit Oktober 2001<br />
Neu <strong>in</strong> den Hauptausschuss gewählt: Clarissa Graz, Pfarrer<strong>in</strong> <strong>in</strong> Worms-Pfed<strong>der</strong>sheim<br />
und Pfarrer Dr. Mart<strong>in</strong> Zentgraf, Vorstandsvorsitzen<strong>der</strong> des Hessischen Diakonievere<strong>in</strong>s <strong>in</strong> Darmstadt<br />
Pfarrer<strong>in</strong> <strong>in</strong> Worms-Pfed<strong>der</strong>sheim,<br />
kann mit <strong>der</strong> Wahl <strong>in</strong> den Ausschuss<br />
an bereits bestehende Kontakte und<br />
berufliche Erfahrungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> hessennassauischen<br />
Diakonie anknüpfen:<br />
Von Dezember 2000 bis September<br />
2001 arbeitete sie als Assistent<strong>in</strong><br />
des Vorstandsvorsitzenden Dr. Gern.<br />
Der zweite neue Mitstreiter, Dr.<br />
Mart<strong>in</strong> Zentgraf aus Ma<strong>in</strong>z, ist ebenfalls<br />
Pfarrer. Außerdem ist er Vorstandsvorsitzen<strong>der</strong><br />
des Hessischen<br />
Diakonievere<strong>in</strong>s <strong>in</strong> Darmstadt und<br />
stellvertreten<strong>der</strong> Vorsitzen<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft für Evangelische<br />
Altenhilfe im DWHN. (Weitere <strong>In</strong>formationen<br />
zu den beiden neuen Mitglie<strong>der</strong>n<br />
des Hauptausschusses f<strong>in</strong>den<br />
Sie auf Seite 30 dieser Ausgabe unter<br />
„Personalien“).<br />
Beiträge<br />
Der Grundbeitrag für Mitglie<strong>der</strong><br />
des DWHN beträgt für das Jahr 2003<br />
statt bisher 392 Euro dann 412 Euro.<br />
Dies beschlossen die Mitglie<strong>der</strong> bei<br />
vier Gegenstimmen und vier Enthaltungen.<br />
Grund für die Erhöhung seien<br />
verbesserte Leistungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> wirt-<br />
schaftlichen Beratung für die Mitglie<strong>der</strong>,<br />
hieß es während <strong>der</strong> Hauptversammlung.<br />
Das Treffen, das unter<br />
<strong>der</strong> souveränen Fe<strong>der</strong>führung des Vorsitzenden<br />
<strong>der</strong> Hauptversammlung,<br />
Staatsm<strong>in</strong>ister a.D. Arm<strong>in</strong> Clauss,<br />
stand, hatte im Festsaal des Diakonissenhauses<br />
<strong>in</strong> Frankfurt stattgefunden.<br />
Teilnehmer<strong>in</strong>nen und Teilnehmer<br />
sowie <strong>der</strong> Vorstand sprachen von<br />
e<strong>in</strong>em konstruktiv-kritischen und<br />
ruhigen Verlauf.<br />
Kathleen Niepmann<br />
4 <strong>02</strong><br />
Der Vorsitzende des Hauptausschusses des DWHN:<br />
Rechtsanwalt Klaus Rumpf
<strong>der</strong><strong>Tat</strong><br />
4 <strong>02</strong> <strong>in</strong> Betrachtung<br />
Samuel<br />
Zum Beispiel Gedanken zum Advent<br />
Es war kurz vor Weihnachten. Ich<br />
warte am Hauptbahnhof von Madras,<br />
<strong>der</strong> großen Stadt im Süden <strong>In</strong>diens.<br />
Samuel kommt auf mich zu, um mich<br />
mit <strong>der</strong> Bahn <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Heimatdorf zu<br />
begleiten. Mit strahlendem Gesicht<br />
begrüßt er mich. 18 Jahre alt ist er<br />
und hat gerade die Schule beendet.<br />
Begeistert erzählt er mir von se<strong>in</strong>er<br />
Taufe vor e<strong>in</strong>igen Wochen: „Nun gehöre<br />
ich zu Jesus und er zu mir“,<br />
sagt er voller Erleichterung. Auch als<br />
9
10<br />
Gedanken zum Advent<br />
wir längst im Zug sitzen, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sogenannten engen<br />
„Holzklasse“, fängt er davon an. Dass er getauft ist, das<br />
lässt ihn nicht mehr los. Se<strong>in</strong>e Taufe hat offensichtlich<br />
se<strong>in</strong> Leben verän<strong>der</strong>t, mehr als ich es würdigen kann.<br />
Vielleicht spürt er me<strong>in</strong>e Zurückhaltung, komme ich doch<br />
aus e<strong>in</strong>em Land, <strong>in</strong> dem man über solche Ereignisse<br />
selbstverständlicher h<strong>in</strong>weggeht.<br />
Uns im Zug gegenüber sitzt e<strong>in</strong> älterer Herr mit e<strong>in</strong>em<br />
Aschezeichen auf <strong>der</strong> Stirn, <strong>der</strong> unser Gespräch — o<strong>der</strong><br />
besser: die Begeisterung me<strong>in</strong>es Begleiters Samuel —<br />
mit erhabenem Schmunzeln verfolgt. Plötzlich mischt er<br />
sich e<strong>in</strong> und sagt: „Ja, das Christentum — sehr <strong>in</strong>teressant.<br />
<strong>In</strong> <strong>der</strong> Bibel habe ich auch e<strong>in</strong>mal gelesen. Beson<strong>der</strong>s<br />
bee<strong>in</strong>druckte mich das Johannesevangelium. Dort,<br />
wo er sich selbst Licht, Wahrheit und Hirte nennt — das<br />
s<strong>in</strong>d wirklich gute Worte des Guru Jesus“. Auf me<strong>in</strong>e<br />
Frage h<strong>in</strong> outet sich <strong>der</strong> Herr gegenüber als Brahmane.<br />
„Aber“, fährt er fort, „dass Euer Guru ans Kreuz gegangen<br />
ist, passt e<strong>in</strong>fach nicht. Ja, e<strong>in</strong> Guru verliert nicht.<br />
Das ist e<strong>in</strong> Betriebsunfall, e<strong>in</strong> Misserfolg, <strong>der</strong> nicht hätte<br />
passieren dürfen“. Ich höre h<strong>in</strong>, gespannt und neugierig<br />
zugleich. Ehe ich reagieren kann, wird Samuel neben mir<br />
ganz nervös, rutscht auf die Vor<strong>der</strong>kante <strong>der</strong> Holzbank <strong>in</strong><br />
Richtung des Brahmanen und sagt zu ihm: „Sir, Sie beleidigen<br />
unseren Glauben. Jesus ist für mich gestorben,<br />
und ich habe durch ihn neues Leben. Ich gehöre ihm,<br />
me<strong>in</strong> Freund auch“. Mit soviel Ernst habe ich <strong>in</strong> diesem<br />
Gespräch nicht gerechnet. Ich spüre Hochspannung auf<br />
beiden Seiten. Der ältere Herr antwortet Samuel mit<br />
e<strong>in</strong>er abweisenden Handbewegung und ohne ihn e<strong>in</strong>es<br />
Blickes zu würdigen: „Junge, Du verstehst nicht, worüber<br />
wir reden“.<br />
Erst <strong>in</strong> diesem Moment merke ich, was los ist: Zwei<br />
Kasten s<strong>in</strong>d aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong>geprallt, Oben und Unten — <strong>der</strong><br />
Brahmane, philosophisch geschult, selbstbewusst und<br />
unbes<strong>org</strong>t um se<strong>in</strong> öffentliches Ansehen. Und Samuel,<br />
aus e<strong>in</strong>er kastenlosen Familie, ohne gesellschaftlichen<br />
Status. Deswegen hat <strong>der</strong> Brahmane mit Samuel nichts<br />
im S<strong>in</strong>n. Er ignoriert ihn. Mahatma Gandhi nannte die<br />
Kastenlosen o<strong>der</strong> Unberührbaren die „K<strong>in</strong><strong>der</strong> Gottes“,<br />
Harijans. Jahrhun<strong>der</strong>telang s<strong>in</strong>d die Harijans die versklavten<br />
Menschen des <strong>in</strong>dischen Subkont<strong>in</strong>ents. Sie leben<br />
bis heute ausgegrenzt, wie lange Zeit die Schwarzen<br />
<strong>in</strong> Südafrika und Nordamerika. Samuel weiß zu Recht,<br />
dass Gott an ihn glaubt und ihm se<strong>in</strong>e Würde schenkt.<br />
Für ihn wirkt die Taufe wie e<strong>in</strong> Wun<strong>der</strong>, denn nun beg<strong>in</strong>nt<br />
se<strong>in</strong> bisher verachtetes Leben zu leuchten —<br />
unabhängig von Status und Ansehen.<br />
Krippe und Bungalow<br />
Ich möchte die Geschichte weitererzählen. Am Nachmittag<br />
erreichen wir Samuels Dorf. Die Vorbereitungen<br />
für den Heiligabend laufen auf Hochtouren — bei etwa<br />
30 Grad im Schatten. Am Abend kommen alle auf dem<br />
großen Schulhof des Dorfes zusammen, auch die Familien<br />
<strong>der</strong> H<strong>in</strong>dus und Moslems feiern mit. Sie beteiligen sich<br />
sogar am Krippenspiel, das unter freiem Himmel aufgeführt<br />
wird. Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> begleiten die Aufführung mit traditionellen<br />
Tänzen. Die kle<strong>in</strong>e christliche Geme<strong>in</strong>de freut<br />
sich.<br />
Beson<strong>der</strong>s bee<strong>in</strong>druckt mich die Kulisse für das Krippenspiel:<br />
Auf e<strong>in</strong>er großen Plane ist nicht e<strong>in</strong> Stall als Herberge<br />
gemalt worden, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> gepflegter Orientbungalow,<br />
wie man ihn <strong>in</strong> den reichen Wohnvierteln von<br />
Madras o<strong>der</strong> Bombay f<strong>in</strong>den kann. „Das muss so se<strong>in</strong>“,<br />
4 <strong>02</strong>
4 <strong>02</strong> Gedanken zum Advent 11<br />
erklärt mir Samuel. Schließlich sei <strong>der</strong> Herr <strong>der</strong> Welt zu<br />
uns gekommen. „Er kann nicht ärmlich von uns aufgenommen<br />
werden, son<strong>der</strong>n wir müssen ihm das Beste<br />
geben, was wir haben“, fügt er h<strong>in</strong>zu. E<strong>in</strong> Älterer, <strong>der</strong><br />
ebenfalls aus e<strong>in</strong>er kastenlosen Familie stammt, zeigt<br />
auf die Kulisse mit dem Orientbungalow und sagt: „Wir<br />
alle haben doch e<strong>in</strong>e tiefe Sehnsucht nach Geb<strong>org</strong>enheit<br />
und Schönheit, nach Liebe und Respekt. Wir sehnen uns<br />
nach Licht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Dunkelheit“.<br />
Ich denke an unsere geme<strong>in</strong>same Zugfahrt südlich<br />
von Madras. Auch <strong>der</strong> ältere Herr mit se<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>du-Tradition<br />
als Brahmane sprach vom Licht. Ob er Dunkelheit<br />
schon erfahren hat, weiß ich nicht. Aber ich b<strong>in</strong> sicher,<br />
dass er unsere Träume teilt, Träume von e<strong>in</strong>er Welt, <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Gerechtigkeit und Frieden zusammenf<strong>in</strong>den. Ich wünschte,<br />
er wäre mit uns <strong>in</strong>s Dorf gekommen, dann hätte er es erlebt:<br />
Nicht nur wir s<strong>in</strong>d es, die sehnsüchtig auf das K<strong>in</strong>d<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Krippe warten, von dem <strong>der</strong> Frieden ausstrahlt <strong>in</strong><br />
die fernen Hütten und <strong>in</strong> die großen Städte dieser von<br />
Hass und Gewalt zerrissenen Welt.<br />
Die Krippe ist <strong>der</strong> Ort, an dem alle Wege — holprige,<br />
abgeschnittene und auch glitzernde — neu geordnet<br />
werden. Sie bleibt <strong>der</strong> Ort, wo die Hoffnung <strong>der</strong> Welt<br />
geboren wird, dass alle Lebenswege neu und hell werden.<br />
Der Ort, wo sich Menschen begegnen, die sonst nie<br />
im Leben etwas mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> angefangen hätten. Nun<br />
fangen sie alle neu an und gehen neue Wege: H<strong>in</strong>dus,<br />
Moslems und Christen geht e<strong>in</strong> Licht auf im Angesicht<br />
des jüdischen K<strong>in</strong>des Jesus. Sie tun es den Hirten und<br />
den Weisen gleich: Auch sie haben kehrtgemacht und<br />
s<strong>in</strong>d neue Wege gegangen, aller Ohnmacht und Verzweiflung<br />
zum Trotz. Übrigens, Maria und Josef mit dem K<strong>in</strong>d<br />
taten es auch.<br />
Adventsmenschen<br />
Vielleicht <strong>in</strong>teressiert es sie, wie die Geschichte für<br />
Samuel ausgegangen ist. Ich weiß es nicht genau. Er<br />
arbeitet <strong>in</strong>zwischen irgendwo <strong>in</strong> Madras als Lehrer. E<strong>in</strong>er,<br />
<strong>der</strong> nicht resigniert, sich nicht mit dem Alten abf<strong>in</strong>det,<br />
sozusagen e<strong>in</strong> Adventsmensch. Adventsmenschen s<strong>in</strong>d<br />
Menschen, die wirklich etwas erwarten. Der Prophet Jesaja<br />
war so e<strong>in</strong>er: „Es wird nicht dunkel bleiben über denen,<br />
die <strong>in</strong> Angst s<strong>in</strong>d“ (Jesaja 8, 23). O<strong>der</strong> Johannes <strong>der</strong><br />
Täufer, <strong>der</strong> Rufer <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wüste: „Was krumm ist, soll<br />
gerade, was schlechter Weg ist, soll ebene Bahn werden“<br />
(Lukas 3, 5).<br />
Ich wünsche Ihnen, dass auch Sie Adventsmenschen<br />
werden, dass Sie von Weihnachten für Ihr Leben etwas<br />
Neues erwarten und sich mit dem Alten nicht abf<strong>in</strong>den.<br />
Denn die Krippe hat uns selbst zum Thema: Befreiung<br />
aus Ohnmacht und Verän<strong>der</strong>ung zum Guten: „... denn sie<br />
priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und<br />
gesehen hatten“. Wir kennen natürlich tausend Gründe,<br />
warum es bei uns an<strong>der</strong>s ist als bei den Hirten und den<br />
vielen an<strong>der</strong>en. Mit allen geme<strong>in</strong>sam bleibt uns: Hier<br />
wird die Hoffnung <strong>der</strong> Welt geboren. Gott beg<strong>in</strong>nt ganz<br />
unten, er will uns <strong>in</strong> den Schatten unseres Lebens begegnen.<br />
Samuel kann e<strong>in</strong> Lied davon s<strong>in</strong>gen. Ich wünsche<br />
Ihnen, dass Sie mit e<strong>in</strong>stimmen können:<br />
Ich lag <strong>in</strong> tiefster Todesnacht,<br />
du warest me<strong>in</strong>e Sonne,<br />
die Sonne, die mir zugebracht<br />
Licht, Leben, Freud und Wonne.<br />
O Sonne, die das werte Licht<br />
des Glaubens <strong>in</strong> mir zugericht,<br />
wie schön s<strong>in</strong>d de<strong>in</strong>e Strahlen.<br />
Wolfgang Gern
12<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Tat</strong><br />
Mutig handeln und fragen:<br />
Was brauchen Menschen?<br />
Gespräch mit Hubertus Röhrig<br />
Albert: Herr Röhrig, hier <strong>in</strong> <strong>In</strong>gelheim<br />
haben Sie 1963 beim Diakonischen<br />
Werk begonnen. Wie hält man es so<br />
lange <strong>in</strong> <strong>der</strong> Diakonie aus — bis zu<br />
Ihrer Pensionierung im Sommer dieses<br />
Jahres?<br />
Röhrig: Am Anfang hätte ich das<br />
auch nicht vermutet, zumal ich das<br />
erste, fast schockhafte Erlebnis <strong>in</strong><br />
<strong>In</strong>gelheim hatte. Ich sollte die Dekanatsstelle<br />
aufbauen. Ich war alle<strong>in</strong>e<br />
und als mir die Dienststelle übergeben<br />
wurde, kamen zwei Geschäftsführer<br />
aus Frankfurt: „Hier ist das Büro<br />
und jetzt können Sie hier anfangen.<br />
Wir wünschen Ihnen alles Gute.“ Dann<br />
habe ich gefragt: „Was möchten Sie<br />
denn, das ich hier mache?“ „Ja, das<br />
liegt ganz an Ihnen. Das können Sie<br />
machen, wie Sie das für richtig halten.“<br />
Ich dachte, was ist denn das<br />
für e<strong>in</strong> Vere<strong>in</strong>, <strong>der</strong> Menschen e<strong>in</strong>stellt<br />
und nicht weiß, was die sollen. Das<br />
war e<strong>in</strong> Schlüsselerlebnis. Aber das:<br />
„Sie können hier machen, was Sie<br />
wollen“, hat sich während <strong>der</strong> gesamten<br />
Zeit positiv entwickelt. Die Diakonie<br />
hat mir immer die Möglichkeit<br />
gegeben —nicht immer ganz freiwillig<br />
— das zu gestalten, was <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Region notwendig war.<br />
A.: Herr Röhrig, das oft gebrauchte<br />
und missbrauchte Wort vom Urgeste<strong>in</strong><br />
trifft auf Sie zu. Sie s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> sehr bewegliches<br />
Urgeste<strong>in</strong>. Ich denke an das<br />
Neue, das Sie begonnen und entwickelt<br />
haben. Das fällt nicht vom Himmel.<br />
Was war <strong>der</strong> Leitgedanke Ihrer<br />
Arbeit?<br />
Röhrig: Entscheidend für das, was ich<br />
<strong>in</strong> Wiesbaden aufgezogen habe, war<br />
die Frage: Wo brauchen Menschen Begleitung<br />
und Hilfe? Die E<strong>in</strong>richtungen<br />
waren alle neu. Sie waren neu <strong>in</strong> Wiesbaden.<br />
Sie waren neu im Diakonischen<br />
Werk <strong>in</strong> Hessen und Nassau. Die Wohngeme<strong>in</strong>schaft<br />
„Mutter und K<strong>in</strong>d“ zum<br />
Gespräch<br />
Beispiel ist entstanden aus <strong>der</strong> Frage:<br />
was machen wir eigentlich <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
§218-Beratung, die <strong>in</strong> den achtziger<br />
Jahren vom DW übernommen wurde.<br />
Wozu beraten wir? Beratung ist das<br />
E<strong>in</strong>e, aber Beratung ohne Hilfe ist nur<br />
e<strong>in</strong>e Vermittlung, aber woh<strong>in</strong>? Die<br />
Wohngeme<strong>in</strong>schaft war das Ergebnis<br />
dieser Überlegung: Wenn Kirche und<br />
Diakonie Hilfen anbieten, dann müssen<br />
diese Hilfen Leben ermöglichen,<br />
denn viele Frauen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Beratung sagten:<br />
„Ich möchte das K<strong>in</strong>d gerne behalten,<br />
aber ich weiß nicht, wie ich<br />
das schaffen kann.“ Das gab den Ausschlag.<br />
So entstand e<strong>in</strong> Riesenprojekt,<br />
nicht f<strong>in</strong>anziert, ke<strong>in</strong>e Zuschüsse,<br />
ke<strong>in</strong>e Regelf<strong>in</strong>anzierung. Wir haben<br />
lange verhandelt mit <strong>der</strong> Stadt Wiesbaden,<br />
die vom Projekt begeistert war,<br />
mit dem Sozialm<strong>in</strong>isterium. Auch das<br />
Diakonische Werk hat beigesteuert.<br />
So ist dieses Millionenprojekt entstanden.<br />
Die Stadt Wiesbaden hat das<br />
Haus zur Verfügung gestellt und nach<br />
4 <strong>02</strong>
4 <strong>02</strong> Mutig handeln und fragen: Was brauchen Menschen?<br />
unseren Plänen umgebaut. Immer aber<br />
kam die Frage auf, auch von <strong>der</strong> Landesgeschäftsstelle<br />
des Diakonischen<br />
Werkes: „Ist das Aufgabe <strong>der</strong> Diakonie?“<br />
Der Diskussionsprozess um das<br />
Frauenhaus hat sehr lange gedauert.<br />
Ich konnte die Frage gar nicht verstehen.<br />
Hier waren und s<strong>in</strong>d Frauen<br />
<strong>in</strong> Not. Heute ist das Frauenhaus e<strong>in</strong><br />
fester Bestandteil des Diakonischen<br />
Werkes. Dass es <strong>in</strong> Frankfurt immer<br />
mehr Bedenkenträger als Entscheidungsträger<br />
gab, wusste ich. Aber e<strong>in</strong><br />
langer Atem, Überzeugungskraft und<br />
Durchsetzungsvermögen haben es<br />
schließlich doch durchgesetzt. Und so<br />
war es auch mit den an<strong>der</strong>en Projekten.<br />
Wir haben e<strong>in</strong> zweites Hilfesystem<br />
aufgebaut. Wir haben e<strong>in</strong>e große Anzahl<br />
von Menschen gew<strong>in</strong>nen können,<br />
die sich für diese Arbeit f<strong>in</strong>anziell<br />
engagiert haben. Wir haben mit den<br />
Jahren e<strong>in</strong> Verbundsystem von Ehrenamtlichen<br />
und Spen<strong>der</strong>n aufbauen<br />
können, die alle Arbeitsbereiche unterstützt<br />
und f<strong>in</strong>anziell auch <strong>in</strong> schwierigen<br />
Situationen abgesichert haben.<br />
Das hat mit Öffentlichkeitsarbeit zu<br />
tun, mit Identifizierungsmöglichkeiten<br />
<strong>der</strong> Menschen mit e<strong>in</strong>er solchen<br />
E<strong>in</strong>richtung. Ich gestehe, ich b<strong>in</strong> auch<br />
stolz, dass es gelungen ist, so viele<br />
Menschen für praktische Hilfe zu begeistern.<br />
Jeden Tag zum Beispiel wird <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Teestube e<strong>in</strong>e warme Mahlzeit für 70<br />
bis 80 Obdachlose gekocht — nur<br />
mit Ehrenamtlichen, die selbst die<br />
Kosten für die Nahrungsmittel aufbr<strong>in</strong>gen.<br />
Für mich war immer das Ziel,<br />
dass die Hilfe bei den Menschen ankommt,<br />
dass wir Mitarbeiter haben,<br />
die das Projekt weiter entwickeln.<br />
Ich habe e<strong>in</strong>en gewissen Vorbehalt<br />
bei Konzepten, weil Konzepte, wenn<br />
sie e<strong>in</strong>mal geschrieben s<strong>in</strong>d, zum<br />
Statischen verleiten. Mitarbeiter, die<br />
professionell gut arbeiten, die engagiert<br />
s<strong>in</strong>d, die flexibel s<strong>in</strong>d, brauchen<br />
e<strong>in</strong>en weiten Raum für eigene Entscheidungen,<br />
für eigenes Handeln im<br />
13
14<br />
Mutig handeln und fragen: Was brauchen Menschen?<br />
Rahmen e<strong>in</strong>er V<strong>org</strong>abe für ihre Verantwortung.<br />
Das war me<strong>in</strong> Führungspr<strong>in</strong>zip<br />
auch <strong>in</strong> Wiesbaden. Da habe<br />
ich enorme Kreativität erlebt, viel<br />
Phantasie. Zentrale Leitung hat das<br />
Problem, dass sie weit weg ist von<br />
den Menschen, für die wir da s<strong>in</strong>d.<br />
A.: Das führt uns zur Frage nach <strong>der</strong><br />
Rechtsform des Diakonischen Werkes.<br />
Sie haben ja <strong>in</strong> den letzen Jahren die<br />
sogenannte Probe-gGmbH <strong>in</strong> Wiesbaden<br />
geleitet. Welche Rechtsform entspricht<br />
den Diakonischen Werken?<br />
Röhrig: Also wir haben ja über viele<br />
Jahre und das gilt nicht nur für mich,<br />
son<strong>der</strong>n für viele me<strong>in</strong>er Kolleg<strong>in</strong>nen<br />
und Kollegen, gelitten unter den<br />
Strukturen des Diakonischen Werkes.<br />
Ich brauche nur daran er<strong>in</strong>nern, dass<br />
die Dekanatsstellenleiter e<strong>in</strong>e Ausgabeermächtigung<br />
von maximal 150<br />
DM hatten. Wenn wir e<strong>in</strong>en Staubsauger<br />
mit 160 DM anschaffen mussten,<br />
dann brauchten wir e<strong>in</strong>en Antrag<br />
mit Kostenvoranschlägen, <strong>der</strong> <strong>in</strong><br />
Frankfurt entschieden wurde. Auch<br />
die Geschäftsführung hat erkannt, das<br />
geht so nicht weiter. Sie hat e<strong>in</strong>en<br />
mutigen Schritt gemacht und gesagt:<br />
wir wollen Strukturen verän<strong>der</strong>n und<br />
starten zwei Versuche: die gGmbH,<br />
<strong>in</strong> Wiesbaden, und den Eigenbetrieb.<br />
Alle Bewertungen und Beurteilungen<br />
haben klar ergeben: Die gGmbH hat<br />
sich bewährt. Lei<strong>der</strong> ist es dann zu<br />
<strong>der</strong> Entscheidung gekommen, diese<br />
Struktur sei politisch nicht durchsetzbar.<br />
Warum, weiß ich nicht. Nach<br />
me<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>schätzung ist aber die<br />
gGmbH die beste Rechtsform für die<br />
regionalen Diakonischen Werke. Ich<br />
sage aber dazu: nicht alle regionalen<br />
4 <strong>02</strong>
4 <strong>02</strong> Mutig handeln und fragen: Was brauchen Menschen?<br />
Diakonischen Werke s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> gleicher<br />
Weise <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage, diese riesige Verantwortung<br />
zu übernehmen. Darüber<br />
muss sich je<strong>der</strong>, nicht nur <strong>der</strong> Leiter,<br />
son<strong>der</strong>n auch je<strong>der</strong> Mitarbeiter im<br />
Klaren se<strong>in</strong>. Aber die, welche dazu<br />
noch nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage s<strong>in</strong>d, müssen<br />
durch den Landesverband gestärkt<br />
werden. Ich me<strong>in</strong>e auch, das Diakonische<br />
Werk sollte immer <strong>der</strong> Mehrheitsgesellschafter<br />
<strong>der</strong> regionalen gGmbH<br />
se<strong>in</strong>, wenn nicht <strong>der</strong> alle<strong>in</strong>ige Träger.<br />
Ich halte es für bedenklich, die regionalen<br />
Diakonischen Werke bei den<br />
Dekanaten anzub<strong>in</strong>den. Dann besteht<br />
die Gefahr, dass diakonische Entscheidungen<br />
nicht sachgemäß gefällt werden.<br />
Wenn es darum geht, im Diakonischen<br />
Werk e<strong>in</strong>e Sozialarbeiter<strong>in</strong><br />
zu beschäftigen, aber auf <strong>der</strong> Dekanatsebene<br />
steht auch e<strong>in</strong> Kirchenmusikdirektor<br />
dr<strong>in</strong>gend an, dann gibt<br />
es notwendigerweise e<strong>in</strong>e Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung.<br />
Ich halte es für schwierig,<br />
wenn das Diakonische Werk zu<br />
sehr <strong>in</strong> die Strukturen <strong>der</strong> Kirche e<strong>in</strong>gebunden<br />
wird.<br />
Die Väter, die 1960 das Diakonische<br />
Werk gegründet haben, haben recht<br />
daran getan, das Diakonische Werk <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>e eigene Rechtsform unabhängig<br />
von <strong>der</strong> Kirche zu <strong>in</strong>stallieren. Ich<br />
will damit nicht sagen, dass Kirche<br />
und Diakonie etwas unterschiedliches<br />
s<strong>in</strong>d, ne<strong>in</strong>, Diakonie ohne Kirche ist<br />
e<strong>in</strong> Sozialvere<strong>in</strong> ohne eigentlichen<br />
S<strong>in</strong>n, die Kirche ist e<strong>in</strong> leere Hülse<br />
ohne Diakonie. Deswegen gehört beides<br />
zusammen, aber die Strukturen<br />
müssten geän<strong>der</strong>t werden. Wenn sich<br />
die Diakonie als rechtlich selbstständiger<br />
Vere<strong>in</strong> sozialpolitisch äußert,<br />
dann tut sie das aus eigener Verantwortung<br />
und Aufgabenstellung. Die<br />
Kirche muss oft e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Haltung<br />
haben. Ich denke nur an die 218-<br />
Beratung. Wir hatten mal e<strong>in</strong>e heftige<br />
Diskussion mit zwei Theologen aus<br />
<strong>der</strong> Kirchenleitung und <strong>der</strong> Kirchenverwaltung,<br />
als wir die 218-Beratung<br />
aufnahmen. Da hieß es, ihr Berater<strong>in</strong>nen<br />
und Berater müsst aber auch die<br />
Schuldhaftigkeit des Handelns <strong>der</strong><br />
Frauen bei e<strong>in</strong>em Schwangerschaftsabbruch<br />
deutlich machen. Ihr müsst<br />
den Frauen sagen, sie machen sich<br />
mit e<strong>in</strong>em Schwangerschaftsabbruch<br />
schuldig. Aber ihr könnt dann auf<br />
die Barmherzigkeit und die Vergebung<br />
Gottes verweisen. Das war für uns<br />
Sozialarbeiter<strong>in</strong>nen und Sozialarbeiter<br />
nicht zu ertragen. Die Frauen, die <strong>in</strong><br />
die Beratung kommen, haben schon<br />
starke Schuldgefühle, ke<strong>in</strong>e macht<br />
sich e<strong>in</strong>en Abbruch leicht. Es steht<br />
uns nicht zu, ihnen weitere Schuldgefühle<br />
e<strong>in</strong>zureden und dann etwas<br />
von Barmherzigkeit zu erzählen.<br />
A.: Herr Röhrig, diese Spannung zwischen<br />
Diakonie und Kirche bezieht<br />
sich auch auf unsere Mitarbeiterschaft.<br />
Die meisten arbeiten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Diakonie<br />
aus verständlichen bürgerlichen Gründen.<br />
Sie müssen ihre Familie ernähren<br />
und sie wollen e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>teressanten<br />
Beruf haben und sie stehen oft <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er gewissen Spannung zu kirchlichen<br />
und Frömmigkeitsüberlieferungen. Wie<br />
s<strong>in</strong>d Sie als Leiter des regionalen Diakonischen<br />
Werkes <strong>in</strong> Wiesbaden mit<br />
dieser <strong>Tat</strong>sache umgegangen?<br />
Röhrig: Ja, die Auswahl <strong>der</strong> Mitarbeiter<strong>in</strong>nen<br />
und Mitarbeiter lag mir be-<br />
son<strong>der</strong>s am Herzen. Me<strong>in</strong> Leitgedanke<br />
war: Ich suche nicht für e<strong>in</strong> Arbeitsgebiet<br />
den Fachspezialisten, son<strong>der</strong>n<br />
ich suche e<strong>in</strong>e Persönlichkeit, die<br />
Fantasie hat, beweglich ist und die<br />
sich <strong>in</strong> jedem Arbeitsgebiet zurechtf<strong>in</strong>den<br />
kann.<br />
Wir haben junge Leute gewonnen,<br />
auch ältere, die mit Kirche zunächst<br />
nicht viel anzufangen wussten, auch<br />
mit Diakonie nicht. Wir haben ja nun<br />
die Bed<strong>in</strong>gung, das ist auch gut so,<br />
dass die Mitarbeiter <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Kirche<br />
<strong>der</strong> Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft <strong>der</strong> christlichen<br />
Kirchen se<strong>in</strong> müssen, aber wir<br />
haben auch gemerkt, dass durch die<br />
Arbeitsbereiche und durch die V<strong>org</strong>aben<br />
und auch durch die geme<strong>in</strong>same<br />
Arbeit das spezifisch-diakonische<br />
und christliche zum Ausdruck<br />
kam.<br />
A.: Was hat Sie selbst zum Beruf des<br />
Sozialarbeiters geführt? Sie haben <strong>in</strong><br />
Heidelberg die Schule besucht, von<br />
dort aus auch praktiziert. Das war ja<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Hochzeit des Wirtschaftswun<strong>der</strong>s,<br />
als das Soziale noch ke<strong>in</strong> öffentlicher<br />
Gesprächsgegenstand von Rang<br />
geworden war.<br />
Röhrig: Ich wollte Förster werden.<br />
<strong>In</strong> me<strong>in</strong>er Familie gibt es sehr viele<br />
Förster, me<strong>in</strong>e Eltern stammen von<br />
e<strong>in</strong>em großen Gut <strong>in</strong> Westpreußen;<br />
da hatten wir auch sehr viel Wald.<br />
Aber die Berufsberatung beim Heidelberger<br />
Arbeitsamt me<strong>in</strong>te: „Vergessen<br />
Sie das ganz schnell. Die Stellen s<strong>in</strong>d<br />
voll, und die wenigen freien werden<br />
meistens familiär besetzt. Der Sohn<br />
des Försters übernimmt auch wie<strong>der</strong><br />
15
16<br />
Mutig handeln und fragen: Was brauchen Menschen?<br />
4 <strong>02</strong>
4 <strong>02</strong> Mutig handeln und fragen: Was brauchen Menschen?<br />
das Forstrevier.“ Da brach bei mir<br />
e<strong>in</strong>e Welt zusammen. Aber ich hatte<br />
e<strong>in</strong>en geschickten Berufsberater. Er<br />
fragte mich, was ich bisher gemacht<br />
hätte, neben <strong>der</strong> Schule. Da sagte ich:<br />
„Ich b<strong>in</strong> eigentlich seit 15 Jahren <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Evangelischen Jugendarbeit aktiv.“<br />
Daraufh<strong>in</strong> sagte er: „Ja, dann hätte<br />
ich e<strong>in</strong>en Beruf für Sie: Fürs<strong>org</strong>er.“<br />
Ich hatte e<strong>in</strong>e starke kirchliche Sozialisation<br />
<strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Familie. Me<strong>in</strong>e<br />
Eltern, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e me<strong>in</strong> Vater, war<br />
sehr kirchlich engagiert, neben se<strong>in</strong>em<br />
Beruf und se<strong>in</strong>er Tätigkeit als<br />
Beamter im Landwirtschaftsamt. Es<br />
war e<strong>in</strong>e liberale christliche Ges<strong>in</strong>nung,<br />
die mir den Weg geöffnet hat.<br />
So b<strong>in</strong> ich zu diesem Beruf gekommen,<br />
habe zwei Jahre Vorpraktikum <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em evangelischen Erziehungsheim<br />
absolviert und war schließlich Feuer<br />
und Flamme. Das war <strong>der</strong> Beruf für<br />
mich. Diese zwei Jahre haben mich<br />
auch wesentlich geprägt, ganz abgesehen<br />
davon, dass ich damals <strong>in</strong><br />
Lichtenstern me<strong>in</strong>e Frau kennen gelernt<br />
habe — die Tochter des Heimleiters<br />
Klett.<br />
A.: Herr Röhrig, Sie s<strong>in</strong>d seit vielen<br />
Jahren Vorsitzen<strong>der</strong> e<strong>in</strong>es <strong>In</strong>gelheimer<br />
Kirchenvorstandes und auch parteipolitisch<br />
aktiv. Hier haben Sie sich mit<br />
Menschen ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu setzen, die<br />
nicht unbed<strong>in</strong>gt zu den Armen und<br />
Schwachen gehören, zum bevorzugten<br />
Klientel <strong>der</strong> Diakonie. Es gibt auch<br />
die Starken und Reichen.<br />
Röhrig: Sie, Herr Dr. Albert, haben<br />
vor Jahren hier <strong>in</strong> unserer Versöhnungskirche<br />
e<strong>in</strong>e Predigt gehalten,<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong> Satz fiel, <strong>der</strong> im Kirchen-<br />
vorstand zu Diskussionen geführt hat,<br />
<strong>der</strong> auch mich zunächst erschreckt<br />
hat, bis ich sagte: „Ja, genauso ist<br />
es!“ Sie hatten gefragt: „Muss man<br />
eigentlich im Diakonischen Werk erst<br />
mühselig, beladen, gefangen, ausgegrenzt<br />
o<strong>der</strong> sonst was se<strong>in</strong> — um<br />
Hilfen durch das Diakonische Werk<br />
zu bekommen? Wo bleiben denn die<br />
an<strong>der</strong>en?“ Das war sehr provozierend.<br />
Aber es war auch sehr e<strong>in</strong>leuchtend.<br />
Denn es gibt tatsächlich auch e<strong>in</strong><br />
an<strong>der</strong>es Klientel, <strong>der</strong> Durchschnitt <strong>der</strong><br />
gutbürgerlichen Gesellschaft. Selbstverständlich<br />
bieten wir auch hier Hilfen<br />
an: Denken wir nur an die Altenhilfe<br />
o<strong>der</strong> an die Ehe- und Familienberatung.<br />
Das s<strong>in</strong>d oft Menschen,<br />
die eben nicht mühselig und beladen<br />
o<strong>der</strong> arm s<strong>in</strong>d, son<strong>der</strong>n die e<strong>in</strong>fach<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Lebenssituation<br />
die Beratung <strong>der</strong> Diakonie brauchen.<br />
Es war auch nötig, den Armenhausgeruch<br />
<strong>der</strong> Diakonie zu überw<strong>in</strong>den.<br />
A.: Wovor warnen Sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Entwicklung<br />
<strong>der</strong> Diakonie? Was raten Sie?<br />
Röhrig: Ich gehöre ja <strong>in</strong>zwischen zu<br />
den Gestrigen. Aber wenn ich etwas<br />
raten darf: Strukturen schaffen, die<br />
diakonische Arbeit ermöglichen und<br />
nicht erschweren, die nicht Kräfte<br />
absorbieren, die woan<strong>der</strong>s s<strong>in</strong>nvoller<br />
e<strong>in</strong>gebracht werden können. Ich würde<br />
auch raten, zum<strong>in</strong>dest was die Leitung<br />
im Diakonischen Werk <strong>in</strong> Hessen<br />
und Nassau angeht, sich stärker bewusst<br />
werden zu lassen, was man an<br />
<strong>der</strong> Arbeit <strong>in</strong> den regionalen Diakonischen<br />
Werken wirklich hat. Wir<br />
haben oft darunter gelitten, dass wir<br />
nicht richtig wahrgenommen und e<strong>in</strong>-<br />
geschätzt wurden, aber die Diakonie<br />
stellt sich nun mal <strong>in</strong> <strong>der</strong> Region dar<br />
und Kirche wie<strong>der</strong>um def<strong>in</strong>iert sich<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Region oft durch Diakonie. Ich<br />
warne davor, zurückzukehren zu e<strong>in</strong>em<br />
Zentralismus. Das wi<strong>der</strong>spräche dem<br />
Ansatz <strong>der</strong> Diakonie. Ich warne auch,<br />
bei <strong>der</strong> Entwicklung von Projekten nur<br />
darauf zu schielen, wo kriegen wir<br />
die meiste staatliche För<strong>der</strong>ung. Wir<br />
müssen fragen: Was brauchen Menschen?<br />
Wo kann Diakonie Profil zeigen?<br />
Manches müssen wir auch selbst<br />
f<strong>in</strong>anzieren und dafür Spen<strong>der</strong> gew<strong>in</strong>nen.<br />
Ich denke beispielsweise an<br />
Stiftungen. Wir müssen im diakonischen<br />
und auch im kirchlichen Bereich<br />
unsere Kreativität erhalten.<br />
A.: Herr Röhrig, wir könnten uns noch<br />
lange unterhalten über Ihre Griechenland-<br />
und Käfer-Cabrio-Begeisterung.<br />
Ich wünsche Ihnen Zeit, das Land <strong>der</strong><br />
Griechen weiterh<strong>in</strong> mit <strong>der</strong> Seele zu<br />
suchen und zu f<strong>in</strong>den und freilich<br />
viele genussreiche Fahrten mit Ihrem<br />
Cabrio. Von Herzen Dank für das<br />
Gespräch.<br />
Hubertus Röhrig war seit 1963 im Dienst des DWHN<br />
und hat von 1970-20<strong>02</strong> das Regionale Diakonische<br />
Werk Wiesbaden geleitet. Er lebt — wie sollte es<br />
an<strong>der</strong>s se<strong>in</strong> — im Unruhestand <strong>in</strong> <strong>In</strong>gelheim.<br />
17
18<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Tat</strong><br />
„Die Würde des Menschen ist unantastbar<br />
— nicht nur die des starken,<br />
knackig gesunden Arbeitsfähigen.“<br />
Mit diesen Worten hat Pfarrer<br />
Dr. Wolfgang Gern, Vorsitzen<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Evangelischen Obdachlosenhilfe und<br />
des Diakonischen Werkes <strong>in</strong> Hessen<br />
und Nassau (DWHN), die Gäste auf<br />
<strong>der</strong> Bundestagung des Fachverbandes<br />
Tagung<br />
Recht auf Hilfe und<br />
Eigenständigkeit<br />
E V ANGELISCHE O BDACHLOSENHILFE WARNT AUF<br />
B UNDESTAGUNG VOR A USHÖHLUNG DES S OZIALSTAATES<br />
<strong>in</strong> Dresden begrüßt. Rund 350 Menschen<br />
aus dem gesamten Bundesgebiet<br />
waren dort zusammengekommen,<br />
um vom 4. bis 6. November unter dem<br />
Motto „Recht auf Hilfe und Eigenständigkeit“<br />
unterschiedliche Themen<br />
<strong>der</strong> Wohnungslosenhilfe zu diskutieren.<br />
Die Palette reichte von „Än<strong>der</strong>ungen<br />
im Sozialhilferecht seit 2000“<br />
4 <strong>02</strong>
4 <strong>02</strong> Recht auf Hilfe und Eigenständigkeit<br />
über „Wohnungslosigkeit bei Frauen“<br />
bis h<strong>in</strong> zur „Privatisierung des öffentlichen<br />
Raumes.“<br />
Die Mahnung des Bundesvorsitzenden<br />
zu Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Tagung zielte auf<br />
die aktuelle Sozialstaatsdiskussion.<br />
Angesichts <strong>der</strong> schlechten wirtschaftlichen<br />
Konjunktur und steigen<strong>der</strong> Arbeitslosigkeit<br />
führe sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e fatale<br />
Richtung. So beklagt die Evangelische<br />
Obdachlosenhilfe, dass das politische<br />
Programm „För<strong>der</strong>n und For<strong>der</strong>n“ zunehmend<br />
dazu diene, Mittel im Sozialhaushalt<br />
e<strong>in</strong>zusparen, anstatt die<br />
Schwächsten <strong>der</strong> Gesellschaft aufzufangen.<br />
Zahl <strong>der</strong> Wohnungslosen<br />
steigt<br />
Der Verband hat gute Gründe für<br />
se<strong>in</strong>e Warnung: Zum ersten Mal seit<br />
Jahren steigt die Zahl <strong>der</strong> Wohnungslosen<br />
<strong>in</strong> Deutschland wie<strong>der</strong> an. <strong>In</strong><br />
Ballungsregionen wie München, Stuttgart,<br />
Frankfurt und dem Ruhrgebiet<br />
hätten Beratungsstellen rund 30 Prozent<br />
mehr Hilfesuchende gezählt. <strong>In</strong><br />
den Jahren zuvor war dagegen die<br />
Zahl <strong>der</strong> Menschen, die <strong>in</strong> Notunterkünften,<br />
Asylen, <strong>in</strong> Wohnheimen o<strong>der</strong><br />
auf <strong>der</strong> Straße leben müssen, kont<strong>in</strong>uierlich<br />
gesunken. Die Bundesarbeitsgeme<strong>in</strong>schaft<br />
Wohnungslosenhilfe<br />
schätzte ihre Zahl im Jahr 1999 auf<br />
rund 440.000, im Jahr 2001 nur noch<br />
auf 360.000 Menschen. H<strong>in</strong>zu kommen<br />
rund 100.000 Aussiedler. Oft s<strong>in</strong>d sie<br />
nach ihrer Ankunft <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />
<strong>in</strong> Übergangse<strong>in</strong>richtungen<br />
untergebracht. Für diesen Zeitraum<br />
gelten sie ebenfalls als obdachlos.<br />
Als Grund für die steigende Wohnungslosigkeit<br />
nennt die Evangelische<br />
Obdachlosenhilfe die Verfestigung <strong>der</strong><br />
Langzeitarbeitslosigkeit und die somit<br />
gestiegene Sozialhilfebedürftigkeit<br />
<strong>der</strong> Menschen. Zwar sollen die<br />
Sozialämter laut Bundessozialhilfegesetz<br />
bei drohen<strong>der</strong> Wohnungslosigkeit<br />
Mietzahlungen übernehmen. „Aus<br />
Unwissenheit o<strong>der</strong> Unwillen“, so Geschäftsführer<br />
Thomas Poreski, lehnen<br />
viele Sachbearbeiter e<strong>in</strong>e Mietschuldenübernahme<br />
jedoch ab.<br />
Dabei ist es <strong>in</strong> Teilen <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />
<strong>in</strong>zwischen unmöglich, <strong>in</strong><br />
preiswerte, kle<strong>in</strong>e Wohnungen auszuweichen.<br />
Die öffentliche Hand <strong>in</strong>vestiert<br />
weniger <strong>in</strong> den sozialen Wohnungsbau,<br />
Mietb<strong>in</strong>dungen laufen aus.<br />
<strong>In</strong> <strong>der</strong> Folge steigen die Mieten auf<br />
marktübliches Niveau. „Viele Sozialämter<br />
haben ihre Hilfesätze den gestiegenen<br />
Mieten aber nicht angepasst“,<br />
sagte Ulrich Arnold, stellvertreten<strong>der</strong><br />
Vorsitzen<strong>der</strong> <strong>der</strong> Evangelischen<br />
Obdachosenhilfe und Geschäftsführer<br />
des Diakonischen Werks (DW)<br />
Freiburg. So f<strong>in</strong>anziere das Freiburger<br />
Sozialamt nur Wohnungen, die nicht<br />
mehr als fünf Euro pro Quadratmeter<br />
kosten. Die billigsten Mieten würden<br />
mittlerweile aber bei 5,75 Euro liegen.<br />
„Im Moment bereiten wir Menschen<br />
auf e<strong>in</strong> selbständiges Wohnen<br />
vor, um sie anschließend wie<strong>der</strong> auf<br />
die Straße schicken zu müssen“, klagt<br />
Arnold.<br />
„Statt Menschen <strong>in</strong> Not die Rückkehr<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong> normales Leben zu ermöglichen,<br />
werden humane und soziale<br />
Belange e<strong>in</strong>em kurzfristigen Kosten-<br />
kalkül geopfert“, kritisiert <strong>der</strong> Bundesvorsitzende<br />
Dr. Wolfgang Gern. Dabei<br />
gibt es Auswege aus dem Kreislauf<br />
von Arbeitslosigkeit, Verschuldung,<br />
Suchtkrankheit und Wohnungslosigkeit<br />
— und die können sich obendre<strong>in</strong><br />
wirtschaftlich rechnen. E<strong>in</strong> Beispiel<br />
s<strong>in</strong>d „Die Ambulanten Dienste“<br />
zur Vermeidung von Wohnungsverlust,<br />
die auf <strong>der</strong> Tagung v<strong>org</strong>estellt<br />
wurden. Dabei handelt es sich um e<strong>in</strong>e<br />
Kooperation zwischen Sozialamt, <strong>der</strong><br />
Berl<strong>in</strong>er Wohnungsbaugesellschaft<br />
GESOBAU als Vermieter und <strong>der</strong> „Geme<strong>in</strong>nützigen<br />
Gesellschaft zur Betreuung<br />
Wohnungsloser und sozial<br />
Schwacher (GeBeWo)“, die die <strong>In</strong>teressen<br />
<strong>der</strong> Mieter vertritt.<br />
Rat statt Räumung<br />
Die Partnerschaft basiert auf festen<br />
Regeln: Hat sich e<strong>in</strong> Mieter verschuldet,<br />
reicht <strong>der</strong> Vermieter nach<br />
Kündigung <strong>der</strong> Wohnung ke<strong>in</strong>e Räumungsklage<br />
e<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n beauftragt<br />
die „Ambulanten Dienste“. Deren Sozialarbeiter<br />
besuchen den säumigen<br />
Mieter umgehend <strong>in</strong> dessen Wohnung.<br />
Sofern <strong>der</strong> Betroffene kooperieren will,<br />
erarbeiten sie e<strong>in</strong> Konzept zur Entschuldung<br />
und nehmen Kontakt zum<br />
Sozialamt auf. Das Sozialamt wie<strong>der</strong>um<br />
übernimmt die Mietschulden und<br />
leistet wenn nötig weiterführende<br />
Hilfe. Der Vermieter kommt für die<br />
ersten zehn Betreuungsstunden <strong>der</strong><br />
Sozialarbeiter auf. Dafür erhält er nach<br />
spätestens sechs Wochen Bescheid,<br />
ob die Schuldenregulierung erfolgreich<br />
verlaufen wird. Ist das <strong>der</strong> Fall,<br />
verpflichtet er sich zur Weitervermietung.<br />
Wenn nicht, reicht <strong>der</strong> Vermieter<br />
Räumungsklage e<strong>in</strong>.<br />
19
20<br />
Recht auf Hilfe und Eigenständigkeit<br />
<strong>Tat</strong>sächlich profitieren alle Partner<br />
von <strong>der</strong> Zusammenarbeit. Alle<strong>in</strong> im<br />
Jahr 2001 konnte die GeBeWo 47 von<br />
63 Mietern vor drohen<strong>der</strong> Wohnungslosigkeit<br />
bewahren. Die GESOBAU<br />
sparte rund 300.000 Euro, da die<br />
Kosten für Räumungsklagen (rund<br />
4500 Euro pro Fall) und Leerstand<br />
entfielen und die Schulden reguliert<br />
wurden — obwohl sie sich an <strong>der</strong> F<strong>in</strong>anzierung<br />
<strong>der</strong> Sozialarbeiter beteiligte.<br />
Das Sozialamt spart die Unterbr<strong>in</strong>gung<br />
<strong>in</strong> Notunterkünften (rund<br />
3600 Euro jährlich pro Fall ohne Betreuungsangebot)<br />
und m<strong>in</strong>imiert<br />
Folgekosten, die durch den weiteren<br />
sozialen Abstieg Wohnungsloser programmiert<br />
s<strong>in</strong>d. Bei 90 Prozent, so<br />
GeBeWo-Geschäftsführer Robert<br />
Veltmann, wurde die Lebenssituation<br />
<strong>der</strong> Mieter nachhaltig verbessert.<br />
Modell könnte<br />
Schule machen<br />
Bei <strong>der</strong> Evangelischen Obdachlosenhilfe<br />
stößt das Modell auf Zustimmung.<br />
Geschäftsführer Thomas<br />
Poreski: „Wir müssen offener für solche<br />
Projekte werden.“ Und Andreas<br />
Pitz, Fachbereichsleiter Wohnungslosenhilfe<br />
beim DW Ma<strong>in</strong>z-B<strong>in</strong>gen,<br />
kann sich vorstellen, mit den städtischen<br />
Fachstellen zur Wohnungssicherung<br />
über die E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>es <strong>der</strong>artigen<br />
Modells zu verhandeln. „Wir<br />
erfahren häufig erst von den Schulden<br />
e<strong>in</strong>es Mieters, wenn die Räumungsklage<br />
schon e<strong>in</strong>gereicht ist“,<br />
so Pitz. Die Betroffenen aber s<strong>in</strong>d<br />
oft damit überfor<strong>der</strong>t, sich Hilfe zu<br />
holen. „Häufig öffnen sie ja nicht<br />
mal mehr ihre Post“. Daher müsse<br />
man die Menschen rechtzeitig aufsuchen<br />
und ihnen bei <strong>der</strong> Lösung ihrer<br />
Probleme helfen. Willi Mehl, Referent<br />
für Gefährdetenhilfe im DWHN<br />
<strong>in</strong> Frankfurt am Ma<strong>in</strong>, betonte dazu:<br />
„<strong>In</strong> den Beratungsstellen ist die Fachkompetenz<br />
vorhanden, um den Betroffenen<br />
rechtzeitig und nachhaltig<br />
Hilfe anbieten zu können. Voraussetzung<br />
für wirksame Hilfen s<strong>in</strong>d aber<br />
die Bereitschaft zur Zusammenarbeit<br />
und klare Zuständigkeitsregelungen<br />
<strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Verwaltung.“<br />
E<strong>in</strong> faires Angebot<br />
für jeden<br />
Vor e<strong>in</strong>er Überfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Menschen<br />
warnte auch Professor Jost<br />
Bauer. Das Vorstandsmitglied des<br />
Deutschen Vere<strong>in</strong>s, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Armenhilfe engagiert, leitete geme<strong>in</strong>sam<br />
mit Professor<strong>in</strong> Helga Sp<strong>in</strong>dler<br />
von <strong>der</strong> Universität Essen e<strong>in</strong>e Arbeitsgruppe<br />
(AG) zum Thema „För<strong>der</strong>n<br />
und For<strong>der</strong>n.“ Damit griff er die aktuelle<br />
Sozialstaatsdebatte auf. „Wohnungslose<br />
halten e<strong>in</strong>er nach re<strong>in</strong>en<br />
Marktkriterien ausgerichteten Tätigkeit<br />
auf dem ersten o<strong>der</strong> zweiten Arbeitsmarkt<br />
nicht stand“, sagte Bauer.<br />
Viele von ihnen leiden unter physischen<br />
o<strong>der</strong> psychischen Erkrankungen,<br />
so dass sie nicht mit une<strong>in</strong>geschränkt<br />
leistungsfähigen Menschen<br />
konkurrieren können. Die Evangelische<br />
Obdachlosenhilfe for<strong>der</strong>t daher<br />
dauerhaft teilsubventionierte Arbeitsplätze,<br />
die auch für Benachteiligte<br />
greifen. Helga Sp<strong>in</strong>dler kritisierte,<br />
angeblich Arbeitsunwillige mit dem<br />
unmittelbaren Entzug von Sozialleistungen<br />
zu bestrafen. „Ich unterstütze<br />
Sanktionen gegen die, die partout<br />
nicht wollen. Aber es muss für jeden<br />
se<strong>in</strong>en Möglichkeiten entsprechend<br />
und nach klaren Spielregeln def<strong>in</strong>iert<br />
e<strong>in</strong> faires Angebot geben“, so die<br />
Professor<strong>in</strong>.<br />
Tagung e<strong>in</strong> voller Erfolg<br />
<strong>In</strong>sgesamt waren die Teilnehmer<br />
mit dem Tagungsverlauf zufrieden.<br />
Selbst beim geselligen Abend <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Kneipe wurde weiter diskutiert. DWHN-<br />
Referent Mehl, brachte es auf den<br />
Punkt: „So e<strong>in</strong> Kongress bietet neben<br />
<strong>der</strong> Vermittlung von Fachwissen viele<br />
Anregungen und Ideen, die sich erst<br />
im Nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> täglichen Praxis<br />
auswirken.“<br />
Annette Bitter<br />
4 <strong>02</strong>
4 <strong>02</strong><br />
Recht auf Hilfe und Eigenständigkeit<br />
▲<br />
Die Evangelische Obdachlosenhilfe<br />
e.V. wurde 1886 als Deutscher Herbergsvere<strong>in</strong><br />
gegründet. Erst seit 1989<br />
trägt <strong>der</strong> Fachverband des Diakonischen<br />
Werks se<strong>in</strong>en heutigen Namen.<br />
Die Evangelische Obdachlosenhilfe<br />
bietet Hilfe für Menschen <strong>in</strong> sozialer,<br />
materieller, gesundheitlicher und psychischer<br />
Not. Die nächste Bundestagung<br />
f<strong>in</strong>det vom 8. bis 10. November<br />
2004 <strong>in</strong> Freiburg statt.<br />
21
22<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Tat</strong><br />
Manchmal weht <strong>in</strong> dieser Stadt am Ma<strong>in</strong> mit all ihren<br />
Banken, Versicherungen und E<strong>in</strong>kaufszentren e<strong>in</strong> eisiger<br />
W<strong>in</strong>d, <strong>der</strong> gerade jene Menschen aus <strong>der</strong> Bahn zu werfen<br />
droht, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bahnhofsmission o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>swo e<strong>in</strong>en<br />
Ort suchen, an dem man sie <strong>in</strong> Frieden lässt. Als Bahnchef<br />
Hartmut Mehdorn vor gut e<strong>in</strong>em Jahr Obdachlose<br />
aus se<strong>in</strong>er neuen schönen Bahnhofswelt verdrängen wollte,<br />
hatte er nicht mit Schwester Christ<strong>in</strong>e, aber auch nicht<br />
mit <strong>der</strong> geballten Kraft <strong>der</strong> öffentlichen Me<strong>in</strong>ung gerechnet,<br />
die die Arbeit <strong>der</strong> Bahnhofsmissionen mit Wohlwollen<br />
betrachtet und sich eher S<strong>org</strong>en um die Freiheit des<br />
Ortes Bahnhof machte.<br />
Willkommene Gäste<br />
Schwester Christ<strong>in</strong>e hatte sich <strong>in</strong> jenen turbulenten<br />
Tagen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Beitrag im Hessischen Fernsehen vehement<br />
vor ihre „Gäste“ von <strong>der</strong> Bahnhofsmission gestellt.<br />
Seit 1988 ist Christ<strong>in</strong>e Schirrmeister, Diakonisse des 1870<br />
gegründeten Frankfurter Diakonissenhauses, Mitarbeiter<strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Frankfurter Bahnhofsmission, <strong>in</strong> <strong>der</strong> jährlich weit über<br />
100.000 Menschen betreut werden. Ganz „wichtig“ ist ihr<br />
ihre Diakonissen-Tracht nach dem Vorbild des 1836 von<br />
Theodor Fliedner gegründeten Kaiserswerther Mutterhauses,<br />
zu <strong>der</strong> die Haube mit Schleife gehört. Mit ihrer Tracht,<br />
das spürt sie immer wie<strong>der</strong>, verb<strong>in</strong>den die Menschen Hoffnungen,<br />
sie vertrauen ihr, erbitten manchmal ihren Segen,<br />
e<strong>in</strong>ige wenige lehnen sie ab, stoßen ihr die Ellbogen <strong>in</strong><br />
die Rippen. Auch das hat sie schon erlebt.<br />
Porträt<br />
Bei sich und mitten im Leben<br />
Es war schon e<strong>in</strong> weiter Weg von Stett<strong>in</strong>, das heute<br />
<strong>in</strong> Polen liegt, wo Christ<strong>in</strong>e 1940 als älteste Tochter e<strong>in</strong>es<br />
Pfarrers — fünf Geschwister kamen nach ihr — geboren<br />
wurde. Weitere Stationen waren das Pfarrhaus <strong>in</strong> Garz auf<br />
Rügen, <strong>in</strong> dem Anfang des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts <strong>der</strong> deutsche<br />
Historiker, Schriftsteller und Publizist Ernst Moritz<br />
Arndt e<strong>in</strong>- und ausgegangen war, e<strong>in</strong>e Pfarrstelle des aus<br />
englischer Krieggefangenschaft zurückgekehrten Vaters<br />
<strong>in</strong> Grömitz und dann 1951 <strong>der</strong> Umzug <strong>der</strong> Familie <strong>in</strong>s<br />
Frankfurter Bahnhofsviertel <strong>in</strong> die Weißfrauengeme<strong>in</strong>de.<br />
Es folgten Schule und von 1959 bis 1961 e<strong>in</strong>e Ausbildung<br />
als K<strong>in</strong><strong>der</strong>gärtner<strong>in</strong>. Entscheidend für ihren weiteren<br />
Lebensweg wird die Arbeit im Elisabethenhof <strong>in</strong> Marburg,<br />
e<strong>in</strong>em Heim für junge Mädchen mit Erziehungsschwierigkeiten<br />
im Alter von 12 bis Anfang 20, die vor<br />
ihrem Heimaufenthalt oft missbraucht o<strong>der</strong> misshandelt<br />
wurden.<br />
„Dies ist me<strong>in</strong> Platz.“<br />
1964 erlebt sie den plötzlichen Tod von Helga, e<strong>in</strong>er<br />
jungen Mitschwester im Frankfurter Mutterhaus. Ihr Entschluss<br />
ist gefallen: „Dies ist me<strong>in</strong> Platz.“ Ende 1964 tritt<br />
sie als Probeschwester ihren Dienst an, 1967 beg<strong>in</strong>nt<br />
ihr Noviziat. Am 11.5.1972 wird Schwester Christ<strong>in</strong>e<br />
e<strong>in</strong>gesegnet. Den E<strong>in</strong>segnungsspruch von Schwester Helga<br />
aus Psalm 34, 3 wird ihr Noviziatspruch und durch all die<br />
Jahre h<strong>in</strong>durch zu ihrem persönlichen Leitbild: „Me<strong>in</strong>e<br />
Seele soll sich rühmen des Herrn, dass es die Elenden<br />
hören und sich freuen."<br />
4 <strong>02</strong>
4 <strong>02</strong> Porträt: Schwester Christ<strong>in</strong>e Schirrmeister<br />
Und heute 30 Jahre danach: Nach e<strong>in</strong>igen Jahren<br />
Lehrtätigkeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fachschule des Diakonissenhauses<br />
Ende <strong>der</strong> 70er/Anfang <strong>der</strong> 80er Jahre hat sie ihren Platz<br />
gefunden: Bei sich und mitten im Leben, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Frankfurter<br />
Bahnhofsmission, aber auch auf Frankfurts Straßen,<br />
zusammen mit den „Ordensleuten mit <strong>der</strong> Option<br />
für die Armen“. Gerade kommt sie von Liebfrauen, e<strong>in</strong>em<br />
Gottesdienst zum zehnjährigen Bestehen des Franziskustreff<br />
für Obdachlose, danach e<strong>in</strong> Vortag von e<strong>in</strong>em Kapuz<strong>in</strong>erbru<strong>der</strong>:<br />
„Bettelarm und doch reich“. Manchmal begleitet<br />
sie Obdachlose, auch beim Sterben. Ihre Vorbil<strong>der</strong>:<br />
Elisabeth von Thür<strong>in</strong>gen, Franz von Assisi, Jochen Klepper,<br />
Dietrich Bonhoeffer. Gefährliche Orte und unerwünschte<br />
Menschen kennt sie nicht. „Wo die am Rande s<strong>in</strong>d, da ist<br />
die Mitte.“ Was sie liebt? „Die Musik natürlich!“ Sie<br />
musiziert selbst und s<strong>in</strong>gt seit 1979 <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lutherkantorei.<br />
Beson<strong>der</strong>s freut sie sich auf den 4. Advent dieses Jahres,<br />
an dem <strong>in</strong> <strong>der</strong> Frankfurter Heiliggeistkirche das Bach-<br />
Magnificat <strong>in</strong> D-Dur und die Kantate „Nun komm, <strong>der</strong><br />
Heiden Heiland“ aufgeführt wird. <strong>In</strong> ihrer Freizeit fotografiert<br />
sie gerne, „Kle<strong>in</strong>igkeiten am Wege“, e<strong>in</strong>e Rose,<br />
die durch e<strong>in</strong> Dach wächst, mystische Landschaften wie<br />
kürzlich bei e<strong>in</strong>er Fahrt durchs Riesengebirge o<strong>der</strong> auch<br />
„Schnüffelchen“, ihr Meerschwe<strong>in</strong>chen. Was sie an Menschen<br />
schätzt ist Aufrichtigkeit, S<strong>in</strong>n für Gerechtigkeit<br />
und Verständnis für an<strong>der</strong>e: Gerade liest sie e<strong>in</strong>e Biographie<br />
von Alice Schwarzer: „Gräf<strong>in</strong> Dönhoff — e<strong>in</strong><br />
wi<strong>der</strong>ständiges Leben.“<br />
Re<strong>in</strong>er Frey<br />
23
24<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
D IE T A GESSTÄTTE DES<br />
D IAKONISCHEN W ERKES<br />
H OCHTAUNUS BIETET<br />
PSYCHISCH KRANKEN<br />
M ENSCHEN Z UFLUCHT<br />
<strong>Tat</strong><br />
Gegen<br />
die E<strong>in</strong>samkeit <strong>der</strong> Angst<br />
UND B ERATUNG<br />
Sie gehen wie ihre Nachbarn m<strong>org</strong>ens<br />
aus dem Haus und kehren am<br />
Abend wie<strong>der</strong> heim. Unauffällig fügen<br />
sie sich <strong>in</strong> den Rhythmus e<strong>in</strong>, den<br />
das alltägliche Leben v<strong>org</strong>ibt. Für sie<br />
aber ist diese Art <strong>der</strong> Normalität nicht<br />
mehr selbstverständlich. Sie haben<br />
erlebt, wie es ist, das seelische Gleichgewicht<br />
zu verlieren.<br />
Reportage<br />
Brigitte gehört zu ihnen. Seit<br />
sieben Jahren verlässt die 48-Jährige<br />
an Werktagen ihre Wohnung und<br />
macht sich wie 20 an<strong>der</strong>e — so viele<br />
werden <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tagesstätte für psychisch<br />
erkrankte Menschen des Diakonischen<br />
Werkes Hochtaunus <strong>in</strong> Bad<br />
Homburg im Durchschnitt täglich<br />
betreut — auf den Weg. „Ich b<strong>in</strong><br />
manisch-depressiv“, sagt sie gleich<br />
zu Beg<strong>in</strong>n unseres <strong>In</strong>terviews. Unwi<strong>der</strong>ruflich<br />
kl<strong>in</strong>gt dieser Satz. Er<br />
4 <strong>02</strong>
4 <strong>02</strong> Gegen die E<strong>in</strong>samkeit <strong>der</strong> Angst<br />
zieht e<strong>in</strong>e Trennl<strong>in</strong>ie, die <strong>der</strong> Augensche<strong>in</strong><br />
nicht sichtbar macht. Ich stehe<br />
auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en, sie auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />
Seite des Lebens. Und doch sitzen<br />
wir uns ganz alltäglich gegenüber.<br />
Es duftet nach Kaffee, Gebäck steht<br />
auf dem Tisch, während Brigitte mir<br />
mit fester und sicherer Stimme ihre<br />
Lebensgeschichte erzählt: „Ich hatte<br />
ja Pläne und wollte nach me<strong>in</strong>er<br />
Friseur-Ausbildung Maskenbildner<strong>in</strong><br />
werden.“ Doch kam es an<strong>der</strong>s. Sie<br />
heiratete, bekam e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d und gab<br />
ihren Beruf auf. Nach sieben Jahren<br />
folgte die Scheidung. Alle<strong>in</strong>erziehend<br />
arbeitete sie jetzt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Fabrik.<br />
Der Druck wurde für sie jedoch zu<br />
groß, sie erkrankte, wurde manischdepressiv.<br />
<strong>In</strong> diesem Zustand wagte<br />
sie kaum noch e<strong>in</strong>en Schritt vor die<br />
Tür. „Beim E<strong>in</strong>kaufen trat mir an <strong>der</strong><br />
Kasse <strong>der</strong> Angstschweiß auf die Stirn.<br />
Ich hatte das Gefühl, alle beobachten<br />
mich“. Busfahren, Begegnungen<br />
mit Menschen waren kaum noch mög-<br />
lich, die Fahrt zu ihrer Therapeut<strong>in</strong><br />
wagte sie nur noch per Taxi.<br />
Ängste, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />
aufzufallen, s<strong>in</strong>d für psychisch erkrankte<br />
Personen alltäglich. Wer diese<br />
Ängste kennt, weiß um die Leistung,<br />
die je<strong>der</strong> Tagesstätten-Besucher hier<br />
auf se<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>- und Rückwegen regelmäßig<br />
vollbr<strong>in</strong>gt. Gerade deswegen<br />
legt die Leiter<strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>richtung Wert<br />
darauf, dass ihre Klienten täglich<br />
diese Hürde überw<strong>in</strong>den.<br />
Beziehungsfähigkeit<br />
neu lernen<br />
„Psychische Störungen zeigen sich<br />
oft im Kontakt mit an<strong>der</strong>en Menschen.<br />
Die seelisch Erkrankten phantasieren<br />
über die Frage ‚Was denkt <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e<br />
über mich?‘, sie verlieren ihre Freunde,<br />
vere<strong>in</strong>samen. An diesem Punkt setzen<br />
wir an. Wir machen bewusst Beziehungsangebote,<br />
fragen nach <strong>der</strong><br />
Fremd- und Selbstwahrnehmung und<br />
tra<strong>in</strong>ieren den Umgang mit Nähe und<br />
Distanz.“<br />
Wer se<strong>in</strong>e Klienten befähigen will,<br />
wie<strong>der</strong> auf an<strong>der</strong>e Menschen zugehen<br />
zu können, muss zuvor e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive<br />
Beziehung zu ihnen aufbauen.<br />
Aus diesem Grunde wird <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Bad Homburger Tagesstätte mit den<br />
Besuchern e<strong>in</strong>e regelmäßige, verb<strong>in</strong>dliche<br />
Anwesenheit vere<strong>in</strong>bart. „Die<br />
meisten Besucher nutzen unser Angebot<br />
täglich. Und wer dann doch<br />
nicht kommen kann, meldet sich bei<br />
uns ab,“ erklärt Kathr<strong>in</strong> W<strong>in</strong>d. „Unsere<br />
Klienten brauchen verlässliche, klare<br />
Strukturen, die ihnen Halt geben.“<br />
<strong>In</strong>nerhalb dieses Rahmens <strong>der</strong> festen<br />
Tages- und Wochenpläne wird zugleich<br />
größtmögliche Flexibilität e<strong>in</strong>geübt.<br />
„<strong>In</strong> jedem e<strong>in</strong>zelnen Fall müssen wir<br />
prüfen, was angemessen ersche<strong>in</strong>t.<br />
Wenn jemand die Aufgabe übernommen<br />
hat, das Mittagessen zu kochen<br />
und sich dann doch nicht dazu <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
25
26<br />
Gegen die E<strong>in</strong>samkeit <strong>der</strong> Angst<br />
Lage fühlt, reagieren wir darauf unterschiedlich.<br />
Wann müssen die Regeln<br />
streng, wann locker ausgelegt werden?<br />
Das ist e<strong>in</strong> schwieriger Spagat. Jede<br />
Mitarbeiter<strong>in</strong> und je<strong>der</strong> Mitarbeiter<br />
muss dafür e<strong>in</strong> fe<strong>in</strong>es Gespür entwickeln<br />
und selbst herausf<strong>in</strong>den, was<br />
angemessen und gut für die Entwicklung<br />
dieses e<strong>in</strong>en Menschen ist.“<br />
Außerdem gibt es zweck- und freizeitorientierte<br />
„Mitmach-Angebote“,<br />
die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Wochenplan überschaubar<br />
zusammengefasst werden. Dazu gehören<br />
beispielsweise Susanne Büchsels<br />
Musiktherapie: Im Musikzimmer haben<br />
sich sieben Freiwillige e<strong>in</strong>gefunden,<br />
um mit Perkussions-<strong>In</strong>strumenten Töne<br />
zu erzeugen, die beruhigend und auch<br />
befreiend wirken. Dann wird die Musik<br />
zu e<strong>in</strong>er eigenen Sprachform, <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> leichter als mit Worten <strong>der</strong> <strong>in</strong>neren<br />
Stimmung Ausdruck verliehen werden<br />
kann. Brigitte ist nicht im Musikzimmer.<br />
Ihr sagt <strong>der</strong> musikorientierte Weg<br />
weniger zu. „Für mich ist das mehr<br />
Lärm als Musik“, erklärt sie abwehrend.<br />
Sie reizen eher praktische Tätigkeiten<br />
wie Seidenmalerei, Holzspielzeuge<br />
für K<strong>in</strong><strong>der</strong> anfertigen o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>fach<br />
Marmeladen <strong>der</strong> Saison kochen.<br />
Konflikte üben<br />
ohne Zwang<br />
E<strong>in</strong> Übungsterra<strong>in</strong> für soziale Konflikte<br />
ist das Café, das zweimal pro<br />
Woche dienstags und donnerstags von<br />
15 bis 17.30 Uhr für externe Besucher<br />
<strong>org</strong>anisiert wird und Aufgaben<br />
unterschiedlicher Belastungsstufen<br />
anbietet. Denn schon im Vorfeld muss<br />
geplant, e<strong>in</strong>gekauft, gebacken und<br />
gekocht werden. Am Tag selbst werden<br />
dann Tische gedeckt, Gäste bedient<br />
und Gel<strong>der</strong> kassiert. Jede Person<br />
entscheidet frei, welche Arbeit<br />
sie sich zutraut. So gibt es e<strong>in</strong>ige,<br />
die die Speisekarte verfassen, an<strong>der</strong>e,<br />
die nach vorne treten und bedienen.<br />
„Das wirkt nach außen eher ganz rout<strong>in</strong>iert“,<br />
erzählt Kathr<strong>in</strong> W<strong>in</strong>d, „doch<br />
kann es se<strong>in</strong>, dass diejenigen, die gerade<br />
bedienen, zugleich mit Halluz<strong>in</strong>ationen<br />
zu kämpfen haben und Stimmen<br />
hören.“<br />
Welches Ziel die Klienten mit ihren<br />
regelmäßigen Tagesstätten-Besuchen<br />
verb<strong>in</strong>den, ist unterschiedlich und<br />
wird im Rahmen e<strong>in</strong>es Reha- und Be-<br />
4 <strong>02</strong>
4 <strong>02</strong> Gegen die E<strong>in</strong>samkeit <strong>der</strong> Angst<br />
handlungsplans festgelegt. Während<br />
Brigitte <strong>in</strong>zwischen Frührentner<strong>in</strong> ist<br />
und ke<strong>in</strong>e Möglichkeit mehr sieht zu<br />
arbeiten, strebt Thorsten e<strong>in</strong>e Ausbildung<br />
im betreuten Rahmen an.<br />
Der 30-Jährige, <strong>der</strong> seit zwei Jahren<br />
die Tagesstätte besucht, ist während<br />
se<strong>in</strong>er Ausbildung zum E<strong>in</strong>zelhandelskaufmann<br />
erkrankt. <strong>In</strong> <strong>der</strong> Klientengruppe<br />
hat <strong>der</strong> freundliche, hilfsbereite<br />
junge Mann spontan angeboten,<br />
buchhalterische Aufgaben zu übernehmen.<br />
Anfangs fiel es ihm schwer, sich<br />
<strong>in</strong> die Gruppe e<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen. „Ich hatte<br />
Angst vor Menschen und b<strong>in</strong> immer<br />
nur e<strong>in</strong>e Stunde geblieben“, erzählt<br />
er. Doch allmählich hat er se<strong>in</strong>e Angst<br />
abgebaut und bleibt <strong>in</strong>zwischen immer<br />
länger. Knapp e<strong>in</strong>e Stunde Zugund<br />
Busfahrt nimmt er täglich auf<br />
sich, um zur Heuchelheimerstraße 20<br />
zu gelangen. „Hier habe ich e<strong>in</strong>e feste<br />
Tagesstruktur, zuhause fällt mir die<br />
Decke auf den Kopf.“<br />
Familiäre Geb<strong>org</strong>enheit<br />
Thorsten und Brigitte erleben <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Tagesstätte e<strong>in</strong>e familienähnliche<br />
Geb<strong>org</strong>enheit. Am Wochenende müssen<br />
sie sich auf ihre eigenen Kräfte<br />
bes<strong>in</strong>nen. Dieser dem normalen Lebensalltag<br />
nachempfundene Zeitrahmen<br />
soll langfristig die Rückkehr <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong> eigenständiges Leben erleichtern.<br />
Doch auch für Krisen, wenn die Klienten<br />
das Wochenende nicht alle<strong>in</strong><br />
überbrücken können, ist v<strong>org</strong>es<strong>org</strong>t.<br />
Zwar gibt es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Region noch ke<strong>in</strong>en<br />
festen Krisendienst für psychisch<br />
Erkrankte, doch bemüht sich das Tagesstätten-Team,<br />
<strong>in</strong> Akutzeiten aus eigener<br />
Kraft e<strong>in</strong>en Notplan aufzustellen.<br />
„Aufgrund <strong>der</strong> emotionalen Nähe zu<br />
unseren Besuchern wissen wir fast immer,<br />
wann e<strong>in</strong> Krisen-Wochenende<br />
bevorsteht“, erzählt Kathr<strong>in</strong> W<strong>in</strong>d.<br />
„Wir besprechen dann, welche Vertrauensperson<br />
erreichbar ist und wie<br />
solche Zeiten durchgestanden werden<br />
können.“ „Ich fühle mich hier wie <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er großen Familie“, beschreibt<br />
Brigitte ihr momentanes Lebensgefühl.<br />
„Ich habe wie<strong>der</strong> Lachen gelernt<br />
...“<br />
Andrea Pollmeier<br />
27
28<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Ich b<strong>in</strong> du<br />
und du bist ich.<br />
Wir s<strong>in</strong>d verwoben,<br />
sieht man das nicht?<br />
Du hegst die Blume <strong>in</strong> dir,<br />
damit ich schön werde.<br />
Ich verwandle den Unrat <strong>in</strong> mir,<br />
damit du nicht leidest.<br />
Du bist auf die Welt gekommen,<br />
um mir Frieden zu geben.<br />
Ich b<strong>in</strong> auf die Welt gekommen,<br />
um dir Freude zu se<strong>in</strong>.<br />
Thich Nhat Hanh<br />
Dieser Vers „Ich b<strong>in</strong> du, und du<br />
bist ich“ vom vietnamesischen Mönch<br />
und Zenmeister Thich Nhat Hanh hat<br />
mir e<strong>in</strong>e erweiterte Sichtweise <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Arbeit mit beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten Menschen<br />
ermöglicht. Im Vorwort se<strong>in</strong>es Buches<br />
„Das Leben berühren“ steht u.a. folgendes:<br />
„Das Leben berühren —anfassen<br />
— erfühlen — begreifen —<br />
wer will das nicht? Brauchen wir<br />
dafür etwa e<strong>in</strong>e Anleitung?“ Aus dieser<br />
Sichtweise möchte ich gerne me<strong>in</strong>e<br />
Arbeit betrachtet und verstanden<br />
haben.<br />
<strong>Tat</strong><br />
Tausend kle<strong>in</strong>e Schritte<br />
Aus <strong>der</strong> Arbeit <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>-Ramstädter Diakonie<br />
Seitdem ich im För<strong>der</strong>bereich <strong>der</strong><br />
Nie<strong>der</strong>-Ramstädter Diakonie arbeite,<br />
e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>richtung für Menschen mit<br />
Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen, erfahre ich täglich<br />
aufs Neue, welche immense Bedeutung<br />
„das Leben“ an sich für die<br />
Menschen hat, die hier e<strong>in</strong> Zuhause<br />
haben. <strong>In</strong> me<strong>in</strong>er Arbeit als Heilerziehungspfleger<strong>in</strong><br />
erlebe ich deshalb<br />
auch „Berührungen und Begegnungen“<br />
manchmal auf e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e,<br />
auf e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Art und Weise. Es<br />
ist oft e<strong>in</strong> Balanceakt, die sogenannte<br />
„professionelle“ Distanz zu wahren,<br />
aber ebenso dem Bedürfnis <strong>der</strong> beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten<br />
Menschen nach körperlicher<br />
Nähe und Zuwendung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Betreuung<br />
und Beschäftigung gerecht zu<br />
werden. „Berührung“ ist viel mehr<br />
als nur anschauen. „Berührung“ ist<br />
auch immer Begegnung. Und Begegnung<br />
heißt, etwas o<strong>der</strong> jemandem<br />
zu begegnen … vielleicht auch<br />
sich selbst? „Berührung und Begegnung“<br />
kann zu e<strong>in</strong>em Abenteuer werden<br />
<strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Arbeit. Nur wenn ich<br />
bereit b<strong>in</strong>, das Wagnis e<strong>in</strong>zugehen,<br />
e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en zu begegnen, ihn zu<br />
berühren, kann ich selber angerührt<br />
werden.<br />
Reflexionen<br />
Im folgenden Bericht möchte ich<br />
zum e<strong>in</strong>en wichtige Erfahrungen aus<br />
me<strong>in</strong>er Arbeit im För<strong>der</strong>bereich näher<br />
br<strong>in</strong>gen, zum an<strong>der</strong>en ausschnitthaft<br />
e<strong>in</strong>ige Ideen, Möglichkeiten und<br />
Übungen konkret beschreiben, die ich<br />
erfolgreich erprobt habe. Aus allem<br />
kristallisiert sich e<strong>in</strong> Weg zur kreativen<br />
Arbeit für und mit beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten<br />
Menschen heraus, die nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Werkstatt beschäftigt werden können.<br />
E<strong>in</strong> Weg, <strong>der</strong> Mut zum Experimentieren<br />
macht.<br />
Jedes Tun <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Arbeit setzt<br />
e<strong>in</strong>e tragfähige Beziehung zu den<br />
Beschäftigten voraus, die auf gegenseitigem<br />
Vertrauen beruht. Da die<br />
sprachliche Verständigung meist sehr<br />
e<strong>in</strong>geschränkt ist, messe ich Berührungen,<br />
Gesten, Blicken und Sprachmelodien<br />
e<strong>in</strong>e hohen Bedeutung zu.<br />
Sie sagen gleichviel aus wie die<br />
Worte selbst und dienen e<strong>in</strong>er vielseitigen<br />
Form <strong>der</strong> Verständigung, des<br />
Kontaktes und <strong>der</strong> Abgrenzung untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong>.<br />
Das gleiche gilt für mich<br />
als Betreuer<strong>in</strong>.<br />
4 <strong>02</strong>
4 <strong>02</strong> Ich b<strong>in</strong> du, und du bist ich<br />
Die pädagogischen Ziele <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Arbeit mit schwerst- und mehrfachbeh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten<br />
Menschen können sehr<br />
verschieden aussehen. Die erste Frage,<br />
die ich mir stelle, ist immer: „Was<br />
braucht <strong>der</strong> Mensch?“ Das können z.B.<br />
Materialien, Medien und <strong>In</strong>strumente<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> basalen (grundlegenden) Stimulation<br />
se<strong>in</strong>, die S<strong>in</strong>neserfahrung und<br />
Körperwahrnehmung ermöglichen und<br />
för<strong>der</strong>n. E<strong>in</strong> weiteres Ziel kann es<br />
se<strong>in</strong>, sich über bildnerisches Gestalten<br />
(Basteln, Werken, Malen) und über die<br />
Musik auszudrücken, um <strong>der</strong> Kreativität<br />
des E<strong>in</strong>zelnen näher zu kommen.<br />
Entscheidend für me<strong>in</strong>e V<strong>org</strong>ehensweise<br />
und Auswahl von Materialien<br />
und <strong>der</strong> Entwicklung von Varianten,<br />
s<strong>in</strong>d die <strong>in</strong>dividuellen Möglichkeiten.<br />
Die Art, <strong>der</strong> Grad, die Auswirkung <strong>der</strong><br />
Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung erfor<strong>der</strong>n unterschiedliche<br />
pädagogisch-didaktische Konsequenzen.<br />
Es tut gut, wenn Menschen, ansonsten<br />
passiv, Tätigungsräume im<br />
För<strong>der</strong>bereich erleben, die nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
gewohnten Alltagsart zw<strong>in</strong>gend s<strong>in</strong>d.<br />
Ich erfahre, dass e<strong>in</strong>e Beschäftigung<br />
wie „Das Malen“ erholsam und unterhaltend,<br />
zunehmend bildnerisch und<br />
gestaltend se<strong>in</strong> kann.<br />
„Das Malen“ mit Farshid Forusan<br />
beg<strong>in</strong>ne ich nach dem Pr<strong>in</strong>zip „<strong>der</strong> tausend<br />
kle<strong>in</strong>en Schritte.“ Herr Forusan<br />
ist e<strong>in</strong> Mann mittleren Alters und<br />
dem Down Syndrom. Seit se<strong>in</strong>em 18.<br />
Lebensjahr ist er am grauen Star erbl<strong>in</strong>det.<br />
Me<strong>in</strong>e <strong>In</strong>tention mit Herrn<br />
Forusan zu malen, ist das Heranführen<br />
an verschiedene Farbmaterialien<br />
und Mal- <strong>In</strong>strumente, um se<strong>in</strong>e ver-<br />
bliebenen <strong>In</strong>formationen zu entdecken,<br />
neu zu aktivieren, um se<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerung<br />
zu för<strong>der</strong>n.<br />
Unser erstes geme<strong>in</strong>sames Malexperiment<br />
haben wir mit dickflüssiger,<br />
nicht giftiger F<strong>in</strong>germalfarbe<br />
angefangen. Mittels se<strong>in</strong>es Zeigef<strong>in</strong>gers<br />
erfährt Herr Forusan „etwas“<br />
über die Beschaffenheit des Farbmaterials.<br />
Die Weichheit und Konsistenz<br />
ermuntert ihn e<strong>in</strong>ige Male, das<br />
Rot o<strong>der</strong> das Gelb-----peng------mir<br />
mitten <strong>in</strong>s Gesicht zu schnippen. <strong>In</strong><br />
<strong>der</strong> Kennenlernphase bremse ich se<strong>in</strong>e<br />
Spontaneität nicht ab. Ich denke, man<br />
muss auch e<strong>in</strong>mal Quatsch machen<br />
dürfen. So geht das e<strong>in</strong>ige Male …<br />
bis Herr Forusan soweit ist, mit <strong>der</strong><br />
Farbe auf dem Papier zu spielen und<br />
zu klecksen. E<strong>in</strong>e angenehme Atmosphäre<br />
im Raum und e<strong>in</strong>fühlsame Anregungen<br />
wirken sich unterstützend<br />
auf das Ausprobieren se<strong>in</strong>er neuer<br />
Fähigkeiten aus. Herr Forusan ist<br />
durch se<strong>in</strong>e Sehbeh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung noch<br />
mehr als an<strong>der</strong>e Menschen auf die Art<br />
des Umgangs mit se<strong>in</strong>er Person und<br />
se<strong>in</strong>er nächsten Umwelt angewiesen.<br />
Als zweiten Schritt erlebt er das Bestreichen<br />
<strong>der</strong> ganzen Handfläche mit<br />
Farbe. Für mich ist es e<strong>in</strong>e Freude<br />
mit zu erleben, wie dieses Auftragen<br />
bei ihm auf ke<strong>in</strong>erlei Abwehrreaktionen<br />
mehr stößt. Se<strong>in</strong>e Bewegungen<br />
werden <strong>in</strong> den folgenden Malstunden<br />
immer freier und gelöster.<br />
Im Umgang mit den Farben biete ich<br />
als weiteren Versuch verschiedene<br />
Duftöle an. So steht das Rot im Zusammenhang<br />
mit Rosenduft, das Blau<br />
mit Lavendel, das Gelb mit Zitrone.<br />
Ich stelle mir vor, dass für Herrn<br />
Forusan die menschliche Umgebung<br />
wie<strong>der</strong> etwas mehr über die S<strong>in</strong>ne<br />
erfahrbar wird und für ihn somit auch<br />
e<strong>in</strong>en bestimmten Lebenszusammenhang<br />
herstellt. Beim Malen zeigt Herr<br />
Forusan <strong>in</strong> <strong>der</strong> folgenden Zeit immer<br />
mehr Bereitschaft, sich auf weitere<br />
S<strong>in</strong>nese<strong>in</strong>drücke und Mal- Utensilien<br />
e<strong>in</strong>zulassen. <strong>In</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit se<strong>in</strong>er<br />
geliebten „Beatles-Musik“ gew<strong>in</strong>nt<br />
se<strong>in</strong> Spiel mit den Farben noch mehr<br />
an Schwung und Ausdruck. Der P<strong>in</strong>sel<br />
wird kurzerhand zum Mal- Takt-<br />
Stock umfunktioniert. Bei diesen Malerlebnissen<br />
bleibe auch ich nicht<br />
unberührt. Die Lebendigkeit <strong>der</strong><br />
daraus entstehenden Bil<strong>der</strong> baut<br />
emotionale Brücken für alle Beteiligten:<br />
Für me<strong>in</strong>e Kolleg<strong>in</strong> Frau<br />
Greschuchna, die freundlicherweise<br />
unsere Mal- Expeditionen fotografisch<br />
begleitet, sowie für alle an<strong>der</strong>en<br />
Beschäftigten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe. Durch<br />
die Sensibilisierung für den „Stoff“<br />
Farbe ist es Herrn Farshid Forusan gelungen,<br />
sich auf das „Geführte Malen“<br />
mit mir e<strong>in</strong>zulassen und Freude dabei<br />
zu empf<strong>in</strong>den. Se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>neren Bil<strong>der</strong><br />
haben ihren Ausdruck im Außen<br />
gefunden.<br />
<strong>In</strong>geb<strong>org</strong> Huber ist Heilerziehungspfleger<strong>in</strong> im<br />
För<strong>der</strong>bereich <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>-Ramstädter Diakonie.<br />
Seit Ende Oktober 20<strong>02</strong> ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschäftsstelle<br />
des Diakonischen Werkes <strong>in</strong> Hessen und Nassau e<strong>in</strong>e<br />
Ausstellung mit Bil<strong>der</strong>n aus <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>-Ramstädter<br />
Diakonie zu sehen.<br />
29
30<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Tat</strong><br />
Personalien<br />
Pfarrer<strong>in</strong> Kar<strong>in</strong> Herrmann-Brandenburg, seit dem 1. November 20<strong>02</strong> Referent<strong>in</strong><br />
für Frauen und Familie im Diakonischen Werk <strong>in</strong> Hessen und Nassau (DWHN),<br />
ist nach knapp fünf Jahren <strong>in</strong> die Frankfurter Geschäftsstelle zurückgekehrt, <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> sie von 1992 bis 1997 <strong>in</strong> <strong>der</strong> damaligen Abteilung für Theologie und <strong>In</strong>formation<br />
für „Diakonie und Kirche“ zuständig war. 1998 hatte sie zusammen mit ihrem<br />
Mann e<strong>in</strong>e Pfarrstelle <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>-Ramstädter Diakonie mit den Schwerpunkten<br />
Arbeit mit Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen und <strong>der</strong>en Angehörigen angenommen.<br />
Darüber h<strong>in</strong>aus war sie als Supervisor<strong>in</strong> und Lehrbeauftragte an <strong>der</strong> Fachschule für<br />
Heilerziehungspflege tätig: „Auch aufgrund me<strong>in</strong>er Erfahrungen <strong>in</strong> Nie<strong>der</strong>-Ramstadt b<strong>in</strong> ich für Probleme und Themen wie<br />
pränatale Diagnostik, Schwangerschaftskonflikte, aber auch für Fragen <strong>der</strong> ethischen Orientierung und unterstützende Angebote<br />
für werdende Eltern beson<strong>der</strong>s sensibilisiert. Außerdem kann ich mir gut vorstellen, me<strong>in</strong>e Praxis <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fortbildung<br />
und als Pfarrer<strong>in</strong> im Schuldienst gew<strong>in</strong>nbr<strong>in</strong>gend <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e neue Arbeit e<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen.“ Neben konzeptionellen Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />
<strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er sich verän<strong>der</strong>nden Diakonie sieht die gebürtige H<strong>in</strong>terlän<strong>der</strong><strong>in</strong> ihre Aufgaben vor allem <strong>in</strong> <strong>der</strong> Unterstützung<br />
<strong>der</strong> Mitarbeitenden <strong>in</strong> den regionalen Diakonischen Werken sowie <strong>der</strong> betroffenen Frauen und Familien.<br />
Neu <strong>in</strong> den Hauptausschuss des Diakonischen Werkes <strong>in</strong> Hessen und Nassau<br />
(DWHN) gewählt wurde Clarissa Graz. Die gebürtige Dieburger<strong>in</strong> — verheiratet<br />
und Mutter e<strong>in</strong>er Tochter — ist Pfarrer<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Evangelischen Kirchengeme<strong>in</strong>de<br />
Worms-Pfed<strong>der</strong>sheim, wo sie seit Oktober 2001 „<strong>in</strong>tensiv“ die Möglichkeiten<br />
nutzt, die ganze Bandbreite geme<strong>in</strong>dlicher Arbeit und alltäglicher Diakonie kennen<br />
zu lernen und zu gestalten. 1998 hatte sie <strong>in</strong> Heidelberg das erste theologische<br />
Examen abgelegt und e<strong>in</strong> Spezialvikariat im Bereich Personalentwicklung<br />
e<strong>in</strong>er Unternehmensberatung absolviert. Danach folgte e<strong>in</strong> Vikariat im ökumenischen<br />
Geme<strong>in</strong>dezentrum <strong>in</strong> Darmstadt-Kranichste<strong>in</strong> und e<strong>in</strong>e Ausbildung sowie<br />
Tätigkeit als Notfallseels<strong>org</strong>er<strong>in</strong>. Von Dezember 2000 bis September 2001 war sie<br />
Assistent<strong>in</strong> des Vorstandsvorsitzenden des DWHN, Pfarrer Dr. Wolfgang Gern.<br />
Auf <strong>der</strong> diesjährigen Hauptversammlung des Diakonischen Werkes <strong>in</strong> Hessen und Nassau (DWHN) am 13. November 20<strong>02</strong><br />
<strong>in</strong> Frankfurt wurde Pfarrer Dr. Mart<strong>in</strong> Zentgraf <strong>in</strong> den Hauptausschuss des DWHN gewählt. Als Vorstandsvorsitzen<strong>der</strong> des<br />
Hessischen Diakonievere<strong>in</strong>s mit <strong>der</strong>zeit fünf stationären Altenpflege-E<strong>in</strong>richtungen, fünf Krankenhäusern und e<strong>in</strong>er Diakonie-<br />
Schwesternschaft mit mehr als 500 Schwestern und Brü<strong>der</strong>n gehört <strong>der</strong> 1906 von<br />
Pfarrer Johannes Guyot gegründete Vere<strong>in</strong> zu den größeren Rechtsträgern im DWHN.<br />
Der 1955 <strong>in</strong> Ma<strong>in</strong>z geborene Zentgraf studierte von 1974 bis 1979 Evangelische<br />
Theologie und Philosophie <strong>in</strong> Bonn, Genf und Frankfurt am Ma<strong>in</strong>, war drei Jahre<br />
lang wissenschaftlicher Mitarbeiter an <strong>der</strong> Evangelisch-Theologischen Fakultät <strong>der</strong><br />
Universität Bonn, wo er 1983 im Fach Sozialethik promoviert wurde. Danach folgten<br />
14 Jahre als Geme<strong>in</strong>depfarrer <strong>in</strong> Frankfurt am Ma<strong>in</strong>, diakonische Erfahrungen als<br />
Mitglied im Beirat <strong>der</strong> Diakoniestation Frankfurt-<strong>In</strong>nenstadt sowie von 1998 bis<br />
2001 als Vorsteher <strong>der</strong> 1889 gegründeten Stiftung Diakoniewerk Friedenswarte<br />
Bad Ems mit E<strong>in</strong>richtungen <strong>der</strong> stationären Altenpflege, vier Aussiedlerdurchgangswohnheime<br />
und e<strong>in</strong>em Diakonissen-Muttterhaus. Zentgraf, <strong>der</strong> als Hobbys Bildende Kunst und Studienreisen angibt,<br />
ist außerdem Vorstandsmitglied im Arbeitslosenfonds <strong>der</strong> Evangelischen Kirche <strong>in</strong> Hessen und Nassau, Verwaltungsratsmitglied<br />
bei <strong>der</strong> Stiftung Bethesda-St. Mart<strong>in</strong>, Boppard sowie stellvertreten<strong>der</strong> Vorsitzen<strong>der</strong> <strong>der</strong> Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft für<br />
Evangelische Altenhilfe im DWHN.<br />
><br />
4 <strong>02</strong>
<strong>der</strong><strong>Tat</strong><br />
4 <strong>02</strong> <strong>in</strong> Nachruf<br />
„Wo die HOFFNUNG s<strong>in</strong>gt“ *<br />
So war er — e<strong>in</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em hoffnungsvollen<br />
und fröhlichen Temperament<br />
durch und durch anstecken<strong>der</strong><br />
Mensch. Ich sehe ihn <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er früheren<br />
Geme<strong>in</strong>de im Odenwald o<strong>der</strong><br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Studentengeme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> Ma<strong>in</strong>z<br />
o<strong>der</strong> im Zentrum Ökumene <strong>in</strong> Frankfurt<br />
s<strong>in</strong>gend durch Kirchen und Säle<br />
ziehen: „Masithi Amen.“ Bei uns im<br />
Diakonischen Werk hat er viele Begegnungen<br />
mit se<strong>in</strong>en Lie<strong>der</strong>n leicht<br />
und hell werden lassen und Menschen<br />
zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> geführt. Er vermochte es,<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> weltweiten Christenheit durch<br />
se<strong>in</strong> Lie<strong>der</strong>buch „Cantate Dom<strong>in</strong>o“<br />
Maßstäbe zu setzen. Zusammen mit<br />
Doreen Potter bestimmte er seit den<br />
70er Jahren die Gesangskultur und das<br />
liturgische Leben <strong>der</strong> Ökumenischen<br />
Bewegung.<br />
Das ökumenische Lie<strong>der</strong>buch<br />
„Thuma M<strong>in</strong>a“ (1995) gehört heute<br />
zum Grundbestand auch vieler diakonischer<br />
E<strong>in</strong>richtungen — mit den von<br />
ihm verfassten unzähligen neuen Lie<strong>der</strong>n<br />
und den ansprechenden Liedübersetzungen.<br />
Se<strong>in</strong> Engagement führte<br />
zur Gründung <strong>der</strong> „Beratungsstelle für<br />
Gottesdienste und an<strong>der</strong>e Geme<strong>in</strong>deveranstaltungen“<br />
sowie zu se<strong>in</strong>er<br />
Tüb<strong>in</strong>ger Dissertation über „Lernprozess<br />
Gottesdienst“ (1971).<br />
Dieter Trautwe<strong>in</strong> 1928 - 20<strong>02</strong><br />
Aber es wäre zu kurz gegriffen,<br />
wenn nur <strong>der</strong> Lie<strong>der</strong>macher und Komponist<br />
mit se<strong>in</strong>er Begeisterungsfähigkeit<br />
im Mittelpunkt stünde — e<strong>in</strong><br />
Charisma, das auch se<strong>in</strong>e Zeit als<br />
Stadtjugendpfarrer <strong>in</strong> Frankfurt am<br />
Ma<strong>in</strong> von 1963 an begleitete. Er war<br />
bereits seit den 50er Jahren <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Ökumenischen Bewegung engagiert<br />
und hat sich im Kampf gegen die<br />
Apartheid im Südlichen Afrika für<br />
Menschenwürde und Gerechtigkeit tatkräftig<br />
e<strong>in</strong>gesetzt, zusammen mit<br />
Ursula, se<strong>in</strong>er Frau, die die bundesweiten<br />
Aktionen se<strong>in</strong>erzeit mit koord<strong>in</strong>ierte.<br />
Der Frankfurter Propst, das war er<br />
von 1969 an, liebte se<strong>in</strong>e Stadt. Er<br />
war Stimme <strong>der</strong> Stummen, vor allem im<br />
E<strong>in</strong>treten für menschenwürdiges Wohnen<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Metropole. Auch scheute<br />
er sich nicht, entgegenlaufenden <strong>In</strong>teressen<br />
zu wi<strong>der</strong>sprechen. Er hielt<br />
die Geschwisterschaft von Juden und<br />
Christen wach und er<strong>in</strong>nerte se<strong>in</strong>e<br />
Kirche daran, durch die Neuformulierung<br />
des Grundordnungsartikels <strong>der</strong><br />
EKHN. Se<strong>in</strong>e Publikationen zu Oskar<br />
Sch<strong>in</strong>dler haben weltweit Beachtung<br />
gefunden und unersetzliche Impulse<br />
gegen das Vergessen.<br />
Dieter Trautwe<strong>in</strong> ist vielfach geehrt<br />
worden, weil er Kirche und Gesellschaft<br />
ermutigt hat, sich für die<br />
unantastbare Würde jedes Menschen<br />
e<strong>in</strong>zusetzen und Gerechtigkeit für An<strong>der</strong>e<br />
zu suchen. Unser Diakonisches<br />
Werk hat er <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne durch<br />
se<strong>in</strong>e Mitarbeit im Hauptausschuss<br />
geprägt. <strong>In</strong> allem, was er sagte, sang<br />
und tat, wusste er sich von Gottes<br />
Güte getragen, wie auch e<strong>in</strong> Text aus<br />
se<strong>in</strong>en letzten Wochen hervorhebt.<br />
Von Nacht umhüllt<br />
von Ohnmacht befallen<br />
den Blick verstellt<br />
vom Schmerz gequält<br />
teilst du Gott me<strong>in</strong> Leid<br />
verwandelst die Ohnmacht<br />
bist Licht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nacht<br />
verleihst mir den Namen<br />
auf Jesus getauft<br />
<strong>der</strong> niemals vergeht<br />
Wolfgang Gern<br />
* Dieter Trautwe<strong>in</strong>, „Wo die Hoffnung s<strong>in</strong>gt. Lie<strong>der</strong><br />
aus e<strong>in</strong>em weiteren Jahrzehnt“, München: Strube,<br />
20<strong>02</strong>.<br />
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32<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Tat</strong><br />
Hände von Farshid Forusan und <strong>In</strong>geb<strong>org</strong> Huber<br />
Seit Ende Oktober 20<strong>02</strong> ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschäftsstelle des Diakonischen Werkes <strong>in</strong> Hessen und Nassau e<strong>in</strong>e Ausstellung mit Bil<strong>der</strong>n aus <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>-Ramstädter Diakonie zu sehen.<br />
4 <strong>02</strong>