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LEBENSZEIT ALS BELICHTUNGSZEIT - EIN NACHRUF AUF DEN KÜNSTLER PETER MEILCHEN - VON MATTHIAS HAGEDORN<br />
Lebenszeit als Belichtungszeit<br />
Ein <strong>Nachruf</strong> auf <strong>de</strong>n Künstler Peter Meilchen<br />
"Photograf zu sein, heißt nicht nur hinzusehen,<br />
son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>m Blick <strong>de</strong>s An<strong>de</strong>ren standzuhalten."<br />
(Chris Marker)<br />
Eine furiose Analyse eines Bil<strong>de</strong>s <strong>de</strong>s spanischen<br />
Hofmalers Las Menińas diente Michel Foucault<br />
dazu, <strong>de</strong>m Westen die Krise <strong>de</strong>r Repräsentation<br />
zu erklären wie einen Krieg. Foucaults Fragen gibt<br />
<strong>de</strong>r 13.12.1948 in Linz am Rhein geborene, und<br />
27.10.2008 in Arnsberg gestorbene, Peter Meilchen<br />
zurück an die Kunst: Was ist eigentlich zu<br />
sehen<br />
Wer als Betrachter auf eine einfache Antwort hofft,<br />
wird vor Meilchens Arbeiten kapitulieren müssen.<br />
In <strong>de</strong>r Perpetuierung <strong>de</strong>s Verän<strong>de</strong>rlichen ist die<br />
Zeitlichkeit beschlossen – und mit ihr natürlich die<br />
Vergänglichkeit, das Abschnurren <strong>de</strong>r Zeit, wie es<br />
in Meilchens Werk vorgeführt wird. Das Photo hört<br />
auf, die Wahrhaftigkeit <strong>de</strong>s Dargestellten zu behaupten.<br />
Es ist kein Beweis mehr. Es geht um das<br />
Bild, nicht um die Wirklichkeit. So sind bei seinen<br />
Arbeiten eigenartige Verschiebungen entstan<strong>de</strong>n,<br />
die doch aber auch eine gewisse Faszination auslösen.<br />
Diesen Effekt hat Roland Barthes mit <strong>de</strong>m<br />
“punctum” für das Betrachten <strong>von</strong> Photografien<br />
beschrieben: Der Reiz liegt oft in <strong>de</strong>n unbeabsichtigten<br />
Nebensachen, einem Blick, einem Detail,<br />
das nicht ins Bild paßt und gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb besticht.<br />
„Was die Natur <strong>de</strong>r Photographie begrün<strong>de</strong>t«,<br />
schreibt Roland Barthes in »Die helle Kammer«,<br />
„ist die Pose. Dabei ist die reale Dauer dieser<br />
Pose nicht <strong>von</strong> Belang; selbst während einer<br />
Millionstel Sekun<strong>de</strong> hat es immer noch eine Pose gegeben.“ Im Wissen um die Pose<br />
versucht <strong>de</strong>r Peter Meilchen erst gar nicht, Inszeniertes zu kaschieren.<br />
Peter Meilchen läßt sich Zeit, um er <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Zeit eingeholt zu wer<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m er sich<br />
<strong>de</strong>m reinen Schauen hingibt. Sein Geheimnis bleibt es, wie er aus <strong>de</strong>r gelassenen Betrachtung<br />
Funken hervorzaubert, wie aus Beiläufigkeit Farben entstehen. Es ist schwer<br />
zu sagen, was die Bil<strong>de</strong>r <strong>von</strong> Peter Meilchen zu Resonanzräumen macht; ihr Echo hallt<br />
lange nach. Gleichzeitig haben die Aufnahmen eine Präsenz, <strong>de</strong>ren unmittelbarer Appell<br />
wie ein Zauberstab wirkt. Seine Photografie stellt nicht nur die Frage <strong>de</strong>r Ähnlichkeit,<br />
son<strong>de</strong>rn auch die nach <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntität. Diese I<strong>de</strong>ntität mit <strong>de</strong>m abgebil<strong>de</strong>ten Objekt<br />
ist, wie schon Roland Barthes festgestellt hat, eine Fiktion: „Eine Photografie ähnelt<br />
immer nur einer an<strong>de</strong>ren Photografie“, schrieb er in <strong>de</strong>m Essay »Die helle Kammer«.<br />
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Das trifft auf die Bil<strong>de</strong>r <strong>von</strong> Peter Meilchen zu, <strong>de</strong>ssen betonte Gleichartigkeit nicht <strong>de</strong>r<br />
Einfallsarmut, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Konzentration auf ein Thema entspringt, in beson<strong>de</strong>rem<br />
Maße zu. Er inszeniert lokale Eskalationen, <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Umgebung unbeachtete kreatürliche<br />
Exzesse, Momente <strong>de</strong>s Kontrollverlusts und <strong>de</strong>r energischen Entfaltung, in <strong>de</strong>nen<br />
sich das Archaische inmitten urbaner Architekturen gegen je<strong>de</strong>n Ordnungswillen Bahn<br />
bricht. Einer Gesellschaft, die wi<strong>de</strong>rstandslos auf <strong>de</strong>n Fortschritt einschwenkt, so diagnostiziert<br />
<strong>de</strong>r Künstler, machen das kulturelle Unbewusste, die verdrängte Naturzugehörigkeit,<br />
<strong>de</strong>r Körper, ein Wachstums– und Entfaltungswille <strong>de</strong>n verdienten Strich<br />
durch die Rechnung. Die Bil<strong>de</strong>r <strong>von</strong> Peter Meilchen zwingen die Welt in <strong>de</strong>n Paarlauf,<br />
unversöhnlich und untrennbar in eins. So sind all die Zwillinge o<strong>de</strong>r Doppelgänger nur<br />
eine Übertreibung <strong>de</strong>s Wunsches, auf Er<strong>de</strong>n nicht ganz alleine zu sein.<br />
Peter Meilchens Kunst war die literarische Negativ– und Doppelbelichtung. Gestochen<br />
scharf wirken seine imaginären Erinnerungsbil<strong>de</strong>r aus Linz am Rhein, doch pulst in ihnen<br />
auch <strong>de</strong>r Schrecken. Seine skeptisch–ironische Weltsicht einerseits, sein poetisches<br />
Engagement an<strong>de</strong>rseits bringen viele Werke hervor, die verschie<strong>de</strong>ne Positionen<br />
beziehen. Sowohl als bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Künstler, wie auch als Autor ist Peter Meilchen ein Beobachtungsvirtuose,<br />
<strong>de</strong>r viele Preziosen zu bieten hat, Wahrnehmungen, die vielleicht<br />
nicht unbedingt lebenswichtig sind, aber gera<strong>de</strong> in ihrer Fokussierung <strong>de</strong>s Nebensächlichen<br />
<strong>de</strong>m Leser Aha–Erlebnisse und Wie<strong>de</strong>rerkennungseffekte verschaffen. Er nimmt<br />
sich und seinen Figuren kein Blatt vor <strong>de</strong>n Mund, die Brutalitäten in Wort und Bild können<br />
uneingeschränkt <strong>de</strong>filieren. Auch das gehört spätestens seit Rabelais zur Lust am<br />
Grotesken, dieses <strong>de</strong>struktiv–schöpferische Sich–gehen–Lassen, die verbale Ausschweifung.<br />
Reich an Adjektiven, an Partizipien und an sich win<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n, immer in neue<br />
Ecken spähen<strong>de</strong>n Sätzen sind diese ausgefeilten Stücke. Vor allem Farbeindrücke<br />
nehmen darin breiten Raum ein. Zwischen Schwarz und Grün bewegt sich eine »Beobachtung<br />
eines Unsichtbaren«. Die Rückkehr ins Rheinland steht bei »Schimpfen« im<br />
Zeichen <strong>von</strong> Gelbtönen, die so schnell vom Satt–Schönen ins Erdige umschlagen. Und<br />
natürlich geht es bei »Texte«, die so intensiv und bil<strong>de</strong>rreich das Ineinan<strong>de</strong>rgreifen <strong>von</strong><br />
gegenwärtigen und vergangenen Sinneswahrnehmungen ausleuchtet, auch um die<br />
Augenblicke, da das Wahrnehmen in das Verlangen umschlägt, das Wahrgenommene<br />
schreibend zu fixieren. Wenn Peter Meilchen spazieren geht, begegnet ihm ein Übermaß<br />
an Welt. Das muß er bewältigen – mit Sprache, mit Sätzen und Satzfragmenten, in<br />
<strong>de</strong>nen die Welt weiter mäan<strong>de</strong>rt, vibriert und manchmal auch herausbrüllt. Er porträtiert<br />
in seinem Werk eine untergehen<strong>de</strong> Welt – und überwand sie. Opulenz, Wür<strong>de</strong> und Gesellschaftsanalyse<br />
verbin<strong>de</strong>t er wie kein an<strong>de</strong>rer. Wenn wir Romantik als Autonomie<br />
<strong>de</strong>s Imaginären verstehen, dann han<strong>de</strong>lt es sich hier durchaus um romantische »Texte«,<br />
die sich aus <strong>de</strong>r Spannung zwischen Realität und Imagination, Besitzen und Begehren<br />
ergeben. Es sind Texte ohne Gedächtnis, allein <strong>von</strong> Erinnerungen an Bil<strong>de</strong>r, Gerüche,<br />
Gefühle getragen und auf <strong>de</strong>r Suche nach einer zu erzählen<strong>de</strong>n Geschichte. Das ist<br />
keine instrumentale Sprache, die ihren Gedanken schon umschlossen hält und dadurch<br />
auch für nichts Neues und Überraschen<strong>de</strong>s mehr zur Verfügung stehen kann,<br />
son<strong>de</strong>rn eine Sprache <strong>de</strong>s Suchens und Unterwegsseins, <strong>de</strong>r Ahnungen und einer immensen<br />
Lust am Ent<strong>de</strong>cken. Wer <strong>von</strong> seinem Leben erzählt, erzählt immer eine Erfolgsgeschichte.<br />
Wer erzählt, lebt. Schon das ist ein Triumph. Wer erzählt, ist <strong>de</strong>r gewor<strong>de</strong>n,<br />
<strong>de</strong>r erzählen kann. Wer erzählt, ist nicht allein. Er gehört in eine Welt, die seine<br />
Welt gewor<strong>de</strong>n ist. Ganz auf die Ablagerungen <strong>de</strong>r eigenen Biographie setzend und<br />
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ohne Attitü<strong>de</strong> benennt Peter Meilchen so die Quelle seiner reichen und doch nie vagen<br />
»Texte«.<br />
Exemplarisch läßt sich Meilchens Arbeit an einem Multimediaprojekt ver<strong>de</strong>utlichen.<br />
»Schland« ist <strong>de</strong>r Versuch, <strong>de</strong>n Blick gleichsam zu konservieren und mit <strong>de</strong>r Kraft <strong>de</strong>r<br />
Vergewisserung die Seele <strong>de</strong>s Augenblicks festzuhalten. Diese multimediale Arbeit beschreibt<br />
einen akustischen Raum in einem räumlichen Behältnis, <strong>de</strong>m „neuen“<br />
DeutSchland, einem fiktiven Staat, tiefste Provinz. Schland folgt <strong>de</strong>m poetischen<br />
Kernsatz: „Nur die Fiktion ist noch wirklich, weil die Wirklichkeit durch mannigfaltige<br />
Wahrheiten verunstaltet wur<strong>de</strong>.“ Schland ist nicht nur ein Acker in Herdringen, auf <strong>de</strong>m<br />
Milchproduzenten umherlaufen, Schland ist überall. Es geht (ganz im Sinne Poes: „Man<br />
sieht es und sieht doch hindurch“) um <strong>de</strong>n Blick, das Sehen, die Kurzsichtigkeit. Peter<br />
Meilchen präsentiert mit Schland ein durchaus ernsthaftes Projekt über ein Tier, <strong>de</strong>ssen<br />
Faszinationspotenzial gering scheint, <strong>de</strong>m aber ein entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Anteil an <strong>de</strong>r<br />
Sesshaftwerdung <strong>de</strong>s Menschen, also <strong>de</strong>r wesentlichen zivilisationsgeschichtlichen<br />
Wegmarke überhaupt zugesprochen wer<strong>de</strong>n kann. Das Kühe, die gütigen Ammen <strong>de</strong>r<br />
Menschheit sind, wissen wir seit <strong>de</strong>m alten Testament, die Grün<strong>de</strong> dafür, dass <strong>de</strong>r Kuh<br />
eher das Image <strong>von</strong> Behäbig– und Mittelmäßigkeit anhaftet, vollzieht Peter Meilchen in<br />
seinem Projekt nach, in<strong>de</strong>m er zeigt, wie ursprünglich biologische Konstitutionsmerkmale<br />
o<strong>de</strong>r historische Notwendigkeiten mit symbolischem Gehalt gefüllt wer<strong>de</strong>n. Er<br />
präsentiert die körperliche Ruhe <strong>de</strong>r Kuh, die sie zum Sinnbild <strong>de</strong>s Stoischen hat wer<strong>de</strong>n<br />
lassen, mit ihrer Eigenschaft als Beutetier. Für das ist es in freier Wildbahn überlebensnotwendig,<br />
we<strong>de</strong>r Panik noch Schmerz zu zeigen, um nicht die Aufmerksamkeit<br />
<strong>de</strong>s Raubtiers auf sich zu lenken. Ähnlich: ihre Augen. Sie sind dafür geschaffen, ein<br />
maximal großes Sichtfeld zu haben, um Angreifer möglichst früh erkennen zu können.<br />
Uns sind sie in<strong>de</strong>s vor allem Ausdruck <strong>de</strong>r psychischen wie physischen Lethargie <strong>de</strong>r<br />
Kuh. Wie tief gera<strong>de</strong> das Bild <strong>de</strong>r Kuh als Indikator <strong>von</strong> Normalität im kulturellen Gedächtnis<br />
verankert ist, wird beson<strong>de</strong>rs an jenen Untergangsvisionen augenscheinlich,<br />
in <strong>de</strong>nen die Kuh zum Vorboten <strong>de</strong>s Unheils wird, das bald auch <strong>de</strong>n Menschen erreichen<br />
wird. Was mit <strong>de</strong>n Kühen in <strong>de</strong>r biblischen Apokalypse–Darstellung beginnt, setzt<br />
sich fort in amerikanischen Weltuntergangsfilmen wie »Apocalypse Now«, »Twister«<br />
o<strong>de</strong>r »Jurassic Park«, in <strong>de</strong>nen die durch die Luft fliegen<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r schweben<strong>de</strong> Kuh zum<br />
untrügliches Zeichen dafür wird, dass die Welt aus <strong>de</strong>n Fugen geraten ist. Sein Trick<br />
besteht darin, daß es natürlich gar nicht um die Wahrheit über die Kuh geht, son<strong>de</strong>rn<br />
darum, gera<strong>de</strong> durch die verschie<strong>de</strong>nen Projektionen etwas über die die Menschen<br />
und ihre Zeit selbst zu erfahren. Peter Meilchen geht mit seiner Kamera so dicht an die<br />
Dinge dieser Welt heran, daß diese ihren Anspruch aufgeben, Dinge dieser Welt zu sein<br />
– und zum Bild wer<strong>de</strong>n können. Einstudierte Wahrnehmungsklischees wer<strong>de</strong>n hier infrage<br />
gestellt. Im »Wörterbuch <strong>de</strong>r philosophischen Begriffe« <strong>von</strong> 1904 fin<strong>de</strong>t am diese<br />
Definition: "Erhaben ist alles Grosse, Kraftvolle, Mächtige, sofern wir uns ihm gegenüber<br />
klein dünken, wenn wir uns unmittelbar damit vergleichen." Dieses "Wörterbuch"<br />
verweist aber auch auf <strong>de</strong>n Philosophen Edmund Burke, <strong>de</strong>ssen Überlegungen zum<br />
Sublimen <strong>de</strong>n zeitgenössischen Photographien weit näher kommen, <strong>de</strong>nn "nach Burke<br />
ist erhaben, was die Vorstellung <strong>von</strong> Schmerz und Gefahr für uns zu erwecken vermag;<br />
es wirkt angenehm, wenn wir uns sicher fühlen". Peter Meilchen geht mit seiner Kamera<br />
so dicht an die Dinge dieser Welt heran, daß diese ihren Anspruch aufgeben, Dinge<br />
dieser Welt zu sein – und zum Bild wer<strong>de</strong>n können. Sein 'Sehen' ist kein Begaffen,<br />
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son<strong>de</strong>rn existenziell vollzogen. Dringt man bei je<strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rholung tiefer in diese Bil<strong>de</strong>r<br />
ein O<strong>de</strong>r sind es seine Bil<strong>de</strong>r, die tiefer in uns dringen<br />
Peter Meilchen hinterfragt das Klischee, Photografie sei eine objektive Darstellung,<br />
gleichsam ein Ersatz für die Realität. Im 19. und auch noch in weiten Teilen <strong>de</strong>s 20.<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rts haben die Mehrzahl <strong>de</strong>r Menschen, das, was auf Photografien abgebil<strong>de</strong>t<br />
war, tatsächlich geglaubt. Bloß spielt das längst keine Rolle mehr. Kein Mensch <strong>de</strong>nkt<br />
doch heutzutage noch, daß es sich bei Photografie um ein objektives Medium han<strong>de</strong>lt.<br />
Weil die Grenzen <strong>de</strong>r Sprache zugleich die Grenzen <strong>de</strong>r Welt sind, betrifft die meisten<br />
Menschen nur die Welt <strong>de</strong>r Mitteilbarkeit und ihr gemeinsames Symbolsystem, Peter<br />
Meilchens Welt hat an<strong>de</strong>re Grenzen, in ihr können Bil<strong>de</strong>r vorkommen, die sich selbst<br />
be<strong>de</strong>uten. Begreifen ist für diese Bil<strong>de</strong>r das falsche Wort. Wir wer<strong>de</strong>n ergriffen. Vor<br />
<strong>de</strong>m Zugriff dieser Bil<strong>de</strong>r flüchten wir. Wir stellen uns dumm, also empfindungslos. Wir<br />
tun so, als wären wir nicht radikal verunsichert und fragen nach <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung. Wir tun<br />
so, als wüßten wir nicht, daß diese Bil<strong>de</strong>r nichts be<strong>de</strong>uten. Keineswegs ist die Welt also<br />
nur alles, was <strong>de</strong>r Fall ist, <strong>de</strong>r Künstler kann es so zeigen, daß sie uns auf frem<strong>de</strong><br />
Weise vertraut vorkommt.<br />
Weil die Grenzen <strong>de</strong>r Sprache zugleich die Grenzen <strong>de</strong>r Welt sind, betrifft die meisten<br />
Menschen nur die Welt <strong>de</strong>r Mitteilbarkeit und ihr gemeinsames Symbolsystem, Peter<br />
Meilchens Welt hat an<strong>de</strong>re Grenzen, in ihr können Bil<strong>de</strong>r vorkommen, die sich selbst<br />
be<strong>de</strong>uten. Neunzig Prozent <strong>de</strong>r Kunstliteratur scheinen dafür geschrieben, <strong>de</strong>m Betrachter<br />
nicht zu zeigen, was er sieht, son<strong>de</strong>rn ihm vorzugaukeln, was nicht zu sehen ist.<br />
Die Texte stellen sich oft vor die Arbeiten und machen sich wichtig o<strong>de</strong>r be<strong>de</strong>cken die<br />
Blößen <strong>de</strong>r Kunst. Die bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Kunst muß wie<strong>de</strong>r ihren Ort im Dreieck Kunst – I<strong>de</strong>e –<br />
Bild einnehmen. Und eine I<strong>de</strong>e zu einem ganzheitlichen Bild, das unterschiedlichste<br />
Dinge vereint, zu formen, darin besteht die große Aufgabe künstlerischen Schaffens.<br />
Keineswegs ist die Welt also nur alles, was <strong>de</strong>r Fall ist, <strong>de</strong>r Künstler kann es so zeigen,<br />
daß sie uns auf frem<strong>de</strong> Weise vertraut vorkommt. Er verspricht <strong>de</strong>m Betrachter eine<br />
Wirklichkeit, die jene Bildwirklichkeiten nicht mehr benötigt, in welche <strong>de</strong>r Betrachter<br />
seit <strong>de</strong>r Renaissance gleichsam einem Fenster hineinsieht. Ein Bild interessiert mich<br />
nur, wenn es an<strong>de</strong>rs wird als das, was ich mir vorgestellt habe. Ich beginne meine Betrachtung<br />
stets in <strong>de</strong>r Hoffnung, überrascht zu wer<strong>de</strong>n. Mit Bil<strong>de</strong>rn ist es wie mit Wünschen:<br />
Die unerfüllten bleiben intakt, die erfüllten wer<strong>de</strong>n flach. Einer <strong>de</strong>r Vorteile <strong>von</strong><br />
Photographien gegenüber <strong>de</strong>r Wirklichkeit ist die Hemmungslosigkeit, mit <strong>de</strong>r man sie<br />
anstarren darf.<br />
Im Gegensatz zum oft beliebigen High–Tech–Bil<strong>de</strong>rschaschlik wur<strong>de</strong> das Ausgangsmaterial<br />
<strong>von</strong> Schland mit einem scheinbar antiquierten Bildträger gedreht: Super 8<br />
S/W–Material. Mit seiner Hinwendung zum Zelloloid formuliert Peter Meilchen das Bedürfnis<br />
<strong>de</strong>r Rückkehr zu einem Nullpunkt alles Bildnerischen. Die Urbil<strong>de</strong>r verkörpern<br />
die geistige Welt <strong>de</strong>s Neuanfangs, gleichzeitig die Auflösung alles Figürlichen. Die<br />
Nachbearbeitung mit Tipp–Ex, Tinte, Farbstiften und das partielle Zerkratzen <strong>de</strong>r Filmoberfläche<br />
kommentiert und verfrem<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n Film zugleich. Daß sich Peter Meilchen als<br />
Maler mit <strong>de</strong>r Photokamera verstehen, sieht man <strong>de</strong>n Wischeffekten und <strong>de</strong>n unmöglichen<br />
Perspektiven seiner Bil<strong>de</strong>r an. Sein Material wirkt dadurch frisch und vital in <strong>de</strong>r<br />
Verbindung <strong>de</strong>r Photografie mit <strong>de</strong>r Malerei. Das doppelte Potenzial <strong>de</strong>r Photografie,<br />
Dokumente zu erzeugen und Bildkunst zu schaffen, zu einer Grauzone <strong>de</strong>r Über-<br />
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schneidungen zwischen <strong>de</strong>n Genres. Dies irritiert all diejenigen, die Kunst und Photografie<br />
trennen möchten, und rührt an das Tabu, daß Bil<strong>de</strong>r authentisch sein müssen,<br />
aber nicht schön sein dürfen.<br />
Am Anfang seiner Photografie steht <strong>de</strong>r Apparat, <strong>de</strong>r die Topografie <strong>de</strong>r Amnesie verortet.<br />
Der Rest ist mehr o<strong>de</strong>r weniger bewusster Wi<strong>de</strong>rstand gegen die Geschwindigkeit<br />
<strong>de</strong>s Vergessens, welche <strong>de</strong>n Inhalt <strong>de</strong>s Gedächtnisses bestimmt. Photografie läßt<br />
<strong>de</strong>n Augenblick <strong>de</strong>s Sehens wie Lots Weib erstarren und verewigt die tägliche Katastrophe<br />
als Idylle. Auf <strong>de</strong>m Papier ist je<strong>de</strong>s Photo <strong>de</strong>r forensische Beweis eines Verbrechens,<br />
das <strong>de</strong>n Dingen <strong>de</strong>s Lebens ihre Autonomie raubt. Es gibt Photos, die <strong>de</strong>n Blick<br />
schärfen, Dinge sichtbar machen, die das eigene Auge so bislang nicht gesehen hat.<br />
Seit geraumer Zeit hat sich auf diese Weise Photografie einen Platz inmitten <strong>de</strong>r ‚alten’<br />
Künste erobert. Gleichzeitig sind Photos so allgegenwärtig gewor<strong>de</strong>n wie Zuckertütchen<br />
zum Espresso. Sie liegen überall herum, sie süßen unseren Blick in je<strong>de</strong>r Sekun<strong>de</strong>.<br />
Mo<strong>de</strong>photos. Kriegsphotos. Mitleidsphotos. Tiere. Terror. Stars. Sex. Seit die Photos<br />
elektronisch gewor<strong>de</strong>n sind, kreisen riesige Bil<strong>de</strong>rhaufen um die Er<strong>de</strong>, ständig aufblitzend<br />
und abregnend.<br />
Christopher Isherwood behauptete einmal <strong>von</strong> sich: „Ich bin eine Kamera, mit offenem<br />
Verschluss, nehme auf, registriere nur, <strong>de</strong>nke nicht. Eines Tages wer<strong>de</strong> ich all diese<br />
Bil<strong>de</strong>r entwickelt und sorgfältig kopiert und fixiert haben.“ Genau so verfährt <strong>de</strong>r Beobachter<br />
Peter Meilchen. Weit weg da<strong>von</strong>, ein Photorealist zu sein, befragt er die Realität<br />
<strong>de</strong>r heutigen Bildwelten. Der bewegte Körper wird in seinen Bil<strong>de</strong>rn zur signifikanten<br />
Form ohne je<strong>de</strong> Alternative. Und damit gelingt Peter Meilchen die Verklärung <strong>de</strong>s Gewöhnlichen,<br />
<strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Körper und seine Gebär<strong>de</strong>n, die ihn interessieren, sind vergleichsweise<br />
alltägliche Körper und Gebär<strong>de</strong>n. Peter Meilchens Arbeiten sind kühn,<br />
weil er damit das konventionelle Sehen in <strong>de</strong>r Kunst, die zwangsläufige "Erkennbarkeit"<br />
<strong>von</strong> Be<strong>de</strong>utetem und Be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>m, für überholt erklärt. Er schafft eine Kunst, die keine<br />
Pflicht hat, sich durch Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit zu legitimieren. Der<br />
Hinweis auf die "bildnerische Autonomie", die Freiheit <strong>de</strong>r Kunst, auf alles Neue, Unbekannte<br />
zuschreiten zu können und zu müssen, nach einer eigenen, inneren Logik, und<br />
keinerlei Abbildungsauftrag mehr gehorchen zu dürfen, bereitete eine Debatte vor, in<br />
<strong>de</strong>r die mo<strong>de</strong>rne Kunst <strong>de</strong>n flachen Bildmedien <strong>de</strong>n Prozess machen soll. Das Outsourcing<br />
<strong>de</strong>r Motivsuche an vorgefun<strong>de</strong>ne Photos befreit Peter Meilchen <strong>von</strong> <strong>de</strong>r<br />
Pflicht zum Bekenntnis, statt <strong>de</strong>ssen verwen<strong>de</strong>t er als Ausgangspunkt für seine Suche<br />
die behauptete Realität <strong>de</strong>r Photografie, <strong>de</strong>r er misstraut, wie aller Darstellung <strong>von</strong><br />
Realität, und letztlich wie <strong>de</strong>r Wirklichkeit selbst.<br />
Das Gehirn beschäftigt sich zu 80 Prozent mit <strong>de</strong>r so genannten Verarbeitung visuell–<br />
haptischer Eindrücke. »Warum auf Bil<strong>de</strong>rn geweint wird und warum Bil<strong>de</strong>r zum Weinen<br />
bringen«, lautet <strong>de</strong>r Titel eines Buches <strong>von</strong> James Elkins. Wer das Phänomen unterschätzt,<br />
daß Bil<strong>de</strong>r emotionale, körperliche Reaktionen hervorrufen können, wird sich<br />
<strong>de</strong>r Problemtiefe, die <strong>von</strong> visuellen Phänomenen ausgeht, überhaupt nicht nähern können.<br />
Die Bil<strong>de</strong>r gehören nicht <strong>de</strong>r Kunstgeschichte. Sie gehören je<strong>de</strong>m. Zwischen <strong>de</strong>n<br />
rein abstrakten und <strong>de</strong>r rein realen Komposition liegen die Kombinationsmöglichkeiten<br />
<strong>de</strong>r abstrakten und realen Elemente in einem Bild. Diese Kombinationsmöglichkeiten<br />
sind mannigfaltig. Das ist <strong>de</strong>r offene Horizont, vor <strong>de</strong>m sich die Mo<strong>de</strong>rne konstituierte.<br />
Je<strong>de</strong> Form ist vielseitig, also mehrsinnig.<br />
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In seiner kombinatorischen Bildregie zapft er verschie<strong>de</strong>nste Quellen an; die Fremdheit<br />
ist in <strong>de</strong>r Kunst ein kostbares Gut, das es erlaubt, die Wahrnehmung <strong>de</strong>s Alltäglichen<br />
zu brechen und ihr die nötige Distanz zur Gewohnheit einzuhauchen. Peter Meilchens<br />
Bil<strong>de</strong>r haben eine spezifische Signatur und einen speziellen Ort. Vielleicht ist es die irgendwie<br />
aufgelöste Atmosphäre <strong>de</strong>r untergegangenen BRD, und doch formulieren die<br />
Bil<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Einspruch, daß wir auch angesichts ihrer Melancholie gar nicht an<strong>de</strong>rs können,<br />
als uns <strong>de</strong>n Rätseln <strong>de</strong>s bösen Märchens, das man das Leben nennt, immer wie<strong>de</strong>r<br />
zu stellen. Es ist diese doppelte Botschaft, die Peter Meilchens Photografien die<br />
ungeheure Spannung verleiht – zart und grimmig zugleich.<br />
Dem Augen–Blick in seinem wörtlichen, wie auch übertragenen Sinn kommt im Schaffen<br />
Peter Meilchens eine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Be<strong>de</strong>utung zu. Sowohl das mit <strong>de</strong>m Sinnesorgan<br />
Auge aufgenommene Bild, als auch die kurze Dauer seiner Wahrnehmung spielen<br />
eine wichtige Rolle. Auf diese Weise erhält dieses Werk gera<strong>de</strong> durch seine Weltzugewandtheit<br />
jene Beimischung <strong>von</strong> Melancholie, die für eine wahrheitsgemässe Beschreibung<br />
<strong>de</strong>r Wirklichkeit unerläßlich ist. Weil die Photografischen Bil<strong>de</strong>r nicht bewegt<br />
sind wie unsere unmittelbare Wahrnehmung <strong>de</strong>r Welt, können Repräsentation<br />
und Mimesis nicht die angemessenen Dimensionen ihrer Beurteilung sein. Eher lebt<br />
Photografie <strong>von</strong> <strong>de</strong>m Begehren, die Welt zu besitzen, und steht <strong>de</strong>swegen auch in einem<br />
komplizierteren Verhältnis zu <strong>de</strong>n Werten öffentlicher Aufklärung und ethischer<br />
Sensibilisierung, als man es gemeinhin annimmt.<br />
Peter Meilchen ist ein Leser, Privatgelehrter, Autor, immer hart am paradoxen Kern <strong>von</strong><br />
Werkimmanenz und Anthropologie. Aber was er zu zeigen hat, ist nicht erdacht. Er<br />
weiß, daß Verständnis und Be<strong>de</strong>utung eines Kunstwerks sich in <strong>de</strong>r Art und Weise <strong>de</strong>r<br />
Platzierung im Raum zeigen müssen. Während viele Artisten in teleologischen Phrasen<br />
gefangen sind und glauben, Künstler wür<strong>de</strong>n "Grenzen überschreiten", hat er erkannt,<br />
daß und wie sich künstlerische Werke aufeinan<strong>de</strong>r beziehen: geistig. Seine Photografie<br />
fixiert <strong>de</strong>n Augenblick, als wür<strong>de</strong> sie ihn einfrieren. Alles ist hier auf <strong>de</strong>n Moment konzentriert<br />
und berechnet, man bleibt immer außerhalb, diesseits <strong>de</strong>s Spiegels. Den inszenierten<br />
imaginären Blick, <strong>de</strong>n abrupten Eintritt in ein frem<strong>de</strong>s Bild hat Walter Benjamin<br />
einmal so beschrieben: "In <strong>de</strong>r Repräsentation <strong>de</strong>s Menschen durch die Apparatur<br />
hat <strong>de</strong>ssen Selbstentfremdung eine höchst produktive Verwertung erfahren." Was<br />
in <strong>de</strong>r Dunkelkammer verborgen ist, wird an das Tageslicht geholt. Wer in einem Labor<br />
war und die Geburt eines Lichtbilds zwischen Essenzen, Dämpfen und <strong>de</strong>n Schemen<br />
<strong>de</strong>r Laborwelt herbeigeführt hat, <strong>de</strong>r weiß, was für ihn verloren ist, wenn er es nicht<br />
bewußt kultiviert: die Dunkelheit, die Langsamkeit, das Prozeßhafte, die Chemikalien,<br />
<strong>de</strong>r Gestank und das lange Warten auf das Bild. Peter Meilchen sucht <strong>de</strong>n ungewohnten<br />
Ausschnitt, wählt <strong>de</strong>n schrägen Blick, fin<strong>de</strong>t das Detail, die Momente einer heilsamen<br />
Entfremdung zwischen Umwelt und Mensch. Seine Absicht ist es nicht, mit <strong>de</strong>m<br />
Photoapparat zu knipsen, son<strong>de</strong>rn ein Bild zu machen.<br />
Als Künstler führt Peter Meilchen <strong>de</strong>m Betrachter mit seinen Bil<strong>de</strong>rn immer wie<strong>de</strong>r<br />
Wun<strong>de</strong>r und Macht seines Mediums vor. Das Wun<strong>de</strong>r, daß Photografie Weltfragmente<br />
so inszenieren kann, daß sie sich als Puzzleteile in ein mögliches Ganzes fügen, und so<br />
einen Eindruck einer sichtbaren Realität geben, die wir selbst nie kennen gelernt haben.<br />
Und die Macht <strong>de</strong>r Photografie, die uns zeigt, wie es gewesen ist – obwohl es nie so<br />
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war. Nichts als die Photografie selbst spricht: über die Atmosphäre <strong>de</strong>r Zeit, über <strong>de</strong>n<br />
Werkprozess, über <strong>de</strong>n Künstler, welcher das Vergehen <strong>de</strong>r Zeit selbst als sein Material<br />
ent<strong>de</strong>ckt hat. Peter Meilchen arbeiteten meist nicht für einen Auftraggeber, son<strong>de</strong>rn als<br />
passionierter Begleiter, die sich am Ort <strong>de</strong>s Geschehens einfin<strong>de</strong>t. Träumen ist das<br />
wahre Wachsein. Und das Fantastische ist das Wirkliche. Im Medium <strong>de</strong>r Photografie<br />
produziert dies Paradoxon nicht nur Bil<strong>de</strong>r sui generis, son<strong>de</strong>rn hat auch die Möglichkeit<br />
<strong>de</strong>r Verbreitung in Magazinen und Zeitschriften. Durch das lange Warten auf seine<br />
Sichtbarkeit verdichteten sich im analogen Bild wesentlich mehr Momente, und außer<strong>de</strong>m<br />
erhöhte die zeitliche Distanz auch seine Autorität: Denn wenn wir das Bild endlich<br />
in Hän<strong>de</strong>n hielten, kam uns seine Aussage über einen Moment oft wesentlich präziser<br />
vor als unsere Erinnerung daran. Seit <strong>de</strong>n Anfängen <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne beklagte Verlust <strong>de</strong>s<br />
richtigen, weil einzig <strong>de</strong>nkbaren Blicks hat sich mit <strong>de</strong>r digitalen Photografie also<br />
nochmals ver<strong>de</strong>utlicht.<br />
Durch die Digitaltechnik sind die Bil<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Amateurphotografen wahrscheinlich qualitativ<br />
besser gewor<strong>de</strong>n, gleichzeitig hat die Hobby–Praxis an Romantik eingebüsst.<br />
Heute sind die Bil<strong>de</strong>rjäger meist mit kleinsten Apparaten unterwegs, die Weltdaten in<br />
Form <strong>von</strong> Pixeln registrieren, und sie versprechen sich, daß sie alle Gestaltungen o<strong>de</strong>r<br />
Korrekturen dann am Rechner vornehmen wer<strong>de</strong>n. Einst mußten die wichtigsten Bil<strong>de</strong>ntscheidungen<br />
vor Ort schon gefällt wer<strong>de</strong>n, wenn Tage später, die Resultate in Hän<strong>de</strong>n<br />
hielt, war es oft, als begegne man einem seltsam frem<strong>de</strong>n, faszinieren<strong>de</strong>n Stück<br />
Welt, das auf atemberauben<strong>de</strong> Weise mit <strong>de</strong>m eigenen Leben zu tun hat. Manche Panne<br />
kam einem wie Kunst vor, manch unglückliche Perspektive hatte einen seltsam wil<strong>de</strong>n<br />
Charme. Fehler können unbeabsichtigt auftreten und konserviert o<strong>de</strong>r bewußt provoziert<br />
wer<strong>de</strong>n. Die Attraktion <strong>de</strong>s Fehlers hat damit zu tun, daß sich in ihm ein letzter<br />
Rest jenes subjektiv und arbiträr verfahren<strong>de</strong>n Künstlersubjekts bewahrt, das ja in je<strong>de</strong>r<br />
Überantwortung an ein wie auch immer geartetes (permutatives o<strong>de</strong>r aleatorisches)<br />
System eigentlich preisgegeben wird. Analog hergestellte Bil<strong>de</strong>r repräsentieren die<br />
vergangene Zeit auf eine materielle, physische Weise, wie es digitale Bil<strong>de</strong>r nicht tun.<br />
Dem mechanischen Bild haftete immer etwas Verbindliches an, das digitale Bild wirkt<br />
dagegen unverbindlich. Jenseits aller Tricks und Korrekturen glaubte man <strong>de</strong>m analogen<br />
Bild, ja selbst ein<strong>de</strong>utig gestellte Photografien behaupteten stets: „So ist es gewesen“<br />
(Barthes). Das digitale Bild drückt immer etwas an<strong>de</strong>res aus: Selbst wenn es offensichtlich<br />
ganz unverstellt ein Stück Realität abbil<strong>de</strong>t – immer folgt ihm <strong>de</strong>r Gedanke,<br />
daß es auch an<strong>de</strong>rs gewesen sein könnte, daß man es vielleicht an<strong>de</strong>rs darstellen<br />
müßte. Peter Meilchens Bil<strong>de</strong>r halten fest, was nicht festzuhalten ist: die Erscheinung<br />
einer Landschaft, eines Gegenstands, eines Menschen. In seinen Bil<strong>de</strong>rn zeigt sich <strong>de</strong>r<br />
gestalterische Wille das Chaotische <strong>de</strong>r Welt erfolgreich zu bannen. Der Geist, <strong>de</strong>r sie<br />
bestimmt, stammt aus Zeiten <strong>de</strong>r analogen Erzeugung bildnerischer Wun<strong>de</strong>r. In<strong>de</strong>m<br />
seine Photografie <strong>de</strong>n Zeitfluss unterbricht, vollzieht sie eine Inventarisierung <strong>de</strong>r<br />
Sterblichkeit. Seine Bil<strong>de</strong>r springen ins Auge. Auch wenn die Mittel bekannt und so beschaffen<br />
sind, daß digitale Laboranten wohl die Nase rümpfen müssen: Die Ergebnisse<br />
treten als ganz individuelle Entschei<strong>de</strong>, als einzigartige Schöpfungen auf. Es sind bildnerische<br />
Lösungen, Formulierungen mit <strong>de</strong>m Alphabet <strong>de</strong>r analogen Photografie. Am<br />
zutreffendsten ist für sie das Eigenschaftswort packend. Seine Schland–Stücke ergreifen<br />
uns. Ein Fingerdruck genügt, um <strong>de</strong>m Augenblick eine postume Ironie zu verleihen.<br />
Das Motiv <strong>de</strong>s "Tieferhängens" versteht Peter Meilchen ganz wörtlich: Das Kunstwerk<br />
soll <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Höhe, in <strong>de</strong>r es sich in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen i<strong>de</strong>alistischen und romantischen<br />
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Tradition <strong>de</strong>r Kunstbetrachtung befun<strong>de</strong>n hat, abgenommen und auf <strong>de</strong>r Höhe <strong>de</strong>s<br />
Betrachters wie<strong>de</strong>r angebracht wer<strong>de</strong>n. Die in <strong>de</strong>r Rezeption durch die hochhängen<strong>de</strong>n<br />
Bil<strong>de</strong>r eingeübte und durch viele Kunstkommentare weitergegebene Machtgeste, daß<br />
<strong>de</strong>r Kunst per se höhere Autorität zukomme, erkennen sie nicht an. Im Zug <strong>de</strong>r Autonomwerdung<br />
<strong>von</strong> Kunst setzte nicht einfach eine Befreiung <strong>von</strong> Regeln, son<strong>de</strong>rn eine<br />
Verschiebung ein: Die Regelpoetiken konnten sich zwar nicht mehr halten, statt<strong>de</strong>ssen<br />
aber wur<strong>de</strong> die Rezeption <strong>von</strong> Kunst geregelt. Der Künstler wur<strong>de</strong> in seinem Schaffen<br />
frei, <strong>de</strong>r Betrachter dagegen hatte sich unter <strong>de</strong>ssen Genius zu stellen.<br />
Es zunächst egal, ob die Formulierung einer Landschaft im klassischen Tafelbild o<strong>de</strong>r<br />
im Computer geschieht. Das Problem <strong>de</strong>r Bildfindung, ist bei<strong>de</strong> Male das gleiche. Bezieht<br />
man Überlegungen zur traditionellen Theorie <strong>de</strong>r inventio mit in die Betrachtungen<br />
ein, so muß angesichts <strong>de</strong>r hier besprochenen Arbeit ein an<strong>de</strong>res überraschen. Peter<br />
Meilchens Photografisches Auge tastet sich tief in die Landschaft vor, die Bil<strong>de</strong>r sprechen<br />
<strong>von</strong> jener Distanznahme als Form <strong>de</strong>r Annäherung, die weniger <strong>de</strong>r Wirklichkeit<br />
verpflichtet ist als einer überzeitlichen Neuordnung <strong>de</strong>r perspektivisch zusammengezurrten<br />
Gegend. Seine Arbeit kommt <strong>de</strong>r Bildwahrheit am nächsten, insofern er gar<br />
nicht erst vorgibt, Realität zu repräsentieren. Beim seinen Bil<strong>de</strong>rn weiß man immer, daß<br />
sie gemacht sind. In einem Strom medialer Informationen sind diese Bil<strong>de</strong>r eine Art<br />
Haltestelle. Im Rahmen einer Fehlinterpretation <strong>de</strong>r Poetik <strong>von</strong> Horaz hatte man durch<br />
die gesamte Neuzeit unter <strong>de</strong>r potestas au<strong>de</strong>ndi, <strong>de</strong>r Kraft zum Wagnis, die Möglichkeit<br />
mit eingeschlossen, Ungekanntes und Ungesehenes im Bild darzustellen. Ebenfalls<br />
aus <strong>de</strong>r Antike war bekannt, daß die Naturnachahmung jenes hervorbringe, was aus<br />
<strong>de</strong>r Anschauung bekannt sei, die Phantasie aber jenes, was bis anhin noch nie gesehen<br />
wor<strong>de</strong>n sei. Kunstschaffen wird dann zu wahrer Kunst, wenn es sich in <strong>de</strong>m Maß<br />
<strong>von</strong> <strong>de</strong>r Natur löst, wie es eine Entstellung zur Realität erfor<strong>de</strong>rlich macht. Kunst ist<br />
mithin nicht Nachahmung <strong>de</strong>r Natur, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>ren getreue Abbildung durch Überzeichnung.<br />
Es fragt sich angesichts solcher Differenzierungen, ob die mimetische Kraft<br />
eines neuen Mediums wie <strong>de</strong>s Computers sich darin erschöpft, eine zwar fingierte und<br />
dadurch beson<strong>de</strong>rs idyllische Landschaft hervorzubringen, die aber in je<strong>de</strong>m ihrer Bestandteile<br />
schon visuell geläufig ist. Ist das Wie<strong>de</strong>rerkennen, das seit Aristoteles als<br />
Grundlage für das ästhetische Vergnügen bei <strong>de</strong>r Bildbetrachtung gilt, auch hier das<br />
höchste Ziel<br />
In <strong>de</strong>n Anfängen <strong>de</strong>r Photografie erschienen auf <strong>de</strong>n Bil<strong>de</strong>rn mitunter seltsame Geister.<br />
Wie Abgesandte aus <strong>de</strong>m Reich einer doppelt belichteten Wirklichkeit verstärkten sie<br />
das heimliche Grausen, das dieser Technik in ihrem Beginn noch eigen war. Viel ist<br />
seit<strong>de</strong>m geschehen, um die Gespenster zu bannen und <strong>de</strong>r sichtbaren Realität die<br />
Bildhoheit einzuräumen. Doch die Ungewissheit, daß man nicht genau planen konnte,<br />
was auf einer Photografie schließlich zu sehen sein wür<strong>de</strong>, ist erst mit <strong>de</strong>n digitalen<br />
Kameras ganz verschwun<strong>de</strong>n. Mit ihr entschwand die Angewiesenheit <strong>de</strong>r Abbildung<br />
auf die Wirklichkeit überhaupt. Was be<strong>de</strong>utet es, wenn die Spanne, in <strong>de</strong>r das Negativ<br />
<strong>de</strong>r Realität in <strong>de</strong>r Dunkelkammer sich zu einem Bild entwickelte, völlig verloren geht<br />
Weil das Gesehene entzifferbar ist, kann es weitergeschrieben wer<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong>s Bild ein<br />
Trompe–l'Śil, ein Palimpsest. Die Bil<strong>de</strong>r, die wir uns <strong>von</strong> Bil<strong>de</strong>rn zu machen gewohnt<br />
sind, sind selten ein<strong>de</strong>utig. Wir haben gelernt, Kunstwerke als eine Art Geheimnis zu<br />
betrachten, <strong>de</strong>ren wahrer Sinn sich hinter <strong>de</strong>r Oberfläche <strong>de</strong>r Zeichen verbirgt. Nicht<br />
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nur die Welt, son<strong>de</strong>rn auch die Bil<strong>de</strong>r heischen nach Erklärung, so scheint es. Was a-<br />
ber, wenn das Geheimnis zum Rätsel schrumpft und die Oberfläche sich im Vexierspiel<br />
<strong>de</strong>r Täuschung ergeht<br />
Peter Meilchen I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Photografie beruht auf <strong>de</strong>m gestalterischen Grundsatz, wonach<br />
das Know–how – die Beherrschung <strong>de</strong>r Mittel – wertlos ist ohne Know–why, ohne<br />
das Interesse an seinem Motiv. Auf <strong>de</strong>m Weg über unsere Netzhaut verän<strong>de</strong>rt sich ein<br />
Bild, und was es in uns auslöst, wenn es auf unser inneres Auge trifft, kann weit da<strong>von</strong><br />
entfernt sein, was es in Wirklichkeit zur Anschauung bringt. Denn ähnlich wie Proust<br />
mit Büchern ergeht es uns mit Bil<strong>de</strong>rn. Sie rühren uns an, weil wir uns in ihnen wie<strong>de</strong>r<br />
erkennen. Was wir dann sehen, ist eine Fortsetzung <strong>de</strong>s Bil<strong>de</strong>s mit narrativen Mitteln.<br />
Wie viel Ratio erträgt <strong>de</strong>r Mensch, ist die alte und neue Frage. Zwischen <strong>de</strong>r Auffor<strong>de</strong>rung<br />
einer Nötigung <strong>de</strong>r Natur und <strong>de</strong>r Warnung vor Hirngespinsten oszilliert selbst<br />
Kant. Der Grat ist schmal, das Thema hochsensibel, zutiefst nicht nur in <strong>de</strong>r Erkenntnis,<br />
son<strong>de</strong>rn auch in <strong>de</strong>r Erfahrung angesie<strong>de</strong>lt. Das ist eine nicht unbedingt sichere Basis,<br />
jedoch die unausweichliche Bedingung <strong>de</strong>s künstlerischen Tuns. Im Netz fin<strong>de</strong>t sich<br />
ein an<strong>de</strong>res Leuchten in <strong>de</strong>n Bil<strong>de</strong>rn, eine visuelle Kultur <strong>de</strong>r Schnappschüsse. Die Organisation<br />
eines Wahrnehmungsfel<strong>de</strong>s mün<strong>de</strong>t in eine Strategie <strong>de</strong>r Wahrnehmung.<br />
Das Zerstreute zwingt zu konzentrierter Aufmerksamkeit: Es gibt keine Bil<strong>de</strong>r ohne <strong>de</strong>finiertes<br />
Ziel. Die Qualität <strong>de</strong>r Authentifikation eines Ereignisses, eine klare Unterscheidung<br />
<strong>von</strong> Realität und Fiktion wird durch mediales Pathos verunmöglicht. Die Oberfläche<br />
<strong>de</strong>r Welt verän<strong>de</strong>rt sich stark, es sind neue Blickwinkel nötig, um sie zu sehen.<br />
Das Verhältnis kehrt sich um: Die Realität wird zum Abbild <strong>de</strong>r Bil<strong>de</strong>r. Wenn diese Photographie<br />
lebensecht erscheint, dann sollte man sich überlegen, was es be<strong>de</strong>utet, hier<br />
und jetzt zu leben. Photographie ist die Malerei <strong>de</strong>s 21. Jahrhun<strong>de</strong>rts gewor<strong>de</strong>n. Peter<br />
Meilchen Bil<strong>de</strong>r verdichten und bün<strong>de</strong>ln, offenbaren und <strong>de</strong>chiffrieren. Er zeigt uns, daß<br />
er es nicht nur mit <strong>de</strong>n Formaten <strong>de</strong>s Abstrakten Expressionismus, son<strong>de</strong>rn auch mit<br />
<strong>de</strong>r Figurenchoreografie eines Rembrandt o<strong>de</strong>r Tintoretto aufnehmen kann. Er gibt <strong>de</strong>n<br />
Experten neue Aufgaben. Peter Meilchen betreibt Photographie als Nach<strong>de</strong>nken über<br />
die Grundfragen <strong>de</strong>s Mediums selbst: Es geht um das Verhältnis <strong>de</strong>r Photographie zur<br />
Zeit und zur Realität. Während um ihn herum die Bil<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m digitalen Co<strong>de</strong> verfallen,<br />
bleibt er <strong>de</strong>r Entwicklerlösung treu: ein nostalgiefreier Bewahrer <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne. Peter<br />
Meilchen ist verschärft daran interessiert, alle Medien in <strong>de</strong>n Dienst <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e zu stellen.<br />
Unter <strong>de</strong>n Schichten gibt es lauter kleine Geschichten zu ent<strong>de</strong>cken. Ich mag diese I-<br />
<strong>de</strong>e, daß da etwas unter <strong>de</strong>r Oberfläche ist. Erst wenn wir diese begrifflich bisher kaum<br />
erschlossene Logik <strong>de</strong>r Bil<strong>de</strong>r verstehen, verstehen wir, daß es auch ein Denken <strong>de</strong>s<br />
Auges gibt und die Bil<strong>de</strong>r mit ihrem dichten Schweigen längst über unseren visuellen<br />
Zugang zur Welt entschie<strong>de</strong>n haben. Kunstmachen selbst produziert Entscheidungsprozesse,<br />
und die kann man versuchen zu verstehen und zu eigenen Kriterien <strong>de</strong>s Betrachtens<br />
in Beziehung setzen. Künstler sind <strong>de</strong>shalb so empfindsame Menschen, weil<br />
sie nicht irgen<strong>de</strong>in Produkt in die Welt setzt, son<strong>de</strong>rn sich ganz und gar selbst in ihr<br />
Werk begeben. Es ist immer ein schmaler Grat zwischen Kritik an einem Werk und Kritik<br />
an einem Menschen. Es klafft eine riesige Lücke zwischen <strong>de</strong>m spezialisierten A-<br />
vantgar<strong>de</strong>diskurs und einem an komplizierteren Dingen null interessierten Populärdiskurs,<br />
<strong>de</strong>r fast ausschließlich über Gesichter, Auktionszahlen und das Lifestyledrumherum<br />
läuft. Deshalb <strong>de</strong>r Versuch, ein paar Schneisen ins Kunstfeld zu schlagen, eine Art<br />
Navigationsinstrument, nicht mehr und nicht weniger. In Werkstattgalerien wie »Der<br />
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Bogen« wird noch hart am Material experimentiert, hier zirkuliert das Wissen am freiesten,<br />
weil keine Firma, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r wechselseitige Respekt <strong>de</strong>r Artisten über Chancen<br />
und Risiken entschei<strong>de</strong>t. Man weiß, wem man vertrauen kann und wem nicht, man<br />
setzt auf Kreise, die weitere Kreise ziehen, hilft sich gegenseitig und organisiert sich in<br />
Projekten. Alle Künstler, die ich kennen gelernt habe, arbeiten für <strong>de</strong>n Verkauf und die<br />
Galerien, für das Museum, aber Peter Meilchen steht für eine an<strong>de</strong>re I<strong>de</strong>e <strong>von</strong> Kunst.<br />
Mit <strong>de</strong>r Erkenntnis, daß in je<strong>de</strong>r scheinbar noch so objektiven Darstellung immer auch<br />
subjektive Wahrnehmung steckt, läßt sich niemand mehr hinter <strong>de</strong>m Ofen hervorlocken.<br />
Daß die Frage nach <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rgabe <strong>von</strong> Realität noch immer ein interessanter Ausgangspunkt<br />
für Photografische Unternehmungen sein kann, zeigt Peter Meilchen. Bei<br />
aller Medienreflexivität und <strong>de</strong>m Bewußtsein für historisches Gepäck scheint er sich<br />
seinen persönlichen Vorlieben gern hinzugeben. Genau das macht <strong>de</strong>n Reiz dieser Arbeiten<br />
aus. Er eignet sich die bildnerischen Verfahren seiner Vorgänger an, um Irritationen<br />
einzufügen, die wie ein mitunter sehr humorvoller Metatext funktionieren. Daher ist<br />
es nur konsequent, »Schland« zu transformieren und digitally remastered auf DVD anzubieten.<br />
Diese Umwandlung führte bei <strong>de</strong>r analogen Photografie <strong>von</strong> <strong>de</strong>r photografierten<br />
Realität ins digitalisierte Bild und befragt damit die Relevanz <strong>de</strong>s Mediums. Das ist<br />
das Unvergleichliche an Peter Meilchens Kunst: Sie erträgt nicht nur die Viel<strong>de</strong>utigkeit,<br />
ja sogar <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rsinn. Sie setzt die an<strong>de</strong>re Möglichkeit <strong>de</strong>r Deutung gera<strong>de</strong>zu voraus.<br />
Man braucht sich nicht auf die eine und allein gültige Botschaft festzulegen. Seine Bil<strong>de</strong>r<br />
sprechen zum Betrachter in vielen Sprachen. Erst wenn wir fähig wer<strong>de</strong>n, die zahlreichen<br />
und ganz an<strong>de</strong>rs lauten<strong>de</strong>n Botschaften zu entschlüsseln, die das Kunstwerk<br />
bei umsichtigem Befragen aussen<strong>de</strong>t, begreifen wir das Wesentliche. Vieles im Leben<br />
ist ein<strong>de</strong>utig und unmissverständlich. Damit haben wir uns letztlich abzufin<strong>de</strong>n.<br />
<strong>Matthias</strong> <strong>Hagedorn</strong><br />
http://www.textdiebe.<strong>de</strong>/werkstatt/autor.phpautor=1246<br />
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