Heft 73 - Deutsch-Kolumbianischer Freundeskreis eV
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„Hast du nichts, was dich besonders interessiert“<br />
„Nein.“<br />
Als sie mit dem Essen fertig waren, nahm sie abermals<br />
seine Hand und bat ihn, sie anzusehen. Es fiel ihm<br />
nicht leicht, ihrem Blick standzuhalten, den hellbraunen<br />
Augen, die kaum blinzelten. Sie drückte sanft seine Finger,<br />
bevor sie fragte:<br />
„Wenn ich zurückkäme, würdest du dann bei mir<br />
wohnen“<br />
„Ja“, sagte er, ohne zu zögern. Obwohl seine schnelle<br />
Antwort der Wahrheit entsprach, zumindest in diesem<br />
Augenblick, überraschte sie ihn. Die Mutter schaute weg,<br />
zum Fenster. Er wollte dann wissen, wohin sie von hier<br />
weiterreisen würde.<br />
„Heute Abend fliege ich nach Buenos Aires. Ich<br />
habe eine Rolle in einem Film bekommen. Den Halt in<br />
Bogotá habe ich nur deinetwegen gemacht“, antwortete<br />
sie, ohne ihre Hand von seiner zu nehmen.<br />
Sie unterhielten sich eine Weile. Er erzählte ihr von<br />
Literarisches<br />
der Schule, den Prüfungen und lachte, als sie ihn fragte,<br />
ob er eine Freundin hätte. Dann erschien sein Vater und<br />
begrüßte sie zufrieden, mit einem kurzen Kuss auf den<br />
Mund. Er begriff, dass sie schon vorher miteinander gesprochen<br />
und vereinbart hatten, dass der Vater sie zum<br />
Flughafen bringen würde. Er versicherte ihnen, dass es<br />
kein Problem für ihn sei, allein in die Wohnung zurückzufahren.<br />
Er würde ein Taxi nehmen. Die Mutter begleitete<br />
ihn zum Ausgang, nahm seinen Kopf in beide Hände und<br />
küsste ihn sanft auf beide Wangen. Es kam ihm vor, als<br />
sei plötzlich ein Glanz in ihren Augen.<br />
Eine Woche später, nachdem er ihre Postkarte aus<br />
Argentinien gelesen hatte, fragte er den Vater, ob er es für<br />
möglich halte, dass die Mutter für immer zurückkäme.<br />
„Ich glaube nicht“, antwortete er ohne Bedauern,<br />
„nicht in diese Stadt.“<br />
mit freundlicher Erlaubnis des Herausgebers Peter Schultze-Kraft<br />
Julio Paredes, 1957 in Bogotá geboren, ist einer der<br />
herausragenden Erzähler der dritten Generation nach<br />
García Márquez. Er studierte Philosophie und Literaturwissenscha<br />
an der Universidad de los Andes in Bogotá<br />
und an der Universidad Complutense in Madrid. Er war<br />
Verlagslektor und hat eine Reihe von Büchern aus dem<br />
Englischen übersetzt. Derzeit lebt er mit seiner Frau und<br />
seinen zwei Töchtern in Bogotá. Anfang Juni 2007 wird<br />
er zu Lesungen in Berlin, Bremen und Hamburg erwartet<br />
(jeweils im Instituto Cervantes).<br />
Zu seinen wichtigsten Werken gehören drei Erzählungsbände,<br />
Salón Jupiter y otros cuentos (1994), Guía<br />
para extraviados (1997),<br />
Asuntos familiares (2000) sowie zwei Romane, La<br />
celda sumergida (2003) und Cinco tardes con Simenon<br />
(2003).<br />
Peter Schultze-Kraft<br />
Julio Paredes<br />
Julio Paredes<br />
Foto zur Verfügung gestellt von Peter Schulltze-Kra<br />
„Kolumbien aktuell“ <strong>Heft</strong> Nr. <strong>73</strong>/2007