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Heft 73 - Deutsch-Kolumbianischer Freundeskreis eV

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42<br />

„Hast du nichts, was dich besonders interessiert“<br />

„Nein.“<br />

Als sie mit dem Essen fertig waren, nahm sie abermals<br />

seine Hand und bat ihn, sie anzusehen. Es fiel ihm<br />

nicht leicht, ihrem Blick standzuhalten, den hellbraunen<br />

Augen, die kaum blinzelten. Sie drückte sanft seine Finger,<br />

bevor sie fragte:<br />

„Wenn ich zurückkäme, würdest du dann bei mir<br />

wohnen“<br />

„Ja“, sagte er, ohne zu zögern. Obwohl seine schnelle<br />

Antwort der Wahrheit entsprach, zumindest in diesem<br />

Augenblick, überraschte sie ihn. Die Mutter schaute weg,<br />

zum Fenster. Er wollte dann wissen, wohin sie von hier<br />

weiterreisen würde.<br />

„Heute Abend fliege ich nach Buenos Aires. Ich<br />

habe eine Rolle in einem Film bekommen. Den Halt in<br />

Bogotá habe ich nur deinetwegen gemacht“, antwortete<br />

sie, ohne ihre Hand von seiner zu nehmen.<br />

Sie unterhielten sich eine Weile. Er erzählte ihr von<br />

Literarisches<br />

der Schule, den Prüfungen und lachte, als sie ihn fragte,<br />

ob er eine Freundin hätte. Dann erschien sein Vater und<br />

begrüßte sie zufrieden, mit einem kurzen Kuss auf den<br />

Mund. Er begriff, dass sie schon vorher miteinander gesprochen<br />

und vereinbart hatten, dass der Vater sie zum<br />

Flughafen bringen würde. Er versicherte ihnen, dass es<br />

kein Problem für ihn sei, allein in die Wohnung zurückzufahren.<br />

Er würde ein Taxi nehmen. Die Mutter begleitete<br />

ihn zum Ausgang, nahm seinen Kopf in beide Hände und<br />

küsste ihn sanft auf beide Wangen. Es kam ihm vor, als<br />

sei plötzlich ein Glanz in ihren Augen.<br />

Eine Woche später, nachdem er ihre Postkarte aus<br />

Argentinien gelesen hatte, fragte er den Vater, ob er es für<br />

möglich halte, dass die Mutter für immer zurückkäme.<br />

„Ich glaube nicht“, antwortete er ohne Bedauern,<br />

„nicht in diese Stadt.“<br />

mit freundlicher Erlaubnis des Herausgebers Peter Schultze-Kraft<br />

Julio Paredes, 1957 in Bogotá geboren, ist einer der<br />

herausragenden Erzähler der dritten Generation nach<br />

García Márquez. Er studierte Philosophie und Literaturwissenscha<br />

an der Universidad de los Andes in Bogotá<br />

und an der Universidad Complutense in Madrid. Er war<br />

Verlagslektor und hat eine Reihe von Büchern aus dem<br />

Englischen übersetzt. Derzeit lebt er mit seiner Frau und<br />

seinen zwei Töchtern in Bogotá. Anfang Juni 2007 wird<br />

er zu Lesungen in Berlin, Bremen und Hamburg erwartet<br />

(jeweils im Instituto Cervantes).<br />

Zu seinen wichtigsten Werken gehören drei Erzählungsbände,<br />

Salón Jupiter y otros cuentos (1994), Guía<br />

para extraviados (1997),<br />

Asuntos familiares (2000) sowie zwei Romane, La<br />

celda sumergida (2003) und Cinco tardes con Simenon<br />

(2003).<br />

Peter Schultze-Kraft<br />

Julio Paredes<br />

Julio Paredes<br />

Foto zur Verfügung gestellt von Peter Schulltze-Kra<br />

„Kolumbien aktuell“ <strong>Heft</strong> Nr. <strong>73</strong>/2007

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