Lesestoff-Jahresausgabe 2012 - GamersGlobal
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Videospiele als Kulturgut<br />
Videospiele: „Das soll Kunst sein!“<br />
Von GG-User Freylis – veröffentlicht am 17. Dezember <strong>2012</strong> | <strong>GamersGlobal</strong>.de: Onlineversion lesen<br />
Der Soundtrack meines liebsten Rollenspiels, den ich soeben unbewusst in aller Öffentlichkeit<br />
zum Besten gegeben hatte, war natürlich nicht gerade Mozarts 5825. Requiemitüde<br />
in D-Mollig mit normkulturellem Legitimations-Stempel gewesen. Aber es war zu spät,<br />
jetzt noch einen Rückzieher zu machen. Diesmal ging ich in die Offensive!<br />
Es geschah während meiner Studienzeit an einem<br />
verregneten Sonntag Nachmittag im Gemeinschaftsraum<br />
eines Marburger Studentenwohnheims. Ich räkelte<br />
mich gerade behaglich auf dem Sofa und sinnierte bei<br />
Kaffee und Kuchen über meine erinnerungswürdigen<br />
Abenteuer in einem derzeitigen Rollenspiel, das hier einmal<br />
nicht genannt werden soll. Weshalb das Rollenspiel<br />
keine Rolle spielt Es hätte jedes beliebige digitale Opus<br />
sein können – und dennoch hätte sich das folgende Szenario<br />
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit<br />
eingestellt.<br />
Ein gemütlicher Nachmittag entgleist<br />
Ich hatte es gerade bis zum zweiten Kaffee und ein paar<br />
tollen Ideen bezüglich zukünftiger Ausbaumöglichkeiten<br />
meines Rogue-Charakters geschafft, als sich zwei Mitbewohner<br />
einfanden. Sie nickten mir kurz zu und machten<br />
sich in der selbstgefällig-disziplinierten Manier des<br />
schöngeistigen Schau-Teetrinkers daran, ihr Knoblauch-<br />
Dinkel-Gebräu zu köcheln. Sie waren zu sehr in ihre<br />
Diskussion über Themen aus der modernen Kunst vertieft,<br />
um mich voll und ganz wahrzunehmen. Das war<br />
gut so. Denn unter den insgesamt 18 Mitbewohnern auf<br />
meinem Stockwerk waren die zwei die einzigen, mit<br />
denen ich einfach nie so recht harmonieren wollte.<br />
Exemplar #1 nannte ich im verschwiegenen Kammerdunkel<br />
meines Hirns gerne „Nickelbrille“. Er war ein so<br />
langweiliger Typ, dass neben ihm selbst Harry Potter wie<br />
ein partygeiler Rapper gewirkt hätte. Exemplar #2, die<br />
„Runzel“, war eine durch exzessives Stirnrunzeln dauerauffällige<br />
weibliche Ausgabe des ersten – dafür aber<br />
ohne Brille. Wenn der Dame eine Meinung nicht behagte<br />
– und das geschah häufig, denn sie war ohnehin nur<br />
mit ihrer eigenen voll und ganz zufrieden – war man<br />
versucht, ihr schon unter dem subtil-hypnotischen Druck<br />
des bizarren Musters aus ringelnden Stirnkrausen ihre<br />
intellektuelle Übermenschlichkeit zuzugestehen und so<br />
schnell wie möglich das Weite zu suchen.<br />
Drolligerweise tat ich genau das gerade – allerdings nicht<br />
in der materiellen Welt, sondern lediglich auf den Adlersschwingen<br />
meiner Phantasie. Ich war immer noch mitten<br />
in meiner letzten Gaming-Session gefangen. Mit einem<br />
verträumten Blick aus dem Fenster schweiften meine<br />
Gedanken weiterhin in fernen Landen. Ich schritt durch<br />
dunkle Wälder und lauschte der Stimme des Windes, der<br />
wie eine liebkosende Hand durch ihr Geäst strich. Ich<br />
erkundete Ruinen längst vergessener Zivilisationen und<br />
bestaunte die Fresken und Inschriften, die ihre Bewohner<br />
scheinbar nur für mich hinterlassen hatten. Ich bestaunte<br />
die architektonische Rafinesse alter Schlösser und Herrenhäuser.<br />
Und ich summte leise die musikalische Kulisse<br />
vor mich hin, die mich auf meinen Wanderungen in dem<br />
Universum digitaler Grenzenlosigkeit wie ein treuer Weggefährte<br />
inspiriert hatte.<br />
<strong>Lesestoff</strong> 4/<strong>2012</strong> Videospiele: „Das soll Kunst sein!“ Seite 209