Broschüre Podium Pestalozzianum 2009
Broschüre Podium Pestalozzianum 2009
Broschüre Podium Pestalozzianum 2009
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>Podium</strong> <strong>Pestalozzianum</strong> <strong>2009</strong><br />
«Schaffen wir die Integration»<br />
Roger de Weck<br />
Gita Steiner-Khamsi<br />
Winfried Kronig<br />
Dieter Rüttimann
Inhaltsverzeichnis<br />
3 Am Anfang steht der Dialog<br />
<strong>Podium</strong> <strong>Pestalozzianum</strong> <strong>2009</strong><br />
4 Roger de Weck «Integration in die Wissensgesellschaft als Aufgabe der Schule»<br />
7 Winfried Kronig «Die Fähigkeit des Bildungsystems, einzuschliessen und auszuschliessen»<br />
10 Gita Steiner-Khamsi «Wem dient die Professionalisierung der interkulturellen Pädagogik»<br />
13 Dieter Rüttimann «Möglichkeiten und Grenzen der Integration in Primarschulen»<br />
16 Über die Autoren und die Autorin<br />
17 Bisherige Podien<br />
18 Die Stiftung <strong>Pestalozzianum</strong>
Am Anfang steht der Dialog<br />
Liebe Leserin, lieber Leser<br />
Bildung ist Zukunft, und sie geht uns alle etwas an. Unser<br />
öffentliches Bildungswesen steht aber unter Druck. Integration<br />
und Medialisierung, Professionalisierung und Ökonomisierung<br />
sind nur vier der Schlagworte, mit denen wachsende<br />
Anforderungen und ein permanenter Reformzwang begründet<br />
werden.<br />
Zeichen dieser stürmischen Zeiten in der Bildungspolitik ist<br />
ein stürmischer Bildungsdiskurs in der Öffentlichkeit. Hier<br />
folgt ein Streit dem andern. Das ist viel mehr als nur eine lästige<br />
Begleiterscheinung: Für ein öffentliches Bildungswesen<br />
ist eine öffentliche Debatte die erwünschte und notwendige<br />
Voraussetzung, dass es seinen Auftrag erfüllen und sich mit<br />
der Gesellschaft verändern kann.<br />
Deshalb sollten wir nicht nur zur Bildung, sondern auch zur<br />
Bildungsdebatte Sorge tragen. Nicht die neuste Headline des<br />
Tages, sondern der Dialog über reflektierte Positionen bringt<br />
unsere Schulen weiter. Dieser Dialog muss fair, verantwortungsvoll<br />
und fundiert geführt werden.<br />
Aus diesem Grund gibt es die Stiftung <strong>Pestalozzianum</strong> für<br />
Bildung, Schule und Dialog. Sie setzt sich für eine starke<br />
Volksschule ein. Und deshalb setzt sie sich dafür ein, dass<br />
über diese Volkschule debattiert und, ja: auch gestritten wird.<br />
Sie schafft Gelegenheiten zum Gespräch zwischen Pädagogik<br />
und Politik, Schulen und Medien, Lehrpersonen und<br />
Forschenden.<br />
Die Stiftung ist einer Pädagogik verpflichtet, die modern ist –<br />
dies im aufgeklärten statt ideologischen Sinne. Und sie pflegt<br />
ein historisches Erbe – dies mit dem Ziel der aktuellen Reflexion.<br />
Die Stiftung stellt den Menschen ins Zentrum: Den Lernenden<br />
mit seinen Fähigkeiten, Entwicklungen, Perspektiven,<br />
wie auch den Lehrenden mit seiner Verantwortung, seinem<br />
professionellen Potential und seinem Engagement.<br />
Am 20. November führte die Stiftung <strong>Pestalozzianum</strong> in Kooperation<br />
mit der Pädagogischen Hochschule Zürich in der<br />
Aula Sihlhof eine <strong>Podium</strong>sdiskussion zur Frage der Integration<br />
durch. Ziel der Veranstaltung war es, die Bedeutung<br />
der öffentlichen Schule für die gesellschaftliche Integration<br />
zu diskutieren. Zur Teilnahme wurden Roger de Weck, Winfried<br />
Kronig und Gita Steiner-Khamsi eingeladen. Ihre frei<br />
gehaltenen Einführungsreferate werden in der vorliegenden<br />
<strong>Podium</strong>sdokumentation abgedruckt.<br />
Die Lektüre dieser Dokumentation möge einiges an intellektuellem<br />
Nutzen, bildendem Vergnügen und Anstössen für<br />
Diskussionen bringen.<br />
Besten Dank für Ihr Interesse!<br />
Der Präsident<br />
Dr. Peter Stücheli-Herlach<br />
Der Geschäftsführer<br />
Prof. Dr. Rudolf Isler<br />
Die Referate von Roger de Weck, Winfried Kronig und Gita Steiner-Khamsi sind als Videos unter www.pestalozzianum.ch ➞<br />
Projekte ➞ <strong>Podium</strong> <strong>Pestalozzianum</strong> abrufbar.<br />
<strong>Podium</strong> <strong>Pestalozzianum</strong> <strong>2009</strong> 3
Roger de Weck vergleicht im ersten Referat die Medienwelt mit der Lernwelt. Er bejaht die integrative Kraft der Volksschule<br />
unter der Voraussetzung, dass es ihr gelingt, sich weiterhin auf die Aufgabe des kontinuierlichen Wissenssaufbaus<br />
zu konzentrieren – und dies entgegen mächtigen Trends in Medienwelt, Wirtschaft und Gesellschaft.<br />
«Integration in die Wissensgesellschaft als Aufgabe<br />
der Schule»<br />
Roger de Weck Publizist, Zürich und Berlin<br />
Beim vorliegenden Text handelt es sich um die Mitschrift eines frei gehaltenen Referates<br />
Guten Abend meine Damen und Herren, herzlichen Dank<br />
Cornelia Kazis<br />
Sie haben zur Eröffnung des Abends einen eingeladen, der<br />
nicht viel über Integration weiss und sich deshalb an das journalistische<br />
Prinzip halten wird, das besagt: «If you don’t know<br />
the facts stick to the principle.» Ich möchte in meinem Referat<br />
auf die Schule und die Medien als Instanzen der Wissensvermittlung<br />
eingehen. Vor dem Hintergrund gravierender wirtschaftlicher,<br />
ökologischer und politischer Umbrüche zeige ich<br />
auf, was die Schule anders machen sollte, als es die Medien<br />
tun. Doch zuerst: Was verstehe ich unter Integration<br />
Rücksicht, Einsicht, Weitsicht<br />
Integration hat für mich etwas zu tun mit Rücksicht, mit<br />
Einsicht und Weitsicht. Der europäischen Integration und der<br />
Integration von 26 Kantonen zur Eidgenossenschaft lag zunächst<br />
der Beschluss zugrunde, auf den Nachbarn Rücksicht<br />
zu nehmen. Parallel zur schweizerischen und europäischen<br />
Integration fasste der Gedanke der sozialen Marktwirtschaft<br />
Fuss. Dieser ist allerdings immer mehr in die Defensive gedrängt<br />
worden und muss jetzt wieder in aller Offensivität<br />
verteidigt werden: Hier geht es um die Rücksicht auf die<br />
Schwächeren.<br />
Die Verknappung lebensnotwendiger Ressourcen auf<br />
globaler Ebene ruft nach einer neuen Form von Integration.<br />
Wenn wir nicht zulassen wollen, dass sich die einen diese<br />
Ressourcen aneignen und sie anderen vorenthalten – was<br />
unweigerlich zu Konflikten oder Krieg führen wird –, sind<br />
internationale Gremien etwa innerhalb der G20 zur echten<br />
Kooperation und verstärkten Integration von Weltpolitik und<br />
Weltwirtschaft aufgerufen.<br />
Die Rücksicht auf die anderen, die Einsicht, dass eine Integration<br />
nötig ist, um Konflikte zu vermeiden, und die Weitsicht,<br />
kurzfristige Interessen zu Gunsten langfristiger hintanzustellen:<br />
All das erfordert die mündige Bürgerin, den mündigen<br />
Bürger. In einer Gesellschaft, die zur Marktgesellschaft ausgewuchert<br />
ist, sind mündige Bürger/innen wichtiger denn je.<br />
Ich habe nichts gegen die Marktwirtschaft, aber ich wende<br />
mich entschieden gegen die Marktgesellschaft, das heisst<br />
gegen den Versuch, letztlich alles dem ökonomischen Prinzip<br />
zu unterwerfen. Denn damit wird die Marktgesellschaft zum<br />
Gegenteil von dem, was sie zu sein vorgibt, nämlich eine<br />
Wissensgesellschaft.<br />
Lernwelten versus Medienwelten<br />
Hinter diesem Widerspruch steht ein zweiter. Je mehr man<br />
in den vergangenen Jahrzehnten von Wissensgesellschaft<br />
sprach, desto heftiger sind die einen Trägerinnen und Träger<br />
dieser Wissensgesellschaft in die Defensive gedrängt<br />
und manchmal sogar belächelt worden: Ich meine damit die<br />
Lehrerinnen und Lehrer, und zwar vom Kindergarten bis zur<br />
Hochschule. In den Vordergrund des marktgesellschaftlichen<br />
Casinos drängten sich vielmehr andere, vor allem die Medien.<br />
Sie beherrschen letztlich die Gesellschaft, verbreiten aber<br />
Unwissen. Trotzdem – oder gerade deshalb: Die Trägerinnen<br />
und Träger der Wissensgesellschaft im weitesten Sinne werden<br />
die Lehrerinnen und Lehrer bleiben.<br />
In diesem Sinne ist mein Appell an Sie als Vermittlerinnen<br />
und Vermittler von Wissen schlicht und einfach: Verweigern<br />
Sie sich sämtlichen Gesetzen der anderen Wissenstransferinstanz<br />
in unserer Gesellschaft, nämlich der Mediengesellschaft<br />
und dem Medienbetrieb. Machen Sie es nicht wie die<br />
Medien, die heute vollständig auf Konsumentinnen und Konsumenten<br />
ausgerichtet sind, denn Integration erfordert wie<br />
gesagt mündige Bürgerinnen und Bürger. Der Medienbetrieb<br />
wendet sich, mit Ausnahmen, fast nicht mehr an die Bürgerinnen<br />
und Bürger – und das stellt dessen staatspolitische<br />
Aufgabe in Frage.<br />
Wissensvermittlung nach der elektronischen Revolution<br />
Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten einige grosse<br />
Umbrüche erlebt. Eine davon ist die elektronische Revolution.<br />
Sie hat unser Leben und unseren Alltag verändert. Zudem hat<br />
sie den Medienbetrieb so verändert, dass das journalistische<br />
4<br />
<strong>Podium</strong> <strong>Pestalozzianum</strong> <strong>2009</strong>
Prinzip in Frage gestellt ist. Die Kernaufgabe der Medien wäre<br />
es, Informationen zu suchen, zu prüfen, ob sie denn stimmen,<br />
zu überprüfen, denn es braucht zwei Quellen. Die Medien<br />
sollten Informationen einordnen, sie in ihren Kontext stellen,<br />
um sie überhaupt verstehen zu können. Damit sollen Informationen<br />
auch gewichtet und erklärt werden können. Dieser<br />
Vorgang braucht Zeit. Wir haben derzeit einen Medienbetrieb,<br />
der weitgehend in «real time» arbeiten und das journalistische<br />
Prinzip vernachlässigen muss. Es gibt Nischen, aber der<br />
Massenmedienbetrieb, der das breiteste Publikum erreicht,<br />
funktioniert nicht mehr nach diesem klassischen Prinzip.<br />
Das ist die Medienwelt. Und wie ist dagegen die Lernwelt<br />
beschaffen Sie ist das pure Gegenteil. Der Medienbetrieb ist<br />
Hektik, die Lernwelt ist langsam. Sie wird immer langsam<br />
bleiben und zu dieser Langsamkeit stehen müssen, wenn<br />
denn Integration erreicht werden soll. Es gibt keine schnelle<br />
Integration. Das gilt für die Ausländerinnen und Ausländer,<br />
das gilt für jeden denkbaren Integrationsbedarf. Ein Gespräch<br />
mit dem wunderbaren deutschen Integrationshistoriker Klaus<br />
Bade hat mich in dieser Geduld bestärkt. Während der Medienbetrieb,<br />
der seine Kernaufgabe vernachlässigt, an der<br />
Oberfläche bleibt, ist die Aufgabe der Wissensvermittlerinnen<br />
und -vermittler in der Lernwelt das Vertiefen. Vertiefung ist<br />
nötig, damit man sich ein Urteil bilden und es schärfen kann.<br />
In der Medienwelt steht der Effekt im Vordergrund. Schauen<br />
Sie sich so manche Debattenrunde im Fernsehen an. Es geht<br />
nur um einen Schlagabtausch, nicht aber um einen erkenntnisorientierten<br />
Dialog im Sinne der Aufklärung. Der schnelle<br />
Effekt ist das, was der Medienbetrieb sucht. Sie aber, meine<br />
Damen und Herren, wollen ein Ergebnis, das die Kinder und<br />
Jugendlichen ein Leben lang begleitet. Die Medienwelt ist<br />
hektisch, die Lernwelt langsam – so soll es bleiben.<br />
Und es kommt noch etwas hinzu im Zuge dieser digitalen<br />
Revolution: Sie besteht aus Einsen und Nullen, sie neigt zu<br />
schwarz-weiss. Dabei wissen wir alle, dass man in der Lernwelt<br />
das Gegenteil pflegen muss: die Nuance, die Differenzierung,<br />
die Fähigkeit, die Grenze etwas hier oder etwas mehr<br />
da zu ziehen. Das sind die wichtigen Probleme, das sind die<br />
urteilsbildenden Vorgänge, die junge Leute unbedingt brauchen.<br />
Die Fähigkeit zu differenzieren ist ein Kernelement der<br />
Urteilsfähigkeit und diese ist unablässig für die Erziehung von<br />
mündigen Persönlichkeiten, die integrationsfähig sind.<br />
Von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Mediengesellschaft<br />
Ein zweiter grosser Umbruch betrifft den Wechsel von der<br />
Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Dieser Wechsel<br />
ist mindestens so einschneidend wie einst der Schritt von<br />
der Agrar- zur Industriegesellschaft. Die Kategorien der<br />
Industriegesellschaft sind in Frage gestellt. Was ist heute<br />
Selbständigkeit oder Arbeitnehmerschaft, Vollzeit, Teilzeit,<br />
Heimarbeit, Büroarbeit Diese Kategorien, an die viele von<br />
uns gewöhnt waren, sind in Frage gestellt. Die Medien sind<br />
an der Schnittstelle zwischen der Dienstleistung und der<br />
industriellen Produktion getreten. Das mag den Boom dieser<br />
Branche erklären. Forscher aus Berkeley haben für das<br />
Jahr 2000 Buch geführt und dabei festgestellt, dass für den<br />
Medienbetrieb im Jahr 2000 80 Milliarden Fotos geschossen<br />
wurden, 4250 Kinofilme auf die Leinwand kamen, 968 735<br />
Bücher in der Library of Congress, der Nationalbibliothek<br />
der USA, registriert wurden. Sie sehen, ich bin mit meinem<br />
neuen Buch in guter Gesellschaft. Ausserdem wurden im Jahr<br />
2000 22 643 Zeitungen und Zeitschriften lanciert und 90 000<br />
CDs auf den Markt gebracht. Die Musik-Downloads betragen<br />
heute ein Vielfaches davon. Waren es im Jahr 2000 noch<br />
2,1 Milliarden Seiten im Web, so sind es heute sicher das<br />
10-, 20- oder 100-fache. Meine Damen und Herren, es gibt<br />
mehr Medien als überhaupt Stoff vorhanden ist.<br />
Der Verteilungskampf um den knapp gewordenen Stoff<br />
wirkt sich folgendermassen aus: Er führt zu einer Dramatisierung<br />
von Inhalten, zu einer Überbewertung von zweitrangigen<br />
Nachrichten, zur Erschliessung ganz neuer Gebiete, für die<br />
sich die Medien früher zum Glück nicht interessierten, er<br />
führt zu Einbrüchen in die Intimsphäre. Man erfand künstliche<br />
Wirklichkeiten, Medienereignisse, die keine Ereignisse sind<br />
und die man Events nennt. Die zweite Stufe ist das, was man<br />
Reality-TV nennt. Der Begriff ist schon pervers, denn Reality-<br />
TV ist die Schaffung von Kunstwelten, die als Realität verkauft<br />
werden. Als dritte Stufe können Angebote wie Second Life und<br />
andere virtuellen Welten genannt werden.<br />
Auch hier ist die Lernwelt das pure Gegenteil der Medienwelt.<br />
So wie der Medienbetrieb die Sensation und die<br />
Emotion sucht, so fordert die Lernwelt zunächst einmal die<br />
Ratio, die Vernunft. Die Medienwelt sucht das Spektakuläre;<br />
die Pädagogik konzentriert sich auf das Unspektakuläre. Es<br />
geht um die kleinen Schritte des Lernerfolgs. Dieser persönlichkeitsbildende<br />
Erfolg stellt sich niemals von heute auf<br />
morgen ein. Betreibt die Medienwelt oft genug die Flucht aus<br />
der Wirklichkeit, so ist der Hauptgegenstand der Lernwelt<br />
die Realität, um es sehr unphilosophisch zu formulieren.<br />
Respektiert der Medienbetrieb gar keine Kategorien mehr,<br />
so ist es Aufgabe der Schule, Kategorien zu vermitteln und<br />
deshalb auch an Kategorien festzuhalten.<br />
68-Revolution und Neoliberalismus<br />
Ein dritter grosser Umbruch, der in den letzten Jahrzehnten<br />
stattgefunden hat, lässt sich kurz folgendermassen skizzieren.<br />
Es geht einerseits um die gesellschaftlichen Veränderungen<br />
im Zuge der 68er-Bewegung und andererseits um die viel<br />
mächtigere Gegenbewegung des Neoliberalismus und Neokonservatismus.<br />
Diese Strömungen traten 1979 mit der Wahl<br />
von Maggie Thatcher ihren Siegeszug an. Auf der einen Seite<br />
also eine Bewegung hin zum Kritischen und Überkritischen<br />
(die 68er haben jedes Haar in jeder Suppe gesucht). Auf der<br />
anderen Seite die Ausbreitung einer völlig unkritischen Haltung<br />
im Betrieb der Massenmedien, die immer mehr zu PR-<br />
Instrumenten von Wirtschaft und Politik wurden. So haben die<br />
Medien zum Beispiel die Blasen, die zur jetzigen Wirtschaftskrise<br />
geführt haben, aufgeheizt, statt nüchtern und kritisch zu<br />
bleiben. Statt in eine kritische Gegenposition zur Finanzmacht<br />
zu gehen, dienten sie als deren verlängerter Arm. In dieser<br />
Welt des Unkritischen wächst heute ein nicht geringer Teil<br />
der Jugendlichen auf. Die Aufgabe der Lernwelt ist es, sie zu<br />
Kritikfähigkeit, Eigenständigkeit, Distanz, letztlich zur Nüchternheit<br />
zu erziehen. Ein nüchternes Denken ist Voraussetzung<br />
für jegliche kritische Haltung. Es ist eine grosse Aufgabe<br />
der Lernwelt, nicht auf jede Mode aufzuspringen, sondern bei<br />
dem zu bleiben, was kritische Eigenständigkeit verlangt.<br />
Roger de Weck<br />
5
Ökologische Revolution und Globalisierung<br />
Eine weitere Umwälzung betrifft die ökologische Revolution<br />
und die Globalisierung. Ich nenne sie in einem Atemzug,<br />
weil sie einander bedingen. Ökologie versteht die Welt als<br />
ein Ganzes; Globalisierung will die Welt umschliessen. Die<br />
eine Bewegung ist die des Begrenzens, die andere des Umfangens.<br />
In der Gesellschaft wie in den Medien lassen sich<br />
zwei Tendenzen ablesen. Auf der einen Seite entsteht ein<br />
neuer Internationalismus, der dem Bewusstsein entspringt,<br />
dass die grossen Probleme, zumal die ökologischen, nur<br />
transnational zu lösen sind. Auf der anderen Seite findet ein<br />
Rückzug ins Provinzielle, in Krähwinkel, statt, um sich von<br />
den Weltwirrnissen abzuschotten und in der eigenen kleinen<br />
Welt zu leben. Wir beobachten, wie ein nicht geringer Teil<br />
der Medienlandschaft diesen Rückzug auf den Schatten des<br />
Kirchturms vollzogen hat. Je grösser die internationalen Interdependenzen<br />
sind, desto provinzieller wird ein Grossteil der<br />
Berichterstattung. Viele Zeitungen bauen ihre Auslandskorrespondentennetze<br />
ab, in einem Moment, wo das Verständnis<br />
ausländischer Entwicklungen wichtiger ist denn je.<br />
Auch hier steht die Lernwelt vor der gegenteiligen Aufgabe.<br />
Es geht darum, die Geister zu öffnen, sie für andere<br />
Zusammenhänge wach zu halten. Unterschiedliche Welten<br />
und Menschen treffen aufeinander, vom Kindergarten bis<br />
zur Hochschule. Diese Begegnungen sind extrem persönlichkeitsbildend.<br />
Als Stiftungsrat eines Instituts pflege ich<br />
zu sagen, dass die Studentinnen und Studenten im Zusammenleben<br />
ausserhalb der Hörsäle weit mehr lernen als von<br />
ihren Professorinnen und Professoren. Die Begegnung mit<br />
unterschiedlichen Denkweisen ist das, was uns intelligent<br />
macht. Es gibt Sophisten, die innerhalb eines Denksystems<br />
verhaftet bleiben und dieses Denksystem ausreizen. Die wirklich<br />
intelligenten Menschen in der Integrationsgesellschaft<br />
sind diejenigen, die querbeet durch zwei, drei Denksysteme,<br />
zwei, drei Kulturen denken können.<br />
dies aber im Bewusstsein darum, dass dies ein notwendiger<br />
Schritt ist zur Bewältigung von Komplexität. Die Aufgabe,<br />
Widerstand zu leisten gegen die modischen, herrschenden<br />
Trends, das ist meines Erachtens die beste Voraussetzung<br />
für die Integration der Schülerinnen und Schüler in eine<br />
Wissensgesellschaft, und zwar in eine Wissensgesellschaft,<br />
die diesen Namen verdient.<br />
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.<br />
Niedergang des Kommunismus, aufkommender Rechtspopulismus<br />
Ein letzter wichtiger Umbruch betrifft die grosse politische<br />
Revolution die wir erlebt haben. Ich meine die Desintegration<br />
des Ostblocks und Integration von Westeuropa bis hin zum<br />
1. Mai 2004, dem Tag der europäischen Vereinigung. Eine<br />
wunderbare Sache. Doch seither ist folgendes geschehen:<br />
Auf der einen Seite stiessen in Osteuropa die Populisten in<br />
das Vakuum, das die Kommunisten hinterlassen haben. Auf<br />
der anderen Seite hat sich in dem Moment als der Kommunismus<br />
und der Sozialismus als Alternative weggefallen<br />
sind im Westen der Kapitalismus verhärtet. So stellen wir in<br />
beiden Teilen Europas, auch in unserem Land, einen massiv<br />
wachsenden Rechtspopulismus fest. Seine Strategien sind<br />
die der schrecklichen Vereinfachung, der Dramatisierung,<br />
Emotionalisierung, des Ängsteschürens, kurz: genau das<br />
Gegenteil des aufklärerischen Prinzips.<br />
In diesem wachsenden populistischen Umfeld muss die<br />
Lernwelt eine Haltung einnehmen und vermitteln, die sich<br />
einfachen Lösungen verwehrt. In der Lehrtätigkeit gibt es<br />
keine einfachen und schnellen Wege; in der Erziehung genügen<br />
einfache Schnellrezepte nicht. Zwar bedient sich die Pädagogik<br />
notwendigerweise der modellhaften Vereinfachung, tut<br />
6<br />
<strong>Podium</strong> <strong>Pestalozzianum</strong> <strong>2009</strong>
Winfried Kronig stellt im zweiten Referat den schwer lösbaren Widerspruch zwischen dem ideellen Wert von Bildung und<br />
ihrem instrumentellen Nutzen dar: Der Versuch, möglichst vielen Menschen möglichst alles beizubringen, wird von der<br />
gesellschaftlichen Funktion von Bildungstiteln unterlaufen: diese sind zwingend auf Differenz und Selektion ausgelegt.<br />
Die integrative Kraft der Volksschule ist deshalb weder selbstverständlich noch eindeutig.<br />
Die Fähigkeit des Bildungssystems, einzuschliessen<br />
und auszuschliessen<br />
Winfried Kronig Universität Fribourg<br />
Kurzreferat, gehalten am <strong>Podium</strong> <strong>Pestalozzianum</strong> «Schaffen wir die Integration», Zürich, 20. November <strong>2009</strong><br />
Angenommen, Sie haben selbst ein Kind in der Schule. Was<br />
wäre Ihnen dann für Ihr Kind lieber Dass es in der Schule<br />
etwas lernt – dass es den Dreisatz begreift, Verben konjugieren<br />
und Kommaregeln anwenden kann, dass es etwas über<br />
Geschichte oder Ästhetik erfährt – oder wäre es Ihnen lieber,<br />
dass Ihr Kind gute Noten hat<br />
Ideeller Wert und instrumenteller Nutzen der Schule<br />
Ganz selbstverständlich gehen wir davon aus, dass das beides<br />
miteinander einhergeht. Das ist allerdings viel weniger der<br />
Fall, als wir es gerne glauben würden. Aber dazu komme ich<br />
etwas später.<br />
Hinter dieser einfachen, vielleicht sogar etwas spöttischen<br />
Frage verbergen sich zwei Seiten des Bildungserfolgs, die in<br />
vielen Dingen völlig gegensätzlich zueinander stehen.<br />
Das eine – die Bildungsinhalte sind nahezu endlos steigerbar.<br />
Ziel ist es, dass möglichst viele Kinder möglichst viel lernen.<br />
Dadurch allein entsteht keine prinzipielle Konkurrenz. Im<br />
Gegenteil. Man kann von den Erfolgen der anderen profitieren,<br />
wie wir und andere Forschergruppen nachweisen konnten.<br />
Für Ihre Lernentwicklung ist es also von Vorteil, wenn Sie sich<br />
in einer leistungsstarken Schulklasse befinden.<br />
Ganz anders aber verhält es sich mit den Schulnoten.<br />
Sie gehören wie die Bildungsabschlüsse zu den begehrten<br />
Bildungstiteln. Da sie künstlich begrenzt sind, generieren<br />
sie einen Konkurrenzdruck unter den Bildungsteilnehmern.<br />
Für Ihre Lernentwicklung ist es also günstig, wenn Sie sich<br />
in einer leistungsstarken Klasse befinden. Aber für Ihren<br />
Notenspiegel ist das schlecht. Sie machen zwar grössere<br />
Lernfortschritte, erhalten dafür aber die schlechteren Noten,<br />
weil es Schüler gibt, die noch besser sind als Sie.<br />
In modernen Gesellschaften bestimmen diese Bildungstitel<br />
wesentlich die sozialen Privilegien. Natürlich gibt es<br />
immer wieder Ausnahmen. Sie erinnern sich bestimmt noch<br />
an Daniel Küblböck aus «Deutschland sucht den Superstar».<br />
Der tröstliche Beleg, dass man auch mit geringeren Bildungsressourcen<br />
zumindest temporär erfolgreich sein kann. Aber<br />
diese Ausnahmen bestätigen lediglich den Fortbestand der<br />
engen Korrelation zwischen Bildungserfolg und beruflichem<br />
und sozialem Erfolg.<br />
Bildung hat also nicht nur einen ideellen Wert, gewissermassen<br />
als Zweck für sich selbst. Bildung hat auch einen<br />
instrumentellen Nutzen, gilt gleichsam als eine Währung. Und<br />
in diesem Kontext verhalten sich Bildungstitel auch wie eine<br />
Währung. Der instrumentelle Nutzen des Wissens ist relational.<br />
Je weniger Sie wissen, desto grösser ist der Wert meines<br />
Wissens und desto einfacher und vielleicht auch teurer kann<br />
ich Ihnen mein Wissen verkaufen und umgekehrt. Das gilt im<br />
Übrigen selbstverständlich auch für die Ausführungen in diesem<br />
Kurzreferat. Darüber hinaus neigen Bildungstitel ständig<br />
dazu, zu inflationieren. Wenn es zu viele mit einem bestimmten<br />
Abschluss gibt, verliert dieser Abschluss an Wert.<br />
Diese beiden Seiten der Schule und des Bildungserfolgs<br />
sind dermassen unterschiedlich, dass sich sogar unterschiedliche<br />
Wissenschaftsdisziplinen um sie angelagert haben.<br />
Während sich die Schulpädagogik und die Didaktik – und<br />
übrigens auch die internationalen Vergleichsstudien wie PISA<br />
– für die Bildungsinhalte interessieren, beschäftigt sich die<br />
Bildungssoziologie vor allem mit den Bildungstiteln.<br />
Zufälle<br />
Nach dem Leistungsprinzip müssten sich Bildungsinhalte und<br />
Bildungstitel parallel zu einander verhalten.<br />
Aber ich hatte eben schon erwähnt, dass Ihr persönlicher<br />
Bildungserfolg in hohem Masse von der Leistungsstärke Ihrer<br />
Klasse abhängig ist. In einer Untersuchung, die wir unlängst<br />
abgeschlossen haben, stiessen wir auf viele Kinder, die zwar<br />
die gleiche Leistungsfähigkeit hatten, aber ganz unterschiedlich<br />
benotet worden sind. Mit den gleichen Leistungen bekommen<br />
Sie nicht selten entweder eine 5.5 oder aber eine<br />
ungenügende Note, kommen in eine Sekundar- oder aber in<br />
eine Realklasse. Dies allein aufgrund der Zusammensetzung<br />
der Schulklasse, in der Sie sich befinden.<br />
Aber es gibt noch andere Faktoren, welche die einzelne<br />
Winfried Kronig<br />
7
Bildungsbiografie entscheidend beeinflussen. So gibt es<br />
etwa erhebliche Unterschiede in der kantonalen und regionalen<br />
Angebotsstruktur der Schule. In manchen Kantonen<br />
ist es messbar einfacher ans Gymnasium zu kommen als in<br />
anderen. Das gilt auch für den Sekundarschulübertritt. So<br />
müssen Sie etwa im Kanton Glarus zu den besten 60 Prozent<br />
des Jahrgangs gehören um einen anspruchsvollen Schultyp<br />
besuchen zu können. Im Kanton Solothurn hingegen müssen<br />
Sie lediglich zu den besten 90 Prozent gehören.<br />
Immer wieder haben Studien im In- und Ausland erhebliche<br />
Leistungsüberschneidungen zwischen unterschiedlichen<br />
Schultypen festgestellt. Auch wir konnten den Selektionsentscheid<br />
auf der S1-Stufe nur bei 16 Prozent der Schülerinnen<br />
und Schüler eindeutig auf ihre Leistung zurückführen.<br />
84 Prozent waren «Grenzfälle», bei denen der Selektionsentscheid<br />
auch genauso gut anders hätte ausfallen können. Es<br />
gab immer ein Kind, das zwar die gleiche Leistung hatte, sich<br />
aber im höheren, bzw. tieferen Schultyp befand.<br />
Bei der systematischen Beobachtung des Bildungssystems<br />
stolpert man noch über weitere Merkwürdigkeiten. So<br />
werden etwa Kinder aus Zuwandererfamilien immer häufiger<br />
an Sonderklassen für Lernbehinderte überwiesen. Dies<br />
hat eine eigenartige Wirkung auf die Bildungsverläufe der<br />
Schweizer Kinder. Bei ihnen nimmt die Zahl der Lernbehinderungen<br />
stark ab.<br />
Dieses Phänomen hat man in den 60er-Jahren schon auf<br />
dem Arbeitsmarkt beobachten können und hat es als «Unterschichtung»<br />
bezeichnet. Je mehr Zuwanderung desto höher<br />
die Aufstiegserfahrungen für die Schweizer. Und das gilt<br />
offenbar auch für das Bildungssystem. Je mehr Kinder aus<br />
Zuwandererfamilien in die Schule eintreten, desto höher ist die<br />
Wahrscheinlichkeit, dass die Schweizer Kinder eine Sekundaroder<br />
Gymnasialklasse besuchen können und desto geringer<br />
das Risiko für sie, lernbehindert zu werden. Oder etwas eingängiger<br />
formuliert: Immigrantenkinder sind ein effektiver<br />
Schutz für die Schweizer Kinder vor einer Lernbehinderung.<br />
Systematik<br />
Bei solchen Beobachtungen könnte man leicht auf den Gedanken<br />
kommen, die Schule würde bestimmte Bevölkerungsgruppen<br />
bevorzugen und andere diskriminieren.<br />
Insbesondere in der französischen Bildungssoziologie<br />
dauert seit Jahrzehnten die Auseinandersetzung in der Frage<br />
an, ob sich die Schule gegenüber ihren Schülern parteilos<br />
bzw. gerecht verhält.<br />
Folgt man etwa Boudon, ist die Schule der neutrale Austragungsort<br />
des Bildungswettbewerbs. Nach der kaum älteren<br />
Auffassung von Bourdieu hingegen, wirkt die Schule in eine<br />
Richtung sozial selektiv, in dem sie den sozialen Hintergrund<br />
auf sehr feine Weise in individuelle Begabung umdeutet.<br />
In der Tat scheint sich die Schule gegenüber dem sozialen<br />
Hintergrund nicht neutral zu verhalten. Nach unseren Daten,<br />
und wir sind hier nicht die einzigen, wird ein Schweizer Mädchen<br />
aus gutem Hause mit durchschnittlichen Leistungen mit<br />
einer Wahrscheinlichkeit von 88 Prozent positiv selektioniert<br />
und kann eine weiterführende Schule besuchen. Bei dem Jungen<br />
aus einer unterprivilegierten Zuwandererfamilie beträgt<br />
diese Wahrscheinlichkeit – trotz gleichen Leistungen – noch<br />
knapp 30 Prozent.<br />
Nach allem was wir heute wissen, tut die Schule dies<br />
jedoch nicht aus boshafter Willkür oder aus unkontrollierten<br />
Diskriminierungsgelüsten heraus. Vielmehr steckt dahinter<br />
organisatorisches Kalkül. Die soziale Herkunft ist eine hilfreiche<br />
Argumentationsressource bei Selektions- und Zuweisungsentscheiden,<br />
die man im Bedarfsfall nutzen kann aber<br />
nicht nutzen muss.<br />
Das erklärt, weshalb im Moment an deutschen Gymnasien<br />
auch für türkische Jungen die Türen ganz weit offen stehen.<br />
Oder es erklärt, weshalb es in den Kantonen auf schier<br />
wundersame Weise immer genau so viele Immigrantenkinder<br />
mit Problemen in der Schule hat, wie Plätze dafür vorgesehen<br />
sind. Das können bildungsstatistische Analysen eindrücklich<br />
nachweisen. Das Risiko für schulisches Scheitern schwankt<br />
zwischen den Kantonen um das 16-fache.<br />
Interkantonale Vergleiche lassen die komfortablen Gewissheiten<br />
über den erfolgreichen und den scheiternden<br />
Schüler verblassen. Zunehmend entpuppen sich die beiden<br />
als bildungspolitische Kategorien. Es sieht fast so aus, als ob<br />
die örtliche Bildungspolitik mehr oder weniger frei darüber<br />
entscheiden könnte, wie viele gute und wie viele schwache<br />
Schüler sie haben möchte, und zwar unabhängig von der<br />
effektiven Leistungsperformanz ihrer Schülerschaft.<br />
Insgesamt gewinnt man den Eindruck, dass die Schule<br />
das Leistungsprinzip eher zu ihrer eigenen Legitimation inszeniert,<br />
als dass sie sich nach ihm richten würde.<br />
Das Janusgesicht der Schule<br />
Man kann nicht so einfach behaupten, dass Bildungsinhalte<br />
gesellschaftlich integrativ, und Bildungstitel desintegrativ<br />
wirken würden, obschon der systematische Ausschluss in<br />
den Strukturen des Bildungssystems angelegt ist. Aber die<br />
Zusammenhänge sind etwas subtiler.<br />
Seit ihrem Beginn übt die Schule eine integrative Wirkung<br />
aus, indem sie alle grundsätzlich dasselbe lehrt. Etwas bösartiger<br />
wurde das auch schon als disziplinierende Wirkung<br />
bezeichnet. Da sie aber das inhaltlich Gelernte mit vorgegebenen<br />
formalen Bildungstiteln zertifiziert, weist sie den Kindern<br />
und Jugendlichen – wenigstens bis zu einem gewissen<br />
Grad – ihren künftigen Platz in der Gesellschaft zu. Auch das<br />
mögen einige als eine bestimmte Form der gesellschaftlichen<br />
Integration verstehen.<br />
Also, geht es nun in der Schule um den Erwerb von Wissen<br />
oder geht es um den Erwerb von Noten Naja, es kommt ganz<br />
darauf an, wen Sie fragen.<br />
Wenn man zum Beispiel Comenius und Herbart noch<br />
fragen könnte, würden die Ihnen begeistert von den unglaublichen<br />
integrativen, wenn nicht sogar emanzipativen Möglichkeiten<br />
der Schule für eine Gesellschaft vorschwärmen. Man<br />
muss möglichst alle möglichst alles lehren.<br />
Max Weber oder Helmut Schelsky hingegen würden da wahrscheinlich<br />
entnervt abwinken, da sie die Schule lediglich als<br />
eine Sortieranstalt für gesellschaftliche Privilegien sehen, die<br />
mittels eines hart organisierten Konkurrenzkampfes Gewinner<br />
und Verlierer produziert.<br />
Schule ist Pädagogik und Schule ist auch Soziologie.<br />
Und so unabhängig der Erwerb von Bildungsinhalten und<br />
Bildungstiteln auch verläuft, so untrennbar sind die beiden<br />
Seiten des Bildungserfolgs doch miteinander verflochten.<br />
8<br />
<strong>Podium</strong> <strong>Pestalozzianum</strong> <strong>2009</strong>
Nehmen Sie das Beispiel Heterogenität. Leistungsheterogenität<br />
ist didaktisch ein ziemliches Problem, dass von<br />
den Lehrpersonen einiges abverlangt. Organisatorisch aber<br />
ist Heterogenität nicht das Problem. Sie ist die Lösung. Denn<br />
sie erlaubt die flexible Legitimation von notwendigen Selektionsentscheidungen<br />
nach aussen und nach innen.<br />
Nehmen Sie das Beispiel Basisstufe, mit der auf die Heterogenität<br />
im Schuleintrittsalter reagiert wird. Die Pädagogen<br />
und Pädagoginnen sind begeistert von der schon lange geforderten<br />
und nun endlich umgesetzten Möglichkeit, jedem<br />
Kind so lange Zeit zum lernen zu lassen, wie es braucht. Eine<br />
wunderbare Vorstellung. Die Bildungssoziologen jedoch zucken<br />
verschreckt zurück, weil sie eine neue graue Form der<br />
schulischen Selektion erahnen. Es wird Kinder geben, welche<br />
die Basisstufe schneller durchlaufen und solche, die länger<br />
brauchen. Die selektive Interpretation dieser pädagogisch<br />
wertvollen Idee: Die Jungen sind die Starken und die Alten<br />
sind die Schwachen. Und einmal mehr hat die Schule ein<br />
gesellschaftliches Prinzip auf ihre ganz eigene Weise uminterpretiert<br />
und installiert.<br />
Kürzlich musste ich einen Aufsatz zur Frage verfassen,<br />
ob man mit Bildung Armut verhindern kann. Bildung als<br />
Armutsprävention. Ein alter und vielleicht fast schon romantischer<br />
Gedanke.<br />
Aber was im Einzelfall möglicherweise funktioniert, taugt<br />
kaum als gesellschaftliches Programm. Denn der instrumentelle<br />
Nutzen von Bildung ist ein rangskaliertes, relationales<br />
Mass. Je mehr die Leute davon haben, desto mehr inflationiert<br />
deren Wert. So hat eben auch die Bildungsexpansion der<br />
vergangenen Jahrzehnte zwar das Wissen in der Bevölkerung<br />
gesteigert. Aber die heutigen Armutsquoten hat sie ganz<br />
offensichtlich nicht verhindern können. Ausserdem investiert<br />
man in eine Institution, die an der Verursachung der heutigen<br />
Bildungsungleichheiten und deren Folgen nachweislich<br />
massgebend mitbeteiligt ist.<br />
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Diese Gedankengänge<br />
sprechen keinesfalls gegen Bildungsinvestitionen. Die Bildung<br />
hat allemal einen Wert für sich selbst. Aber ihre unausweichliche<br />
Instrumentalisierung hat vermutlich nicht die<br />
erhofften Folgen.<br />
Kann man die integrierende Wirkung der Schule erhöhen<br />
Einfach dürfte es nicht werden. Seit Jahrhunderten schon<br />
wartet die Gesellschaft auf eine bessere Schule. Und ebenso<br />
lange wartet die Schule auf eine bessere Gesellschaft.<br />
Ich danke Ihnen vielmals fürs zuhören.<br />
Winfried Kronig<br />
9
Gita Steiner-Khamsi wirft im dritten Referat einen Blick auf die Entwicklung der interkulturellen Pädagogik in der<br />
Schweiz. Indem sie die Frage stellt, wem die interkulturelle Pädagogik wirklich dient, zeigt sie die Problematik ihrer<br />
Professionalisierung auf: Zusätzliche Unterstützungsmassnahmen für fremdsprachige und unterprivilegierte Kinder<br />
integrieren nicht zwingend; sie lassen oft auch neue Differenzen entstehen und schaffen gleichzeitig eine Klientel für<br />
pädagogische Berufe.<br />
Wem dient die Professionalisierung der interkulturellen<br />
Pädagogik<br />
Gita Steiner-Khamsi Columbia University, New York<br />
Die Interkulturelle Pädagogik im Kanton Zürich ist dieses Jahr<br />
dreissig Jahre alt geworden. Geschaffen als eine Anlaufstelle<br />
für schulische Integrationsfragen, wurde die Fachstelle Interkulturelle<br />
Pädagogik in der Bildungsdirektion des Kantons<br />
Zürich angesiedelt. Ohne Reue und Wankelmut sollte heute<br />
untersucht werden, was sie rückblickend in Bezug auf die<br />
schulische Integration faktisch erreicht hat.<br />
Zur Rekapitulation: Die Interkulturelle Pädagogik der<br />
Ersten Stunde forderte, die Mehrsprachigkeit und kulturelle<br />
Vielfalt positiv zu besetzen. Damit wollten wir der generellen<br />
Ausländerfeindlichkeit gewissermassen eine pädagogische<br />
Ausländerfreundlichkeit entgegensetzen. Zudem haben wir<br />
im Einverständnis mit Eltern-, Lehrer- und Gewerkschaftsverbänden<br />
eine Reihe von kompensatorischen Massnahmen<br />
eingeführt, vornehmlich Zusatzunterricht in Deutsch als<br />
Zweitsprache, aber auch Hausaufgabenhilfe und andere unterrichtsergänzenden<br />
Massnahmen, um Chancengleichheit<br />
zwischen Einheimischen und Eingewanderten herzustellen.<br />
Letzteres hätte die Einweisung von Kindern mit Migrationshintergrund<br />
in wenig anspruchsvollen Schulformen oder gar<br />
in getrennt geführten Sonderklassen verhindern sollen. Wir<br />
zählten das Jahr 1979 und wir liessen keine einzige «Massnahme»<br />
ausser Betracht, die auch nur das geringste Potenzial<br />
in sich barg, die Schulabschlusstatistik für die eingewanderten<br />
Schülerinnen und Schüler etwas aufzubessern.<br />
Dann erschien PISA 2000 und legte einer breiteren Öffentlichkeit<br />
in aller Deutlichkeit dar, was andere zwanzig Jahre<br />
zuvor verkündeten: die Schweizer Schule tut sich schwer, Kinder<br />
und Jugendliche unterschiedlicher Nationalität schulisch<br />
so zu integrieren, dass alle dieselben Ausbildungschancen<br />
erhalten. PISA 2000 zeigte, dass die Kinder von eingewanderten<br />
Familien, statistisch gesehen, immer noch die Verlierer in<br />
einem Bildungssystem sind, das zwar rechtlich gesehen keine<br />
Segregation betreibt, aber faktisch zu einem gewissen Grad<br />
Ausländer und Einheimische nach Schultyp und Schulhaus<br />
separiert.<br />
Die Verwendung eines allerletzten Zeitraffers soll mir an<br />
dieser Stelle mit der folgenden Frage erlaubt sein: wie hat<br />
das Bildungssystem auf PISA 2000 und die Kritik der sich<br />
weiter öffnenden Schere reagiert Es hat mehr desselben verschrieben:<br />
noch mehr unterrichtsergänzende Massnahmen<br />
und noch intensivere Nutzung der Massnahmen. Seit dreissig<br />
Jahren bereits wird ständig auf der gleichen Schiene gefahren.<br />
Die Frage stellt sich, was haben die unterrichtsergänzenden<br />
Stützmassnahmen bewirkt und wem haben sie gedient<br />
Das Schattensystem für Mehrsprachige<br />
Es besteht kein Zweifel, dass die gezielte Einzelförderung ausserhalb<br />
der regulären Unterrichtszeit über die Jahre hinweg<br />
ständig ausgedehnt wurde. Ein Blick auf die unterrichtsergänzenden<br />
Massnahmen im Kanton Zürich verdeutlicht die<br />
weite Verbreitung solcher Massnahmen auf der Unterstufe.<br />
Zudem sind Kinder mit Migrationshintergrund besonders<br />
davon betroffen (Bildungsdirektion des Kantons Zürich, <strong>2009</strong>).<br />
Im Schuljahr 2007/2008 haben 87 von 100 Lernenden mit<br />
Migrationshintergrund eine oder mehrere Zusatzmassnahmen<br />
beansprucht. Den meisten wurde nur eine Zusatzmassnahme<br />
verordnet (z.B. Deutsch als Zweitsprache), aber einigen gleich<br />
mehrere (Deutsch als Zweitsprache, Hausaufgabenhilfe sowie<br />
sonderpädagogische Massnahmen). Gemäss der Zürcher<br />
Bildungsstatistik ist die Tendenz steigend, d.h. im Verlauf<br />
der letzten Jahre wurden jedes Jahr mehr Schülerinnen und<br />
Schüler mit Migrationshintergrund an dieses unterrichtsbegleitende<br />
Stützsystem verwiesen. Es ist meiner Ansicht nach<br />
eine ganz spezielle Form von «shadow educational system»<br />
(Schatten-Bildungssystem), da der Besuch des Stützsystems<br />
erforderlich ist, um im regulären Unterricht mithalten zu<br />
können.<br />
Das über Jahre gewachsene paraschulische Stütz- und<br />
Fördersystem für Mehrsprachige sollte vor dem Hintergrund<br />
der Professionalisierung der interkulturellen Pädagogik erhellt<br />
werden. Ist es eine Folge der Professionalisierung oder<br />
hat es sich von selbst, gewissermassen systemimmanent<br />
ausgeweitet Wie ich im Nachfolgenden ausführe, trifft beides<br />
zu: Systeme wie z.B. das paraschulische Stütz- und Fördersystem<br />
tendieren dazu, sich selber zu erhalten und ständig<br />
auszubauen. Zudem hat die Interkulturelle Pädagogik mit<br />
10<br />
<strong>Podium</strong> <strong>Pestalozzianum</strong> <strong>2009</strong>
ihrer erfolgreichen Ausweitung diesem Schattensystem die<br />
notwendige Legitimation gegeben, um sich so ihre Klientel<br />
(mehrsprachige Kinder und Jugendliche) zu sichern.<br />
Zurück zu den Fakten: Innerhalb von «nur» dreissig Jahren<br />
haben wir uns von einer Situation entfernt, in der das<br />
mehrsprachige Kind völlig sich selber überlassen war, und<br />
uns hinbewegt zu einer Situation, in der es von einem ganzen<br />
Regiment von Fachleuten, insbesondere von Lehrkräften für<br />
Deutsch als Zweitsprache, für Nachhilfe, Hausaufgabenhilfe,<br />
heimatliche Sprache und Kultur sowie einer ganzen Palette<br />
sonderpädagogischer Therapieformen und anderer Stütz- und<br />
Fördermassnahmen überbetreut wird. Der PISA Schock von<br />
2000 – in abgefederter Form auch in der Schweiz spürbar –<br />
hat zutage gefördert: Das «mehrsprachige Kind der Nation»<br />
muss so lange und so intensive gefördert werden, bis seine<br />
Fremdsprachigkeit verschwindet beziehungsweise in den internationalen<br />
Schulleistungsvergleichen nicht mehr negativ<br />
ins Gewicht fällt.<br />
Das Belastungsempfinden der Lehrperson<br />
Wieviel Heterogenität erträgt eine Lehrperson in ihrer Klasse<br />
Die Toleranzschwelle für Heterogenität ist einerseits vom<br />
individuell unterschiedlichen Belastungserleben der Lehrperson<br />
abhängig (und variiert je nach Unterrichtsstil und<br />
Zusammensetzung der Klasse) und andererseits vom institutionellen<br />
Umfeld. Beim letzteren ist der wichtigste Faktor die<br />
Verfügbarkeit von finanziellen und personellen Ressourcen.<br />
Diese beiden Faktoren korrelieren positiv miteinander: Das<br />
individuelle Belastungserleben steigt im gleichen Ausmass<br />
wie Ressourcen institutionell zur Verfügung gestellt werden,<br />
um die Lehrperson zu entlasten. Die nachfolgende Abbildung<br />
verdeutlicht den Zusammenhang zwischen dem individuellen<br />
Belastungserleben der Lehrperson und die Verfügbarkeit von<br />
Zusatzhilfsmitteln und Zusatzhilfskräften, d.h. die Möglichkeit<br />
eines Zugriffs auf zusätzliche finanzielle und personelle<br />
Resourcen.<br />
Verfügbarkeit von<br />
Zusatzmitteln und<br />
-lehrkräften<br />
Toleranzschwelle für<br />
Heterogenität<br />
Belastungserleben<br />
der Lehrperson<br />
Methodisch-didaktisch ist es natürlich am einfachsten,<br />
wenn alle Lernenden gleich viel oder gleich wenig wissen<br />
und können. Jede Abweichung davon wird als eine berufliche<br />
Herausforderung und Belastung empfunden. Im Grunde<br />
genommen sollten solche Herausforderungen eigentlich<br />
durch berufliches Handeln, vermittelt und eingeübt in der<br />
Lehrerbildung, gemeistert werden. Dennoch antworten erfahrene<br />
Lehrpersonen in der Schweiz aber auch in anderen<br />
Ländern auf die Frage, was sie sich am meisten wünschen,<br />
in der Regel wie folgt: zusätzliche Lehrkräfte. Sie wünschen<br />
sich zusätzliche Hilfskräfte, die ihnen beiseite stehen, um<br />
schwierige, fremdsprachige und lernschwache Schülerinnen<br />
und Schüler zu unterrichten. Die neueste OECD Studie TALIS<br />
(«Teaching and Learning International Survey») bestätigt dies:<br />
Als Hauptursache für Schwierigkeiten im Unterricht wird der<br />
Mangel an passender Ausstattung sowie an Zusatzlehr- und<br />
Hilfslehrkräften aufgeführt (OECD <strong>2009</strong>, S. 43). Die in den 24<br />
Bildungssystemen der TALIS-Studie befragten Lehrkräfte<br />
erwarten, dass ihnen pädagogische und andere Fachleute zur<br />
Seite gestellt werden. Gemäss TALIS fordern Lehrkräfte diese<br />
Zusatzhilfen speziell für den Unterricht mit eingewanderten<br />
Schülern und Schülerinnen und/oder für jene mit besonderen<br />
Lernbedürfnissen.<br />
Die zirkuläre Wechselwirkung zwischen Belastungserleben<br />
und Verfügbarkeit von Zusatzhilfen ist nicht zu unterschätzen:<br />
Die kontinuierliche Ausweitung des unterrichtsergänzenden<br />
Stütz- und Fördersystems führte dazu, dass sich<br />
die Toleranzsschwelle für Heterogenität in der Klasse kontinuierlich<br />
nach unten gesenkt hat. Wir haben es hier mit einer<br />
Folgeerscheinung der Bürokratisierung von Interkultureller<br />
Pädagogik und anderen Teilpädagogiken zu tun. Das Merkmal<br />
einer Bürokratie ist, dass sie sich selber Arbeit beschafft.<br />
Da das pädagogische Handlungsfeld durch zwischenmenschliche<br />
Beziehungen gekennzeichnet ist, beinhaltet jede Bürokratisierung<br />
zwangsweise eine Klientelisierung. Als Folge<br />
der eben beschriebenen, zirkulären Wechselwirkung zwischen<br />
Belastungserleben und Verfügbarkeit von Geld und<br />
Experten, wird die Klientel ständig vergrössert. Gehörten zur<br />
interkulturellen Klientel in den 1970er- und 1980er-Jahren<br />
zunächst ausschliesslich die Kinder von Arbeitsmigrantinnen<br />
und –migranten aus den Anwerbeländern, so wurden in der<br />
Schweiz relativ bald einmal nationale sprachliche und kulturelle<br />
Minderheiten dazu gezählt, danach Flüchtlinge, und<br />
heute jede und jeder, die/der biografisch oder faktisch als<br />
förderungsbedürftig erachtet wird. Im Gleichschritt mit der<br />
steten Expansion der Klientel ist der Bedarf an entsprechend<br />
ausgebildeten, interkulturellen Fachleuten, die unterrichtsergänzend<br />
arbeiten, gestiegen.<br />
Der für den Kanton Zürich beschriebene Wachstum sonderpädagogischer<br />
und unterrichtsergänzender Massnahmen<br />
gilt auch für die anderen Kantone in der Schweiz, insbesondere<br />
für Kantone mit einem hohen städtischen Bevölkerungsanteil<br />
sowie mit einer hohen Einwanderungsquote. Die Situation<br />
im Kanton Basel-Stadt ist besonders hervorzuheben, da<br />
der Kanton mit dem 2007 verabschiedeten Integrationskonzept<br />
«Fördern und Fordern» die unterrichtsunterstützenden<br />
Fördermassnahmen für Kinder mit Migrationshintergrund<br />
sowohl koordiniert als auch finanziert (Kommission für Migrations-<br />
und Integrationsfragen Basel-Stadt, 2008).<br />
Wie zahlreiche Untersuchungen in der Schweiz zeigen,<br />
ist die kontinuierliche Expansion von unterrichtsergänzenden<br />
Massnahmen vom vorhandenen Angebot abhängig und somit<br />
aufs Engste mit der Professionalisierung der pädagogischen<br />
Fachgebiete, insbesondere der Sonder- und Heilpädagogik<br />
aber auch der Interkulturellen Pädagogik verknüpft (siehe<br />
Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung,<br />
2006, S. 87ff.), denn die Massnahmen – die integrativen aber<br />
auch die segregierten Formen – haben vor allem in jenen<br />
Gita Steiner-Khamsi<br />
11
Schulbezirken zugenommen, in denen sowohl grosszügige<br />
finanzielle Mittel als auch Fachleute vorhanden waren. Die<br />
interkantonalen Vergleichsstudien zeigen eine grosse Varianz<br />
bezüglich der Angebotslage, die offenbar weniger von der<br />
aktuellen Bedürfnislage der Lernenden, sondern vielmehr von<br />
der Verfügbarkeit von finanziellen und personellen Resourcen<br />
abhängig ist (Häfeli & Walther-Müller, 2005; Schweizerische<br />
Koordinationsstelle für Bildungsforschung, 2006).<br />
Der Wohnort bestimmt, ob ein Kind mit Migrationshintergrund<br />
als ein «Fall» für Sonderklassen oder unterrichtsergänzenden<br />
Stütz- und Förderunterricht erfasst wird. Insbesondere<br />
die Chance zur institutionellen Diskriminierung<br />
durch Zuweisung in weniger anspruchsvolle Schulformen<br />
oder segregierte Sonderklassen ist am grössten in Bezirken,<br />
die sich ein derart differenziertes Schulsystem leisten können.<br />
In Schulbezirken, wo das Schulsystem strukturell stark differenziert<br />
ist, werden die unattraktiven oder anforderungsarmen<br />
Schulformen durch Lernende mit Migrationshintergrund<br />
gefüllt. Vereinfacht formuliert: Die Chance institutioneller<br />
Diskriminierung ist am geringsten in ärmlichen ländlichen<br />
Gegenden, die aus finanziellen oder organisatorischen Gründen<br />
kein differenziertes Schulsystem anbieten können.<br />
Es ist nicht möglich, das Rad der Zeit zurückzudrehen.<br />
Eine «Deprofessionalisierung» oder eine Abschaffung der<br />
gezielten Einzelförderung ist weder denkbar noch wünschbar.<br />
Die Notleidenden wären nicht nur die Lehrpersonen, sondern<br />
auch die Lernenden. Umgekehrt sollte der massive Ausbau<br />
des Stütz- und Fördersystems für Mehrsprachige jedoch keineswegs<br />
als Erfolg für die Interkulturelle Pädagogik verbucht<br />
werden. Das Ziel der Interkulturellen Pädagogik, den monokulturellen<br />
Habitus von Schule aufzuweichen, ist nämlich<br />
nicht gelungen. Im Gegenteil, die interkulturellen Fachleute<br />
sind in der Praxis im Schatten der regulären Lehrkräfte tätig<br />
und ermöglichen ihnen, sich so weit es geht der Heterogenität,<br />
Multikulturalität und Mehrsprachigkeit zu entledigen.<br />
Wie die Minarettinitiative unlängst für viele von uns erschreckend<br />
gezeigt hat, wird am Mythos der Monokulturalität nicht<br />
nur in der Schule sondern auch in der Gesellschaft unbeirrt<br />
festgehalten. Die Delegation der «Ausländer» an Fachleute<br />
ist somit nicht nur keine Lösung, sondern gewissermassen<br />
zu einem Problem für ein multikulturelles Zusammenleben<br />
in Gesellschaft und Schule geworden.<br />
Bibliographie<br />
Bildungsdirektion des Kantons Zürich (<strong>2009</strong>). Sonderpädagogische und<br />
unterrichtsergänzende Massnahmen. Stand im Schuljahr 2007-08,<br />
Entwicklungen und Vergleiche. Zürich: Kantonale Verwaltung.<br />
Häfeli, K. & Walther-Müller, P. (Hrsg.). (2005). Das Wachstum des sonderpädagogischen<br />
Angebots im interkantonalen Vergleich. Steuerungsmöglichkeiten<br />
für eine integrative Ausgestaltung. Luzern:<br />
Edition SZH / CSPS.<br />
Kommission für Migrations- und Integrationsfragen Basel-Stadt<br />
(2008). Gemeinsam mit Offenheit und Respekt. Fördern und Fordern.<br />
Das Gesetz über die Integration der Migrationsbevölkerung.<br />
Basel: Kantonale Verwaltung Basel-Stadt.<br />
OECD (<strong>2009</strong>). Creating Effective Teaching and Learning Environments:<br />
First Results from TALIS. Paris: OECD.<br />
Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung (2006).<br />
Bildungsbericht Schweiz. 2006. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle<br />
für Bildungsforschung.<br />
12<br />
<strong>Podium</strong> <strong>Pestalozzianum</strong> <strong>2009</strong>
Dieter Rüttimann untersucht in seinem Beitrag die Bedeutung der Lehrpersonen für eine optimale integrierende Förderung<br />
von Schulkindern. Er zeigt, dass gelingende Integration vor allem davon abhängt, ob Lehrerinnen und Lehrer<br />
reflektiert mit ihren eigenen Leistungserwartungen gegenüber Schülerinnen und Schülern mit unterschiedlicher sozialer<br />
Herkunft umgehen und ob sie die Kommunikation mit ihnen bewusst gestalten.<br />
Möglichkeiten und Grenzen der Integration<br />
in Primarschulen<br />
Dieter Rüttimann Institut Unterstrass der PH Zürich / Schulleiter der Gesamtschule Unterstrass<br />
Wenn Lehrerinnen und Lehrer sich zu Möglichkeiten und<br />
Grenzen der Integration in Primarschulen äussern müssten,<br />
würden sie wohl behaupten, dass Integration vor allem eine<br />
Frage von Ressourcen sei: mehr Personal, mehr Geld, genügend<br />
Räume. Eltern würden ganz anders argumentieren, sie<br />
hätten am meisten Angst davor, dass das allgemeine Leistungsniveau<br />
ihrer «normalen» Kinder sinken würde.<br />
Die Kinder hätten am wenigstens dagegen. Je früher sie<br />
damit leben gelernt haben, desto selbstverständlicher ist es<br />
für sie, dass alle dazugehören.<br />
Ich merke, ob ein Lehrer an mich glaubt oder nicht<br />
«Am wichtigsten ist es für mich, dass ich spüre, dass ein Lehrer<br />
an mich glaubt», so spricht der zwölfjährige Ben. «Ich kann<br />
das an seinen Augen ablesen, ja die glänzen einfach mehr,<br />
als bei einem Lehrer, der mich nicht mag. Und – er schaut<br />
mich auch weit öfter an, etwa wenn wir schwatzend auf dem<br />
Schulhauskorridor neben einander hergehen. Wenn einer<br />
nicht an mich glaubt, spricht er zwar mit mir, schaut aber<br />
gerade aus. Die Stimme unterscheidet sich auch, ich höre es<br />
einfach, kann es aber nicht so gut beschreiben, und an den<br />
Worten erkenne ich es auch. Wenn ich beispielsweise einen<br />
schlechten Test geschrieben habe, dann sagt der Lehrer, der<br />
an mich glaubt, dass ich einfach Pech gehabt hätte und wir<br />
das schon wieder hinkriegen würden. Jener, der mir wenig<br />
zutraut, weist auf grundsätzliche Probleme hin, die ich wohl<br />
habe, und dass hier definitiv etwas geschehen müsste.»<br />
Die überragende Bedeutung der Leistungserwartung an<br />
die Schülerinnen und Schüler<br />
Genau diese Position vertritt die Wissenschaft: Entscheidend<br />
für schulisches Gelingen sind weder maximale Ressourcen<br />
noch eine möglichst homogene Klasse von Kindern, wie Eltern<br />
sie etwa wünschten. Viel entscheidender scheint das zu sein,<br />
was Ben mit «an mich glauben» beschreibt. In der Sprache<br />
der Wissenschaft wird das als «positive Leistungserwartung»<br />
bezeichnet. Ob Kronig (2007) oder Helmke (<strong>2009</strong>), beide sprechen<br />
davon, dass hohe Leistungserwartungen Leistungsvarianzen<br />
weitgehend erklären oder, wie Jerusalem (2002)<br />
sagt, die besten Prädiktoren für die Leistungsentwicklung<br />
seien. Brunswik (1992 zit. von Helmke) ist zusätzlich der<br />
Frage nachgegangen, von welchen Faktoren es abhängt, ob<br />
ein Lehrer oder eine Lehrerin ein Kind für «intelligent» hält:<br />
wacher Gesichtsausdruck, hohe Stirn, ordentliche Arbeitsweise,<br />
erledigte Hausaufgaben, gute berufliche Position des<br />
Vaters, Durchsetzungsvermögen, geordnetes Elternhaus und<br />
verständige Eltern. So gesehen hat Neuenschwander (<strong>2009</strong>)<br />
auf den ersten Blick recht, dass die Eltern den grössten Einfluss<br />
auf die schulische Laufbahn eines Kindes haben, sind<br />
sie doch für fünf Faktoren direkt oder indirekt zuständig, ja<br />
selbst für die hohe Stirn sind sie genetisch zuständig. Es<br />
bleibt der «wache Gesichtsausdruck» übrig, aber auch dafür<br />
könnten elterliche Sozialisationsprozesse verantwortlich<br />
gemacht werden. Erstaunlicherweise ist nirgends die Rede<br />
von eleganten oder kreativen Problemlösungen, von analytischen<br />
Denkfähigkeiten oder von differenzierten Elaborationsprozessen.<br />
Trotzdem kommen die Empfehlungen für die<br />
Schullaufbahn und die Selektionsentscheide von den Lehrerinnen<br />
und Lehrern und die sind – wie es gleich zu zeigen<br />
gilt – nicht über alle Zweifel erhaben.<br />
Selektionsentscheide werden selten leistungsbezogen<br />
gefällt<br />
Offensichtlich sind schulische Leistungen für den Verbleib in<br />
einer Regelklasse oder beim Übertritt in die Sekundarstufe von<br />
untergeordneter Bedeutung. Leistungsvergleiche in Mathematik<br />
und Sprache im Gymnasium, Sek A und B belegen diese Behauptung.<br />
So gibt es Kinder, die in der Sek B sind und gemäss<br />
PISA-Leistungen zu den Besten in einer Gymnasiumsklasse<br />
gehören würden. Auf der anderen Seite gibt es Gymnasiasten,<br />
die wohl zu den schwächsten zehn Prozent einer Sek B Klasse<br />
gehören würden. Wie kann das geschehen<br />
Was Schülerinnen und Schüler wirklich behindert...<br />
Eine schweizerische Untersuchung bringt etwas Licht ins<br />
Dunkel. Haberlin, Imdorf und Kronig (2004) haben mit stan-<br />
Dieter Rütimann<br />
13
dardisierten Tests jene Schülerinnen und Schüler in 6. Klassen<br />
identifiziert, die absolut gleiche und durchschnittliche<br />
Leistungen erbracht haben. Dann haben sie deren Lehrerinnen<br />
und Lehrer befragt, welche dieser Kinder sie eher in die Sek<br />
A und welche sie eher in die Sek B schicken würden. Die Ergebnisse<br />
sind schockierend! Schweizer Mädchen aus guten<br />
ökonomischen Verhältnissen haben die besten Chancen –<br />
nahezu mit neunzigprozentiger Sicherheit bekommen sie die<br />
Empfehlung für die Sek A. Bei fremdsprachigen Knaben sinken<br />
die Chancen – immer bei identischen Leistungen – auf einen<br />
Drittel. Benachteiligt sind also in der Schweiz Kinder aus der<br />
Unterschicht, Knaben und Fremdsprachige. Objektiv gesehen<br />
erbringen fremdsprachige Kinder aus der Unterschicht<br />
diese Durchschnittsleistung ohne elterlichen Support. Deshalb<br />
müsste ihre Leistung eigentlich höher eingeschätzt werden.<br />
Wir können also feststellen, dass Lehrerinnen und Lehrer<br />
ihre Schüler nicht nach Leistung einschätzen, sondern nach<br />
Geschlecht, sozialer Herkunft und Fremdsprachigkeit.<br />
Wie Lehrerinnen und Lehrer versuchen, ihre Entscheide<br />
zu legitimieren<br />
Diese Art der Benachteiligung geschieht keineswegs aus<br />
schlechter Absicht. Im Gegenteil, Lehrerinnen und Lehrer<br />
sind fest davon überzeugt, das Beste für ihre Schülerinnen<br />
und Schüler zu wollen. Trotzdem werden bestimmte Gruppen<br />
von Kindern in ihrer schulischen Laufbahn systematisch behindert.<br />
Wie kann es dazu kommen<br />
Nora Berushia stammt aus dem Kosovo und ist in der<br />
6. Klasse, der Übertritt in die Sekundarstufe steht bevor.<br />
Sie hat im Durchschnitt eine 4,5 erzielt. Für schweizerische<br />
Kinder ist es klar, was empfohlen wird, wenn sie eine 4,5 bekommen:<br />
Sek A. Bei Nora führt dies aber zu Diskussionen. Die<br />
Klassenlehrerin empfiehlt sie für die Sek B. Auf die Frage, was<br />
passieren würde, wenn Nora Berushia Gabi Hoffmann heissen<br />
würde, meinten die anwesenden Lehrerinnen und Lehrer, dass<br />
sie dann in die Sek A empfohlen würde. Argument: Gabi hätte<br />
sicher elterlichen Support, was bei Nora auszuschliessen sei,<br />
und im Übrigen sei es doch besser, eine gute Sek B Schülerin<br />
zu sein, als eine schlechte Sek A Schülerin. Das führte zum<br />
Protest einer Lehrerin. Sie meinte, dann müssten die Sek A<br />
Lehrpersonen Nora so coachen, dass sie die mangelnde<br />
elterliche Unterstützung kompensieren könne. Ungewöhnlich<br />
an diesem Tatsachenbericht ist nur der Schluss, nämlich<br />
dass eine Lehrerin vehement Partei ergreift und sich dafür<br />
einsetzt, ein fremdsprachiges Mädchen aus der Unterschicht<br />
der Sekundarschule A zuzuweisen.<br />
Das Beispiel zeigt deutlich, wie mittels eines bestimmten<br />
«pädagogischen Codes» – durch eine den Lehrpersonen vertraute<br />
Sprache und durch vertraute Argumentationsmuster –<br />
Selektionshandeln begründet und legitimiert wird (Hug, 2007).<br />
Das ist die Antwort auf die Frage, wie es dazu kommen kann,<br />
dass Absicht und Handeln dermassen auseinanderklaffen.<br />
Die Art des Kommunizierens hängt von der Leistungserwartung<br />
ab<br />
Mindestens so aufschlussreich ist es, welche Unterschiede<br />
Lehrpersonen in der Alltagskommunikation mit Schülerinnen<br />
und Schülern machen, je nachdem ob sie diese höher oder<br />
tiefer einschätzen. Dies zeigt sich besonders deutlich in den<br />
folgenden Situationen:<br />
– Fragen stellen<br />
Lehrpersonen stellen andere Fragen an diejenigen Kinder,<br />
die hoch eingeschätzt werden. Die Fragen sind offener,<br />
schwieriger, erlauben gelegentlich verschiedene Lösungen.<br />
Bei tief eingeschätzten Kindern sind es mehr einfache, nur<br />
mit ja oder nein zu beantwortenden Fragen. Kinder aber<br />
machen Rückschlüsse vom Anspruchsniveau der Fragen<br />
auf ihre eigene Selbsteinschätzung: Je dümmlicher die<br />
Frage, desto tiefer ist die Selbsteinschätzung. Möglicherweise<br />
– diese Hypothese ist empirisch nicht geprüft – stellen<br />
Lehrpersonen hoch eingeschätzten Kindern wesentlich<br />
mehr metakognitive Fragen und zeigen sich damit interessiert<br />
an deren Denken, Problemlösen und strategischem<br />
Vorgehen. Tief eingeschätze Kinder, deren Schwächen in<br />
der Verwendung von kognitiven und metakognitiven Strategien<br />
liegen, werden damit weniger gefördert.<br />
– Loben und Tadeln<br />
Ein ähnliches Phänomen ist beim Loben zu beobachten.<br />
Wenn ältere Schülerinnen oder Schüler für relativ einfache<br />
Aufgaben überschwänglich gelobt werden, erkennen sie<br />
daran, wie tief sie eingeschätzt werden, was sich wiederum<br />
auf ihre Selbsteinschätzung auswirkt.<br />
Erschwerend kommt dazu, dass hoch eingeschätzte Schülerinnen<br />
und Schüler weit häufiger gelobt werden als tief<br />
eingeschätzte. Dafür werden diese öfter getadelt. Selbst<br />
wenn hoch und tief eingeschätzte Schülerinnen und Schüler<br />
sich identisch unangemessen verhalten, werden nur die tief<br />
eingeschätzten getadelt.<br />
– Reagieren auf Fehler<br />
Hoch eingeschätzte Schülerinnen und Schüler erhalten<br />
deutlich mehr helfende Hinweise, wenn sie etwas nicht<br />
können oder nicht richtig verstehen. Bei tief eingeschätzten<br />
«lohnt» es sich sowieso nicht.<br />
– Erklären von Misserfolg und Erfolg<br />
Misserfolg erklären Lehrpersonen bei hoch eingeschätzten<br />
Schülerinnen und Schülern meist external, also mit Pech,<br />
ungünstigen Umständen. Bei tief eingeschätzten liegt es<br />
am Kind selber, z.B. an charakterlichen Merkmalen. Bei Erfolg<br />
ist es gerade umgekehrt: Bei den hoch eingeschätzten<br />
Kindern liegt es an deren Intelligenz oder Persönlichkeit,<br />
bei den andern ist das Motto «auch eine blinde Sau findet<br />
mal eine Eichel».<br />
– Warten nach einer Frage oder nach einer Antwort<br />
Die Gedächtnispsychologie weist immer wieder darauf hin,<br />
wie wichtig es ist, nach einer Frage mindestens drei Sekunden<br />
zu warten, erst dann sind Menschen in der Lage nachzudenken<br />
und vom Ultrakurzzeit- ins Kurzzeitgedächtnis<br />
zu kommen, welches der eigentliche Arbeitsspeicher ist.<br />
Auf eine vergleichbare Situation weist Helmke hin, nämlich<br />
auf das Warten nach einer Antwort. Dies erlaubt, einen<br />
allfälligen Fehler selber zu verbessern. Leider machen<br />
Lehrpersonen auch bei den Wartezeiten Unterschiede zwischen<br />
hoch und tief eingeschätzten Kindern.<br />
14 Workshops zum <strong>Podium</strong> <strong>Pestalozzianum</strong> <strong>2009</strong>
Neben den oben erwähnten verbalen Aspekten verweist Dubs<br />
(<strong>2009</strong>) auf Untersuchungen, die die Mimik und Gestik von<br />
Lehrpersonen in Abhängigkeit ihrer unterschiedlichen Leistungserwartungen<br />
thematisieren. Es bestätigt, was der zwölfjährige<br />
Ben am Anfang des Textes sagt. Tief eingeschätzte<br />
Kinder erhalten weit weniger Zuwendung! Etwa in der zweiten<br />
Klasse nehmen Kinder diese Unterschiede klar wahr und<br />
beginnen sie zu internalisieren.<br />
Dies ist also der letzte Teil der Antwort auf die eingangs<br />
gestellte Frage, wie es kommen kann, dass bestimmte Kinder<br />
benachteiligt werden: Lehrpersonen selektionieren nach<br />
Schicht, Fremdsprachigkeit und Geschlecht. Sie haben dafür<br />
einen entsprechenden «pädagogischen Code» entwickelt<br />
und legitimieren so ihre Entscheide. Lehrpersonen machen<br />
Unterschiede, wie sie mit Kindern sprechen, getreu nach<br />
dem Motto: Wer hat, dem wird gegeben, wer fast nichts hat,<br />
dem wird der letzte Rest an Selbstwert genommen. Und sie<br />
sind unterschiedlich grosszügig in der Art der nonverbalen<br />
Zuwendung.<br />
Zu behaupten, die Eltern hätten den grössten Einfluss auf<br />
eine erfolgreiche schulische Laufbahn (Neuenschwander,<br />
<strong>2009</strong>), stimmt wohl nur sehr bedingt. Mit ihrer Leistungserwartung<br />
bestimmen die Lehrerinnen und Lehrer in hohem<br />
Masse, ob die Kinder einen anspruchsvolleren Schultyp besuchen<br />
können.<br />
Bibliographie<br />
Dubs, R. (<strong>2009</strong>). Lehrerverhalten. St. Gallen: SKV.<br />
Haberlin, Imdorf, Kronig (2004). In: SKBF (Hrsg.), (2006). Bildungsbericht<br />
Schweiz. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle für<br />
Bildungsforschung.<br />
Helmke, A. (<strong>2009</strong>). Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität.<br />
Seelze: Kallmeyer.<br />
Hug, E. (2007). Bildungsgerechtigkeit und schulische Selektion. Widerspruch,<br />
Ausgabe 52/07.<br />
Hurrelmann, K. (2007). Kinder in Deutschland 2007. Frankfurt a. M.:<br />
Fischer.<br />
Jerusalem, M. (2002). Evaluation der schulbezogenen Selbstwirksamkeit<br />
von Sekundarschülern. In: Zeitschrift für Pädagogik,<br />
44. Beiheft, 2002<br />
Kronig, W. (2007). Die systematische Zufälligkeit des Bildungserfolgs.<br />
Bern: Haupt.<br />
Neuenschwander, M. (2010). Ist Schule wirkungslos Nein, aber es<br />
geht nicht ohne Eltern. Bildung Schweiz 1/2010.<br />
Die Grenzen liegen in uns, die Möglichkeiten an uns!<br />
Schon junge Kinder wissen genau, welche Bildungschancen<br />
sie haben. Dies zeigt sich z.B. an den Bildungserwartungen,<br />
die schon acht- bis zehnjährige Kinder haben. Nur gerade<br />
zwanzig Prozent der Unterschichtkinder erwarten ein Abitur,<br />
in der Oberschicht sind es achtzig Prozent (Hurrelmann,<br />
2007). Kinder scheinen die Erwartungen, die mittels kommunikativer<br />
Äusserungen gemacht werden, sehr schnell internalisiert<br />
zu haben.<br />
Wo liegen die Grenzen und die Möglichkeiten der Integration<br />
Die Antwort fällt einfach aus: Die Grenzen liegen in uns, den<br />
Lehrerinnen und Lehrer, an unseren Einstellungen und den<br />
daraus entstehenden Leistungserwartungen.<br />
Die Möglichkeiten liegen an uns, den Lehrerinnen und Lehrern,<br />
in der Art und Weise, wie wir selektionieren, dies begründen<br />
und schliesslich in der Art der Alltagskommunikation,<br />
eben beim Fragen stellen, beim Warten, beim Loben und<br />
Tadeln, beim Reagieren auf Fehler. Kinder sind allzu gut in<br />
der Lage, die dahinter stehenden Erwartungen zu deuten und<br />
auf sich zu beziehen mit allen üblen Folgen für den Selbstwert<br />
und die Selbstwirksamkeit. Unschwer sich vorzustellen, dass<br />
die ganze Klasse diese feinen Unterschiede wahrnimmt und<br />
ihre Schlüsse zieht.<br />
Dieter Rüttimann<br />
15
Über die Autoren und die Autorin<br />
Roger de Weck<br />
Roger de Weck (57) ist Publizist in Zürich<br />
und Berlin. Er schreibt für deutsche,<br />
französische und Schweizer<br />
Blätter, hierzulande für die «SonntagsZeitung»<br />
und «persönlich». Auch<br />
ist er Moderator der Fernsehsendung<br />
«Sternstunden» (SF1).<br />
Der zweisprachige Freiburger ist<br />
Präsident des Stiftungsrats des Graduate Institute of International<br />
and Development Studies in Genf und Gastprofessor<br />
am Europa-Kolleg in Brügge und Warschau. Zuvor war er<br />
Chefredaktor des «Tages-Anzeigers» und der Hamburger<br />
Wochenzeitung «Die Zeit».<br />
De Weck ist namentlich Herausgeber der aussenpolitischen<br />
Buchreihe «Standpunkte», Stiftungsrat des Karlspreises in<br />
Aachen, Ehrendoktor der Universität Luzern und Träger des<br />
Medienpreises Davos. Er hat in St. Gallen Volkswirtschaft<br />
studiert.<br />
Gita Steiner-Khamsi<br />
Ist in Teheran geboren, eingebürgert<br />
in Zürich 1979 und in New York 2006.<br />
Promotion in Sozialpsychologie an<br />
der Universität Zürich und 1979–1988<br />
Leiterin des Bereichs Interkulturelle<br />
Pädagogik an der Pädagogischen<br />
Abteilung der Bildungsdirektion des<br />
Kantons Zürich.<br />
Im Jahr 1995 Ruf an die Columbia University in New York,<br />
auf den Lehrstuhl für Vergleichende und Internationale Erziehungswissenschaften.<br />
Präsidentin der U.S. Comparative<br />
and International Education Society (CIES).<br />
Winfried Kronig<br />
Der aus dem Wallis stammende Erziehungswissenschaftler<br />
beschäftigt<br />
sich seit einigen Jahren mit Fragen<br />
des Bildungserfolgs und der<br />
Selektion und hat mehrere grössere<br />
Studien zu diesen Themen veröffentlicht.<br />
Er ist Professor an der Universität<br />
Freiburg und unterrichtet neben bildungssoziologischen Themen<br />
wie Migration und Bildungsungleichheiten auch Allgemeine<br />
Heilpädagogik und Wissenschaftstheorie.<br />
Eine seiner früheren Publikationen ist von der Deutschen<br />
Gesellschaft für Erziehungswissenschaft mit dem 1. Preis für<br />
wissenschaftliche Publikationen ausgezeichnet worden.<br />
Dieter Rüttimann<br />
Stammt aus Zürich, ist Primarlehrer<br />
und Schulleiter an der von ihm mitgegründeten<br />
Gesamtschule Unterstrass,<br />
einer Entwicklungsschule auf<br />
dem Areal des Instituts Unterstrass<br />
an der Pädagogischen Hochschule<br />
Zürich.<br />
Er studierte Pädagogik und Sonderpädagogik<br />
an der Universität Zürich und engagiert sich<br />
für die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die<br />
Alltagspraxis von Lehrerinnen und Lehrern. Leiter des Masterstudienganges<br />
«Umgang mit Heterogenität» und Dozent<br />
für Allgemeine Didaktik und Kommunikation am Institut Unterstrass.<br />
16<br />
<strong>Podium</strong> <strong>Pestalozzianum</strong> <strong>2009</strong>
Bisherige Podien<br />
<strong>Podium</strong> <strong>Pestalozzianum</strong> 2008<br />
«Wankt die Volksschule»<br />
Politik und Pädagogik im Dialog: <strong>Podium</strong>sdiskussion zur<br />
Frage der freien Schulwahl mit:<br />
Jacqueline Fehr Nationalrätin, Vizepräsidentin SP Schweiz<br />
Lucien Criblez Professor für Pädagogik, Universität Zürich<br />
Filippo Leutenegger Nationalrat FDP<br />
Margarita Müller Vizepräsidentin «elternlobby schweiz»<br />
<strong>Podium</strong> <strong>Pestalozzianum</strong> 2006<br />
«Über den kulturellen Bildungsauftrag der heutigen<br />
Schule!»<br />
Kultur und Bildung im Dialog: Gespräch über den kulturellen<br />
Bildungsauftrag der Schule mit:<br />
Fredi M. Murer Filmemacher<br />
Philipp Gonon Professor für Berufspädagogik,<br />
Universität Zürich<br />
<strong>Podium</strong> <strong>Pestalozzianum</strong> 2005<br />
«Welches Wissen braucht die Zukunft»<br />
Wirtschaft und Bildung im Dialog: Gespräch über die Bedeutung<br />
der Bildung für die gesellschaftliche und wirtschaftliche<br />
Entwicklung mit:<br />
Daniel Vasella Präsident und Delegierter des Verwaltungsrates<br />
der Novartis AG<br />
Barbara Häring Nationalrätin, Universitätsrätin<br />
Weitere Informationen und Videos von Kurzreferaten der <strong>Podium</strong>steilnehmer/innen:<br />
www.pestalozzianum.ch ➞ Projekte<br />
➞ <strong>Podium</strong> <strong>Pestalozzianum</strong><br />
<strong>Podium</strong> <strong>Pestalozzianum</strong> <strong>2009</strong> 17
Die Stiftung <strong>Pestalozzianum</strong><br />
Die Stiftung <strong>Pestalozzianum</strong> für Bildung, Jugend und Dialog<br />
ist ein Gemeinschaftswerk des Kantons Zürich, der Pädagogischen<br />
Hochschule Zürich und von derzeit 200 Kollektiv-<br />
und 600 Einzelmitgliedern der Förderungesellschaft. Mit<br />
vier Aktivitäten fördert die Stiftung die Volksschule und den<br />
Bildungsdialog:<br />
Die Preise <strong>Pestalozzianum</strong> würdigen Verdienste für die<br />
Bildung (Bildungspreis) und herausragende Arbeiten Studierender<br />
an der Pädagogischen Hochschule Zürich (Studienpreise).<br />
Die Publikationen <strong>Pestalozzianum</strong> fördern den Wissenstransfer<br />
und Erfahrungsaustausch auf gedruckten und elektronischem<br />
Weg.<br />
Die Projekte <strong>Pestalozzianum</strong> fördern innovative Vorhaben,<br />
welche dazu dienen, das Bildungsverständnis und das pädagogische<br />
Wissen in der Öffentlichkeit zu vertiefen.<br />
Das <strong>Podium</strong> <strong>Pestalozzianum</strong> ist jährlich ein- bis zweimal<br />
einem aktuellen Thema gewidmet und versammelt jeweils<br />
über hundert Interessierte zum lebhaften Dialog.<br />
Informationen über die Stiftung, ihre Aktivitäten und eine<br />
Mitgliedschaft in der Fördergesellschaft finden Sie über<br />
www.pestalozzianum.ch<br />
Der Stiftungsrat<br />
Dr. Peter Stücheli-Herlach Dozent für Organisationskommunikation,<br />
Kommunikationsberater, ZHAW Zürcher Hochschule<br />
für Angewandte Wissenschaften (Präsident)<br />
Prof. Dr. Walter Bircher Rektor der Pädagogischen Hochschule<br />
Zürich<br />
Fabiola Curschellas Widmer Primarlehrerin<br />
Prof. Dr. Philipp Gonon Professor für Berufspädagogik an der<br />
Universität Zürich<br />
Marion Heidelberger Primarlehrerin und Sonderpädagogin,<br />
Vizepräsidentin LCH<br />
René Kappeler Sekundarlehrer<br />
Urs Meier Stellvertretender Amtschef Volksschulamt, Vertreter<br />
der Bildungsdirektion<br />
Carolina Müller-Möhl Politologin, Präsidentin Müller-Möhl<br />
Group<br />
Prof. Stefan Rubin Mittelschullehrer und ehemaliger Präsident<br />
der Schulsynode des Kantons Zürich<br />
Barbara Schäuble-Althaus ehemaliges Vorstandsmitglied<br />
Verband Zürcher Schulpräsident/-innen<br />
Dr. sc. techn. Anton E. Schrafl<br />
Rolf Wolfensberger, Architekt Mitglied des Vorstands der<br />
Elternorganisationen im Kanton Zürich<br />
Geschäftsführung<br />
Prof. Dr. Rudolf Isler Dozent für Allgemeine und Historische<br />
Pädagogik, PH Zürich<br />
18<br />
<strong>Podium</strong> <strong>Pestalozzianum</strong> <strong>2009</strong>
© 2010 Stiftung und Gesellschaft <strong>Pestalozzianum</strong> und<br />
Verlag <strong>Pestalozzianum</strong> an der Pädagogischen Hochschule<br />
Zürich, www.verlagpestalozzianum.ch<br />
Die Publikation erscheint als Gratis-Beilage von ph-akzente<br />
3 /2010 und ist beim Verlag <strong>Pestalozzianum</strong>, im Lernmedienshop<br />
der Pädagogischen Hochschule Zürich sowie im<br />
Buchhandel zum Preis von 10 Franken zu beziehen.<br />
Lektorat<br />
Rudolf Isler, Thomas Hermann<br />
Korrektorat<br />
Marielle Larré<br />
Beratung<br />
Mediendesign-Atelier IAM, Institut für Angewandte Medienwissenschaft,<br />
Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften<br />
ZHAW<br />
Gestaltung<br />
AnnA Raussmüller, Raussmüller Grafik Design<br />
ISBN 978-3-03755-113-4
Das Thema<br />
Unter dem Titel «Schaffen wir die Integration» diskutierten<br />
am <strong>Podium</strong> <strong>Pestalozzianum</strong> <strong>2009</strong> Sachverständige aus<br />
Bildung und Gesellschaft die Bedeutung der öffentlichen<br />
Schule für die gesellschaftliche Integration.<br />
Die <strong>Podium</strong>steilnehmer<br />
Roger de Weck Publizist Zürich und Berlin, designierter<br />
SRG-Direktor<br />
Winfried Kronig Professor für Heilpädagogik an der Universität<br />
Fribourg<br />
Gita Steiner-Khamsi Professorin für Comparative & International<br />
Education, Columbia University New York<br />
Die Stiftung<br />
Die Stiftung <strong>Pestalozzianum</strong> für Bildung, Schule und Dialog<br />
engagiert sich für eine starke Volksschule und ein leistungsfähiges<br />
öffentliches Bildungswesen. Sie führt Menschen<br />
zusammen, die an Bildung, Erziehung und Bildungspolitik<br />
interessiert und beteiligt sind. Sie fördert damit den Erfahrungsaustausch<br />
und den Dialog zwischen Pädagogik und<br />
Politik, Schule und Medien, Lehrenden und Forschenden.<br />
Dabei ist die Stiftung einer modernen, aufgeklärten, historisch<br />
reflektierten Pädagogik verpflichtet, die den Menschen<br />
ins Zentrum stellt.<br />
ISBN 978-3-03755-113-4<br />
20<br />
<strong>Podium</strong> <strong>Pestalozzianum</strong> <strong>2009</strong><br />
Pädagogische Hochschule Zürich