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Persönlich<br />
Sie muss sich<br />
abgrenzen<br />
Dagmar Pauli, Chefärztin des Kinderund<br />
Jugendpsychiatrischen Diensts der<br />
Universität Zürich.<br />
Text: Jacqueline Olivier Foto: Sophie Stieger<br />
vor allem mit komplexeren Fällen und mit<br />
solchen aus ihren Spezialgebieten: Essstörungen,<br />
Störungen der Geschlechtsidentität<br />
sowie Depressionen und Selbstverletzungen.<br />
Bei den Essstörungen über nimmt sie<br />
oft die erste Krisenintervention, danach<br />
übergibt sie die Patienten meistens einer<br />
Kollegin oder einem Kollegen, denn angesichts<br />
ihres vollen Pflichtenhefts könnte<br />
sie unmöglich alle Fälle selber betreuen.<br />
In der Praxis tätig sein zu können, ist<br />
ihr aber wichtig. Auch wenn ihr vieles an<br />
ihrer Tätigkeit Freude bereitet, letztlich<br />
ist es die Begegnung mit den betroffenen<br />
Kindern und Familien, die sie motiviert.<br />
«Wenn man jungen Menschen und den<br />
Familien helfen kann, einen Weg zu finden,<br />
um eine Krise zu bewältigen oder mit<br />
einer psychischen Störung umzugehen,<br />
ist dies der schönste Erfolg.»<br />
Schulblatt Kanton Zürich 3/2015 Magazin<br />
6<br />
«Ich habe dir nie einen Rosengarten versprochen»<br />
– der autobiografisch geprägte<br />
Roman der amerikanischen Autorin Hannah<br />
Green war ein Schlüsselerlebnis für<br />
Dagmar Pauli. Nachdem sie die Geschichte<br />
von der Heilung einer Jugendlichen, die an<br />
Schizophrenie litt, gelesen hatte, wusste<br />
die damals 15-Jährige: «Das will ich auch.»<br />
Nämlich Kindern und Jugendlichen mit<br />
psychischen Erkrankungen helfen. Heute<br />
ist die in Hamburg aufgewachsene Dagmar<br />
Pauli Chefärztin und stellvertretende<br />
ärztliche Direktorin des Kinder- und Jugendpsychiatrischen<br />
Dienstes (KJPD) der<br />
Universität Zürich. Und sagt: «Mein Ziel<br />
war und ist es, für junge Menschen etwas<br />
Positives zu bewirken. Alles andere hat<br />
sich ergeben.»<br />
Nach einigen Semestern Psychologiestudium<br />
in Konstanz zog es sie nach Zürich,<br />
wo sie zur Medizin wechselte und<br />
ihr Staatsexamen machte. Abgesehen von<br />
zwei kurzen Abstechern in die Erwachsenenpsychiatrie<br />
und die Pädiatrie ist sie<br />
nun seit bald 25 Jahren beim KJPD tätig –<br />
in wechselnden Funktionen und an verschiedenen<br />
Standorten. Und hat in dieser<br />
Zeit diverse Entwicklungen miterlebt.<br />
Zum Beispiel diese: «Während wir in den<br />
1990er-Jahren noch vorwiegend Kinder<br />
mit Auffälligkeiten abklärten, haben wir<br />
es heute deutlich mehr mit suizidgefährdeten<br />
Jugendlichen zu tun; im Notfalldienst<br />
mit mindestens einer Person pro<br />
Tag, mehrheitlich Mädchen.» Die Zunahme<br />
von Sui zidalität und Selbstverletzung<br />
sei ein internationaler Trend, erklärt<br />
Dagmar Pauli, der KJPD habe deshalb einen<br />
24-Stunden-Notfalldienst eingerichtet.<br />
Ebenso zugenommen haben laut der<br />
Fachärztin Krisen interventionen aufgrund<br />
von Schulängsten oder depressiven Verstimmungen.<br />
Dies komme nicht von ungefähr,<br />
denn heute seien bereits Kinder<br />
grossem Druck ausgesetzt – dem Druck,<br />
eine höhere Schulausbildung absolvieren,<br />
möglichst schon nach der sechsten Klasse<br />
ans Gymnasium wechseln zu müssen.<br />
Zwei Nachmittage für Patienten<br />
Dagmar Pauli spricht ruhig und sachlich,<br />
ohne nach Worten suchen zu müssen; ihr<br />
Schweizer Dialekt verrät die gebürtige<br />
Deutsche. Viel Zeit hat sie nicht, doch Ungeduld<br />
ist ihr keine anzumerken. Ihr offener<br />
Blick ist auf ihr Gegenüber gerichtet,<br />
immer wieder umspielt ein Lächeln ihre<br />
Lippen. Für sie sei kein Tag wie der andere,<br />
erzählt sie, weil sie in ihrer Position<br />
ganz unterschiedliche, auch viele organisatorische<br />
Aufgaben wahrzunehmen habe.<br />
An zwei Nachmittagen pro Woche empfängt<br />
sie Patienten und Familienangehörige<br />
zur Sprechstunde. Sie befasst sich<br />
Abklärungen und Therapien<br />
Der Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst Zürich (KJPD): ist eine Universitätsklinik,<br />
in der Kinder und Jugendliche mit psychischen Erkrankungen abgeklärt<br />
und therapiert werden. Ausserdem engagiert sich der KJPD in der Lehre<br />
und der Forschung. Angebot: ambulante, halbstationäre und stationäre psychiatrische<br />
Dienstleistungen sowie Notfalldienst. Schwerpunkte: zum Beispiel<br />
ADHS, Autismus, Zwangsstörungen oder Essstörungen. Standorte: KJPD-Zentrum<br />
Zürich, Kinderstation Brüschhalde in Männedorf sowie Regionalstellen in<br />
Bülach, Dietikon, Horgen, Uster, Wetzikon, Winterthur und Zürich Nord. Mitarbeitende:<br />
400. Aktuelle Zahlen: 2013 wurden insgesamt 4389 ambulante und<br />
324 stationäre und teilstationäre Behandlungen durchgeführt, insgesamt 4713.<br />
Davon waren 2671 neue Fälle, 2042 wurden aus den Vorjahren übernommen. [jo]<br />
Eltern für Mitarbeit gewinnen<br />
Mit den Lehrpersonen ihrer Patienten hat<br />
Dagmar Pauli oft Kontakt und ist dankbar,<br />
wenn sie ihre Beobachtungen und Einschätzungen<br />
in dem Fragebogen festhalten,<br />
den sie dafür vom KJPD erhalten.<br />
Dagegen stelle sie zunehmend fest, dass<br />
Eltern immer häufiger die Schwierigkeiten<br />
ihrer Kinder nicht in deren Verhalten begründet<br />
sähen, sondern in der mangelnden<br />
Anpassung der Schule beziehungsweise<br />
der Lehrperson an das Kind – aus<br />
Angst, man würde sonst ihnen selbst die<br />
Schuld zuschieben. Dagmar Pauli, die selber<br />
drei – inzwischen erwachsene – Kinder<br />
hat, sagt dazu: «Die Eltern tun dem<br />
Kind keinen Gefallen, wenn sie ihm vermitteln,<br />
dass sich die Lehrerin ihm anpassen<br />
müsse statt umgekehrt. Das Kind<br />
kann dadurch wichtige soziale Verhaltensweisen<br />
ungenügend erlernen.»<br />
Dem KJPD liegt viel daran, die Eltern<br />
für eine Mitarbeit zu gewinnen. So werden<br />
zum Beispiel Kurse für Eltern von<br />
ADHS-Kindern angeboten, um ihnen aufzuzeigen,<br />
wie sie das Kind dabei unterstützen<br />
können, trotz seiner Störung im<br />
Alltag zu bestehen. Denn nicht alle Patienten<br />
werden gesund. Aber: «Man kann fast<br />
immer ihre Situation verbessern.» Wenn<br />
bei einem Kind eine frühe Psychose diagnostiziert<br />
werde, könne man mit der richtigen<br />
Therapie und guten Medikamenten<br />
dafür sorgen, dass es wieder die Schule<br />
besuchen und danach eine Aus bildung<br />
machen könne. Schwierig ist es für die<br />
Ärztin, wenn die Behandlung auf Wunsch<br />
der Betroffenen nicht fortgesetzt wird,<br />
obwohl die Situation für das Kind noch<br />
nicht vollständig gelöst werden konnte.<br />
«Das beschäftigt einen schon.» Doch sich<br />
abgrenzen zu können, sei eine wichtige<br />
Voraussetzung in diesem Beruf. «In der<br />
Klinik bin ich emotional zwar voll präsent,<br />
aber wenn ich heimkomme, bin ich wieder<br />
genauso da für meine Familie, die in meinem<br />
Privatleben ganz oben steht.» •