Laktation & Stillen
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>Laktation</strong> & <strong>Stillen</strong><br />
Zeitschrift der Europäischen <strong>Laktation</strong>sberaterinnen Allianz • www.elacta.eu • ISSN 1614-807x<br />
AUS DER PRAXIS<br />
Kulturübergreifende<br />
Stillberatung –<br />
Seite 4<br />
TITELTHEMA<br />
Das „Muttermilchgesetz“ in den<br />
Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) –<br />
Seite 5<br />
TITELTHEMA<br />
<strong>Stillen</strong> in<br />
Afghanistan –<br />
Seite 8<br />
2 • 2015 28. Jahrgang
Flexibles <strong>Stillen</strong> – ganz einfach!<br />
mamivac ®<br />
LACTIVE<br />
More Milk Plus<br />
Zur Förderung der<br />
Milchbildung<br />
Saugstark und leise<br />
<br />
Doppelpumping geeignet!<br />
<br />
Die kompakte 2-Phasen Milchpumpe<br />
für die aktive und berufstätige Mutter.<br />
Besuchen Sie unseren<br />
Shop für Fachpersonal!<br />
www.mamivac.com
03<br />
EDITORIAL<br />
Liebe Mitglieder,<br />
liebe Leserinnen<br />
und Leser,<br />
IMPRESSUM<br />
Herausgeber:<br />
ELACTA Europäische<br />
<strong>Laktation</strong>sberaterinnen Allianz<br />
www.elacta.eu<br />
E-Mail: magazin@elacta.eu<br />
ZVR-Nr.: 708420941<br />
ELACTA Präsidentin:<br />
Andrea Hemmelmayr, IBCLC<br />
Wigretsberg 15<br />
A-4175 Herzogsdorf<br />
Redaktionelle Leitung und<br />
Projektkoordination:<br />
Eva Bogensperger-Hezel, IBCLC<br />
E-Mail: magazin@elacta.eu<br />
Mitarbeiterinnen:<br />
Elke Cramer; Andrea<br />
Hemmelmayr, IBCLC; Stefanie<br />
Frank, IBCLC; Márta Gúoth-<br />
Gumberger, IBCLC; Kathrin<br />
Meier, IBCLC; Dr. Gudrun von<br />
der Ohe, IBCLC; Sarah Schäffler,<br />
IBCLC; Bärbel Waldura, IBCLC;<br />
Übersetzungen:<br />
Márta Gúoth Gumberger, IBCLC,<br />
Elizabeth Hormann, IBCLC,<br />
Annika Cramer, Martina Hezel,<br />
Vera Bogensperger<br />
Einzelabonnements:<br />
E-Mail: magazin@elacta.eu<br />
Jahresabonnement: 41,– €<br />
Einzelnummer: 12,– €<br />
Fotos: © siehe Bilder;<br />
Titelfoto: iStock<br />
Layout: Christoph Rossmeissl<br />
Produktion: EinDRUCK<br />
Auflage: 2500 Stück<br />
Erscheinungsweise 4-mal<br />
jährlich, jeweils Ende März, Juni,<br />
September, und Dezember<br />
Redaktionsschluss: 15. Jänner,<br />
15. April, 15. Juli, 15. Oktober<br />
Leserbriefe<br />
Lieber Leserinnen und Leser!<br />
Ihre Meinung ist uns wichtig.<br />
Leserbriefe schicken Sie bitte<br />
an folgene E-Mail:<br />
magazin@elacta.eu<br />
Ein Nebeneinander verschiedener ethnischer<br />
und religiöser Gruppen und Sprachen<br />
ist Realität in fast allen Ländern dieser<br />
Erde. Tagtäglich werden wir in den Medien<br />
mit neuen Flüchtlingstragödien konfrontiert.<br />
Menschen aus Syrien, dem Irak,<br />
Pakistan, Afghanistan, Eritrea, Somalia,<br />
Nigeria, sie alle verlassen ihre Heimat aus<br />
unterschiedlichsten Gründen: Krieg, Verfolgung,<br />
Naturkatastrophen oder auch aus<br />
dem Wunsch nach einem besseren Leben.<br />
Auch Familienzusammenführungen, eine<br />
globalisierte Arbeitswelt und der schlichte<br />
Wunsch fremde Länder kennen zu lernen<br />
führen dazu, dass wir uns immer wieder<br />
mit Menschen auseinandersetzen müssen,<br />
die unsere Sprache und unsere Kultur nicht<br />
verstehen. Besonders herausfordernd dabei<br />
ist die Beratung und Begleitung von<br />
Schwangeren und jungen Müttern, welche<br />
neben Verständigungsschwierigkeiten,<br />
vielfach physische und psychische Probleme<br />
und eigene kulturelle Vorstellungen<br />
über Geburt, <strong>Stillen</strong> und Kinderbetreuung<br />
mitbringen. Interkulturelle Kompetenz erfordert<br />
von den agierenden Personen Feinfühligkeit,<br />
Selbstvertrauen und die Bereitschaft<br />
sich in andere Verhaltensweisen und<br />
Denkmuster einzufühlen, aber auch die<br />
Fähigkeit den eigenen Standpunkt transparent<br />
und verständlich zu vermitteln, flexibel<br />
zu sein, aber auch klar und deutlich,<br />
wo es notwendig ist.<br />
Lassen Sie sich ein auf spannende Begegnungen<br />
und die interessanten Beiträge<br />
dieser Ausgabe.<br />
Andrea Hemmelmayr, IBCLC<br />
Präsidentin von ELACTA<br />
4 AUS DER PRAXIS<br />
Kulturübergreifende Stillberatung<br />
5 TITELTHEMA<br />
Das „Muttermilchgesetz“ in den Vereinigten<br />
Arabischen Emiraten (VAE)<br />
8 TITELTHEMA<br />
<strong>Stillen</strong> in Afghanistan<br />
11 HANDOUT<br />
13 STILLEN IN CHINA<br />
<strong>Stillen</strong> in China und die besondere Rolle<br />
alter Traditionen<br />
15 AKTUELLES<br />
Breastfeeding Management for the<br />
Clinician – Using the Evidence<br />
15 BUCHBESPRECHUNG<br />
Neues vom ELACTA-Vorstand<br />
16 AUS DEN LANDESVERBÄNDEN<br />
17 KONGRESSVORSCHAU 2016 IN ATHEN<br />
Kongressvorschau<br />
18 WISSENSCHAFT<br />
Der hohe Preis halbherziger Stillförderung<br />
in Deutschland<br />
19 VERNETZUNG<br />
Erste europäische IBLCE-Vorsitzende<br />
20 AUS DEN LANDESVERBÄNDEN: BDL<br />
Tu Gutes und sprich darüber!<br />
20 RUBRIK OHNE WORTE<br />
22 NACHLESE HAND IN HAND-KONGRESS<br />
VON BDL/EISL<br />
Vom Baby initiierte und regulierte Ernährung:<br />
von der Geburt bis zum Familientisch<br />
24 AUS DEN LANDESVERBÄNDEN: VSLÖ<br />
Aktuelles vom VSLÖ<br />
25 BUCHBESPRECHUNG<br />
<strong>Stillen</strong><br />
Neuland<br />
27 AKTUELLES EISL
4<br />
AUS DER PRAXIS<br />
Kulturübergreifende<br />
Stillberatung<br />
Stillberatung von Frauen aus anderen Kulturen ist immer ein Blick über den Tellerrand. Sollte es<br />
zumindest sein. Autorin: Stefanie Frank<br />
<strong>Stillen</strong> ist weltweit gleich – was die<br />
Grundlagen anbelangt. Die Essgewohnheiten<br />
unterscheiden sich jedoch immens.<br />
Das gilt auch für die Gebräuche der<br />
Beikost im ersten Lebensjahr. In meiner<br />
Praxis habe ich viel mit Frauen aus anderen<br />
Kulturkreisen zu tun. Immer wieder bin<br />
ich erstaunt, mit welchen Überzeugungen<br />
Mütter ihre Babys ernähren. Das betrifft<br />
zum einen die Wahl der Nahrungsmittel,<br />
aber auch das Handling und die Rituale<br />
rund um den Esstisch.<br />
Ich finde es immer schwierig, zu verallgemeinern.<br />
Dennoch fällt mir auf, dass<br />
in anderen Kulturen die Familie oft einen<br />
größeren Raum einnimmt. Eine Kosovo<br />
Albanerin die ich begleitete, erhielt sofort<br />
Unterstützung von ihrer Schwester,<br />
als sie von Zwillingen entbunden wurde.<br />
Die junge Frau studierte und nahm sich<br />
frei, um ihre Schwester für drei Monate zu<br />
unterstützen. Sie schlief in dieser Zeit im<br />
Wohnzimmer und außer <strong>Stillen</strong> teilte sie<br />
jede Aufgabe, die die beiden kleinen Kinder<br />
mit sich brachten. Dieses selbstverständliche<br />
nahe Zusammenrücken erlebe ich bei<br />
deutschen Familien weniger.<br />
Natürlich sind Ammenmärchen weltweit<br />
verbreitet. Eine chinesische Mutter<br />
erzählte mir, sie dürfe sich im Wochenbett<br />
nicht waschen, da das eine unreine Zeit sei.<br />
Wenn sich eine Frau duscht oder badet,<br />
dann würden die unreinen Stoffe durch<br />
die Haut eindringen und die Frau krank<br />
machen. Im Wochenbett erledigt alle Aufgaben<br />
die Großmutter des Babys. Sie ist<br />
es auch, die die Entscheidung zum <strong>Stillen</strong><br />
oder eventuell auch zum Zufüttern trifft.<br />
Selbst für muttersprachlich deutsche<br />
Frauen ist die Produktpalette der Säuglingsnahrung<br />
unüberschaubar groß. Eine<br />
Vielzahl von Milchnahrungen und das<br />
Angebot an Breien ist nahezu unzählbar.<br />
Um wie viel verwirrender ist das für eine<br />
Mutter, die nicht oder nicht gut deutsch<br />
spricht? Hinzu kommt möglicherweise<br />
eine Herkunft der Frau aus einem Land in<br />
dem Mangel herrscht. Wie wirken da wohl<br />
die Regale voll mit Nahrungsmitteln? Ich<br />
Foto: Eva Bogensperger<br />
kann mir vorstellen, dass <strong>Stillen</strong> für diese<br />
Frau unterlegen wirkt.<br />
Eine Begleitung ist mir in dramatischer<br />
Erinnerung. Die junge Mutter war eine Asylbewerberin<br />
aus einem zentralafrikanischem<br />
Land. Als ich sie kennen lernte, glaubte sie,<br />
ihre Milch wäre nicht ausreichend. Die Gewichtskontrolle<br />
ergab tatsächlich einen<br />
suboptimalen Gewichtsverlauf. Ich brachte<br />
ihr eine Milchpumpe und mit Hilfe einer<br />
dolmetschenden Mitbewohnerin versuchte<br />
ich ihr die Abläufe zu erklären. Leider bekam<br />
sie im Wohnheim Ratschläge, die in die<br />
falsche Richtung führten. Eine andere Frau<br />
schenkte der jungen Mutter Milchpulver für<br />
ihr Baby. Als das aufgebraucht war, bestellte<br />
sie Milch für ihr Kind. Die Asylbewerberin<br />
bekam aber kein eigenes Geld, sondern Essenspakete<br />
– und so wurde ihr ganz normale<br />
Kuhmilch zugewiesen. Das Baby kam mit<br />
hochgradigen Verdauungsproblemen in das<br />
Kinderkrankenhaus. Der Teufel steckt im<br />
Detail: hier waren es zum einen Sprachbarrieren,<br />
aber auch die Unkenntnis über die<br />
Gefahren des Nicht-<strong>Stillen</strong>s. Stellen Sie sich<br />
einen Wohnraum von etwa 5 qm vor und<br />
eine Gemeinschaftsküche, die von sehr vielen<br />
Menschen benutzt wird. Wie will man in<br />
dieser Umgebung Babynahrung hygienisch<br />
zubereiten, auf das richtige Mischungsverhältnis<br />
achten und Fläschchen und Sauger<br />
steril aufbereiten? Und: machen Sie hier<br />
Werbung für die Wertigkeit der Muttermilch.<br />
In einem Land, in dem scheinbar<br />
Milch und Honig fließen, erscheint Muttermilch<br />
nicht kostbar.<br />
Der Austausch mit Müttern aus anderen<br />
Kulturkreisen bietet mir persönlich<br />
immer die Chance, meine eigenen Muster<br />
und Vorstellungen zu überdenken.<br />
Eine Mutter aus Nigeria stillte ihr zweites<br />
Kind ganz problemlos. Dennoch war es<br />
ihr wichtig, ihrem Kind zusätzlich Formulanahrung<br />
anzubieten. Das Baby verweigerte<br />
das jedoch strikt. Die Mutter war davon eher<br />
genervt, weil es ihr „wirklich, wirklich“ wichtig<br />
war, dass ihr Kind gut zunimmt. Der Beweis<br />
bei der wöchentlichen Gewichtskontrolle<br />
und das Gedeihen des Kindes waren ihr<br />
zu wenig. Interessant fand ich, dass der Vater<br />
– ebenfalls Nigerianer – das <strong>Stillen</strong> sehr<br />
unterstützte und sich diebisch freute, wenn<br />
sein Sohn die Flasche ablehnte. Er fand, sein<br />
Sohn trifft die richtige Wahl, wenn er sich<br />
für Busen entscheidet. Beikost wurde von<br />
dieser Mutter sehr konsequent eingeführt,<br />
für mein Empfinden vielleicht sogar rigoros.<br />
Sie „klemmte“ ihr Kind in den Arm und<br />
dann wurde gefüttert. Mein Einwand, dass<br />
die Fachleute in Deutschland glauben, dass<br />
ein Kind selbst entscheiden sollte, wann und<br />
was es essen möchte, wischte sie mit einem<br />
Lächeln vom Tisch. Kinder lernen von ihren<br />
Eltern, basta. Eine Geschichte am Rande:<br />
des Öfteren fragte ich nach dem ersten<br />
Zahn. Immer wurde das von den Eltern verneint.<br />
Irgendwann war das Zähnchen nicht<br />
mehr zu übersehen und ich rief: „Aber da ist<br />
ja der erste Zahn!“ Das Gelächter war groß,<br />
denn in Nigeria ist es üblich, dass derjenige,<br />
der den ersten Zahn entdeckt, dem Baby ein<br />
Huhn schenkt. Der Vater meinte allerdings,<br />
man könne das durchaus an deutsche Bedingungen<br />
anpassen und ich dürfe seinem<br />
Sohn auch einen Mercedes schenken.<br />
Stefanie Frank<br />
Familien-, Gesundheits- und<br />
Kinderkrankenpflegerin,<br />
IBCLC<br />
www.elacta.eu <strong>Laktation</strong> & <strong>Stillen</strong> 2 • 2015
TITELTHEMA<br />
5<br />
Das „Muttermilchgesetz“<br />
in den Vereinigten Arabischen<br />
Emiraten (VAE)<br />
Mütter in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) werden dazu verpflichtet, ihre<br />
Kinder zwei Jahre lang zu stillen. 1 Ein Gesetz für Kinderschutzrechte sieht das vor –<br />
das „Muttermilchgesetz“ wird kontrovers diskutiert. Autorin: Stefanie Pahl<br />
Foto: iStock<br />
<strong>Stillen</strong> fördert die Mutter-Kind-<br />
Beziehung<br />
„Das Gesetz hilft, die Beziehung zwischen<br />
Mutter und Kind zu stärken“, 2 so das Parlament<br />
der Vereinigten Arabischen Emiraten.<br />
Die Stillhormone Oxytocin und Serotonin<br />
unterstützen die Bindung zwischen<br />
Mutter und Kind und fördern ein kindgerechtes<br />
Verhalten der Mutter. Ihr Fürsorgeverhalten<br />
wird gestärkt, Aggressionen und<br />
Ängste werden reduziert und es wirkt beruhigend.<br />
Soziale Neugier und Verständnis<br />
werden verstärkt. 3<br />
Sollte eine kurze Trennung von Mutter<br />
und Baby notwendig sein, beispielsweise<br />
bei vorliegender medizinischer Indikation,<br />
bedeutet dies Stress für beide. Stress kann<br />
durch Cortisol-Überproduktion beim Säugling<br />
bereits entwickelte Synapsen-Vernetzungen<br />
zerstören und zu einer Dysregulation<br />
von neuro-biologischen Regelkreisen<br />
führen. Anpassungsstörungen oder Blutdruckschwankungen<br />
könnten beispielsweise<br />
resultieren. 4<br />
Milchbildung: Stress und<br />
Leistungsdruck<br />
Seelische Anspannung, Angst und Stress<br />
der Mutter können den Milchspendereflex<br />
und den Milchfluss blockieren. Durch Adrenalinausschüttung<br />
wird die Oxytocinausschüttung,<br />
die den Milchspendereflex auslöst,<br />
gehemmt. Gesellschaftlich – nicht nur<br />
in den VAE – stehen Frauen unter Druck,<br />
eine „gute Mutter“ zu sein. Entsprechen<br />
sie diesen Erwartungen und ihren eigenen<br />
nicht, leiden die Frauen oft unter Schuldund<br />
Versagensängsten.<br />
Das Verständnis einer „guten Mutter“<br />
fällt höchst unterschiedlich aus. Viele<br />
Familien glauben, <strong>Stillen</strong> sei schwierig,<br />
einschränkend und ermüdend und befürworten<br />
Flaschenfütterung als die einfachere<br />
Option. Andere Familien vertreten<br />
die Einstellung, Mütter würden ihre Kinder<br />
selbstverständlich stillen. Diese Dinge<br />
sollen unter den „Rechten des Kindes“ im<br />
vorliegenden Gesetz mit dem Ziel, Kinder<br />
zu schützen, geregelt werden. Ziel des<br />
Gesetzes ist der Schutz des Kindes. Familien<br />
sollen sich der großen Bedeutung des<br />
<strong>Stillen</strong>s für die langfristige Gesundheit<br />
und die Mutter-Kind-Beziehung bewusst<br />
werden und die Mutter nicht unter übermäßigen<br />
Druck setzen. Möglicherweise sehen<br />
sich die Politiker aufgrund der starken<br />
Befürwortung des <strong>Stillen</strong>s im Islam dazu<br />
verleitet, mütterliche Pflichten besonders<br />
hervorzuheben und vergessen dabei, den<br />
Aufbau einer starken liebevollen Bindung<br />
zwischen einer Mutter und ihrem Baby zu<br />
unterstützen. Dies ist demnach nicht im<br />
besten Interesse des Babys und der Mutter<br />
– oder, genauer gesagt, der gesamten<br />
Familie. ›
6<br />
TITELTHEMA<br />
›<br />
Laut Gesetz können Männer ihre Frauen<br />
verklagen, sollten diese nicht stillen wollen.<br />
5 Dieser Punkt kann die seelische Belastung<br />
der betroffenen Frau enorm triggern.<br />
Durch Versagensangst kann das <strong>Stillen</strong><br />
erschwert werden oder gar unmöglich gemacht<br />
werden. Kinder sind sehr empfänglich<br />
für den Gemütszustand ihrer Mutter.<br />
Spürt das Kind Befürchtungen der Mutter<br />
als negative Schwingungen, wird es möglicherweise<br />
schlechter oder nicht mehr an<br />
ihrer Brust trinken. Zwangsmaßnahmen,<br />
Mütter zum <strong>Stillen</strong> zu bewegen, sind kontraproduktiv<br />
– sowohl für den Stillerfolg als<br />
auch für die Mutter-Kind-Beziehung.<br />
Ammenstillen als Alternative – eine<br />
emotionale Herausforderung<br />
Sollten Kinder nicht von ihrer Mutter gestillt<br />
werden können, so wird angedacht,<br />
sie durch Ammen ernähren zu lassen. Die<br />
Beziehung zu einer Amme schließt eine<br />
gute Mutter-Kind-Bindung nicht aus, allerdings<br />
werden der Mutter die intimen und<br />
bindungsfördernden Momente genommen,<br />
die das <strong>Stillen</strong> schafft. Der Hormoneinfluss,<br />
der durch das <strong>Stillen</strong> stattfindet,<br />
entfällt. Ohne die positive Wirkung des<br />
Oxytocins kann die Anpassung an die neuen<br />
Lebensumstände mit einem Neugeborenen<br />
und die Wahrnehmung seiner Bedürfnisse<br />
schwerer fallen.<br />
Emotional hat eine nichtstillende<br />
Mutter die gleiche Grundlage wie eine stillende<br />
Mutter. Ist sich die Mutter darüber<br />
bewusst, kann sie über Hautkontakt und<br />
liebevolle Zuwendung eine gute Bindung<br />
aufbauen. Eine Mutter, die nicht stillt,<br />
muss darin unterstützt werden, bewusst<br />
engen Haut- bzw. Körperkontakt zu ihrem<br />
Kind einzuhalten während der Fütterung<br />
mit der Flasche sowie abseits der Mahlzeiten.<br />
Falls das Baby von einer Amme gestillt<br />
werden sollte, ist es umso wichtiger,<br />
dies umzusetzen.<br />
Es kann das Selbstbewusstsein einer<br />
jungen Mutter reduzieren, wenn sie ihr<br />
Kind nicht selbst ernähren kann. Selbst<br />
wenn die Mutter Hautkontakt zu ihrem<br />
Baby zu anderen Zeiten als den Mahlzeiten<br />
hat, drängt sich „gezwungenermaßen“<br />
eine „fremde“ Person zwischen<br />
Mutter und Kind während der Mahlzeiten.<br />
Die unterstützende Rolle des Vaters<br />
und anderer ändert sich zwangsläufig<br />
ebenfalls. Die Mutter braucht meist viel<br />
emotionalen Rückhalt von ihrer Familie,<br />
um mit der Enttäuschung und dem Gefühl,<br />
ausgeschlossen zu sein von solch<br />
einem wichtigen Teil der ersten Lebensmonate<br />
ihres Babys, zurecht zu kommen.<br />
Für viele Frauen ist die Vorstellung, ihr<br />
Kind einer anderen an die „Brust zu geben“<br />
schier unvorstellbar. Um die Risiken<br />
durch Ammenstillen zu beachten, müsste<br />
es eine Einrichtung geben, die als kontrollierendes<br />
Organ zwischengeschaltet<br />
wird.<br />
Lobby des <strong>Stillen</strong>s in den VAE<br />
Im mittleren Osten gibt es eine große<br />
Spannbreite beim <strong>Stillen</strong> in der Öffentlichkeit.<br />
In traditionellen Familien ist <strong>Stillen</strong><br />
grundsätzlich die Norm. Ganz unterschiedlich<br />
wird es je nach Kulturkreis gehandhabt.<br />
In einigen werden Frauen ausgegrenzt, so<br />
dass sie öffentlich gar nicht stillen. Andere<br />
Kreise akzeptieren das <strong>Stillen</strong> vor anderen<br />
Frauen, aber nicht vor Fremden. In sehr<br />
strengen islamischen Ordnungen, wie dem<br />
Iran oder Saudi Arabien als Nachbarn der<br />
VAE, werden Frauen nicht stillend in der<br />
Öffentlichkeit gesehen.<br />
Stillberaterinnen aus den VAE berichten<br />
von Frauen, die von Kopf bis Fuß verhüllt<br />
sind, aber auf einer Parkbank stillen,<br />
aber genauso von Frauen, die sich freizügig<br />
in der Öffentlichkeit gekleidet zeigen, dort<br />
aber niemals stillen würden. Innerhalb der<br />
Gruppe sind die Unterschiede fast größer,<br />
als die Unterschiede allgemein zu den<br />
westlichen Ländern. 6<br />
Frühes Abstillen<br />
Es gibt mehrere Netzwerke mit professioneller<br />
Stillberatung in den VAE und die<br />
Quote der Mütter, die das <strong>Stillen</strong> nach Geburt<br />
in den VAE beginnen, ist sehr hoch.<br />
Allerdings wird das <strong>Stillen</strong> meist nach sechs<br />
Monaten beendet. In der Folge bekommen<br />
die Kinder Formulanahrung. Diese wird<br />
häufig als westliche Norm angesehen, verbunden<br />
mit der Unwissenheit, dass trotz<br />
Beikostbeginn weitergestillt werden sollte. 7<br />
Foto: iStock<br />
Notwendig: Aufklärung – diskrete<br />
Stillmöglichkeiten – Stillförderung<br />
Prinzipiell gibt es aus religiöser Sicht keine<br />
Einwände öffentlich zu stillen, allerdings<br />
gilt es auf der Straße als unfein, seine Brust<br />
zu entblößen. 8<br />
Unbehagen oder Unannehmlichkeiten<br />
beim <strong>Stillen</strong> sind das größte Hindernis für<br />
stillende Mütter. Wenn für jede Stillmahlzeit<br />
ein geschützter Ort aufgesucht werden<br />
muss, wird der Alltag der Mutter stark erschwert,<br />
Erledigungen müssen nach Stillmahlzeiten<br />
geplant werden, das bedeutet,<br />
dass vor allem Mehrfachmütter früher abstillen<br />
oder sich für Formulanahrung entscheiden.<br />
9<br />
In jeder Shopping Mall gibt es Gebetsräume<br />
speziell für Frauen, 10 in jeder<br />
größeren sogar Stillzimmer, diese können<br />
als Rückzugsmöglichkeit genutzt werden.<br />
Auch Umkleiden oder ruhige Plätze in Restaurants<br />
werden genutzt. 11<br />
Es gibt auf dem Markt einige Hilfsmittel<br />
für diskretes <strong>Stillen</strong>, wie z.B. Schürzen,<br />
dünne Tücher, Stillbekleidung, Schals oder<br />
www.elacta.eu <strong>Laktation</strong> & <strong>Stillen</strong> 2 • 2015
TITELTHEMA<br />
7<br />
Ponchos. Hierbei sollte man aber bedenken,<br />
dass nicht jedes Baby mit abgedecktem<br />
Kopf trinken möchte. Im Tragetuch<br />
können geübte Mütter mit geübten Kindern<br />
ganz ungesehen stillen. Zum Steigern<br />
des Selbstbewusstseins und Wohlbefinden<br />
könnte es sicher helfen, vor einem Spiegel<br />
zu testen, wie viel Haut tatsächlich beim<br />
Anlegen des Säuglings zu sehen ist. Das<br />
diskrete Anlegen ist Übungssache, und<br />
umso geübter Mutter und Kind sind, umso<br />
sicherer fühlen sie sich in der Öffentlichkeit<br />
unter fremden Blicken.<br />
Schlussfolgerung<br />
Das Thema „Muttermilchgesetz in den<br />
VAE“ ist sehr facettenreich. Viele Punkte<br />
für die praktische Umsetzung sind noch<br />
ungeklärt. Welche Rolle Formulanahrung<br />
innerhalb des Gesetzes noch spielt ist offen.<br />
Ob ein Ammenwesen integriert wird,<br />
ist bisher noch unklar. Für arbeitende Mütter<br />
existiert ein Nationales Arbeitsgesetz,<br />
das den Mutterschutz und Stillpausen<br />
für angestellte Frauen regelt. Der Mutterschutz<br />
für Frauen gebürtig aus den VAE<br />
beträgt 60 Tage und für die folgenden vier<br />
Monate sind Stillpausen von insgesamt<br />
zweistündiger Dauer vorgesehen. Frauen,<br />
die nicht gebürtig aus den VAE stammen,<br />
haben einen 40-tägigen Mutterschutz und<br />
lediglich eine Stillpause von einer Stunde,<br />
die aber immerhin für 18 Monate genutzt<br />
werden kann. Somit wird allen Frauen, die<br />
in den VAE in einem Angestelltenverhältnis<br />
stehen, eine garantierte Stillzeit während<br />
des Arbeitstages gewährt, und zwar<br />
mindestens in den ersten sechs Monaten.<br />
Hingegen ist die Bereitstellung eines Raumes<br />
als Rückzugsmöglichkeit fürs <strong>Stillen</strong><br />
noch nicht geregelt.<br />
Die Bedürfnisse der Mütter und ihrer<br />
Babys sollten im Vordergrund stehen. Für<br />
Mutter und Kind sollte <strong>Stillen</strong> ein positives<br />
Erlebnis sein. Denn es bedeutet nicht nur<br />
optimale Ernährung für das Kind, sondern<br />
auch Nähe, Liebe und Zuwendung. Eventuell<br />
könnte zu erwarten sein, dass das Gesetz<br />
das <strong>Stillen</strong> in der Gesellschaft stärker<br />
etabliert. Denn theoretisch könnte es auch<br />
Frauen zum <strong>Stillen</strong> bewegen, die zunächst<br />
keine Motivation verspürten, dann aber<br />
schließlich doch positive Stillerfahrungen<br />
machen und diese weitergeben. Aber zu<br />
einem Still-Glück kann man niemanden<br />
zwingen.<br />
Mütter- und babyfreundlicher sowie<br />
nachhaltiger wäre es, ohne Zwang zum<br />
<strong>Stillen</strong> zu motivieren, z.B. durch gute Vorbereitung<br />
in Geburtsvorbereitungskursen.<br />
Oder auch gutes Stillmanagement in<br />
„baby freundlichen“ Geburtskliniken, Stillberatung,<br />
Möglichkeiten, andere stillende<br />
Frauen zu treffen, Stillmöglichkeiten<br />
im öffentlichen Leben mit angenehmem<br />
Ambiente, Aufklärungsarbeit für Gesundheitspersonal,<br />
Vor- und Nachsorge von<br />
Mutter und Kind, Männer, die ihre Frauen<br />
in der Entscheidung zum <strong>Stillen</strong> unterstützen<br />
und es nicht vorschreiben. Formulanahrung<br />
sollte weniger stark beworben<br />
werden, damit nicht der Eindruck entsteht,<br />
sie wäre besser als Muttermilch.<br />
Diese Möglichkeiten wären wesentlich<br />
praxisorientierter und leichter umzusetzen.<br />
Würden Frauen bzw. Familien<br />
eine selbstbestimmte und gut informierte<br />
Entscheidung über die Ernährung ihres<br />
Kindes treffen können, würde sich sicher<br />
ein größerer Teil zum <strong>Stillen</strong> entscheiden.<br />
Jedes Kind hat ein Anrecht auf Muttermilchernährung,<br />
allerdings gilt es den<br />
Preis zu bedenken. Eine Stillbeziehung soll<br />
von beiden Seiten positiv wahrgenommen<br />
werden. Und trotz aller Überzeugungen für<br />
das <strong>Stillen</strong>, ist die Verabschiedung eines<br />
Gesetzes normalerweise nicht das wirksamste<br />
Instrument in der Stillförderung<br />
und der damit verbundenen Etablierung<br />
der so wichtigen lebenslangen Bindung<br />
zwischen einer Mutter und ihren Kindern.<br />
Nachtrag:<br />
Im Islam wird dem <strong>Stillen</strong> eine weitere<br />
Bedeutung beigemessen. Eine sogenannte<br />
„Milchmutter“ baut zwischen sich und<br />
dem Baby über die Gabe von genügend<br />
Muttermilch (fünf Stillmahlzeiten oder<br />
250 ml pro Tag) 12 13 eine Verbindung auf.<br />
Die Kinder der Spenderin und der Säugling,<br />
der ihre Muttermilch erhält, werden<br />
als Milchgeschwister angesehen und dürfen<br />
– entsprechend der Gebote des Korans<br />
(Nisa 4:23) 14 – einander später nicht heiraten.<br />
Stefanie Pahl<br />
Gesundheits- und<br />
Kinderkrankenpflegerin auf einer<br />
neonatologischen Intensivstation,<br />
zurzeit in Elternzeit, Still- und<br />
<strong>Laktation</strong>s beraterin IBCLC in<br />
Ausbildung.<br />
QUELLEN<br />
› [1] Kerstin Rottmann, www.welt.de<br />
31.01.2014, Zugang am 3.12.2014<br />
› [2] „Neues Gesetz zwingt Frauen<br />
zum <strong>Stillen</strong>“ www.20min.ch/<br />
panorama/news/story/19607739<br />
Zugang am 9.6.2015<br />
› [3] Iris-Susanne Brandt-Schenk,<br />
IBCLC, Ausbildungszentrum<br />
<strong>Laktation</strong> und <strong>Stillen</strong>, „Frühes<br />
Bonding, Bindungsaufbau,<br />
Langzeitsfolgen, Lebensqualität“<br />
(Vortrag) 23.09.2014<br />
› [4] Ebd.<br />
› [5] Op. Cit. www.20min.ch/<br />
panorama/news/story/19607739<br />
› [6] „Breastfeed Your Baby in a<br />
Hijab: Public Breastfeeding in<br />
the Middle East“ (Still Dein Baby<br />
in Hijab: Öffentliches <strong>Stillen</strong> im<br />
Mittleren Osten), Hannah Katsman<br />
21.06.2010, www.greenprophet.<br />
com/2010/06/breastfeedyour-baby-in-a-hijab-publicbreastfeeding-in-the-middle-east<br />
/<br />
Zugang am 7.12.2014<br />
› [7] „Mothers should breastfeed for<br />
longer, UAE doctors urge“ (VAE<br />
Ärzte drängen: Mütter sollten<br />
länger stillen), Emily Cleland,<br />
31.07.2013 www.thenational.ae,<br />
Zugang am 27.12.2014<br />
› [8] „Reisen mit Kindern in<br />
islamischen Länder“ www.<br />
kidsaway.de Zugang am 6.12.2014<br />
› [9] Op Cit. Katsman, H.<br />
› [10] Marie-Claire Bakker, La Leche<br />
League Abu Dhabi, Breastfeeding<br />
Information & Support , Zugang am<br />
7.12.2014<br />
› [11] „Breastfeeding in public“ (<strong>Stillen</strong><br />
in der Öffentlichkeit), Sian Khouly,<br />
www.brightbabyood.com, Zugang<br />
am 27.12.2014<br />
› [12] „A Fading Art: Understand<br />
Breastfeeding in the Middle East<br />
(Part 1)“ (Eine schwindende Kunst:<br />
<strong>Stillen</strong> verstehen im Mittleren<br />
Osten (Teil 1)), Hanna Katsman,<br />
29.08.2010, Zugang am 8.12.2014<br />
www.greenprophet.com/2010/08/<br />
breastfeeding-fading-art/<br />
› [13] „A Fading Art: Understand<br />
Breastfeeding in the Middle East<br />
(Part 2)“ (Eine schwindende Kunst:<br />
<strong>Stillen</strong> verstehen im Mittleren<br />
Osten (Teil 2)), Hannah Katsman,<br />
5.9.2010, Zugang am 8.12.2014<br />
www.greenprophet.com/2010/09/<br />
breastfeeding-a-fading-art/<br />
› 14 http://quran.com/4/23 Zugang am<br />
12.06.2015
8<br />
TITELTHEMA<br />
<strong>Stillen</strong> in Afghanistan<br />
Ernährungssituation für <strong>Stillen</strong>de, Neugeborene und Kleinkinder in Entwicklungsländern<br />
am Beispiel Afghanistans Autorin: Sabine Becker<br />
Foto: Kinderberg<br />
Afghanistan zählt zu den ärmsten Ländern<br />
dieser Welt und entsprechend<br />
sind auch die Kinder- und Müttersterblichkeitsraten<br />
im weltweiten Ländervergleich<br />
eine der höchsten. Mangel- und Unterernährung<br />
resultierend aus schlechten<br />
hygienischen Lebensbedingungen, einer<br />
dürftigen Ernährungssituation sowie mangelnder<br />
Bildung und fehlendem Einkommen<br />
sind ein weit verbreitetes Problem.<br />
Zudem ist die ambulante Gesundheitsversorgung<br />
der afghanischen Landbevölkerung<br />
unzureichend. Für eine körperlich<br />
und neurokognitiv gesunde Entwicklung<br />
von Neugeborenen und Kleinkindern ist<br />
unter diesen Umständen ein erfolgreiches,<br />
ausschließliches <strong>Stillen</strong> bis zu ihrem sechsten<br />
Lebensmonat und darüber hinaus<br />
umso bedeutender.<br />
Als patriarchalisch, religionsgeprägter<br />
Staat, in dem verschiedenste Ethnien zusammenleben,<br />
übt die afghanische Gesellschaft<br />
einen starken Einfluss auf die<br />
Lebensumstände von Frauen und Kindern<br />
aus, insbesondere in Zeiten von Schwangerschaft<br />
und Stillzeit. Traditionsgeprägte<br />
Glaubensüberzeugungen, Still- und Nahrungstabus,<br />
falsche Kenntnisse über Fertigkeiten<br />
optimaler Stillpraktiken oder gar<br />
Mythen über unreine Muttermilch beeinträchtigen<br />
dabei ein effektives Stillverhalten<br />
vieler Frauen.<br />
Für die in der Mutter-und-Kind-Versorgung<br />
tätigen lokalen Gesundheitsfachkräfte<br />
von KBI ist es vorrangiges Ziel, durch<br />
Gesundheitserziehung/-beratung und<br />
Aufklärung, kultursensibel, aber dennoch<br />
kritisch, mit Aberglauben und Fehlwissen<br />
unter aktiver Einbindung religiöser Vertreter,<br />
männlicher Familienmitglieder sowie<br />
Schwiegermütter umzugehen und gesellschaftliche<br />
Vorbehalte abzubauen. Hierdurch<br />
soll die Mitbestimmung der Frau für<br />
das <strong>Stillen</strong> gefördert und ihre aktive Rolle<br />
als Mutter gestärkt werden. Besonders im<br />
Mutter-Kind-Haus ist das vorrangige Bestreben<br />
der Hebammen in ihrer täglichen<br />
Arbeit den Stillerfolg betroffener Frauen zu<br />
verbessern bzw. zu optimieren.<br />
Während unserer langjährigen Projekterfahrung<br />
sind wir auf zahlreiche falsche<br />
Annahmen über fachgerechte Stillpraktiken<br />
gestoßen, die über Generationen<br />
weitergegeben wurden und sich über die<br />
Jahre verfestigt haben. Hieraus lassen sich<br />
Ursachen für Stillprobleme afghanischer<br />
Frauen ableiten, die besonders in kulturell<br />
bedingten Aspekten, in mangelndem Wissen<br />
oder in sozialökonomischen Faktoren<br />
begründet liegen: so sind beispielsweise<br />
einkommensschwache Familien von einer<br />
anhaltenden Nahrungsunsicherheit betroffen.<br />
Frische Lebensmittel sind in Abhängigkeit<br />
von der Jahreszeit, besonders<br />
in den schwer zugänglichen Bergregionen,<br />
nur begrenzt verfügbar und viele Produkte<br />
in ertragsarmen Wintermonaten überteuert.<br />
Die Marktpreise für Grundnahrungsmittel<br />
sind in den vergangenen Jahren<br />
drastisch gestiegen und führen zu einer<br />
armutsbedingten Lebensmittelknappheit.<br />
In den heißen Sommermonaten wiederum<br />
kann es hinsichtlich der sorgsamen Lebensmittelaufbewahrung<br />
Schwierigkeiten<br />
geben, wenn bei falscher Lagerung Frischware<br />
schnell ungenießbar wird. Eine daraus<br />
resultierende unausgewogene Ernährung<br />
und unzureichende Kalorienzufuhr führen<br />
zu chronischem Energie- und Mineralstoffmangel,<br />
der in Afghanistan weit verbreitet<br />
ist und darüber hinaus das Risiko der<br />
www.elacta.eu <strong>Laktation</strong> & <strong>Stillen</strong> 2 • 2015
TITELTHEMA<br />
9<br />
chronischen Mangel- und Unterernährung<br />
erhöht. Hierdurch wächst bei betroffenen<br />
Kindern langfristig die Gefahr kleinwüchsig<br />
zu bleiben und sich nicht dem Alter und<br />
ihren Potenzialen entsprechend motorisch<br />
und kognitiv entwickeln zu können. Um<br />
den Reifeprozess und den Entwicklungsstand<br />
des unterernährten und kranken<br />
Kindes zu überwachen, werden beispielsweise<br />
im Mutter-Kind-Haus neben der<br />
Stillförderung und der Supplementierung<br />
von Nahrungsergänzungsprodukten auch<br />
regelmäßige Untersuchungen hinsichtlich<br />
der kindlichen Entwicklung durchgeführt.<br />
Ferner erwerben die Mütter in praktischen<br />
Schulungen zusätzliche Tipps und Fertigkeiten,<br />
Obst und Gemüse zu konservieren,<br />
um auch in kargen Wintermonaten über<br />
vitaminreiche Kost zu verfügen.<br />
Eine unzureichende Mutter–Kind-Gesundheitsfürsorge<br />
beeinflusst den Stillerfolg<br />
ebenso. Bei fehlendem Zugang,<br />
mangelndem Gesundheitsangebot und<br />
unzureichenden Qualifikationen des medizinischen<br />
Personals potenzieren sich Stillprobleme<br />
anstatt rechtzeitig erkannt und<br />
behoben zu werden, so dass es zu einem<br />
verfrühten Stillabbruch kommen kann.<br />
Überdies werden Vor- und Nachsorgeuntersuchungen,<br />
sofern diese vorhanden sind,<br />
von vielen Familien aus den entlegenen<br />
Bergregionen nur unzureichend genutzt.<br />
Laut dem afghanischen Health Information<br />
System (HMIS/2006-2013) haben<br />
lediglich 46 % der afghanischen Frauen<br />
mindestens eine und nur 15% mindestens<br />
vier Vorsorgeuntersuchungen durch<br />
eine weibliche Fachkraft in einer Gesundheitseinrichtung<br />
in Anspruch genommen.<br />
Hinsichtlich der Nachsorgeuntersuchungen<br />
für Mutter und Kind innerhalb der<br />
ersten beiden Tage nach einer Entbindung<br />
ist die Abdeckung mit lediglich 26% noch<br />
eklatanter. Die Stillthematik spielt in den<br />
Sprechstunden zumeist nur eine untergeordnete<br />
Rolle und begründet das häufig<br />
fehlende Bewusstsein für die Bedeutung<br />
eines guten Stillmanagements. Durch den<br />
seltenen und unregelmäßigen Kontakt zu<br />
einer medizinischen Fachkraft bleiben Aufklärung<br />
und Wissensvermittlung richtiger<br />
Stillpraktiken auf der Strecke. Afghanische<br />
Kolleginnen berichten, dass Frauen aus<br />
eigenem Antrieb nur selten Fragen zum<br />
<strong>Stillen</strong> stellen und es auf die Hebammen<br />
ankommt, <strong>Stillen</strong> zu thematisieren und beratende<br />
Unterstützung anzubieten.<br />
Eine vorliegende hohe Analphabetenrate,<br />
gepaart mit niedrigem Bildungsstand<br />
besonders bei afghanischen Landfrauen,<br />
können zu weiteren fälschlichen Annahmen<br />
hinsichtlich des <strong>Stillen</strong>s führen,<br />
die durch kultur-und traditionsbedingte<br />
Überzeugungen verstärkt werden: so ist<br />
beispielsweise das Verabreichen ritueller<br />
Speisen an das Neugeborene ein weitverbreitetes<br />
Übertragungsritual. Wie auch<br />
aus anderen Kulturkreisen bekannt, wird<br />
das wertvolle Kolostrum dabei verworfen,<br />
anstatt es für einen optimalen Stillbeginn<br />
zu nutzen. Grund ist der Irrglaube seines<br />
unreinen Charakters und der daraus angeblich<br />
resultierenden Verursachung abdomineller<br />
Beschwerden. Zur Stärkung<br />
des Neugeborenen sieht die Tradition statt<br />
dessen die Verabreichung ritueller Speisen<br />
wie beispielsweise tierische Fette, gekochte<br />
Gewürze und Kräuter angereichert mit<br />
Butter und Zucker oder andere Flüssigkeiten<br />
vor. Bei ohnehin hygienisch problematischen<br />
Lebensbedingungen ist das<br />
Neugeborene hierdurch riskanten Kontaminationsquellen<br />
schutzlos ausgeliefert.<br />
Neben diesem Initiationsritual wird darüber<br />
hinaus in den ersten sechs Monaten oft<br />
nicht ausschließlich gestillt und stattdessen<br />
mit anderen Flüssigkeiten zugefüttert.<br />
Viele Mütter sorgen sich, dass Ihre eigene<br />
Milch nicht ausreicht, was zutreffen kann,<br />
wenn Sie Ihre Kinder zu selten anlegen und<br />
damit die Anregung zur Milchproduktion<br />
zu gering ist. Ihre Arbeitsbelastung ist extrem<br />
hoch, sie kümmern sich um ihre zahlreichen<br />
Kinder, müssen täglich für bis zu<br />
10 Personen Mahlzeiten zubereiten, versorgen<br />
das Vieh und sind überdies häufig<br />
in der Landwirtschaft tätig. Demnach wird<br />
dem <strong>Stillen</strong> oft zu wenig Raum geboten, da<br />
sie trotz großer Familiengefüge nur selten<br />
die erforderliche Unterstützung erhalten.<br />
Der Mythos und Irrglaube, dass die<br />
Frau und somit ihre Muttermilch bei erneuter<br />
Schwangerschaft oder Krankheit<br />
einen unreinen Charakter hat und sie daher<br />
nicht stillen sollte, sind weit verbreitet.<br />
Wird eine Mutter, wie es in diesem Land<br />
häufig vorkommt, nach kurzer Zeit wieder<br />
schwanger, ist es daher gebräuchlich, dass<br />
sie das <strong>Stillen</strong> im Moment der Kenntnisnahme<br />
unverzüglich einstellt, ohne dabei<br />
für sich und ihr Kind ein erforderliches<br />
Abstillmanagement zu berücksichtigen. In<br />
dem Zusammenhang ist es wichtig, die Gesellschaft<br />
darüber aufzuklären, dass gemäß<br />
den islamischen heiligen Schriften das <strong>Stillen</strong><br />
stets befürwortet wird.<br />
Bezüglich des Stillbeginns birgt das<br />
traditionelle Waschritual nach einer Entbindung<br />
eine weitere Schwierigkeit. Demnach<br />
zögert eine junge Mutter nach einer<br />
Hausgeburt, vor allem aus vermeintlicher<br />
Angst vor postnatalen Nachblu- ›<br />
KINDERBERG INTERNATIONAL E.V.<br />
Hauptanliegen des im Jahr 1993 gegründeten<br />
Vereins ist es, in Kriegs-,<br />
Krisen- und Postkonflikt-Ländern v.a.<br />
nachhaltige Versorgungsstrukturen für<br />
sozial schwache und benachteiligte<br />
Gruppen wie Frauen, Kinder, Kranke<br />
und alte Menschen aufzubauen. Das<br />
übergeordnete Ziel der Projekttätigkeit<br />
liegt auf der Senkung der Mütter- und<br />
Kindersterblichkeitsrate. Zurzeit ist<br />
KBI in Afghanistan und an der Côte<br />
d‘Ivoire tätig.<br />
KBI IN AFGHANISTAN<br />
Seit 2002 unterstützte KBI mit Fördermitteln<br />
des Auswärtigen Amtes den<br />
afghanischen Staat in fünf Provinzen<br />
beim Aufbau eines basismedizinischen<br />
Gesundheitswesens. Dabei wurden<br />
rund 125 Gesundheitsstationen in<br />
entlegenen, ländlichen Gebieten Nordafghanistans<br />
errichtet und betrieben.<br />
Hierdurch konnten in den vergangenen<br />
12 Jahren mehr als 6 Millionen Patienten<br />
ambulant behandelt werden.<br />
Neben der kostenfreien medizinischen<br />
Versorgung war die Aus- und Fortbildung<br />
des medizinischen Fachpersonals<br />
ein wichtiger Bestandteil der Projektarbeit.<br />
Nachdem im vergangenen Jahr<br />
die Übergabe der Stationen an den<br />
afghanischen Staat eingeleitet wurde,<br />
konnten 80% der Einrichtungen bis<br />
Ende Dezember 2014 inklusive des<br />
medizinischen Fachpersonals zur<br />
eigenverantwortlichen und nachhaltigen<br />
Fortführung an die afghanische<br />
Gesundheitsbehörde bzw. an lokale<br />
Nachfolgeorganisationen übergeben<br />
werden.<br />
Zurzeit ist KBI mit einem Mutter–Kind-<br />
Haus in der Provinz Badakhshan, einer<br />
der ärmsten Regionen im nordöstlichen<br />
Afghanistan, aktiv. Hier werden<br />
vor allem kranke, unterernährte<br />
Kinder, ihre Mütter, <strong>Stillen</strong>de sowie<br />
Schwangere v.a. aus den ländlichen<br />
Bergregionen, die ohne Zugang zu medizinischer<br />
Versorgung sind, betreut.<br />
Zur Umsetzung des Projektes ist KBI<br />
ausschließlich auf private Spendengelder<br />
angewiesen. Bitte unterstützen<br />
sie uns dabei!<br />
KinderBerg International e.V.<br />
IBAN: DE86 6012 0500 0001 7500 00<br />
BIC: BFSWDE33STG<br />
Bank für Sozialwirtschaft
10<br />
TITELTHEMA<br />
›<br />
Foto: Kinderberg<br />
tungen, die durch das Waschen ausgelöst<br />
werden könnten, die eigene Körperpflege<br />
bis zu drei Tage postpartum hinaus. Da sie<br />
vor der rituellen Waschung als unrein geltend<br />
ihr Kind nicht anlegt, muss durch den<br />
verzögerten Milcheinschuss mit weiteren<br />
Stillproblemen gerechnet werden.<br />
Auch eine drastische Einschränkung<br />
der Ernährung während der Schwangerschaft<br />
und Stillzeit erscheint kritisch. Manche<br />
Speisen, zwischen „warm und kalt“ differenziert,<br />
werden für Mutter und Kind als<br />
unverträglich bzw. schädlich erachtet und<br />
gelten daher als Tabu. In der Folge beobachten<br />
wir viele Frauen, die sich sehr unausgewogen<br />
ernähren und besonders als<br />
Mehrfachgebärende und schwer körperlich<br />
Arbeitende Defizite und Mangelerscheinungen<br />
aufweisen.<br />
In diesem Kontext sei auch der Fastenmonat<br />
Ramadan erwähnt, von dem<br />
Schwangere und <strong>Stillen</strong>de ebenso entbunden<br />
sind, wie Kranke und Kinder. Allerdings<br />
zeigt die Praxis im afghanischen<br />
Alltag, dass auch stillende Mütter überwiegend<br />
die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme<br />
über Tag ablehnen.<br />
Auf Grund mangelnden Vertrauens<br />
kann auch der Einsatz traditioneller Hausmittel<br />
vielmals der „westlich orientierten<br />
Gesundheitsfürsorge und Aufklärung“ und<br />
damit auch der Stillberatung durch Hebammen<br />
vorgezogen werden. Dies entspringt<br />
einem großen Schamgefühl und Hemmung<br />
der Frau, mit einer fremden Person über<br />
private intime Probleme zu sprechen. „Wie<br />
kann man mit einem Fremden, der kein Familienmitglied<br />
ist, über die eigenen Probleme<br />
sprechen?“, hieß es dann oft. Dazu ist<br />
es für eine afghanische Frau auf dem Land<br />
unmöglich alleine zu einer Gesundheitsstation<br />
zu gehen und erfolgt in der Regel<br />
nur in Begleitung eines männlichen Familienmitglieds,<br />
was bei weiten Fußmärschen<br />
von oft mehr als drei Stunden im schweren<br />
Arbeitsalltag problematisch für die gesamte<br />
Familie ist. Für Mütter ist es schwierig,<br />
sich festverankerten Ritualen zu entziehen,<br />
auch wenn sie gefühlsmäßig anders<br />
handeln würden. Mullahs, Imame, Familienoberhaupte,<br />
Ehemänner und vor allem<br />
die Schwiegermütter sind die Entscheidungsträger,<br />
denen sie sich zu unterwerfen<br />
haben und kaum widersetzen können. Das<br />
Risiko, in Missgunst zu geraten oder gar<br />
Schande über die Familie zu bringen, ist<br />
besonders in einer Gesellschaft, in der die<br />
Wahrung der Familienehre ein zentrales<br />
Anliegen ist, sehr groß. Dieser Sachverhalt<br />
verdeutlicht, wie wichtig die Einbindung<br />
des gesamten sozialen Umfeldes, v.a. von<br />
angesehenen Religions- und Autoritätspersonen<br />
ist, um Tabus zu brechen und Mythen<br />
über das <strong>Stillen</strong> abzubauen.<br />
Als Konsequenzen für die praktische<br />
Stillarbeit von KBI vor Ort werden daher<br />
Personen, die gesellschaftlichen Einfluss<br />
genießen, aktiv in die Arbeit eingebunden.<br />
Mittels ihrer Autorität und Unterstützung<br />
kann die Schärfung des Bewusstseins für<br />
ausschließliches <strong>Stillen</strong> innerhalb der Bevölkerung<br />
deutlich vorangetrieben werden.<br />
Die Unterstützung von Gesundheitsschulungen,<br />
Beratung und Aufklärung, besonders<br />
an Mädchenschulen, hat sich durch<br />
die Nutzung der Multiplikator-Effekte als<br />
sehr nützlich erwiesen. Zudem haben sich<br />
die Schaffung örtlicher Netzwerke, welche<br />
die Frauen zu eigenverantwortlichem und<br />
aktivem Handeln ermutigen sollen, sowie<br />
der Einsatz von Dorfgesundheitshelfern<br />
und Gesundheitsinitiativen (Health<br />
Action Groups) als positive Instrumente<br />
und Maßnahmen bewährt. Insbesondere<br />
stellt jedoch die fachliche Fortbildung und<br />
kontinuierliche Qualifizierung von weiblichem<br />
Fachpersonal zu Stillberaterinnen<br />
ein nachhaltiges Ziel dar, welches KBI langfristig<br />
verfolgt.<br />
Als Handout finden Sie<br />
diesmal eine Stillinformation<br />
ohne Worte.<br />
Beachten Sie dazu auch<br />
den Link zu unserer<br />
Homepage mit Erläuterungen<br />
in verschiedenen<br />
Sprachen.<br />
www.elacta.eu/de/neuhilfreiche-dokumentefuer-ihre-arbeit-neu.<br />
html<br />
Sabine Becker<br />
Diplom-Betriebswirtin für Non-<br />
Profit-Organisationen, DGKS/IBCLC,<br />
ist seit 2002 als Projektmanagerin<br />
in Afghanistan vor allem im<br />
Bereich Mutter-Kind-Gesundheit<br />
für die deutsche Hilfsorganisation<br />
KinderBerg International e.V. (KBI)<br />
mit Sitz in Stuttgart tätig.<br />
www.elacta.eu <strong>Laktation</strong> & <strong>Stillen</strong> 2 • 2015
HANDOUT
HANDOUT<br />
www.elacta.eu <strong>Laktation</strong> & <strong>Stillen</strong> 2 • 2015