Der Aufsatz als pdf-Dokument - Beate-jonscher.de
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sind ja so weit vorangekommen!“)<br />
Bemerkenswert ist jedoch die Sicht <strong>de</strong>r Elizaveta Nikolaevna auf sich selbst: es ist ihr nämlich peinlich,<br />
sich einzugestehen, dass sie nicht glücklich ist.<br />
„»Veroqtno, q prinadle#u k neudahnikam{, - dumala ona, kak budto opravdyvaqsö. Ot<br />
svedu+ix lü<strong>de</strong>j ona znala, hto udahnikov teperö gorazdo menöwe, hem bylo ranöwe. No hto<br />
#e, skolöko to ix vse ravno ostalosö, i ona byla v ix hisle.“ /142/<br />
(„Ich gehöre vielleicht zu <strong>de</strong>n Pechvögeln, dachte sie, wie um sich zu rechtfertigen. Von Leuten, die<br />
es wissen mußten, hatte sie erfahren, dass es heutzutage weniger Pechvögel gab <strong>als</strong> früher. Aber<br />
naja, ein paar waren übriggeblieben, und zu <strong>de</strong>nen gehörte sie.“)<br />
Als Ursache für ihr Unglück wird zunächst <strong>de</strong>r Verlust ihres Mannes, <strong>de</strong>r im Krieg gefallen ist,<br />
genannt. Dann aber zeigt sich, dass <strong>de</strong>r eigentliche Grund im Verhalten ihrer Kin<strong>de</strong>r liegt, die keine Zeit<br />
mehr für sie haben. Elizaveta Nikolaevna glaubt nämlich, dass die Granate, die ihren Mann getötet<br />
hatte, auch sie mit einem Splitter gestreift hatte, <strong>de</strong>r nun nach vielen Jahren zu einem sichtbaren Riss<br />
gewor<strong>de</strong>n ist und sucht Trost bei ihren Kin<strong>de</strong>rn.<br />
„Ona ee vi<strong>de</strong>la, kogda smotrelasö v zerkalo.<br />
Synovöq i dohö uverqli, hto nikakoj tre+iny net. Im nekogda bylo priglqdyvatösq.“ /143/<br />
(„Sie je<strong>de</strong>nfalls sah ihn, wenn sie in <strong>de</strong>n Spiegel schaute.<br />
Ihre Söhne und die Tochter versicherten, da wäre durchaus kein Riß. Sie hatten keine Zeit, genauer<br />
hinzuschauen.“ – [Hervorhebung von mir - B.J.])<br />
Auch nach <strong>de</strong>m Tod <strong>de</strong>r Mutter än<strong>de</strong>rt sich nichts. Zwar kommen alle - wie es sich gehört - zur<br />
Ge<strong>de</strong>nkfeier zusammen, aber ein wirkliches Ge<strong>de</strong>nken kommt nicht zustan<strong>de</strong>. <strong>Der</strong> ältere Sohn vermag<br />
über seine Mutter lediglich zu sagen, dass sie ein bemerkenswerter Mensch war, <strong>de</strong>r immer ehrlich gearbeitet<br />
hat, <strong>de</strong>r jüngere bringt kaum einen zusammenhängen<strong>de</strong>n Satz heraus.<br />
„- Da, babuwka nawa byla helovekom! - voskriknul on. - Daj bog vsem nam ...- on vzdoxnul, kak<br />
vidno somnevaqsö, udatösq li im, - ...nam ili tem, kto ostanetsq posle nas... - i, oglq<strong>de</strong>v stol,<br />
zakonhil: - Starajtesö rebqta!“ /150/<br />
(„'Ja, unsere Oma war ein Mensch!' rief er aus. „Gott gebe, dass wir alle...“ Er seufzte, <strong>als</strong> zweifele<br />
er, ob es ihnen gelänge. „Wir o<strong>de</strong>r die, die nach uns kommen...“ Und mit einem Blick rund um <strong>de</strong>n<br />
Tisch schloß er: 'Gebt euch Mühe, Kin<strong>de</strong>r!'“)<br />
Zu dieser Sprechweise <strong>de</strong>r Figuren äußerte Natal'ja Baranskaja:<br />
„...diese Worte drücken nicht etwa Herzlosigkeit aus, son<strong>de</strong>rn sie sind Ausdruck <strong>de</strong>r Unfähigkeit<br />
vieler Menschen, gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r einfacheren, sich zu artikulieren. Die Sprache <strong>de</strong>s Radios, <strong>de</strong>s<br />
Fernsehens und die <strong>de</strong>r üblichen Ansprachen auf Versammlungen ist immer so offiziell. Das ist es,<br />
was die Leute je<strong>de</strong>n Tag hören. Diese Sprache wird <strong>de</strong>n Menschen gera<strong>de</strong>zu eingeimpft, sie sind<br />
von ihr im innersten geprägt. Diese Sprache zerstört in hohem Maße <strong>de</strong>n eigenen kreativen Umgang<br />
mit Sprache.“ 14<br />
In diesem Text weiß <strong>de</strong>r Erzähler mehr über die Hauptfigur <strong>als</strong> diese selbst. In „Kraj sveta“ wird dies<br />
<strong>de</strong>utlich an <strong>de</strong>r Vorausschau auf <strong>de</strong>n Tod <strong>de</strong>r Heldin. Alle an<strong>de</strong>ren Figuren aber wer<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>r<br />
Perspektive <strong>de</strong>r Elizaveta Nikolaevna gesehen. Man weiß über sie nur so viel wie diese, erfährt zum<br />
Beispiel nichts über die Motive <strong>de</strong>r Tochter, die Ursachen für die späte Heimkehr sowie ihre<br />
Grantigkeit, die in letzter Konsequenz zum Tod <strong>de</strong>r Mutter führt.<br />
Danach ist wie schon in „Pis'mo“ ein beobachten<strong>de</strong>r Erzähler zu fin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r sich jeglicher werten<strong>de</strong>r<br />
Kommentare enthält.<br />
Die Figurenperspektive wird durch die Namensgebung unterstützt. Die Hauptfigur wird stets<br />
achtungsvoll mit Vor- und Vatersnamen genannt, ihre Kin<strong>de</strong>r haben jedoch keine Namen, es ist immer<br />
nur von <strong>de</strong>r Tochter, <strong>de</strong>m älteren Sohn, <strong>de</strong>m jüngeren Sohn, <strong>de</strong>r ersten Frau <strong>de</strong>s älteren Sohnes usw.<br />
die Re<strong>de</strong>. Von <strong>de</strong>n Enkel wer<strong>de</strong>n nur die bei <strong>de</strong>r Großmutter leben<strong>de</strong>n mit Namen i<strong>de</strong>ntifiziert.<br />
14 Natal'ja Baranskaja zu einigen Aspekten ihres Werks. Ein Interview, in: Osteuropa, 7/1990, S. 590.<br />
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