Der Aufsatz als pdf-Dokument - Beate-jonscher.de
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'Hier, bitte', sagte er mit etwas heiserer Stimme und hielt ihr ein blaues Blatt hin.“)<br />
„Holzkasten“ für Wahlurne, „lange Liste“ für Wählerverzeichnis, „blaues Blatt“ für Wahlschein - die<br />
Gegenstän<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n nicht erkannt. Auf die Wirkung einer solchen verfrem<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Darstellung hat bereits<br />
Viktor Šklovskij hingewiesen und dies anhand von Texten von Lev Tolstoj erläutert. In seinem<br />
<strong>Aufsatz</strong> „Iskusstvo kak priem“ („Kunst <strong>als</strong> Verfahren“) schreibt er:<br />
„Priem ostraneniq u L. Tolstogo sostoit v tom, hto on ne nazyvaet ve+ö ee imenem, a opisyvaet<br />
ee, kak v pervyj raz vi<strong>de</strong>nnuü, a sluhaj - kak v pervyj raz proicwedwij...“<br />
(„Das Verfahren <strong>de</strong>r Verfremdung bei L. Tolstoj besteht darin, dass er ein Ding nicht mit seinem<br />
Namen nennt, son<strong>de</strong>rn es beschreibt, <strong>als</strong> zum ersten Mal gesehen und einen Vorfall <strong>als</strong> zum ersten Mal<br />
passiert...“) 5<br />
Tolstoj verwen<strong>de</strong>t diese künstlerische Möglichkeit, um seine kritische Haltung zu einer Sache zum<br />
Ausdruck zu bringen. So nutzte er nach Auffassung Šklovskijs - <strong>als</strong> er sich mit <strong>de</strong>r orthodoxen Kirche<br />
auseinan<strong>de</strong>r setzte - in <strong>de</strong>m Roman „Voskresenie“ bei <strong>de</strong>r Beschreibung eines Gefängnisgottesdienstes<br />
die Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Verfremdung.<br />
„...Tolstoj, razbiraq dogmaty i obrqdy, tak#e primenil k ix opisaniü metod ostraneniq,<br />
podstavlqq vmesto privyhnyx slov religioznogo obixoda ix obyhnoe znahenie, poluhilosö<br />
hto-to strannoe, hudovi+noe...“<br />
„(... Tolstoj bezweifelte Dogmas und Bräuche und verwen<strong>de</strong>te zu ihrer Beschreibung ebenfalls die<br />
Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Verfremdung, in<strong>de</strong>m er anstelle <strong>de</strong>r gewohnten Worte <strong>de</strong>s religiösen Gebrauchs<br />
<strong>de</strong>ren normale Be<strong>de</strong>utung setzte, heraus kam etwas Seltsames, Schreckliches...“[Hervorhebung von<br />
mir - B. J.]) 6<br />
<strong>Der</strong> Erzähler in <strong>de</strong>r Kurzgeschichte „Pis'mo“ kennt die „gewohnten Worte <strong>de</strong>s religiösen Gebrauchs“ -<br />
Wahlurne, Wählerverzeichnis, Wahlschein - nicht, son<strong>de</strong>rn sieht diese in ihrer „normalen Be<strong>de</strong>utung“<br />
<strong>als</strong> Holzkasten, Liste und Zettel. Seine scheinbare Naivität ruft eine ein<strong>de</strong>utige Distanz hervor, wobei<br />
diese Sicht auch nach <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifizierung <strong>de</strong>r Dinge beibehalten wird. Weil es keine wirklichen Wahlen<br />
sind, ist <strong>de</strong>r Wahlschein eben nichts an<strong>de</strong>res <strong>als</strong> ein blaues Blatt. Während jedoch Tolstoj nach <strong>de</strong>r<br />
Szene <strong>de</strong>s Gefängnisgottesdienstes <strong>de</strong>n Kommentar eines auktorialen Erzählers bringt, fehlt dieser im<br />
Text <strong>de</strong>r Baranskaja.<br />
Die naive Sicht <strong>de</strong>s Erzählers wird ergänzt durch die verzerrte Perspektive <strong>de</strong>r alten Frau, ihr Nicht-<br />
Verstehen. Schon <strong>de</strong>r Titel „<strong>Der</strong> Brief“ verweist ja auf Sicht <strong>de</strong>r Frau, <strong>de</strong>nn in ihren Augen verwan<strong>de</strong>lt<br />
sich <strong>de</strong>r Zettel in einen Brief, <strong>de</strong>n sie in einen Briefkasten wirft.<br />
Während im ersten Teil <strong>de</strong>s Textes neutrales Erzählen vorherrscht, dominiert im zweiten<br />
Figurenperspektive, verstärkt durch erlebte Re<strong>de</strong>. Das Zimmer wird jetzt aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>r alten Frau<br />
gesehen, die nur ungenau die Umrisse erkennen kann. Die Männer erscheinen <strong>als</strong> „verschwommene<br />
Figuren“, und die alte Frau empfin<strong>de</strong>t sie <strong>als</strong> Bedrohung, weil sie Angst hat, dass sie sie ins<br />
Krankenhaus bringen könnten. Ihre Sinne verwirren sich, sie träumt, dass sie in <strong>de</strong>r Kirche ist, wo eine<br />
Totenmesse für sie abgehalten wird. Schließlich glaubt sie, sie schicke einen Brief an ihren Sohn. Sie<br />
hofft, dass er sie noch einmal besuchen wird, damit sie dann in Ruhe sterben kann.<br />
Dazwischen steht wie<strong>de</strong>r die Perspektive <strong>de</strong>s außenstehen<strong>de</strong>n Erzählers.<br />
„Podborok u staruxi drgnul, i ona proiznesla kakoe-to slovo. No priwedwie ne rasslywali,<br />
a tolöko dogadalisö, hto ona blagodarit ix.<br />
- Äto vam spasibo, - skazal obra<strong>de</strong>nno helovek s zahesom, - Vsego xorowego, vyzdoravlivajte!<br />
- Budöte zdorovy! - povtoril drugoj.<br />
Oni zapewili, da#e stolknulisö v dverqx.<br />
- Da-a-a, - mnogoznahitelöno protqnul helovek so spiskom, na<strong>de</strong>vaq wapku v perednej.<br />
- Dejstvitelöno, - otozv<strong>als</strong>q starwij.<br />
5 V. šklovskij, Iskusstvo, kak priem, in: O teorii prozy, Moskva 1925, S. 14.<br />
6 Ebd., S. 17.<br />
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