Der Aufsatz als pdf-Dokument - Beate-jonscher.de
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Mitunter setzt Natal'ja Baranskaja Ansichten und Haltungen von Frauen direkt gegenüber, so in <strong>de</strong>r<br />
Kurzgeschichte „Delikatnyj razgovor“ („Ein heikles Gespräch“), die vom Dialog zweier extrem<br />
unterschiedlicher Frauen geprägt ist.<br />
Alevtina Petrovna, eine Datschenbesitzerin, bestellt Zoja Tichonovna, die sich mit Tochter und<br />
Enkelsohn in <strong>de</strong>r Nachbarschaft eingemietet hat, zu einem „heiklen“ Gespräch zu sich. Ursache dafür<br />
ist <strong>de</strong>r Vorwurf Alevtina Petrovnas, Zoja Tichonovnas Tochter Galja wür<strong>de</strong> sich an ihren<br />
Schwiegersohn „'ranmachen“. Er hatte sie zweimal im Auto nach Moskau mitgenommen. Alevtina<br />
Petrovna sieht darin ein höchst unsittliches Verhalten <strong>de</strong>r Frau (<strong>de</strong>nn Galja ist eine alleinstehen<strong>de</strong><br />
Mutter, und Alevtina Petrovnas Tochter zur Kur gefahren), und nach vorsichtigen Beschwichtigungsversuchen<br />
von Zoja Tichonovna wird sie hysterisch und for<strong>de</strong>rt eine Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s<br />
Verhaltens, sonst wür<strong>de</strong> sie einen Skandal machen.<br />
Zoja Petrovna, die ohnehin Angst vor Alevtina Petrovna hat, bekommt nach diesem Gespräch einen<br />
Migräneanfall. Sie gibt die For<strong>de</strong>rung an Galja weiter, und diese lehnt am nächsten Morgen ein<br />
erneutes Mitnehmen im Auto ab.<br />
Interessant ist auch das Verhalten <strong>de</strong>s Schwiegersohnes. Er hat mit Galja nichts im Sinn - außer dass er<br />
auf <strong>de</strong>r morgendlichen Fahrt jeman<strong>de</strong>n hat, <strong>de</strong>r ihm zuhört - und ist gekränkt wegen <strong>de</strong>s Misstrauens.<br />
(Er hatte Liebschaften gehabt, aber davor weiß Alevtina Petrovna natürlich nichts.) Trotz<strong>de</strong>m<br />
verzichtet er auf eine Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit seiner Schwiegermutter, da sie sich zwar überall<br />
einmischt, aber seiner Familie <strong>de</strong>n Haushalt führt, und so ihm und seiner Frau ein ungestörtes Arbeiten<br />
und Leben ermöglicht.<br />
Zwei Frauen wer<strong>de</strong>n gezeigt: bei<strong>de</strong> sind im Rentenalter, ohne Männer, in ähnlicher Lebenssituation -<br />
sie kümmern sich um die Familien ihrer Töchter. Ihre „Gleichbehandlung“ durch <strong>de</strong>n Erzähler wird<br />
auch durch die Nennung bei<strong>de</strong>r Frauen durch Vor- und Vatersname <strong>de</strong>utlich. Doch welche<br />
Unterschie<strong>de</strong> in Haltung und Verhalten! Über Alevtina Petrovna sagt ihr Schwiegersohn:<br />
„...net to ugolka v ix #izni, kuda by ona ne sovala svoj nos.“<br />
(„Es existiert kein Winkel in ihrem Leben, in <strong>de</strong>n sie ihre Nase nicht stecken wür<strong>de</strong>.“) 23<br />
Sie mischt sich nicht nur überall ein, son<strong>de</strong>rn hat einen feststehen<strong>de</strong>n Moralko<strong>de</strong>x, verträgt keinen<br />
Wi<strong>de</strong>rspruch. Sie wird jedoch ausschließlich über ihr Verhalten und ihre Worte, ihre Art zu sprechen,<br />
ihre Gesten charakterisiert, es gibt keine Erzählerkommentare über sie. Es wer<strong>de</strong>n nur die Gedanken<br />
und Gefühle von Zoja Tichonovna dargestellt.<br />
So zeigt Natal'ja Baranskaja in ihren Texten anhand scheinbar alltäglicher Dinge vielfältige Spielarten<br />
herzlosen Verhaltens, die Brüchigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen. Es sind kurze Momente, die<br />
das Leben <strong>de</strong>r Hel<strong>de</strong>n verän<strong>de</strong>rn. Sie selbst können jedoch nichts verän<strong>de</strong>rn. Das zeigt sich in <strong>de</strong>m eben<br />
beschriebenen Text ebenso wie in <strong>de</strong>r Erzählung „Devočka u morja“.<br />
Hier lernt die verheiratete, aber kin<strong>de</strong>rlos gebliebene Lehrerin Vera Alekseevna während eines<br />
Kuraufenthaltes ein zwölfjähriges, offenbar intelligentes, aber vernachlässigtes Mädchen kennen. Sie<br />
freun<strong>de</strong>n sich an, und Vera versucht, sie ein wenig zu „entwickeln“, bis ihr <strong>de</strong>r Umgang von <strong>de</strong>r Mutter<br />
<strong>de</strong>s Mädchens - einer nicht mehr jungen Frau, die das Kind von einem Kurgast hat - verboten wird.<br />
Auch das Mädchen braucht Vera Alekseevna im Grun<strong>de</strong> genommen nicht.<br />
Im Gegensatz zu <strong>de</strong>n bisher gezeigten Frauen kann Lajne - die einzige Nicht-Russin unter <strong>de</strong>n<br />
Heldinnen von Natal'ja Baranskaja aus <strong>de</strong>r Geschichte „Dom Lajne“ mit ihrem Leben zufrie<strong>de</strong>n sein.<br />
Sie hat Mann und Kin<strong>de</strong>r, ein noch von ihrem Großvater geerbtes Haus, eine interessante Arbeit - sie<br />
stellt in Handarbeit Teppiche und Läufer her - und verdient im Sommer zusätzlich Geld durch Urlaubsgäste.<br />
Aber <strong>als</strong> im Gespräch mit diesen die Re<strong>de</strong> zufällig auf die Legen<strong>de</strong> vom ungehorsamen<br />
Sohn kommt, <strong>de</strong>r zur Strafe unter einem Haus vergraben wur<strong>de</strong>, muss sie wie<strong>de</strong>r daran <strong>de</strong>nken, dass<br />
unter ihrem Haus seit fünfundreißig Jahren ein Toter liegt - ihr <strong>als</strong> verschollenen gelten<strong>de</strong>r Bru<strong>de</strong>r. Er<br />
war während <strong>de</strong>s Krieges verwun<strong>de</strong>t nach Hause gekommen und gestorben. Die Mutter hatte aus<br />
Angst keinen Arzt gerufen und <strong>de</strong>n Toten schließlich im Keller begraben.<br />
23 N. Baranskaja, Delikatnyj razgovor, in: Zvezda, 8/1973, S. 119.<br />
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