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Der Aufsatz als pdf-Dokument - Beate-jonscher.de

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Über die Wirkung <strong>de</strong>r Geschichte unter <strong>de</strong>n Bedingungen <strong>de</strong>r Perestrojka schreibt Natal'ja Baranskaja:<br />

„A teperö, kogda u nas vybiraüt, a ne prosto golosuüt, veroqtno, rasskaz otvergli by,<br />

skazav, hto on ustarel. Tema i problema vse e+e ostaütsq u nas glavnym merilom cennosti v<br />

literature.<br />

No rasskaz sovsem o drugom: o #estokosti, ravnoduwii, beshelovehnosti.“<br />

(„Und jetzt, wo man bei uns wählt, und nicht nur abstimmt, wür<strong>de</strong> man die Erzählung<br />

wahrscheinlich ablehnen, weil sie veraltet sei. 'Thema' und 'Problematik' bleiben bei uns weiterhin<br />

Maßstäbe für <strong>de</strong>n Wertgehalt in <strong>de</strong>r Literatur. Doch die Erzählung zeigt etwas ganz an<strong>de</strong>res:<br />

Grausamkeit, Gleichgültigkeit, Unmenschlichkeit.“) 10<br />

Tatsächlich ist die konkrete Kritik gut zu erkennen. Sie ergibt sich aus <strong>de</strong>r Handlung und <strong>de</strong>m<br />

Verhalten <strong>de</strong>r Figuren und wird verstärkt durch die Wi<strong>de</strong>rsprüche zwischen <strong>de</strong>r jeweils inadäquaten<br />

Sehweise <strong>de</strong>r alten Frau auf <strong>de</strong>r einen und <strong>de</strong>r Männer auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite, ergänzt durch <strong>de</strong>n<br />

beobachten<strong>de</strong>n und sich naiv stellen<strong>de</strong>n Erzähler. <strong>Der</strong> Anspruch auf Allgemeingültigkeit, begrün<strong>de</strong>t auf<br />

die Namenlosigkeit <strong>de</strong>r Heldin, <strong>de</strong>r verfrem<strong>de</strong>ten Darstellung <strong>de</strong>s Wahlaktes u.a., erschließt sich<br />

möglicherweise nicht sofort.<br />

„Provody“<br />

Die Erzählung „Provody“ („Die Abschiedsfeier“) entstand etwa zur gleichen Zeit wie „Pis'mo“. Sie<br />

erschien erstm<strong>als</strong> 1968 in <strong>de</strong>r Zeitschrift „Novyj mir“ und berichtet über die achtundfünfzigjährige<br />

Buchhalterin Anna Kosova, die in Rente geht. Ihr zu Ehren fin<strong>de</strong>t die Abschiedsfeier statt, auf <strong>de</strong>r<br />

neben ihren Kollegen auch <strong>de</strong>r Direktor <strong>de</strong>s Kombinates und die Gewerkschaftsvorsitzen<strong>de</strong> anwesend<br />

sind, die herzliche Worte sprechen.<br />

Im Verlauf <strong>de</strong>r Geschichte stellt sich jedoch heraus, dass Anna nicht freiwillig in <strong>de</strong>n Ruhestand<br />

gegangen ist.<br />

<strong>Der</strong> Direktor hatte trotz <strong>de</strong>r Einwän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Hauptbuchhalters Suskov angeordnet, dass eine <strong>de</strong>r Frauen<br />

aus <strong>de</strong>r Buchhaltung, die im Rentenalter ist, aufhören muss. Er beauftragt die Gewerkschaftsvorsitzen<strong>de</strong>,<br />

das zu erledigen. Diese droht <strong>de</strong>r Kosova und bringt sie dazu, <strong>de</strong>n Rentenantrag zu schreiben.<br />

Im Grun<strong>de</strong> genommen besteht keine Notwendigkeit, Anna zu entlassen. Nicht nur, dass sie gut<br />

arbeitet, wie sich zeigt, gibt es auch keinen Ersatz für sie.<br />

Anna wehrt sich nicht, obwohl die Rente nicht nur einen finanziellen Verlust für sie be<strong>de</strong>utet. Sie ist<br />

alleinstehend - ihr Mann ist im Krieg gefallen, Kin<strong>de</strong>r hat sie nicht - die Arbeit und das Zusammensein<br />

mit <strong>de</strong>n Kollegen waren ihr Freu<strong>de</strong> und Trost zugleich.<br />

Aber sie spricht das nicht aus, auch Suskov, <strong>de</strong>r sie behalten will, nennt die wahren Grün<strong>de</strong> nicht. So<br />

haben sie <strong>de</strong>n Argumenten <strong>de</strong>s Direktors nichts entgegenzusetzen.<br />

Anna <strong>de</strong>nkt darüber nach, wie ihr Leben weitergehen soll. Sie weiß es nicht. Die Geschichte en<strong>de</strong>t mit<br />

<strong>de</strong>m nun völlig nutzlos gewor<strong>de</strong>nen Klingeln <strong>de</strong>s Weckers.<br />

Die kritische Ten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>s Textes wird sehr <strong>de</strong>utlich, obwohl (o<strong>de</strong>r gera<strong>de</strong> weil) das Geschehen an<br />

keiner Stelle kommentiert wird. Die Wirkung resultiert wie<strong>de</strong>rum aus <strong>de</strong>r Handlung und <strong>de</strong>m<br />

Verhalten <strong>de</strong>r Figuren, was diesmal durch eine spezifische Handlungsstruktur <strong>de</strong>s Textes ergänzt wird.<br />

Letzteres bedingt auch ein an<strong>de</strong>res Verhalten <strong>de</strong>s Erzählers <strong>als</strong> in „Pis'mo“.<br />

Die eigentliche Handlung, die chronologisch erzählt wird, umfasst nur wenige Stun<strong>de</strong>n: die Zeit von<br />

<strong>de</strong>r Abschiedsfeier am Nachmittag bis zum Klingeln <strong>de</strong>s Weckers am kommen<strong>de</strong>n Morgen. Darin<br />

eingeschoben aber sind die Erinnerungen Annas an ihr Gespräch mit <strong>de</strong>r Gewerkschaftsvorsitzen<strong>de</strong>n<br />

und das Gespräch zwischen <strong>de</strong>m Direktor und <strong>de</strong>m Hauptbuchhalter Suskov.<br />

<strong>Der</strong> Text ist in fünf, etwa gleichlange Abschnitte unterglie<strong>de</strong>rt: [1] die eigentliche Abschiedsfeier, [2]<br />

Anna auf <strong>de</strong>m Weg nach Hause (ihre Erinnerung an das Gespräch mit <strong>de</strong>r Gewerkschaftsvorsitzen<strong>de</strong>n),<br />

[3] ihre Kollegen Suskov, Charitonova und Lelka auf <strong>de</strong>m Weg nach Hause (die junge Lelka <strong>de</strong>nkt an<br />

10 Literarischer Dialog, S. 77.<br />

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