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Soziale Ungleichheit und kulturelle Vielfalt in - Paulo Freire Zentrum

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Gerald Fasch<strong>in</strong>geder (Hg.)// Sarah Habersack (Hg.)// Andreas Novy (Hg.)// Simone Grosser (Hg.)<strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong><strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen StädtenDokumentation des transdiszipl<strong>in</strong>ären Symposiumsam 14./15. Oktober 2010Aktion & ReflexionTexte zur transdiszipl<strong>in</strong>ären Entwicklungsforschung<strong>und</strong> dialogischen BildungHeft 7Wien: <strong>Paulo</strong> <strong>Freire</strong> <strong>Zentrum</strong>, Juli 20121 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


Gerald Fasch<strong>in</strong>geder (Hg.)// Sarah Habersack (Hg.)// Andreas Novy (Hg.)// Simone Grosser (Hg.)<strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong><strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong>europäischen StädtenDokumentation destransdiszipl<strong>in</strong>ären Symposiumsam 14./15. Oktober 2010Aktion & ReflexionTexte zur transdiszipl<strong>in</strong>ärenEntwicklungsforschung<strong>und</strong> BildungHeft 7Wien: <strong>Paulo</strong> <strong>Freire</strong> <strong>Zentrum</strong>, Juli 2012f<strong>in</strong>anziell unterstützt vonInhalt1. E<strong>in</strong>leitung........................................................ 32. Wissen, das befähigt....................................... 43. Social Polis: Interview mit Sarah Habersack.... 84. Social Polis: Interview mit Göksel Yilmaz...... 115. K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendliche als NutzerInnen vonöffentlichen Freiräumen................................ 156. Raumnutzung von Jugendlichen <strong>in</strong> Wien –e<strong>in</strong>e qualitative Analyse................................ 207. Ungleiche Zukunft –Strategien <strong>und</strong> Perspektiven......................... 248. Ungleiche Bildung <strong>in</strong> der Stadt...................... 279. Transdiszipl<strong>in</strong>arität <strong>in</strong> derEntwicklungsforschung? .............................. 3510. Position zur Transdiszipl<strong>in</strong>arität aus der Sichtder Stadt- <strong>und</strong> Regionalforschung................. 3711. Transdiszipl<strong>in</strong>arität <strong>in</strong> der Stadtforschung..... 4012. Geme<strong>in</strong>wesenarbeit <strong>und</strong> Sozialraumanalyseals transdiszipl<strong>in</strong>äre Zugänge?...................... 4313. Vone<strong>in</strong>ander (Ver-)Lernen............................. 4514. querdenken................................................... 4715. AutorInnen.................................................... 5416. Abbildungsverzeichnis.................................. 552 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


1. E<strong>in</strong>leitungIm Oktober 2010 fand im C3-Centrum für InternationaleEntwicklung <strong>in</strong> Wien das transdiszipl<strong>in</strong>äre Symposiumunter dem Titel „<strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong><strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> Europäischen Städten“ statt. Hiermit liegtnun die Dokumentation dieser Veranstaltung vor. Leiderhat sich dessen Fertigstellung aufgr<strong>und</strong> der Dichteder Aktivitäten im Projekt „Ungleiche <strong>Vielfalt</strong>“ sehrverzögert. Aber gut D<strong>in</strong>g braucht Weile <strong>und</strong> nun lässtsich alles nachlesen.E<strong>in</strong>geladen hatten dazu das <strong>Paulo</strong> <strong>Freire</strong> <strong>Zentrum</strong> <strong>in</strong>Kooperation mit der WU Wien, die sich im Rahmen derProjekte Social Polis <strong>und</strong> Ungleiche <strong>Vielfalt</strong> mit Fragensozialer <strong>Ungleichheit</strong> im urbanen Kontext beschäftigten.Europäische Städte stehen durch zunehmendesoziale <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong>r <strong>Vielfalt</strong> vor großenHerausforderungen. Mechanismen, die Gesellschaftorganisiert <strong>und</strong> sozialen Zusammenhalt <strong>in</strong> Städtenermöglicht haben, verlieren an E<strong>in</strong>fluss <strong>und</strong> werden <strong>in</strong>Frage gestellt. Das komplexe Zusammenspiel von städtischer,nationaler, europäischer <strong>und</strong> globaler Ebene,verstärkt durch die derzeitige Wirtschaftskrise, lässtlokale Akteure diese Herausforderungen besondersspüren.Welche Art von Wissen <strong>und</strong> Kooperationen brauchenlokale Akteure, um handlungsfähig zu se<strong>in</strong> <strong>und</strong> dieEntwicklung europäischer Städte aktiv zu gestalten?Welche Rolle kann Forschung dabei spielen <strong>und</strong> wiemüssen Kooperationen zwischen Wissenschaft, Politik<strong>und</strong> Zivilgesellschaft künftig gestaltet werden, umdurch gesellschaftlich relevantes Wissen, Handeln zuermöglichen? Dies waren die Leitfragen des transdiszipl<strong>in</strong>ärenSymposiums.Das Konzept der Transdiszipl<strong>in</strong>arität verstehen wirhier als e<strong>in</strong>e Ausrichtung <strong>und</strong> Organisationsform vonForschung, die nicht nur unterschiedliche wissenschaftlicheDiszipl<strong>in</strong>en mite<strong>in</strong>ander verb<strong>in</strong>det, sondern auchüber die Grenzen der Wissenschaft h<strong>in</strong>ausgeht <strong>und</strong> dieZusammenarbeit auf gleicher Augenhöhe mit der Praxissucht.Das Symposium diskutierte diese Fragen anhand vonBeispielen aus der transdiszipl<strong>in</strong>ären Forschung an derSchnittstelle Stadtentwicklung, Bildung <strong>und</strong> Transkulturalität.Viel Vergnügen bei der Lektüre wünschenGerald Fasch<strong>in</strong>geder, Andreas Novy, Sarah Habersack<strong>und</strong> Simone Grosser(HerausgeberInnen)3 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


2. Wissen, das befähigtWissen ist immer wichtig: Manchen hilft Wissen zu verstehen,manchmal schafft Wissen Macht, <strong>in</strong> bestimmtenSituationen ermöglicht Wissen, wie die Aufklärererhofften, den Ausstieg aus der selbstverschuldetenUnmündigkeit. Wissen ist nicht immer gleich bedeutsam,nicht jede Form von Wissen ist zu jeder Zeit gleichermaßengefragt. Die Form des Wissens über städtischeEntwicklungen, mit denen sich dieses Symposiumbeschäftigt, zählt geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong> nicht zu den vorrangigenFormen von Wissen. Doch das Wissen über die Gesellschaft,<strong>in</strong> der wir leben, <strong>und</strong> die fehlende Antwort aufdie Frage, wie Menschen gut mite<strong>in</strong>ander leben können<strong>und</strong> jede Person gleichzeitig ihren eigenen Lebenswegf<strong>in</strong>den kann, berührt viele. Allerd<strong>in</strong>gs fehlt es anPerspektiven, wie die Gestaltung der eigenen <strong>und</strong> geme<strong>in</strong>samenZukunft möglich wird <strong>und</strong> wie angesichtssche<strong>in</strong>bar übermächtiger struktureller Veränderungenkompetent gehandelt werden kann. Die resultierendeRatlosigkeit fördert, wie allseits bemerkbar, Fatalismus<strong>und</strong> den Rückzug <strong>in</strong>s Private.In diesem Symposium g<strong>in</strong>g es um e<strong>in</strong>e, als Transdiszipl<strong>in</strong>aritätbezeichnete, Form von Wissen, die befähigt,kompetent mit verschiedenen städtischen Spannungsfeldernumzugehen, wie zum Beispiel der ungleichen<strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> der Stadt. Das wissenschaftliche Ziel derErkenntnis relevanter Zusammenhänge verb<strong>in</strong>det sichhierbei mit dem pädagogisch-politischen Ziel, Handlungskompetenzzu stärken. Hierzu braucht es denDialog zwischen verschiedenen Formen von Wissen, dieihren jeweiligen Beitrag zum Verständnis <strong>und</strong> zur Praxisleisten können. Transdiszipl<strong>in</strong>arität baut auf dem Dialogvon Theorie <strong>und</strong> Praxis auf <strong>und</strong> produziert gesellschaftlichrelevantes Wissen auf zwei mite<strong>in</strong>ander verwobenenWegen: Zum e<strong>in</strong>en geht es um die Bildung vonWissensallianzen <strong>und</strong> die E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung von Alltags-ExpertInnen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Forschungsprozess, der sich mitrelevanten Fragen beschäftigt wie die nach den Voraussetzungenfür den sozialen Zusammenhalt <strong>in</strong> durchMigration <strong>und</strong> verstärkten Konkurrenzkampf geprägtenStädten. Zum anderen geht es um e<strong>in</strong>e Theoriearbeit,die Potentiale identifiziert, die bei oberflächlicherBetrachtung nicht erkennbar s<strong>in</strong>d. Transdiszipl<strong>in</strong>äreWissenschaft hat hierbei die Aufgabe, die Welt weisezu <strong>in</strong>terpretieren, um sie s<strong>in</strong>nvoll gestalten zu können.Dazu müssen die Mechanismen identifiziert werden,die die Entfaltung von Potentialen beh<strong>in</strong>dern oder ermöglichen.So ersche<strong>in</strong>t es uns wichtig, die ProblematikAndreas Novymulti<strong>kulturelle</strong>r Städte nicht nur durch die „Kultur-Brille“ zu betrachten, sondern die politökonomischenVeränderungen h<strong>in</strong> zu verstärkter sozialer Unsicherheitmitzuberücksichtigen. Kapitalistische Modernisierung,dies lehrt uns die aktuelle Krise, ist immer e<strong>in</strong> Prozesskreativer Zerstörung, der Bestehendes umwälzt <strong>und</strong> Zusammenhaltim Streben nach Profitabilität untergräbt.Die daraus resultierende soziale <strong>Ungleichheit</strong> ersche<strong>in</strong>tuns daher als Schlüsselbegriff, um Probleme, die als„Konflikt der Kulturen“ bezeichnet werden, anders zuverstehen <strong>und</strong> zu kreativen Lösungen beizutragen.Das aktuell verbreitete Interesse an Transdiszipl<strong>in</strong>aritätverw<strong>und</strong>ert nicht, denn <strong>in</strong> historischen Konstellationender Unsicherheit <strong>und</strong> Perspektivlosigkeit ist Wissen,das Orientierung gibt <strong>und</strong> Handlungsmöglichkeiteneröffnet, von entscheidender Bedeutung. Solange alleswie geschmiert läuft, solange bus<strong>in</strong>ess as usual angesagtist <strong>und</strong> die Vorgangsweisen <strong>und</strong> Rout<strong>in</strong>en vongestern auch heute passen, solange braucht es wederPhantasie, noch besondere Anstrengungen, um zu verstehen,warum dem so ist. Dies war im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<strong>in</strong> Europa e<strong>in</strong>ige Jahrzehnte lang nach dem ZweitenWeltkrieg der Fall. E<strong>in</strong> durch Wohlfahrtsstaat <strong>und</strong>Vollbeschäftigung sozial e<strong>in</strong>gebetteter Kapitalismusermöglichte e<strong>in</strong>e Phase außergewöhnlicher sozialerSicherheit <strong>und</strong> Stabilität, die <strong>in</strong> den letzten Jahrzehntendurch die Konzentration von Vermögen, E<strong>in</strong>kommen<strong>und</strong> Macht untergraben wurde. 2008 wurde die Kriseoffensichtlich. Gegenwärtig leben wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Umbruchszeit,<strong>in</strong> der das Alte stirbt, <strong>und</strong> das Neue nochnicht klar erkennbar ist. So stirbt zum e<strong>in</strong>en die immerschon illusorische <strong>kulturelle</strong>, ethnische <strong>und</strong> religiöseE<strong>in</strong>heitlichkeit der europäischen Nationen. Kle<strong>in</strong>räumigeWanderungen – vergessen wir nicht, dass Bratislavanur wenige Kilometer von Wien entfernt ist – führenauf e<strong>in</strong>em multi<strong>kulturelle</strong>n Kont<strong>in</strong>ent wie Europa sofortzur Durchmischung der Bevölkerung. Jeglicher Versuchzur Vere<strong>in</strong>heitlichung ist gefährdet, <strong>in</strong> Säuberungen zuenden, wie die verfehlten Politiken <strong>in</strong> Südosteuropa zeigen.Zum anderen vertieft sich <strong>in</strong> Europa die Krise desneoliberal gesteuerten Kapitalismus, da die kont<strong>in</strong>entalensozialen <strong>und</strong> räumlichen Spaltungen zunehmen,weil Sozialabbau <strong>und</strong> Exportorientierung weiterh<strong>in</strong> diepolitikleitenden Pr<strong>in</strong>zipien s<strong>in</strong>d.4 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


In Europas Städten drückt sich die Krise <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emschw<strong>in</strong>denden sozialen Zusammenhalt aus, derbis heute <strong>in</strong> Wissenschaft <strong>und</strong> Politik zu e<strong>in</strong>seitigbetrachtet wird. Die e<strong>in</strong>en betonen die sozialen Aspekte– sprich Arbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzung,Segregation <strong>und</strong> zunehmende soziale <strong>Ungleichheit</strong>. Sieverweisen auf den Abbau des Sozialstaats, Obdachlosigkeit<strong>und</strong> work<strong>in</strong>g poor als Merkmale reicher, aberpolarisierter Städte. Die anderen lenken ihr Augenmerkauf <strong>kulturelle</strong> Phänomene, auf die multi<strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong>der Städte <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enen Problemeim Zusammenleben, ebenso wie die Erfolge rechtsextremerParteien. Sie beschäftigen sich mit der Steuerungder Migration <strong>und</strong> der Bewältigung der Integration vonMenschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Wasfehlt ist die Zusammenschau <strong>und</strong> e<strong>in</strong> <strong>in</strong>tegriertes,abgestimmtes Handeln. Dazu kann nur e<strong>in</strong>e transdiszipl<strong>in</strong>äreStadtforschung beitragen, weil nur sie geeignetist, die doppelte Fragmentierung zu überw<strong>in</strong>den,die sich aus unterschiedlichen Diszipl<strong>in</strong>en <strong>und</strong> Politikfelderne<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> durch den falschen Dualismusvon Reflexion <strong>und</strong> Aktion andererseits ergibt.Um Praxis kreativ zu verändern <strong>und</strong> Potentiale zuidentifizieren, braucht es gute Theoriearbeit. Es gibtnichts Praktischeres als e<strong>in</strong>e gute Theorie. Der ersteBeitrag guter Theoriearbeit ist es, vorschnelle Problemdef<strong>in</strong>itionennicht zu akzeptieren. Problemelösen zu wollen, ohne zu verstehen, worum es geht,ist zwar üblich, er<strong>in</strong>nert aber an den von HelmuthQualt<strong>in</strong>ger karikierten „Wilden auf se<strong>in</strong>er Masch<strong>in</strong>“,der zwar nicht weiß, woh<strong>in</strong> er fährt, dafür aber schnellerdort ist. Konventionelle Problemlösungen, wie sie<strong>in</strong> normalen Zeiten e<strong>in</strong>gesetzt werden, funktionieren<strong>in</strong> der gegenwärtigen Umbruchszeit nicht länger. E<strong>in</strong>Beispiel: E<strong>in</strong>e Schule mit e<strong>in</strong>er Mehrheit der K<strong>in</strong>der, diedie Landessprache nicht als Muttersprache hat, brauchtselbstverständlich muttersprachlichen Unterricht <strong>und</strong>die Förderung von K<strong>in</strong>dern nichtdeutscher Muttersprache.Aber es braucht darüber h<strong>in</strong>aus kreative, über dieMauern der Schule h<strong>in</strong>ausgehende Lösungen. Es gehtwesentlich um das Sicherheitsgefühl, die gefestigteIdentität <strong>und</strong> die Zukunftsperspektiven der SchülerInnen<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em durch <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>und</strong> zunehmendesoziale Spannungen gekennzeichneten Umfeld. Hier istWissenschaft, soll sie ihre öffentliche Aufgabe erfüllen<strong>und</strong> zu e<strong>in</strong>er vernünftigen gesellschaftlichen Entwicklungbeitragen, gefordert. Die neuen Aufgaben mitalten Rezepten zu lösen, wäre nämlich katastrophal.<strong>Soziale</strong>r Zusammenhalt ist also e<strong>in</strong> multidimensionalesPhänomen, <strong>in</strong> dem die Frage ethnischer Kulturen <strong>und</strong>unterschiedlicher Sprachen ebenso e<strong>in</strong>e Rolle spieltwie die Verfestigung von benachteiligten Bildungs<strong>und</strong>Berufskarrieren <strong>in</strong> der zweiten Generation derMigrantInnen. Daher ist die Schlüsselfrage diejenige,wie Menschen <strong>in</strong> ihrer Verschiedenheit mite<strong>in</strong>anderleben <strong>und</strong> gleichberechtigt an der Stadt teilhabenkönnen. Es ist also e<strong>in</strong>e Frage, auf die es ke<strong>in</strong>e klare,allgeme<strong>in</strong>gültige Antwort gibt. Vielmehr geht es um dieBearbeitung e<strong>in</strong>er unauflösbaren Spannung zwischendem Streben nach Identität <strong>und</strong> dem Respekt vor derVerschiedenheit e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> dem Recht auf Gleichheit<strong>und</strong> sozioökonomischer Teilhabe andererseits. Esist, wissenschaftlich gesprochen, e<strong>in</strong>e Problematik,e<strong>in</strong> Problemfeld, <strong>und</strong> ke<strong>in</strong> Problem. Se<strong>in</strong>e Bearbeitungerfordert kontextangepasste Lösungen, es gibt ke<strong>in</strong>eallgeme<strong>in</strong>gültigen Best Practices.Nach dem Aufzeigen der relevanten Fragen ist derzweite Beitrag der Wissenschaft, wesentliche Institutionen<strong>und</strong> Strukturen zu identifizieren <strong>und</strong>Zusammenhänge zu erkennen. Diese Theoriearbeitist abstrakt <strong>und</strong> wird daher oft als irrelevant für diePraxis betrachtet. Doch dabei unterliegen wir e<strong>in</strong>emIrrtum, denn jede Praxis orientiert sich an Begriffen <strong>und</strong>Konzepten, die abstrakt s<strong>in</strong>d: Der Begriff H<strong>und</strong> belltnicht, genau so wenig wie der Begriff <strong>Ungleichheit</strong> dieK<strong>in</strong>dersterblichkeit erhöht. Nicht nur TheoretikerInnen,sondern auch PraktikerInnen verwenden ständig Abstraktionen,es geht gar nicht anders. Doch manchmals<strong>in</strong>d diese irreführend, unklar, verwirrend. Gute Abstraktionenwiederum ermöglichen e<strong>in</strong>en scharfen Blick<strong>und</strong> wirksames Handeln.E<strong>in</strong> Beispiel: In der Stadtforschung war es <strong>in</strong> den letztenJahren Mode, die soziale <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> Durchmischungder Stadt als vorteilhaft anzusehen. Dies sollteGhettobildungen <strong>und</strong> Parallelgesellschaften verh<strong>in</strong>dern.Social Mix, d.h. ethnisch, sozial <strong>und</strong> generationenbezogendurchmischte Stadtteile <strong>und</strong> Wohnbauprojekte,war das Zauberwort. Dabei wurde unterstellt, dass diegleichmäßige Verteilung der Benachteiligten über dieganze Stadt besser ist als die Ballung an bestimmtenOrten, weil dies zu Ghettos führen kann. Mittlerweilegibt es e<strong>in</strong>e Vielzahl an empirischen Untersuchungenmit unterschiedlichen Ergebnissen. Fest steht nur, dassDurchmischung ke<strong>in</strong> Allheilmittel ist, weil die Verteilungder Benachteiligten weniger bedeutsam ist alsdie Menge der von sozialer Unsicherheit bedrohtenStadtbewohnerInnen – <strong>und</strong> diese hat <strong>in</strong> den letzten5 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


Jahren stark zugenommen, da auch große Teile derMittelschicht von Lohnkürzungen, Arbeitsplatzverlust<strong>und</strong> verschlechterten öffentlichen Dienstleistungenbetroffen s<strong>in</strong>d. Gute Theoriearbeit produziert relevantesWissen, das derartige Zusammenhänge herstellt. E<strong>in</strong>everengt kulturalistische Analyse übersieht nämlich,dass <strong>Vielfalt</strong> <strong>und</strong> <strong>Ungleichheit</strong> vor Ort nur Ausdruck derallgeme<strong>in</strong> zunehmenden <strong>Vielfalt</strong> <strong>und</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>in</strong>der Gesellschaft ist. Lösungen s<strong>in</strong>d demnach nicht vorrangigdurch Gleichverteilung des Problems im Raumherstellbar. Entscheidende Ergänzung jeder städtischenPolitik gegen Ghettobildung s<strong>in</strong>d Maßnahmen, die soziale<strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> Rechte sicherstellen. Diese Rechtewerden aber nicht auf Stadtteilebene gewährt, sondern<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em politischen Geme<strong>in</strong>wesen. Statt daher e<strong>in</strong>zigvor Ort nach Problemlösungen zu suchen, geht esum Regelungen <strong>und</strong> Institutionen, die die rechtliche,politische <strong>und</strong> sozialstaatliche Gleichstellung allerBewohnerInnern sicherstellen <strong>und</strong> gleichzeitig respektvollmit <strong>kulturelle</strong>n, ethnischen <strong>und</strong> anderen privatenDifferenzen umgehen. Es gälte daher, so die Erkenntnisobiger Theoriearbeit, Ernst zu machen mit dem der europäischenIntegration zugr<strong>und</strong>e liegenden Anspruch,E<strong>in</strong>heit <strong>in</strong> der <strong>Vielfalt</strong> anzustreben. Gute Theoriearbeitverschiebt also Fragestellungen <strong>und</strong> eröffnet neueSichtweisen auf alte Probleme.Derartige konzeptionelle Klärungen s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> wesentlicherBeitrag der Sozialwissenschaft. Sie wecken dasBewusstse<strong>in</strong> für Prozesse, die nicht <strong>in</strong> der Schule <strong>und</strong>im Stadtteil verursacht werden. Dies hilft, die selbstverschuldeteUnmündigkeit zu überw<strong>in</strong>den, die zuFatalismus <strong>und</strong> Handlungsunfähigkeit führt. Transdiszipl<strong>in</strong>aritätbefähigt somit zu kompetenterem Agieren<strong>und</strong> verh<strong>in</strong>dert fragmentierte Lösungen. Dies führt zume<strong>in</strong>gangs erwähnten zweiten Weg transdiszipl<strong>in</strong>ärenArbeitens. Wir bezeichnen e<strong>in</strong>e dialogorientierte Formder Wissensproduktion, des Wissensaustausches <strong>und</strong>der Nutzung von Wissen als Wissensallianzen, welche<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er <strong>Vielfalt</strong> an <strong>in</strong>stitutionellen Logiken, unterschiedlichenSprachen <strong>und</strong> f<strong>in</strong>anziellen Begrenzungenauftreten können (Novy, Habersack 2010).In Bezug auf die Problematik des sozialen Zusammenhaltss<strong>in</strong>d die Beforschten gleichzeitig Alltags-ExpertInnen:Wer, wenn nicht Roma-K<strong>in</strong>der selber, wissen, wases heißt, wegen der eigenen Herkunft benachteiligtzu werden? Wer, wenn nicht GymnasiastInnen, habenKenntnis davon, wie Jugendliche ihren Alltag organisieren<strong>und</strong> wie sich e<strong>in</strong> Mittelschicht-Habitus herausbildet?Wer, wenn nicht die SchülerInnen selber, kennendie Vorurteile gegenüber HauptschülerInnen <strong>und</strong>GymnasiastInnen, die dazu führen, dass diese jungenMenschen – wie die gesamte Bevölkerung, die ja fe<strong>in</strong>säuberlich <strong>in</strong> Milieus getrennt ist – vorurteilsbeladennebene<strong>in</strong>ander leben? Das Wissen übere<strong>in</strong>ander ist beschränkt,das Verständnis über sich selber e<strong>in</strong>seitig. Dasgilt <strong>in</strong> Wien besonders für die Mittelschichtgesellschaft,die noch immer glaubt, ihr Lebensstil sei normal, dieder Zugewanderten, die Ausnahme – obwohl letzterezunehmend die Mehrheit der Jungen bilden.Es ist Gr<strong>und</strong>lage transdiszipl<strong>in</strong>ären Arbeitens, dass sichdie BewohnerInnen der Stadt <strong>in</strong> die Produktion vonWissen e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen. Sie s<strong>in</strong>d Alltags-ExpertInnen,<strong>in</strong>sofern sie über e<strong>in</strong> spezifisches praktisches Wissenverfügen, das außer ihnen niemand hat. Sie leben <strong>in</strong>der Stadt, sie arbeiten <strong>in</strong> Schulen <strong>und</strong> Stadtteilzentren,sie haben Me<strong>in</strong>ungen über andere Milieus, Schichten<strong>und</strong> Kulturen. Dieses Wissen nicht zu berücksichtigen,wäre ignorant. Die Alltags-ExpertInnen bloß als LieferantInnenvon Informationen <strong>und</strong> Daten mißzuverstehen,degradiert diese zu Objekten, denen e<strong>in</strong>malig e<strong>in</strong>eRolle <strong>in</strong> der Wissensproduktion zugewiesen wird. Damitbleibt viel an Potential ungenutzt, das erst im Dialog,durch systematische E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung, die Bildung von Vertrauen<strong>und</strong> die geme<strong>in</strong>same Reflexion mobilisiert wird.Die Ansprüche s<strong>in</strong>d hierbei hoch: SozialwissenschafterInnennehmen die gesellschaftliche Wirklichkeit <strong>und</strong>ihre Deutung durch gesellschaftliche AkteurInnen wahr<strong>und</strong> gleichzeitig ordnen, kritisieren <strong>und</strong> problematisierensie ebendiese Interpretationen. Mittels Methodender <strong>in</strong>terpretativen Sozialforschung <strong>in</strong>terpretieren<strong>und</strong> problematisieren sie die Interpretation der Stadtdurch ihre BewohnerInnen. Subjektive Me<strong>in</strong>ungen vonE<strong>in</strong>zelpersonen s<strong>in</strong>d, so die Annahme <strong>in</strong>terpretativerSozialforschung, e<strong>in</strong>gebettet <strong>in</strong> gesellschaftliche Praktiken<strong>und</strong> Diskurse. Menschen s<strong>in</strong>d Teil gesellschaftlicherVerhältnisse. Diese Deutung der alltäglichen Rout<strong>in</strong>e-Interpretationen von Alltags-ExpertInnen durch WissenschafterInnen,doppelte Hermeneutik genannt, ist umsoerhellender, über je mehr Kenntnisse gesellschaftlicher,politischer <strong>und</strong> wirtschaftlicher Zusammenhänge dieWissenschafterInnen verfügen. Gute Theoriearbeit <strong>in</strong>tegriertdieses Wissen <strong>in</strong> die Produktion von Strukturmodellen,die Zusammenhänge herstellen <strong>und</strong> geeigneteKonzepte erarbeiten, die dann wiederum handlungsleitendwerden.6 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


E<strong>in</strong> Beispiel: Die Kritik an kulturalistischen Erklärungenführt zur Horizonterweiterung <strong>und</strong> e<strong>in</strong>en verändertenBlick darauf, wo Ursachen <strong>und</strong> Lösungen zu suchens<strong>in</strong>d. Statt ethnisch fragmentierender nationaler Staatsbürgerschaften,braucht es europaweit e<strong>in</strong> Konzeptvon „We citizen“ (Wir BürgerInnen) als Gr<strong>und</strong>lage deseuropäischen Geme<strong>in</strong>wesens. Dies erschöpft sich abernicht <strong>in</strong> gleichen bürgerlichen <strong>und</strong> politischen Rechten,sondern umfasst auch soziale Rechte. Nach dem ZweitenWeltkrieg wurde im nationalen Machtraum socialcitizenship geschaffen. Heute gilt es, soziale Rechte<strong>in</strong> Bildung, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Wohnen zu europäisieren.E<strong>in</strong>heit <strong>in</strong> der <strong>Vielfalt</strong> heißt bezogen auf obige Problematiknämlich: Europaweite Verankerung sozialerRechte e<strong>in</strong>hergehend mit e<strong>in</strong>er Vielzahl <strong>und</strong> <strong>Vielfalt</strong>konkreter Lösungen, wie mit ethnischen, sozialen <strong>und</strong>generationalen Unterschieden umzugehen ist. Das istdie Stärke e<strong>in</strong>es Ansatzes, der von e<strong>in</strong>er komplexenProblematik statt altbekannten Problemen ausgeht.So wird der Erkenntnissprung von lokalen Versuchen,Durchmischung zu fördern, zu e<strong>in</strong>er europaweiten Sozialpolitikmöglich. Indem anders gedacht wird, wirde<strong>in</strong>e andere Praxis möglich.Unser Zugang betont ferner die Bedeutung von geeignetenInstitutionen, um <strong>Vielfalt</strong> <strong>und</strong> Gleichheit vere<strong>in</strong>barzu machen <strong>und</strong> damit sozialen Zusammenhaltzu ermöglichen. Transdiszipl<strong>in</strong>äres Forschen muss dieSuche nach passenden Institutionen unterstützen, diediese persönliche Entwicklung ermöglichen. Dies könnteReformen <strong>und</strong> kreative Experimente <strong>in</strong> der Schule,der Stadtteilarbeit, der Sozial- <strong>und</strong> Arbeitsmarktpolitikunterstützen. Hier liegt das Potential von Wissensallianzen.Denn gerade die Bildung <strong>und</strong> Veränderung vonInstitutionen, sei dies im Stadtteil, der Schule oder demAMS, kann nur mit der E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung der Alltags-ExpertInnengel<strong>in</strong>gen, die <strong>in</strong> diesen Institutionen arbeiten oderdiese nutzen.Dieses Symposium reflektiert unter anderem zwei Wissensallianzen,e<strong>in</strong>e lokale, seit fünf Jahren bestehendezwischen der Kooperativen Mittelschule 18 (KMS 18),dem <strong>Paulo</strong> <strong>Freire</strong> <strong>Zentrum</strong> <strong>und</strong> der WU: Ausgehend vomProjekt „Hauptschule trifft Hochschule“ hat sich dieseLernpartnerschaft zur Sparkl<strong>in</strong>g Science Forschungspartnerschaft„<strong>Vielfalt</strong> der Kulturen – ungleiche Stadt“ausgeweitet. Die zweite Wissensallianz ist e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>ternationale,von der EU f<strong>in</strong>anzierte: Social Polis – SocialPlatform on Cities and Social Cohesion, die Forschungzum sozialen Zusammenhalt <strong>in</strong> Städten vernetzt <strong>und</strong>für städtische Praxis nutzbar macht. Bei diesen Wissensallianzengeht es um die Demokratisierung vonWissensproduktion <strong>und</strong> -nutzung zusammen mit demBestreben, durch die E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung von Erfahrungswissendie Qualität <strong>und</strong> Relevanz wissenschaftlicher Analysenzu heben. Auf diese Weise stärken wir e<strong>in</strong>e Form vonStadtforschung, die wirksam städtische Praxis verändert.Die beiden Projekte s<strong>in</strong>d nicht nur auf verschiedenenEbenen angesiedelt, sondern stellen auch – wiedie folgenden Vorträge darlegen werden – strukturellunterschiedliche Typen der Zusammenarbeit zwischenWissenschaft <strong>und</strong> Praxis dar.Literatur:Novy, Andreas/Habersack, Sarah (2010): Wissensallianzen für„E<strong>in</strong>e Stadt für alle – <strong>in</strong> ihrer Verschiedenheit”. In: derive – Zeitschriftfür Stadtforschung. Jubiläumsausgabe.Weiterführende Literatur:Be<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>, Barbara (2008): Transdiszipl<strong>in</strong>arität. http://www.pfz.at/<strong>in</strong>dex.php?Art_ID=600. [Stand: 22.11.2010]Moulaert, Frank/Swyngedouw, Erik/Mart<strong>in</strong>elli, Flavia/Gonzalez,Sara (2010): Can Neighbourhoods Save the City? Social Innovationand Local Community Development. London: Routledge.Novy, Andreas/Be<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>, Barbara (2009): Transdiscipl<strong>in</strong>arity andSocial Innovation Research. In: SRE-Discussion Papers. Vienna:WU Vienna University of Economics and Bus<strong>in</strong>ess.7 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


3. Social Polis: Social Platform forCities and Social CohesionE<strong>in</strong> Interview der Redaktion mit Sarah HabersackKönnen Sie uns das Projekt Social Polis kurzvorstellen? Wer s<strong>in</strong>d die AkteurInnen <strong>und</strong> welcheZiele sollen erreicht werden?Social Polis: Social Platform for Cities and Social Cohesionist e<strong>in</strong> <strong>in</strong>novatives, transdiszipl<strong>in</strong>äres Projekt <strong>und</strong>wurde von 2007–2010 im siebten Rahmenprogrammder Europäischen Kommission f<strong>in</strong>anziert. Es war dieerste Plattform solcher Art, die von der EU-Kommissionausgeschrieben wurde <strong>und</strong> dadurch begaben sich dieForscherInnen, soziale AktivistInnen, Nichtregierungsorganisations-(NGO-)MitarbeiterInnen<strong>und</strong> VertreterInnender Stadtverwaltung, die Teil dieser Plattform waren,geme<strong>in</strong>sam auf unbekannte Pfade. Die unterschiedlichenAkteurInnen kamen aus vielen europäischen<strong>und</strong> außereuropäischen Ländern <strong>und</strong> wurden von Prof.Frank Moulaert von der Katholischen Universität (KU)Leuven koord<strong>in</strong>iert.Den operativen Kern des Projekts bildeten elf Partneruniversitäten,die für die E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung von PraktikerInnenaus verschiedenen Themenbereichen <strong>und</strong>Lokalitäten bzw. Regionen verantwortlich waren. DieVertreterInnen aus den Bereichen Politik, Verwaltung<strong>und</strong> <strong>Soziale</strong>s <strong>und</strong> weitere ForscherInnen waren als sogenannte StakeholderInnen e<strong>in</strong>geb<strong>und</strong>en.In den drei Jahren der geme<strong>in</strong>samen Arbeit wurdenzwei Projektziele verfolgt. E<strong>in</strong>erseits wurde e<strong>in</strong> europäischesForschungsprogramm erarbeitet, das aufsozialen Zusammenhalt <strong>in</strong> Städten fokussierte. Dafürwar es notwendig, den Stand der Forschung für sozialenZusammenhalt <strong>in</strong> Europa zu ermessen <strong>und</strong> <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em partizipativen Prozess mit PraktikerInnen ausVerwaltung, dem NGO-Sektor <strong>und</strong> der Privatwirtschaftzu entscheiden, welche Themen Teil dieses Forschungsprogrammsse<strong>in</strong> sollten <strong>und</strong> mit welcher Priorisierung.Diese Themen wurden <strong>in</strong> weiterer Folge an die EU-Kommission <strong>und</strong> andere Geldgeber weitergeleitet, umdaraus Ausschreibungen für die nächsten Jahre zu formulieren.Das bedeutet, dass dieser kollektive Prozessder Themenf<strong>in</strong>dung <strong>und</strong> Themenformulierung dem Zielfolgte, die Forschungsstrategie auf europäischer Ebenenachhaltig zu bee<strong>in</strong>flussen. Das zweite Projektziel warder Aufbau der sozialen Plattform selbst. Es ist ke<strong>in</strong>ee<strong>in</strong>fache Aufgabe, über zweih<strong>und</strong>ert VertreterInnen ausForschung <strong>und</strong> Praxis mite<strong>in</strong>ander zu vernetzen <strong>und</strong>e<strong>in</strong>e transparente <strong>und</strong> klare Kommunikation zu gewährleisten,die Gr<strong>und</strong>bed<strong>in</strong>gung für e<strong>in</strong>en Austauschauf gleicher Augenhöhe ist.Diese zwei Ziele stehen <strong>in</strong> engem Zusammenhang mitden zwei zentralen Aufgaben von transdiszipl<strong>in</strong>ärerForschung, die Andreas Novy <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Text angeführthat. Dabei geht es e<strong>in</strong>erseits um die Bildung von Wissensallianzen,das heißt nachhaltige Partnerschaften<strong>und</strong> Formen der Zusammenarbeit zwischen Theorie <strong>und</strong>Praxis, die geme<strong>in</strong>sam Wissen erarbeiten <strong>und</strong> nutzen.Um diese Zusammenarbeit möglich zu machen <strong>und</strong>systematisches <strong>und</strong> strukturiertes Wissen von ForscherInnenmit Erfahrungswissen <strong>und</strong> professionellem Wissenvon PraktikerInnen zu verb<strong>in</strong>den ist es andererseitswichtig, gute Theoriearbeit zu leisten <strong>und</strong> Konzepte, mitdenen man arbeitet, zu schärfen.Ziel von Social Polis war e<strong>in</strong>e andere Form derTheoriearbeit. Wie können sich die TeilnehmerInnendes Symposiums diesen ‚anderen‘ Blick aufdie Wirklichkeit im Projekt konkret vorstellen?Transdiszipl<strong>in</strong>äre Forschung hat das Ziel, gesellschaftlicheProblematiken <strong>in</strong>s <strong>Zentrum</strong> der Forschung zu stellen<strong>und</strong> nicht e<strong>in</strong>e wissenschaftliche Diszipl<strong>in</strong>. <strong>Soziale</strong>rZusammenhalt <strong>in</strong> Städten als Thema e<strong>in</strong>es Projekts zuwählen, ist e<strong>in</strong> w<strong>und</strong>erbares Beispiel dafür, was e<strong>in</strong>esolche gesellschaftliche Problematik se<strong>in</strong> könnte.Man könnte also die Theoriearbeit <strong>in</strong> Social Polis <strong>in</strong>zwei Bereiche aufteilen, oder besser gesagt mit denzwei Zielen des Projekts <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung br<strong>in</strong>gen. E<strong>in</strong>erseitsg<strong>in</strong>g es darum, e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames Verständnis fürden Begriff des sozialen Zusammenhalts zu erarbeiten.Die Arbeit mit e<strong>in</strong>em solchen Begriff <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er sozialenPlattform bedarf viel Klärung, denn die über h<strong>und</strong>ertMitglieder brachten m<strong>in</strong>destens genauso viele Assoziationen,Bilder <strong>und</strong> Def<strong>in</strong>ition von sozialem Zusammenhalt<strong>in</strong> diese Zusammenarbeit e<strong>in</strong>.Die Schärfung des Begriffs des sozialen Zusammenhaltsermöglichte die Kommunikation zwischen den unterschiedlichenDiszipl<strong>in</strong>en <strong>und</strong> über die akademischenGrenzen h<strong>in</strong>aus. Denn es macht e<strong>in</strong>en maßgeblichenUnterschied, ob ich sozialen Zusammenhalt als e<strong>in</strong>gesellschaftliches Phänomen verstehe, das Homogenität<strong>und</strong> nationale E<strong>in</strong>heit, die auf geme<strong>in</strong>samen Werten8 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


<strong>und</strong> Lebenstilen beruht, erfordert. Oder ob es bei sozialemZusammenhalt genau darum geht, dass es möglichist, als Gesellschaft geme<strong>in</strong>sam <strong>in</strong> all unserer <strong>Vielfalt</strong> zuleben <strong>und</strong> diese Gesellschaft zu gestalten. Die sozialePlattform von Social Polis versteht sozialen Zusammenhalte<strong>in</strong>deutig im zweiten S<strong>in</strong>n.Transdiszipl<strong>in</strong>äre Forschung möchte gesellschaftlichrelevantes Wissen erarbeiten, um AkteurInnen handlungsfähigerzu machen. Daher war es <strong>in</strong> diesemProjekt nicht nur wichtig, sich darauf zu verständigen,dass es bei sozialem Zusammenhalt darum geht,dass <strong>in</strong> Gesellschaft zu leben, solidarisch zu handeln,das größere Ganze im Blick zu haben nicht bedeutet,<strong>Vielfalt</strong> aufzugeben. Sondern Ziel war es auch zu identifizieren,welche Mechanismen <strong>und</strong> Dimensionen beisozialem Zusammenhalt am Wirken s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> wo daherdie Handlungsfelder für die AkteurInnen der Plattformliegen.Dimensionen wie die sozioökonomische, <strong>kulturelle</strong>,politische <strong>und</strong> ökologische müssen dabei zusammengedachtwerden. Der Arbeitsmarkt spielt also e<strong>in</strong>eebenso große Rolle für sozialen Zusammenhalt wie dieDef<strong>in</strong>ition des Bürgerstatus, der Umgang mit natürlichenRessourcen <strong>und</strong> das Aushandeln von Identitäten.Nur durch die Zusammenschau dieser Facetten konntee<strong>in</strong> Forschungsprogramm erarbeitet werden, das derMultidimensionalität des Begriffs gerecht wird <strong>und</strong> e<strong>in</strong>tieferes Verständnis für diese gesellschaftliche Problematikermöglicht.Die Plattform bot die e<strong>in</strong>malige Möglichkeit, die Multidimensionalitätdes Begriffes nicht nur <strong>in</strong>tellektuellzu erarbeiten, sondern sie durch die Mitarbeit von StakeholderInnenaus den verschiedensten Themenbereichen<strong>und</strong> Berufssparten, die alle zur Entwicklung e<strong>in</strong>erStadt beitragen, zu erleben. Denn auch NGOs, die mitweiblichen MigrantInnen arbeiten, Stadtverwaltungsabteilungenfür Stadtforschung, ArchitektInnen <strong>und</strong>PlanerInnen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Praxis vone<strong>in</strong>ander abhängig,stellen e<strong>in</strong>en Teil e<strong>in</strong>es größeren Ganzes dar <strong>und</strong> werdenimmer wieder auf dieselben Probleme <strong>und</strong> Fragenzurückgeworfen.Wie Sie bereits erzählt haben, gibt es e<strong>in</strong>e hoheDiversität an AkteurInnen <strong>in</strong> dieser Plattform. Siekommen nicht nur aus verschiedenen Berufsfeldern,sondern auch aus den unterschiedlichstenRegionen <strong>in</strong> Europa <strong>und</strong> sogar außerhalb Europas.Wie organisiert man e<strong>in</strong>e solche Zusammenarbeit<strong>und</strong> wie gestaltet sich die Beziehungzwischen ForscherInnen <strong>und</strong> so genanntenPraktikerInnen?Social Polis war diesbezüglich nicht nur e<strong>in</strong>e sozialePlattform, sondern e<strong>in</strong>e Lernplattform, da man sich<strong>in</strong> diesem Projekt <strong>in</strong>nerhalb des organisatorischenBereichs auf neue Pfade begab. Es war immer wieder<strong>in</strong>teressant, aber auch herausfordernd, zu erkennen,wie gr<strong>und</strong>legend unterschiedlich die Sprache, die <strong>in</strong>nereLogik <strong>und</strong> die Arbeitsrealitäten der beteiligten AkteurInnens<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>E MitarbeiterIn der Stadtverwaltungbraucht e<strong>in</strong>e Dienstanweisung des/der Vorgesetzten,der/die e<strong>in</strong> Projekt für <strong>in</strong>teressant erachten muss, uman e<strong>in</strong>em Treffen von Social Polis teilnehmen zu können.E<strong>in</strong>E WissenschafterIn muss sich rechtfertigen,<strong>in</strong>wieweit e<strong>in</strong>e solche transdiszipl<strong>in</strong>äre ZusammenarbeitPrestige für das jeweilige Institut br<strong>in</strong>gt <strong>und</strong> <strong>in</strong>welchem renommierten Journal er/sie e<strong>in</strong>en Artikeldazu publizieren könnte. E<strong>in</strong> sozialer Aktivist oder e<strong>in</strong>ekle<strong>in</strong>e NGO muss abwägen, wie hoch die Chance ist,durch e<strong>in</strong> Projekt wie Social Polis weitere F<strong>in</strong>anzierungzu bekommen, die wichtig ist, um zu überleben.Die Notwendigkeit solche unterschiedlichen Motivationen<strong>und</strong> Formen der Teilnahme an Social Poliswahrzunehmen, zu respektieren <strong>und</strong> mite<strong>in</strong>ander zuverb<strong>in</strong>den, rückte die Übersetzungs- <strong>und</strong> Organisationsarbeit<strong>in</strong> den Fokus des Projekts. Bei transdiszipl<strong>in</strong>ärenProjekten muss allen Beteiligten bewusst se<strong>in</strong>, dassdie Organisation der Zusammenarbeit e<strong>in</strong>en ausgesprochenwichtigen Stellenwert e<strong>in</strong>nehmen muss <strong>und</strong>den ProjektmitarbeiterInnen <strong>und</strong> den StakeholderInnenviel Zeit, Energie <strong>und</strong> materielle Ressourcen abverlangt.Dies erfordert nicht nur e<strong>in</strong>e andere Arbeitspraxis <strong>in</strong>solchen Projekten, sondern auch e<strong>in</strong>e andere Konzeptualisierungdes Projekts <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Verteilung vonRessourcen, die organisatorischen Anforderungen entgegenkommt.Im Bereich der Organisation, Kommunikation <strong>und</strong>Übersetzungsarbeit fehlte es <strong>in</strong> Social Polis immerwieder an Aufmerksamkeit, Expertise <strong>und</strong> den richtigenHilfsmitteln, wie zum Beispiel passende Instrumentedes Web 2.0. Der Fehler liegt jedoch nicht unbed<strong>in</strong>gtbei der Projektkoord<strong>in</strong>ation, sondern zeigt das fehlendeBewusstse<strong>in</strong> für die Notwendigkeit der oben genanntenAufgaben <strong>und</strong> die mangelnden F<strong>in</strong>anzierungsmöglichkeiten.9 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


Die regionale Verteilung der AkteurInnen auf verschiedeneeuropäische Städte ermöglichte des weiterenRäume des Austausches, die für die Plattform SocialPolis <strong>und</strong> die dabei entstehende Wissensallianz vongroßem Interesse waren. Der europäische Charaktervon Social Polis ermöglichte e<strong>in</strong>en Austausch zwischender lokalen, städtischen Ebene <strong>und</strong> der EuropäischenUnion. Durch lokale Stakeholder-Workshops <strong>in</strong> unterschiedlichstenStädten wurden Perspektiven auf <strong>und</strong>Erfahrungen von sozialem Zusammenhalt <strong>in</strong> Städtengesammelt <strong>und</strong> die PartnerInnen vernetzten diese mitden Diskussionen zu sozialem Zusammenhalt auf dereuropäischen Ebene. Gleichzeitig ermöglichte es denlokalen AkteurInnen mehr über Strategien <strong>und</strong> Zielsetzungenzu erfahren, die auf der europäischen Ebeneentwickelt werden, aber sich auf die lokale Ebene auswirken<strong>und</strong> von vielen der Social Polis StakeholderInnenimplementiert oder ertragen werden müssen. Derkonzeptuelle Anspruch auf e<strong>in</strong> multiskalares Verständnisvon sozialem Zusammenhalt wurde dadurch <strong>in</strong> derProjektpraxis gelebt.E<strong>in</strong> Aspekt, der e<strong>in</strong>e dialogische <strong>und</strong> gleichberechtigteZusammenarbeit <strong>in</strong> diesem Projekt erschwerte, ist dieungleiche Ausstattung mit Ressourcen. Alle PartnerInnendes Projekts, die mit Budgetmittel ausgestattetwurden, waren Universitäten <strong>und</strong> andere Forschungse<strong>in</strong>richtungen.VertreterInnen der Stadtverwaltung,von NGOs, privaten Planungsbüros <strong>und</strong> soziale AktivistInnenwaren ausschließlich als StakeholderInnen,das heißt AkteurInnen ohne Budgetmittel des Projekts,e<strong>in</strong>geb<strong>und</strong>en. Dies war nicht e<strong>in</strong>e Entscheidung derProjektleitung, sondern wurde aufgr<strong>und</strong> von Vorgabender EU-Kommission für das Budget solcher Projekte<strong>in</strong> dieser Form umgesetzt. Solange also ausschließlichVertreterInnen der Forschung transdiszipl<strong>in</strong>äre Projektkonzipieren <strong>und</strong> e<strong>in</strong>reichen dürfen <strong>und</strong> <strong>in</strong> weiterer Folgeauch die Mittel dafür bekommen, ist e<strong>in</strong> Dialog aufgleicher Augenhöhe ausgesprochen schwierig.Sie haben ja bereits e<strong>in</strong>ige Schwierigkeiten <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em Projekt wie Social Polis genannt. Nun gehtdiesen November das Projekt zu Ende. Wie sehenSie die Zukunft e<strong>in</strong>er solchen Zusammenarbeitzwischen Theorie <strong>und</strong> Praxis? Wo liegen dienächsten Herausforderungen?Wie bereits erwähnt, haben wir <strong>in</strong> Social Polis gesehen,wie wichtig es für echten Austausch ist, dassForscherInnen <strong>und</strong> PraktikerInnen von Anfang an <strong>in</strong> diePlanung <strong>und</strong> Gestaltung von transdiszipl<strong>in</strong>ären Projektene<strong>in</strong>geb<strong>und</strong>en s<strong>in</strong>d. Wenn e<strong>in</strong> transdiszipl<strong>in</strong>äresProjekt nur auf der Logik der Wissenschaft <strong>und</strong> derwissenschaftlichen Institutionen basiert, ist es nicht nurschwierig, Projektablauf <strong>und</strong> -ziele zu kommunizieren,sondern es ist auch überzogen, Eigenverantwortung<strong>und</strong> Identifizierung mit dem Projekt von Seiten derPraxis zu verlangen. E<strong>in</strong>e gleichmäßige Ausstattungmit Ressourcen von den AkteurInnen ist unumgänglich,denn Teilhabe an e<strong>in</strong>em Austausch zwischen Wissenschaft<strong>und</strong> Praxis erfordert Zeit <strong>und</strong> Langfristigkeit.Damit kommen wir auch schon zum nächsten Punkt,der zentral für e<strong>in</strong>e Weiterführung des Austauschs zwischenPraxis <strong>und</strong> Theorie ist. Diese Welten mite<strong>in</strong>anderzu verb<strong>in</strong>den <strong>und</strong> Dialog zu ermöglichen, bedeutetgegenseitiges Vertrauen aufzubauen <strong>und</strong> Prozessenihre Zeit zu geben. Transdiszipl<strong>in</strong>äre Forschung ist e<strong>in</strong>langsamer Prozess, der Kont<strong>in</strong>uität <strong>und</strong> Nachhaltigkeitverlangt, um zu Ergebnissen zu kommen.Die Forschungsf<strong>in</strong>anzierung <strong>in</strong> den Sozialwissenschaftenvon Seiten der EU, aber auch von anderen Geldgebern,organisiert sich zunehmend über Projektausschreibung,die auf e<strong>in</strong>ige wenige Jahre begrenzt s<strong>in</strong>d.Dies steht im krassen Widerspruch zu den notwendigenRahmenbed<strong>in</strong>gungen von transdiszipl<strong>in</strong>ärer Zusammenarbeit.Social Polis wird nun nach drei Jahren beendet,ohne Aussicht auf weitere F<strong>in</strong>anzierung. Es wurdee<strong>in</strong>e soziale Plattform aufgebaut, <strong>in</strong> der man erst <strong>in</strong>den letzten Monaten echten Austausch beobachtenkonnte. Zusammenarbeit, die mit viel Zeit <strong>und</strong> Ressourcenaufgebaut wurde, <strong>und</strong> nachhaltige, gesellschaftlichrelevante Forschung ermöglichen würden, verläuft nunim Sand. Strukturen, die notwendig wären, um geme<strong>in</strong>samesWissen zu schaffen, mit dem man den bedrohlichengesellschaftlichen Veränderungen mit Handlungs<strong>und</strong>Gestaltungsfähigkeit begegnen könnte, können <strong>in</strong>solch kurzen Zeiträumen nicht aufgebaut werden.E<strong>in</strong>e Konsequenz, die wir daraus beobachten können,ist der Rückzug solcher Initiativen auf die lokale Ebene.Der Aufbau von Wissensallianzen <strong>und</strong> Entwicklung vonsozialen Innovationen wirkt im Lokalen machbarer <strong>und</strong>Erfolge werden oft schneller sichtbar. Das, was dadurchverloren geht, ist die Möglichkeit sozialen Zusammenhaltmultiskalar zu verstehen <strong>und</strong> gleichzeitig aufmehreren Ebenen dafür zu arbeiten. Und es entb<strong>in</strong>detdie europäische Ebene zunehmend der Verantwortung,relevante Investitionen <strong>in</strong> transdiszipl<strong>in</strong>ärer Forschungzu tätigen.10 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


4. Social Polis: Social Platform forCities and Social CohesionE<strong>in</strong> Interview der Redaktion mit Göksel YilmazFrage: In welchem Projekt s<strong>in</strong>d Sie tätig? KönnenSie uns das kurz vorstellen?Unser Projekt nennt sich „<strong>Vielfalt</strong> der Kulturen – ungleicheStadt“, kurz „Ungleiche <strong>Vielfalt</strong>“. Es wirdim Rahmen des Programms Sparkl<strong>in</strong>g Science vomWissenschaftsm<strong>in</strong>isterium f<strong>in</strong>anziert <strong>und</strong> läuft zweiJahre, also noch bis Ende 2011. Es ist e<strong>in</strong>e transdiszipl<strong>in</strong>äreZusammenarbeit zwischen dem <strong>Paulo</strong><strong>Freire</strong> <strong>Zentrum</strong>, der Wirtschaftsuniversität <strong>und</strong> vierSchulen. Davon s<strong>in</strong>d zwei <strong>in</strong> Wien – e<strong>in</strong>e KooperativeMittelschule (KMS), <strong>in</strong> der ich unterrichte, <strong>und</strong> e<strong>in</strong>Gymnasium – e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Istanbul <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Serbien.Konkret geht es im Projekt um die urbane Lebensweltvon Jugendlichen. Der Begriff Lebenswelt umfasstunter anderem die subjektive Wahrnehmung, dasAlltagshandeln <strong>und</strong> die Lebensperspektiven vonJugendlichen, aber auch die sozialen, politischen <strong>und</strong>wirtschaftlichen Strukturen, die dah<strong>in</strong>ter liegen. Dahers<strong>in</strong>d Lebenswelten e<strong>in</strong>erseits zwar sehr persönlich,dürfen jedoch nicht als <strong>in</strong>dividuelle Phänomene verstandenwerden, da sie e<strong>in</strong>gebettet <strong>in</strong> gesellschaftlicheStrukturen s<strong>in</strong>d, die von <strong>kulturelle</strong>r <strong>Vielfalt</strong> <strong>und</strong> sozialer<strong>Ungleichheit</strong> geprägt s<strong>in</strong>d. Konkret besteht dieseErforschung von Lebensrealitäten aus drei Schritten.Erstens <strong>in</strong>teressiert uns, was Jugendliche der kooperativenMittelschule <strong>und</strong> des Gymnasiums so alles <strong>in</strong>ihrem Alltag tun. In e<strong>in</strong>em zweiten Schritt sollen dieH<strong>in</strong>tergründe dieses Handelns beleuchtet werden,das heißt, die Frage nach dem „Warum“ muss beantwortetwerden. Dafür ist es nicht nur notwendig, diekonkreten Lebensrealitäten der Jugendlichen genauerunter die Lupe zu nehmen <strong>und</strong> zu vergleichen, sondernauch sie mit gesellschaftlichen Prozessen wieder zunehmenden Arbeitslosigkeit, der Segregationim Bildungssystem oder der Kulturalisierung vonPolitik <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung zu br<strong>in</strong>gen. Der dritte Schrittzielt darauf ab, dieses Wissen zu nutzen, um neueHandlungsmöglichkeiten für Jugendliche zu identifizieren<strong>und</strong> somit durch das geme<strong>in</strong>same Forschen handlungsfähigerzu werden.Die Jugendlichen s<strong>in</strong>d selbst als ForscherInnen tätig<strong>und</strong> forschen über sich selbst <strong>und</strong> ihre Umwelt. IhrErfahrungswissen über das Leben von Jugendlichen<strong>in</strong> Wien ist wichtig, um e<strong>in</strong> besseres Verständnis ihrersozialen Realität zu bekommen. Daher verstehen wirdie Jugendlichen als „Alltag-ExpertInnen“.Konkret bedeutet das, dass sich jedes Jahr imSommersemester StudentInnen mit SchülerInnen <strong>in</strong>Forschungsteams zusammenf<strong>in</strong>den <strong>und</strong> zu selbstgewähltenForschungsfragen im Themenbereich desProjekts forschen. Dabei experimentieren sie mitunterschiedlichen Methoden wie Interviews, Theater,Zukunftswerkstatt <strong>und</strong> vieles mehr. Unterstützt werdendiese Teams sowohl auf organisatorischer wiewissenschaftlicher Ebene von der Direktion, denLehrerInnen <strong>und</strong> den ForscherInnen der WU Wien<strong>und</strong> des <strong>Paulo</strong> <strong>Freire</strong> <strong>Zentrum</strong>s. Dadurch werden ihreForschungsarbeiten nicht nur betreut, sondern auch <strong>in</strong>e<strong>in</strong>en größeren Forschungsrahmen e<strong>in</strong>gebettet. Ihre oftkle<strong>in</strong>räumigen <strong>und</strong> lokalen Forschungen werden somitzu relevanten Ausgangspunkten für das Verständnisvon gesellschaftlichen Prozessen.Frage: Andreas Novy hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Eröffnungsvortragüber Wissensallianzen <strong>und</strong> „praktischeTheoriearbeit“ zwei wichtige Elemente der transdiszipl<strong>in</strong>ärenForschung benannt. Sie haben jaschon erzählt, dass es viele verschiedene AkteurInnen<strong>in</strong> diesem Projekt gibt. Bilden dieseAkteurInnen e<strong>in</strong>e Art Wissensallianz?Bei e<strong>in</strong>er gleichberechtigten <strong>und</strong> dialogischenZusammenarbeit zwischen Wissenschaft <strong>und</strong> Praxis,die Andreas Novy Wissensallianz genannt hat, geht esja darum, geme<strong>in</strong>sam Wissen zu produzieren <strong>und</strong> zunutzen. In diesem Projekt werden verschiedene Artenvon Wissen zusammengetragen <strong>und</strong> es wird geme<strong>in</strong>samdaran gearbeitet. Prof. Novy br<strong>in</strong>gt zum Beispielse<strong>in</strong>e Erfahrung als langjähriger Wissenschafter <strong>und</strong>se<strong>in</strong> Wissen über größere Zusammenhänge e<strong>in</strong>, unsereSchülerInnen an der KMS teilen mit uns ihr Wissenüber ihren Alltag <strong>und</strong> ihre Zukunftswünsche <strong>und</strong> ich alsLehrer br<strong>in</strong>ge me<strong>in</strong> Wissen über die Dynamiken <strong>in</strong> derSchule <strong>und</strong> die praktischen Möglichkeiten <strong>und</strong> Grenzenvon Mehrsprachigkeit e<strong>in</strong>.11 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


Das Besondere an unserer Zusammenarbeit ist, dasssie vor mittlerweile fünf Jahren begonnen hat <strong>und</strong>daher nachhaltig <strong>und</strong> ohne Druck wachsen konnte.2006 begannen wir mit dem Projekt „Hauptschuletrifft Hochschule“. Es war e<strong>in</strong>e Lehrveranstaltung ander WU Wien, bei der die StudentInnen die Möglichkeithatten, mit SchülerInnen der KMS 18 e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>esForschungsprojekt durchzuführen. Erst im Jahr 2010wurde diese Zusammenarbeit dann auf andere Schulen<strong>und</strong> weitere AkteurInnen ausgeweitet <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e breitere<strong>und</strong> kohärentere Forschungsstrategie <strong>in</strong> Angriff genommen.In diesen fünf Jahren hatten wir Zeit, e<strong>in</strong>anderals Personen <strong>und</strong> als Institutionen kennenzulernen <strong>und</strong>Vertrauen aufzubauen. Vertrauen <strong>und</strong> gegenseitigerRespekt s<strong>in</strong>d die Gr<strong>und</strong>pfeiler e<strong>in</strong>er transdiszipl<strong>in</strong>ärenZusammenarbeit, da man bei e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samenProduktion von Wissen oft Wege beschreitet <strong>und</strong>Themen bearbeitet, die die eigene Institution <strong>und</strong> gesellschaftlichePosition <strong>in</strong> Frage stellen. Da muss mansich e<strong>in</strong>fach auf die PartnerInnen verlassen können.Um die Zusammenarbeit zwischen Forschung <strong>und</strong>Praxis <strong>in</strong> diesem Projekt zu konkretisieren, möchteich e<strong>in</strong> paar Orte des Austausches erwähnen<strong>und</strong> erklären, auf welche Art die unterschiedlichenAkteurInnen dort mite<strong>in</strong>ander arbeiten. E<strong>in</strong>erseitsgibt es <strong>in</strong> diesem Projekt e<strong>in</strong>e Steuerungsgruppe, die,wie der Name schon sagt, das Projekt steuert <strong>und</strong>geme<strong>in</strong>sam über die Ziele <strong>und</strong> Ausrichtungen entscheidet.Diese Steuerungsgruppe besteht aus zweierfahrenen <strong>und</strong> zwei jungen ForscherInnen, die auchdas Leitungsteam des Projekts s<strong>in</strong>d. Weiters s<strong>in</strong>d vonden zwei österreichischen Schulen e<strong>in</strong>e Direktor<strong>in</strong> <strong>und</strong>drei LehrerInnen vertreten. Für die zwei ausländischenSchulen s<strong>in</strong>d der <strong>in</strong>ter<strong>kulturelle</strong> Experte für Serbien,se<strong>in</strong>e Kolleg<strong>in</strong> vom Vere<strong>in</strong> „Im.Ausland“ <strong>und</strong> ich <strong>in</strong>me<strong>in</strong>er Doppelfunktion als Lehrer der KMS 18 <strong>und</strong> als<strong>in</strong>ter<strong>kulturelle</strong>r Experte für die Türkei Teil dieser Gruppe.In der Steuerungsgruppe s<strong>in</strong>d somit die verschiedenenInstitutionen des Projekts vertreten <strong>und</strong> es werdennicht nur organisatorische Schritte abgeklärt, sondernauch thematische Fragestellungen mite<strong>in</strong>ander diskutiert.Dies ermöglicht unter anderem, sich <strong>in</strong> das Projekte<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> die Interessen der eigenen Institutionzu vertreten. Die regelmäßigen Treffen bieten auchden Raum, e<strong>in</strong>en Schritt aus dem Fahrwasser desArbeitsalltags h<strong>in</strong>auszutreten <strong>und</strong> zu sehen, wo wir alsProjekt stehen <strong>und</strong> woh<strong>in</strong> wir uns bewegen möchten.E<strong>in</strong> zweiter Ort des Austausches liegt auf e<strong>in</strong>erganz anderen Ebene des Projekts <strong>und</strong> zwar <strong>in</strong> denForschungsteams aus StudentInnen <strong>und</strong> SchülerInnen.Jedes Forschungsteam, <strong>in</strong> dem sich SchülerInnen derKMS oder des Gymnasiums <strong>und</strong> StudentInnen für vierMonate zusammenf<strong>in</strong>den, gestaltet geme<strong>in</strong>sam e<strong>in</strong>enForschungsprozess. Darunter fallen die Erarbeitunge<strong>in</strong>er Forschungsfrage <strong>und</strong> die Auswahl der passendenMethoden. Dann werden geme<strong>in</strong>sam die Daten erhoben<strong>und</strong> zum Abschluss müssen die StudentInnen dieErgebnisse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er schriftlichen Arbeit formulieren.Das Ziel ist es, e<strong>in</strong>en Forschungsprozess auf gleicherAugenhöhe zu gestalten, bei dem jeder se<strong>in</strong> Wissen<strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Fähigkeiten e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> weiterentwickelnkann.Frage: Der Aufbau <strong>und</strong> die Weiterentwicklunge<strong>in</strong>er solchen Wissensallianz kl<strong>in</strong>gen ja nachausgesprochen viel Arbeit. Welchen Platz nimmtdabei nun Theoriearbeit e<strong>in</strong>? Können Ihnen dieWissenschaftlerInnen des Projekts durch ihreArbeit e<strong>in</strong>en neuen Blick auf die Wirklichkeitermöglichen?Ohne Theoriearbeit, die aus e<strong>in</strong>em H<strong>in</strong>terfragen <strong>und</strong>Schärfen von Konzepten <strong>und</strong> Begriffen besteht, wäredieses Projekt nicht <strong>in</strong> der Form möglich. Wir beschäftigenuns ja mit dem Spannungsverhältnis von <strong>kulturelle</strong>r<strong>Vielfalt</strong> <strong>und</strong> sozialer <strong>Ungleichheit</strong>. Zwei Phänomene,denen wir <strong>in</strong> unseren Schulen <strong>und</strong> Städten ständigbegegnen. Wenn wir dabei nicht fragen würden, waswir unter Kultur verstehen oder wo der Unterschiedzwischen <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>Vielfalt</strong> liegt, wäre es nichtmöglich, e<strong>in</strong> kritisches Verständnis für die Wirklichkeit<strong>und</strong> die Lebensrealitäten unserer SchülerInnen zu entwickeln.Besonders <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Schule wie der KMS, die bekanntdafür ist, dass ca. 95% der SchülerInnenMigrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> haben, ist es zum Beispiel wichtig,den E<strong>in</strong>fluss von Kultur auf ihre Bildungskarrierenkritisch zu h<strong>in</strong>terfragen. In unserem Kontext werdennationale Zugehörigkeiten oft mit Kulturen gleichgesetzt,die dann für Konflikte <strong>und</strong> Probleme <strong>in</strong> derAusbildung verantwortlich gemacht werden. Faktorenwie soziale <strong>Ungleichheit</strong> durch Arbeitslosigkeit derEltern werden bei gängigen Erklärungsversuchen derSituation an Wiener Hauptschulen oft außer Acht gelassen.12 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


An diese Begriffe anders heranzugehen <strong>und</strong> siekritisch zu h<strong>in</strong>terfragen, gel<strong>in</strong>gt uns immer wieder<strong>in</strong> Gesprächen <strong>und</strong> an Orten des Austausches derSteuerungsgruppe. Da haben wir es geschafft, e<strong>in</strong>eKommunikationsebene zu f<strong>in</strong>den, die es ermöglicht,dass die ForscherInnen ihre Überlegungen mit uns teilen<strong>und</strong> weiterentwickeln.Auf anderen Ebenen des Projekts begegnen wir größerenSchwierigkeiten. Bei der Zusammenarbeit mitden SchülerInnen spielt die Klärung von Begriffen wie<strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>Vielfalt</strong> kaum e<strong>in</strong>e Rolle. Aufgr<strong>und</strong>sprachlicher <strong>und</strong> kognitiver Fähigkeiten ist es ausgesprochenschwierig, Nuancen von Begriffen verständlichzu machen, die oftmals so entscheidenddie Bedeutung verändern können. Es ist bereits e<strong>in</strong>egroße Herausforderung, die Begegnung zwischenSchülerInnen e<strong>in</strong>er KMS, e<strong>in</strong>es BGs, StudentInnen <strong>und</strong>ForscherInnen zu organisieren <strong>und</strong> zu gestalten. Daherhaben Sie auch Recht mit der Vermutung, dass nur wenigZeit <strong>und</strong> Energie für Theoriearbeit mit SchülerInnenbleibt. Jedoch bedeutet das nicht, dass ke<strong>in</strong> andererBlick auf die Wirklichkeit möglich wird. Durch denAustausch zwischen den verschiedenen Milieus <strong>und</strong>den Mitgliedern der Steuerungsgruppe <strong>und</strong> anderen <strong>in</strong>teressiertenLehrerInnen als MultiplikatorInnen kommtes immer wieder zu e<strong>in</strong>er veränderten Perspektive beiSchülerInnen.Denn wenn ich als Lehrer e<strong>in</strong> kritisches Verständnisfür e<strong>in</strong>en Begriff wie Kultur entwickle, dann wird dasim besten Falle me<strong>in</strong>e Praxis, <strong>in</strong>sbesondere me<strong>in</strong>enUmgang mit den SchülerInnen, verändern.Frage: Wir haben ja nun schon e<strong>in</strong>ige Erfahrungenaus dem Projekt gehört. Können Sie uns nochNäheres aus Ihrer Perspektive als Lehrer an derKMS erzählen. Wo sehen Sie den Mehrwert vondiesem Projekt für Ihre Schule? Banal gesagt,was br<strong>in</strong>gt es der KMS?Die ursprüngliche Zusammenarbeit zwischen denInstitutionen Wirtschaftsuniversität Wien <strong>und</strong>Kooperative Mittelschule hat dazu geführt, dassMilieus mit sehr unterschiedlicher Außenwirkung<strong>und</strong> <strong>in</strong>nerer Logik geme<strong>in</strong>sam e<strong>in</strong> Projekt erarbeiten.Das hat für die KMS e<strong>in</strong>erseits zu Anerkennung<strong>in</strong> der Öffentlichkeit geführt. Die KMS 18, die früherals Brennpunktschule bekannt war, wurde zumVorzeigebeispiel <strong>und</strong> gewann dieses Jahr sogar denösterreichischen Integrationspreis. Dazu hat diesesProjekt e<strong>in</strong>en wichtigen Beitrag geleistet. Andererseitshat es auch <strong>in</strong>tern zu neuen Impulsen geführt <strong>und</strong>zum Beispiel e<strong>in</strong>e Kontaktaufnahme <strong>und</strong> langsameAnnäherung an das Gymnasium <strong>in</strong> der Klostergasseermöglicht.Die Brücke zwischen diesen beiden Schultypen, diedurch das Projekt Ungleiche <strong>Vielfalt</strong> möglich wurde,bedeutet e<strong>in</strong>e ausgesprochen spannende Veränderung.Zwischen unserer Schule <strong>und</strong> dem Gymnasium bef<strong>in</strong>detsich räumlich nur der Marie von Ebner Eschenbach-Park, aber eigentlich liegen Welten dazwischen.Es gibt kaum persönliche oder gesellschaftlicheBeziehungen zwischen diesen zwei Institutionen <strong>und</strong>den LehrerInnen <strong>und</strong> SchülerInnen.Zwischenmenschlich ist es schön zu sehen, dass nunSchülerInnen beider Schulen e<strong>in</strong>ander kennen lernen<strong>und</strong> mite<strong>in</strong>ander arbeiten. Jedoch ist diese Verb<strong>in</strong>dungnicht nur auf der zwischenmenschlichen Ebene sehrwichtig, sondern auch äußerst relevant für e<strong>in</strong> tieferesVerständnis von derzeitigen Problemen <strong>in</strong> Wien. Esherrscht viel Unwissenheit <strong>und</strong> auch Ignoranz gegenüberanderen Lebensrealitäten <strong>und</strong> Milieus. Darausnähren sich Vorurteile <strong>und</strong> der Boden für politischeInstrumentalisierung wird bereitet. Für so unterschiedlicheGruppen, wie das die SchülerInnen der KMS <strong>und</strong>des BGs s<strong>in</strong>d, ist es e<strong>in</strong>erseits wichtig, <strong>Vielfalt</strong> e<strong>in</strong>erGesellschaft wahrzunehmen <strong>und</strong> verstehen zu lernen,wann diese zu <strong>Ungleichheit</strong> führt. Andererseitsgeht es auch direkt um die SchülerInnen <strong>und</strong> darum,ihnen zu vermitteln, dass sie zwar unterschiedlichs<strong>in</strong>d, aber gleichzeitig Teil e<strong>in</strong>es größeren Ganzen, derGesellschaft.Wie bereits vorher erwähnt bleiben die SchülerInnenjedoch nicht nur unter sich, sondern kommen überdie StudentInnen <strong>und</strong> die ForscherInnen der WU Wien<strong>und</strong> des <strong>Paulo</strong> <strong>Freire</strong> <strong>Zentrum</strong>s <strong>in</strong> Berührung mit derUniversität <strong>und</strong> der Wissenschaft.Die Rolle der Wissenschaft ist deswegen so wichtig,weil sie e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>en frischen W<strong>in</strong>d <strong>in</strong> diedoch sehr e<strong>in</strong>gefahrene Institution Schule gebrachthat. Andererseits öffnet sie Räume, <strong>in</strong> denen sichSchülerInnen der KMS <strong>und</strong> des BGs auf neutralereArt begegnen können <strong>und</strong> die Machtbeziehungenzwischen diesen beiden Schulen weniger präsents<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong> gelungenes Beispiel dafür waren die beidenzweitägigen Forschungslabors, die vom <strong>Paulo</strong> <strong>Freire</strong><strong>Zentrum</strong> im März 2010 organisiert wurden. In diesenLabors wurden den SchülerInnen beider Schulen <strong>und</strong>den StudentInnen die wissenschaftlichen Methodendes Forumtheaters <strong>und</strong> des Interviews vermittelt. Diese13 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


Labors, die im Centrum für Internationale Entwicklung(C3) stattfanden, überschritten daher sowohl sozial, alsauch räumlich die Grenzen des Schulalltags.Besonders für die KMS-SchülerInnen, die oftmals unterstarker Benachteiligung leiden, s<strong>in</strong>d diese Prozesse derGrenzüberschreitung ganz wichtig. Die SchülerInnenbekommen Zugang zu anderen Welten <strong>und</strong> werdenaußerdem mit ihrem Wissen <strong>und</strong> ihren Erfahrungen vonden StudentInnen <strong>und</strong> ForscherInnen ernst genommen<strong>und</strong> das stärkt ihr Selbstvertrauen.Frage: Abschließend möchte ich von Ihnen nochgerne wissen, welche Herausforderungen Sieim transdiszipl<strong>in</strong>ären Arbeiten <strong>in</strong> Ihrem Projektsehen?Wie ich bereits erzählt habe, ist unser Projekt sehrkomplex. Es arbeitet e<strong>in</strong>e Vielzahl an Menschen <strong>in</strong>unterschiedlichen Rollen mit. Es gibt LehrerInnen,SchülerInnen, StudentInnen, DiplomandInnen, dasProjektteam, den Vere<strong>in</strong> „Im.Ausland“, der dieBrücke nach Serbien darstellt, <strong>und</strong> viele mehr. DieKommunikation mit allen Beteiligten ist e<strong>in</strong>e großeHerausforderung <strong>und</strong> obwohl wir nun schonviel Erfahrung haben, gibt es damit immer wiederProbleme. Letztes Semester war z.B. lange nicht klar,wer an unserer Schule welche StudentInnengruppenbetreut. E<strong>in</strong> klarer Kommunikationsfehler, der vieleD<strong>in</strong>ge dann verzögerte.Die vielen beteiligten Personen br<strong>in</strong>gen aber auch ganzunterschiedliche Erwartungen <strong>in</strong> das Projekt e<strong>in</strong>. Wir alsLehrerInnen haben beispielsweise viel konkretere <strong>und</strong>praktischere Erwartungen als die Erfüllung der re<strong>in</strong> wissenschaftlichenZiele des Projekts. Es ist e<strong>in</strong> langer <strong>und</strong>schwieriger Prozess verständlich zu machen, welchenNutzen e<strong>in</strong>e solche Forschung für den Arbeitsalltag derMehrheit der LehrerInnen hat.Auch prallen <strong>in</strong> dem Projekt viele unterschiedlicheSprachen <strong>und</strong> Logiken von Institutionen aufe<strong>in</strong>ander.Im Falle der Sprachen me<strong>in</strong>e ich nicht nur Deutsch,Serbisch <strong>und</strong> Türkisch, sondern auch die Sprache derJugendlichen, der WissenschaftlerInnen etc.Im Falle der unterschiedlichen Logiken müssen Sie sichvorstellen, dass die Logik der Schule sehr streng im50 M<strong>in</strong>uten Takt e<strong>in</strong>geteilt ist <strong>und</strong> klar zwischen denRollen SchülerInnen, LehrerInnen <strong>und</strong> Direktor<strong>in</strong> unterscheidet.Die Projektarbeit wiederum braucht viel Zeit<strong>und</strong> erfordert oftmals e<strong>in</strong> hohes Maß an Flexibilität <strong>und</strong>Spontaneität. Nicht nur gedankliche Grenzen wollendabei überschritten werden, sondern auch die Grenzendes jeweiligen Arbeitsalltags. Wenn StudentInnenam liebsten e<strong>in</strong>en Vormittag lang mit SchülerInnenaus unterschiedlichen Klassen arbeiten würden oderohne Vorankündigung <strong>in</strong> der Schule stehen, führtdas oftmals zum Konflikt mit dem St<strong>und</strong>enplan <strong>und</strong>dem Lehrplan. Das führt nicht immer zu Harmonie imLehrerInnenzimmer <strong>und</strong> auch wenn unsere Schule vielePreise mit dem Projekt gewonnen hat, stehen trotzdemnicht alle LehrerInnen 100% h<strong>in</strong>ter dem Projekt. Dasmacht es für mich <strong>und</strong> me<strong>in</strong>e KollegInnen natürlichschwierig, weil wir das Wohlwollen der anderen brauchen,um SchülerInnen z.B. für diverse projektbezogeneAktivitäten freizustellen.Auch <strong>in</strong> der Kooperation mit den ausländischenSchulen – ich kann da besonders für Istanbul sprechen– hat man bei der ersten Reise gemerkt, nach welchunterschiedlichen Logiken <strong>und</strong> Zielsetzungen Schulenfunktionieren können. Das betrifft nicht nur die Art wieunterrichtet wird, sondern auch das Selbstverständnisals Institution <strong>und</strong> politische Haltungen.Daher gilt auch für die Zukunft, dass bei transdiszipl<strong>in</strong>ärenForschungsprojekten Organisation,Übersetzungsarbeit <strong>und</strong> das Verständnis für verschiedeneLogiken als wichtige Bestandteile e<strong>in</strong>es Projekteswahrgenommen werden müssen.14 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


5. K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendliche als NutzerInnen vonöffentlichen FreiräumenIhre Ansprüche an deren Gestaltungam Beispiel des Marie von Ebner Eschenbach-Parks <strong>in</strong> WienDoris HoffelnerE<strong>in</strong>leitung <strong>und</strong> ProblemstellungDer öffentliche Raum hat für jeden Menschen <strong>und</strong> fürjede soziale Gruppe unterschiedliche Bedeutungen <strong>und</strong>Aufgaben <strong>und</strong> e<strong>in</strong>en anderen Stellenwert. Besondersfür K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendliche stellt der öffentliche Raume<strong>in</strong>en Rahmen dar, <strong>in</strong> dem sie soziale Beziehungen entwickeln<strong>und</strong> gestalten können. Öffentliche Räume s<strong>in</strong>dauch für die SchülerInnen der zwei unterschiedlichenSchulen, die Teil dieser Forschungsarbeit waren, wichtigeBezugspunkte. So unterschiedlich, wie die beidenSchulen <strong>und</strong> die sozialen Schichten der Familien s<strong>in</strong>d,aus denen sie kommen, so verschieden s<strong>in</strong>d auch dieöffentlichen Freiräume, die sie nutzen <strong>und</strong> <strong>in</strong> denen siesich sozialisieren.In dieser Forschung wurde anhand des Marie von EbnerEschenbach-Parks <strong>in</strong> Wien-Währ<strong>in</strong>g, der zwischenden zwei <strong>in</strong>volvierten Schulen liegt, untersucht, wiedie Gestaltung e<strong>in</strong>es öffentlichen Freiraums die Nutzung<strong>und</strong> Aneignung durch Jugendliche bee<strong>in</strong>flusst<strong>und</strong> welche Ansprüche K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendliche andiesen öffentlichen Freiraum haben. Ausgangspunktfür die Diplomarbeit, die hier vorgestellt wird, war dasForschungsprojekt „<strong>Vielfalt</strong> der Kulturen – ungleicheStadt“. Durch die Zusammenarbeit von WirtschaftsuniversitätWien, dem <strong>Paulo</strong> <strong>Freire</strong> <strong>Zentrum</strong> <strong>und</strong> vierSchulen <strong>in</strong> Wien, Serbien <strong>und</strong> der Türkei ermöglicht dasForschungsprojekt den Kontakt zu SchülerInnen <strong>und</strong>LehrerInnen. Auf Basis dieses Netzwerks brachten imRahmen der Diplomarbeit SchülerInnen der beteiligtenWiener Schulen (Kooperative Mittelschule 18 <strong>und</strong>B<strong>und</strong>esgymnasium Klostergasse) ihr Erfahrungswissene<strong>in</strong>. Das Forschungsprojekt ermöglichte es erstmals, imRahmen dieser Diplomarbeit mit SchülerInnen aus denbeiden Schulen geme<strong>in</strong>sam zu forschen.Die Kooperative Mittelschule <strong>in</strong> Wien-Währ<strong>in</strong>g (im FolgendenKMS 18 genannt) umfasst fünfzehn Klassen mit<strong>in</strong>sgesamt dreih<strong>und</strong>ert SchülerInnen (Ungleichevielfalt2010). Die Schule hat e<strong>in</strong>en Anteil an SchülerInnen mitMigrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> von neunzig Prozent <strong>und</strong> gilt als„Brennpunktschule“ (BMWF 2008: 24). K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendlicheaus mehr als dreißig Staaten besuchen dieseSchule (KMS 18 2010). Das B<strong>und</strong>esgymnasium Klostergasse(im Folgenden BG 18 genannt) im achtzehntenWiener Geme<strong>in</strong>debezirk ist e<strong>in</strong>e Schulgeme<strong>in</strong>schaft mitachtzehn Klassen. In der Allgeme<strong>in</strong>bildenden HöherenSchule f<strong>in</strong>det sich e<strong>in</strong>e andere sozioökonomische Zusammensetzungder SchülerInnen, obwohl dort ebensowie <strong>in</strong> der KMS 18 e<strong>in</strong> hoher Anteil der SchülerInnene<strong>in</strong>e andere Muttersprache als Deutsch hat (Novy 2009:10).Die beiden sehr unterschiedlichen Schulen liegennah beie<strong>in</strong>ander <strong>und</strong> grenzen an den Marie von EbnerEschenbach-Park an. Trotz der räumlichen Näheder Schulen bestehen Barrieren, die e<strong>in</strong>en Austauschzwischen den SchülerInnen dieser Schulen verh<strong>in</strong>dern(Novy 2009: 10). Als räumlich verb<strong>in</strong>dendes Elementzwischen den beiden Schulen ist der Park e<strong>in</strong> <strong>in</strong>teressanterAusgangspunkt für die Untersuchung imRahmen dieser Arbeit. Dass der Park aber nicht für allee<strong>in</strong> Bezugsraum ist bzw. von allen gleich stark genutztwird, lässt sich von e<strong>in</strong>er markanten Aussage e<strong>in</strong>esSchülers des BG 18 ablesen: „Ah, das ist der Park vonden Hauptschülern!“ (Fasch<strong>in</strong>geder et.al. 2010: 20)FragestellungAusgangspunkt des Forschungsprozesses bildeten e<strong>in</strong>führendeÜberlegungen: Wie stehen die SchülerInnenwirklich zum Park? Wie nutzen sie ihn? Wieso sprichter sie an oder auch nicht? Und wie hängt das mit derGestaltung des Parks zusammen?Der Begriff „Gestaltung“ bezieht sich im allgeme<strong>in</strong>enSprachgebrauch auf die ästhetische Ersche<strong>in</strong>ung vonD<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> wird oft mit Begriffen wie schön, ausgewogenoder ansprechend verb<strong>und</strong>en. Für die Problemstellungwar dieser enge Begriff jedoch nicht ausreichend.Die Gestaltung von Räumen bezieht sich hier auf e<strong>in</strong>umfangreicheres Verständnis. Gestaltung setzt sichauch mit Fragen über Funktionen <strong>und</strong> Qualitäten ause<strong>in</strong>ander,die der Raum bieten kann. Gisa Ruland (2003)formuliert dazu drei Ansprüche an Freiräume: Funktio-15 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


nen, Nutzungsqualitäten <strong>und</strong> Erlebnisqualitäten, welche<strong>in</strong> der Diplomarbeit beleuchtet wurden.Dabei wurde der Frage nachgegangen, wie der öffentlicheRaum – hier im Speziellen der öffentliche Freiraum– gestaltet se<strong>in</strong> sollte, um e<strong>in</strong>e Nutzung <strong>und</strong> Aneignungdurch Jugendliche zu fördern. Das Ziel bestand dar<strong>in</strong>,zu verstehen, warum sich K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendlichemanche öffentliche Freiräume aneignen, wieso sie bestimmteöffentliche Freiräume ansprechen oder nicht<strong>und</strong> wie dies mit der Gestaltung dieser Freiräume zusammenhängt.Daraus ergab sich folgende übergeordneteFragestellung:// Wie bee<strong>in</strong>flusst die Gestaltung e<strong>in</strong>es öffentlichenFreiraumes die Nutzung <strong>und</strong> Aneignung durch K<strong>in</strong>der<strong>und</strong> Jugendliche?Um diese Frage beantworten zu können wurde mittelse<strong>in</strong>er empirischen Untersuchung der Marie von EbnerEschenbach-Park <strong>und</strong> dessen Nutzung <strong>und</strong> Aneignungdurch K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendliche der angrenzenden Schulenuntersucht. Diese Untersuchung diente zur Beantwortungfolgender, konkreter Forschungsfrage:// Welche Gestaltungsqualitäten im Marie von EbnerEschenbach-Park fördern oder beh<strong>in</strong>dern die Nutzung<strong>und</strong> Aneignung durch K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendlicheder KMS 18 <strong>und</strong> des BG 18?Theoretische H<strong>in</strong>tergründeDie Fragestellungen wurden vor dem theoretischenH<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> der Begriffe Raum, öffentlicher Raum, Nutzung,Gestaltung, Aneignung <strong>und</strong> Mobilität betrachtet.Zentral war hierbei das relationale Raumverständnis,welches davon ausgeht, dass Raum durch die <strong>in</strong> ihmlebenden Menschen <strong>und</strong> <strong>in</strong> ihm bef<strong>in</strong>dlichen D<strong>in</strong>gesowie deren Verhältnis zue<strong>in</strong>ander konstituiert wird(Schulz 2003: 27).Insbesondere die Raumkonzepte von Pierre Bourdieu(1999: 277ff) s<strong>in</strong>d für die Diplomarbeit bedeutsam.E<strong>in</strong>erseits gibt es enge Zusammenhänge zwischendem sozialen <strong>und</strong> geographischen Raum <strong>und</strong> demverfügbaren Kapital. Die Position im geografischenRaum hat E<strong>in</strong>fluss auf die verfügbaren Ressourcen <strong>und</strong>somit auf die Position im sozialen Raum <strong>und</strong> umgekehrt(Manderscheid 2008: 160). Die Position im sozialenRaum wird von der Struktur, dem Volumen sowie derzeitlichen Entwicklung der drei Kapitalsorten (soziales,<strong>kulturelle</strong>s <strong>und</strong> ökonomisches Kapital) geprägt. Haltensich beispielsweise SchülerInnen im Marie von EbnerEschenbach-Park auf, können sie dort soziales Kapital<strong>in</strong> Form von Fre<strong>und</strong>schaften <strong>und</strong> Netzwerken bilden.Andererseits bee<strong>in</strong>flusst die Position im sozialen Raumüber den Habitus den Lebensstil von Menschen. DerLebensstil zeigt sich <strong>in</strong> den typischen Handlungspraxenvon Gruppen <strong>in</strong> diesem sozialen Raum. Solch e<strong>in</strong>eHandlungspraxis äußert sich beispielsweise dar<strong>in</strong>, welcheöffentlichen Freiräume e<strong>in</strong>e Gruppe nutzt <strong>und</strong> sichaneignet. Wie sich diese Praxisformen der SchülerInnen<strong>in</strong> Bezug auf den Marie von Ebner Eschenbach-Parkzeigen, wurde im Zuge der Feldforschung untersucht.Methode ZukunftswerkstattDer empirische Teil der hier vorgestellten Diplomarbeitnäherte sich den Fragestellungen mit Methoden derqualitativen Sozialforschung an. Als qualitatives Erhebungsverfahrenwurde e<strong>in</strong>e Zukunftswerkstatt durchgeführt,bei der zwei Gruppen von SchülerInnen des BG18 (zehnte Schulstufe) <strong>und</strong> der KMS 18 (fünfte bis achteSchulstufe) im Rahmen der Werkstatt den Marie vonEbner Eschenbach-Park gestalteten. Außerdem wurdee<strong>in</strong>e teilnehmende Beobachtung durchgeführt <strong>und</strong> dasUntersuchungsgebiet anhand vorhandener statistischerDaten beschrieben. Die Materialien wurden mithilfevon qualitativen Analysemethoden <strong>in</strong>terpretiert <strong>und</strong>reflektiert. Daraus wurden Hypothesen generiert <strong>und</strong>mit den beteiligten SchülerInnen besprochen, um derenFeedback <strong>in</strong> die Ergebnisse e<strong>in</strong>fließen zu lassen.Der Schwerpunkt der Feldforschung lag <strong>in</strong> der Durchführunge<strong>in</strong>er Zukunftswerkstatt mit Gruppen vonSchülerInnen der beiden Schulen. Das Ziel bestand dar<strong>in</strong>,die subjektiven, lebensweltlichen E<strong>in</strong>stellungen derSchülerInnen bezüglich des Freiraums, sowie ihre Wünschezu erfahren <strong>und</strong> so auf allfällige Defizite <strong>und</strong> Problemeoder positive Aspekte rückschließen zu können.Zukunftswerkstätten s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> soziales Problemlösungsverfahren,<strong>in</strong> dem <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er methodisch-kreativenGruppenarbeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em offenen Prozess Themen <strong>in</strong>tensiverarbeitet werden. Dazu werden drei Phasen nache<strong>in</strong>anderdurchlaufen (Kuhnt/Müllert 1996: 12ff; Dauscher2006: 122ff): Die Beschwerde- bzw. Kritikphase, diePhantasie- bzw. Utopiephase <strong>und</strong> die Verwirklichungsbzw.Praxisphase. Da die Entwürfe der SchülerInnennicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Umbau des Parks mündeten, wurde dieletzte Phase durch Präsentation <strong>und</strong> Diskussion imPlenum realisiert. Die Ergebnisse der Werkstatt setztensich aus sieben Entwürfen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Sammlung derKritikpunkte der SchülerInnen, Protokollen <strong>und</strong> Fotosder Diplomand<strong>in</strong> zusammen.16 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


ErgebnisseDie Materialien wurden anhand der qualitativen Analysemethode„reduktionsorientiertes Codierverfahren“(nach Froschauer/Lueger 2003:158f) aufbereitet, um anschließendTypen zu bilden <strong>und</strong> Hypothesen zu generieren.Diese Ergebnisse wurden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er abschließendenForschungsphase mit den beteiligten Schüler<strong>in</strong>nenbesprochen <strong>und</strong> reflektiert. Der explorative Ansatz derForschung ermöglichte, relevante Zusammenhänge <strong>und</strong>Sichtweisen zu entdecken.TypenbildungDa die Feldforschung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e komplexe soziale Realitäte<strong>in</strong>gebettet war, mussten die wesentlichen Merkmaleder Beobachtungen durch Reduktion begreifbar gemachtwerden. Bestimmte Aspekte werden betont,andere ausgeblendet. Die Bildung von Typen <strong>und</strong> Typologienermöglicht es, e<strong>in</strong>e beschränkte Anzahl vonGruppen bzw. Begriffen zu identifizieren, um die sozialeRealität durch Strukturierung <strong>und</strong> Informationsreduktiongreifbar, <strong>und</strong> damit begreifbar zu machen (Kelle/Kluge 2010: 10). Die Charakterisierung der Typen erfolgt<strong>in</strong> Form von „idealtypischen Konstrukten“ (Kelle/Kluge2010: 105f). Diese geben die Wirklichkeit des E<strong>in</strong>zelfallsnicht deckungsgleich wieder, sondern betonen durchReduktion charakteristische Merkmalsausprägungen<strong>und</strong> Zusammenhänge der Gruppen. Aus der Analyseder Zukunftswerkstätten wurden zwei Typen generiert:der/die „KMS-18-SchülerIn“ <strong>und</strong> der/die „BG-18-SchülerIn“.Konstitutiv für die gewählte Typenbildung s<strong>in</strong>dalso weder Geschlecht, noch ethnische Herkunft, sonderndie Schule als konstitutives Milieu, das Lebenspraxenstrukturiert. Die beiden Typen unterscheiden sich<strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> folgenden Punkten:// Typ KMS-18-SchülerIn nutzt den Marie von EbnerEschenbach-Park <strong>und</strong> hält sich <strong>in</strong> ähnlichen Parks <strong>in</strong>der näheren Umgebung auf. Der Typ BG-18-SchülerInh<strong>in</strong>gegen nicht.// Die derzeitige Funktion des Parks spricht den TypKMS-18-SchülerIn an, der Typ nimmt die vorhandenenNutzungsangebote (z.B. Ballspielplätze) an <strong>und</strong>wünscht sich e<strong>in</strong> breiteres Angebot <strong>in</strong> diesem Bereich.Typ BG-18-SchülerIn h<strong>in</strong>terfragt die derzeitigeFunktion des Parks, wünscht sich andere Angebote,als derzeit vorhanden s<strong>in</strong>d.// Typ KMS-18-SchülerIn versucht, <strong>in</strong> den Entwürfenviele unterschiedliche Angebote unterzubr<strong>in</strong>gen,Typ BG-18-SchülerIn konzentriert sich h<strong>in</strong>gegen aufe<strong>in</strong>ige wenige.HypothesengenerierungDie beiden Typen, die aus dem Milieu der jeweiligenSchule resultierten, haben unterschiedliche Vorstellungen,wie der Marie von Ebner Eschenbach-Parkgestaltet se<strong>in</strong> sollte. Beide Gruppen besuchen andereFreiräume <strong>und</strong> beziehen diese <strong>in</strong> ihre Wünsche an denMarie von Ebner Eschenbach-Park e<strong>in</strong>. Sie reproduzierenbekannte Strukturen, Formen <strong>und</strong> Funktionen.Die SchülerInnen des BG 18 halten sich vorwiegend <strong>in</strong>größeren Landschaftsparks auf <strong>und</strong> ließen die dort vorgef<strong>und</strong>enenFormen <strong>und</strong> Funktionen <strong>in</strong> ihre Entwürfee<strong>in</strong>fließen (siehe Abbildungen 1 bis 4). Entlang der geschlungenenWege wurden Bänke e<strong>in</strong>geplant, zentralesElement waren Liegewiesen.Die SchülerInnen der KMS 18 halten sich hauptsächlich<strong>in</strong> so genannten Beserlparks 1 im dicht bebauten Stadtgebietauf. Sie übernahmen die dort vorgef<strong>und</strong>ene Nutzungsvielfalt<strong>und</strong> Dichte <strong>in</strong> ihre Entwürfe. Spiel-, Sport<strong>und</strong>Aufenthaltsbereiche bef<strong>in</strong>den sich im <strong>Zentrum</strong> desParks dicht beisammen, Hecken grenzten den Park vonden nahen Straßen <strong>und</strong> Häusern ab (siehe Abbildungen5 bis 8).Die SchülerInnen bezogen sich während der Zukunftswerkstattauf unterschiedliche Parks, die sie kennen.Sie trafen Aussagen wie „Wir wollen e<strong>in</strong>e Sitzhütte mitDach, im Schubertpark gibt es so was ...!“ (KMS 18)oder „Beim Weg gibt es e<strong>in</strong>en Brunnen, ähnlich wie derTürkenbrunnen im Türkenschanzpark.“ (BG 18). Auch<strong>in</strong> den Entwürfen waren diese „Referenzen“ klar zuerkennen, wie man <strong>in</strong> den Vergleichen <strong>in</strong> Abbildungen1 bis 4 <strong>und</strong> Abbildungen 5 bis 8 erkennen kann. Daherwurde folgende Hypothese formuliert:Die SchülerInnen der KMS 18 entwerfen e<strong>in</strong>en Beserlpark,die SchülerInnen des BG 18 e<strong>in</strong>en Landschaftspark.Jene Freiräume, die die SchülerInnen öfters besuchen,haben E<strong>in</strong>fluss darauf, welchen Freiraumtyp sie sichwünschen <strong>und</strong> nutzen wollen. Wenn der Marie vonEbner Eschenbach-Park ähnlich gestaltet ist <strong>und</strong> ähnlicheFunktionen bietet, wie jene Parks, <strong>in</strong> denen sich dieJugendlichen gerne aufhalten, dann s<strong>in</strong>d sie eher be-1„Beserlpark“ ist e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Wien typische Bezeichnung für e<strong>in</strong>ekle<strong>in</strong>e, wohngebietsbezogene (Daschütz 2006: 266) Parkanlage,die von Häusern umgeben ist. Die kle<strong>in</strong>en Parks dienen vorwiegendder wohnungsnahen Erholung <strong>und</strong> Freiraumnutzung. Sies<strong>in</strong>d oft von Verkehr umflossen, was ihren Nutz- <strong>und</strong> Erholungswertbee<strong>in</strong>trächtigt. Im Rahmen dieser Arbeit stellt der Begriffke<strong>in</strong>erlei Wertung dar.17 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


eit, ihn zu nutzen. Die SchülerInnen des BG 18 nutzentendenziell Landschaftsparks <strong>und</strong> wünschen sich daherauch e<strong>in</strong>en Landschaftspark. Die SchülerInnen der KMS18 nutzen tendenziell Beserlparks <strong>und</strong> wünschen sichdaher auch e<strong>in</strong>en Beserlpark.Der E<strong>in</strong>fluss der Gestaltung des Marie von EbnerEschenbach-Parks auf dessen Nutzung kann mitdem Konzept der Lebensstile nach Bourdieu (1999:277ff) dargestellt werden. Es hat sich gezeigt, dassdie SchülerInnen unterschiedliche Lebensstile, alsoDenk- <strong>und</strong> Handlungspraxen, entwickelt haben. DiesePraxisformen äußern sich unter anderem dar<strong>in</strong>, welcheAnforderungen sie an die Gestaltungsqualitätene<strong>in</strong>es Freiraums, also deren Funktion, Erlebnis- <strong>und</strong>Nutzungsqualitäten haben. Die Ansprüche der KMS 18SchülerInnen werden vom Marie von Ebner Eschenbach-Parkerfüllt, die der BG 18 SchülerInnen weniger.Ihrem Lebensstil entsprechen Landschaftsparks eher alsBeserlparks.Literatur:BMWF (2008): B<strong>und</strong>esm<strong>in</strong>isterium für Wissenschaft <strong>und</strong> Forschung,Redaktion: KulturKontakt Austria, Universitätsstraße 5,A-1010 Wien www.bmwf.gv.at: Sparkl<strong>in</strong>g Science > Schule ruftWissenschaft-Wissenschaft ruft Schule; www.paulofreirezentrum.at/documents/pdfs/.../Broschuere_Schulprojekte.pdf[Stand:27.10.2009]Bourdieu, Pierre (1999): Die fe<strong>in</strong>en Unterschiede – Kritik dergesellschaftlichen Urteilskraft. 11. Auflage. Frankfurt am Ma<strong>in</strong>:Suhrkamp.Daschütz, Petra (2006): Flächenbedarf, Freizeitmobililtät <strong>und</strong>Aktionsraum von K<strong>in</strong>dern <strong>und</strong> Jugendlichen <strong>in</strong> der Stadt.Dissertation an der Technischen Universität Wien, Fakultät fürBau<strong>in</strong>genieurswesen.Abbildungen 1 bis 4: Entwürfe der BG-SchülerInnen weisen Ähnlichkeiten zu Landschaftsparks auf; Quelle: D. HoffelnerBänke entlang der Wege, die sich durch den Park schlängeln (rechts: Türkenschanzpark)Große Liegewiesen nehmen e<strong>in</strong>en wichtigen Platz e<strong>in</strong> (rechts: Stadtpark)18 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


Abbildungen 5 bis 8: Entwürfe der KMS-SchülerInnen weisen Ähnlichkeiten mit Beserlparks auf; Quelle: D. HoffelnerBallspielplatz, K<strong>in</strong>derspielplatz <strong>und</strong> Sitzplätze bef<strong>in</strong>den sich direkt nebene<strong>in</strong>ander(rechts: Marie von Ebner Eschenbach-Park)Zur Straße h<strong>in</strong> grenzen dichte Hecken <strong>und</strong> Sträucher den Park ab (rechts: Dornerplatz, 17. Bezirk)Dauscher, Ulrich (2006): Moderationsmethode <strong>und</strong> Zukunftswerkstatt.Augsburg: Ziel-Verlag.Fasch<strong>in</strong>geder, Gerald/Novy, Andreas/Habersack, Sarah/Grosser,Simone (2010): Ungleiche <strong>Vielfalt</strong> der Mobilität. Aktion & Reflexion.Texte zur transdiszipl<strong>in</strong>ären Entwicklungsforschung <strong>und</strong>dialogische Bildung. Heft 5. Wien: <strong>Paulo</strong> <strong>Freire</strong> <strong>Zentrum</strong>.Froschauer, Ulrike/Lueger, Manfred (2003): Das qualitativeInterview. Zur Praxis <strong>in</strong>terpretativer Analyse sozialer Systeme.Wien: Facultas.Kelle, Udo/Kluge, Susann (2010): Vom E<strong>in</strong>zelfall zum Typus.Fallvergleich <strong>und</strong> Fallkontrastierung <strong>in</strong> der qualitativen Sozialforschung.Qualitative Sozialforschung. Band 15. Wiesbaden: VSVerlag für Sozialwissenschaften.KMS 18 (2010): http://www.schulen.wien.at/schulen/918022/media/Leitbilder%20der%20KMS%2018.htm [Stand: 5.10.2010]Kuhnt, Beate/Müllert, Norbert R. (1996): ModerationsfibelZukunftswerkstätten – verstehen, anleiten, e<strong>in</strong>setzen. Neu-Ulm:Ag Spak.Manderscheid Kathar<strong>in</strong>a (2008): Pierre Bourdieu – e<strong>in</strong> ungleichheitstheoretischerZugang zur Sozialraumforschung. In:Kessl, Fabian/Reutl<strong>in</strong>ger, Christian (Hrsg.): Schlüsselwerke derSozialraumforschung – Traditionsl<strong>in</strong>ien <strong>in</strong> Text <strong>und</strong> Kontexten.Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 155–171.Novy, Andreas (2009): Forschungsprogramm Sparkl<strong>in</strong>g Science:<strong>Vielfalt</strong> der Kulturen – ungleiche Stadt (unveröffentlicht).Ruland, Gisa (2003): Freiraumqualität im Geschoßwohnungsbau:Diskussion über die Qualität der Freiraumplanung immehrgeschossigen Wohnbau der 90er Jahre am Beispiel Wien.Stadtentwicklung Wien, Magistratsabteilung 18 (Werkstattberichte/Stadtentwicklung;55).Schulz, Ulrike (2003): Die soziale Konstitution von Raum <strong>und</strong>Mobilität im jugend<strong>kulturelle</strong>n Alltag. Dortm<strong>und</strong>: Dissertationan der Universität Dortm<strong>und</strong>.Ungleichevielfalt (2010):http://www.ungleichevielfalt.at/article13.htm [Stand: 6.10.2010]19 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


6. Raumnutzung von Jugendlichen <strong>in</strong> Wien –e<strong>in</strong>e qualitative AnalysePräsentation der Diplomarbeit von Kamil Horbaczynski im Rahmen destransdiszipl<strong>in</strong>ären Symposiums am 14. Oktober 2010Kamil HorbaczynskiE<strong>in</strong>leitung<strong>Soziale</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> Segregation <strong>in</strong> unserer Gesellschaftschränkt das Handlungspotenzial vieler Menschene<strong>in</strong>. Exklusionsdynamiken können unterschiedlicheFormen annehmen <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d häufig auf Herkunft,Geschlecht, Klasse, Elternhaus etc. zurückzuführen.Die Diplomarbeit, auf der dieser Text basiert, soll e<strong>in</strong>enBeitrag zur Untersuchung der räumlichen Alltagsstrategienvon Jugendlichen, geprägt von sozioökonomischer<strong>Vielfalt</strong> <strong>und</strong> <strong>Ungleichheit</strong>, leisten, wobei das Hauptaugenmerkder Nutzung von öffentlichen Räumen <strong>in</strong> derFreizeit von Jugendlichen gilt. Mit Hilfe e<strong>in</strong>es transdiszipl<strong>in</strong>ärenAnsatzes soll verstanden werden, wieJugendliche sich bestimmter Alltagstrategien bedienen.Von dieser Fragestellung ausgehend wird die sozialePraxistheorie von Pierre Bourdieu angewendet.MotivationDas Projekt „<strong>Vielfalt</strong> der Kulturen – Ungleiche Stadt“,das den Rahmen für die hier vorgestellte Diplomarbeitbot, folgt e<strong>in</strong>em dialogischen Ansatz zwischen SchülerInnen<strong>und</strong> StudentInnen <strong>und</strong> fördert dabei das gegenseitigeLernen. Die SchülerInnen der KooperativenMittelschule (KMS) 18 <strong>und</strong> des B<strong>und</strong>esgymnasiums(BG) 18 nahmen geme<strong>in</strong>sam mit Studierenden <strong>und</strong> DiplomandInnender Wirtschaftuniversität Wien (WU Wien)sowie engagierten LehrerInnen der beiden Schulen amProjekt teil (Grosser 2009).E<strong>in</strong> <strong>in</strong>teressanter Aspekt ist, dass sich das BG 18 <strong>in</strong>unmittelbarer Nähe der KMS 18 bef<strong>in</strong>det. Beide Schulenliegen im 18. Wiener Geme<strong>in</strong>debezirk <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d Teildesselben Stadtviertels. Dennoch gibt es wenig gegenseitigenAustausch bzw. Kommunikation zwischen denbeiden Schulen. Doris Hoffelner beschäftigt sich <strong>in</strong> ihrerDiplomarbeit mit dem Marie von Ebner Eschenbach-Park, der e<strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dungsglied beider Schulen se<strong>in</strong>könnte, jedoch überwiegend von den SchülerInnen derKMS 18 genutzt wird, während die SchülerInnen desBG 18 ke<strong>in</strong>en Bezug zum Park haben. Beide Schulenwissen vone<strong>in</strong>ander, allerd<strong>in</strong>gs unterscheidet sich ihrräumlicher Wirkungsbereich, sodass kaum Kontaktezwischen den beiden SchülerInnengruppen existieren(siehe Hoffelner <strong>in</strong> diesem Heft).Ausgangspunkt me<strong>in</strong>er Überlegungen ist die Annahme,dass es e<strong>in</strong> Zusammenwirken von Ressourcenausstattung<strong>und</strong> Raumnutzung bei Jugendlichen gibt. Vonhier aus lässt sich die Antwort auf die unterschiedlicheVerwendung von Räumen von Jugendlichen der beidenSchulen folgendermaßen erklären: Die Tatsache, dassdie SchülerInnen der beiden Schulen e<strong>in</strong>e andere soziale<strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> Herkunft haben, lässt darauf schließen,dass sich ihre Ausgangspositionen zur Raumnutzungvone<strong>in</strong>ander unterscheiden.20 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


Ziel der ArbeitMe<strong>in</strong>e Forschungsidee leitete sich aus dem Projekt„<strong>Vielfalt</strong> der Kulturen – Ungleiche Stadt“ ab <strong>und</strong>steht im Zusammenhang mit anderen Diplomarbeiten(siehe Beiträge Hoffelner <strong>und</strong> Borufka <strong>in</strong> diesem Heft). ImMittelpunkt me<strong>in</strong>er Forschungsfrage steht das ThemaMobilität. Demzufolge beziehe ich mich auf die räumlichenAlltagsstrategien von Jugendlichen, wobei ichdas Hauptaugenmerk auf die Nutzung von Räumen <strong>in</strong>deren Freizeit lege.Das Interesse me<strong>in</strong>er Diplomarbeit basierte auf derFrage, was Jugendliche <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er multi<strong>kulturelle</strong>n Stadttun: Woh<strong>in</strong> gehen sie? Mit wem <strong>in</strong>teragieren sie <strong>und</strong>wie handeln sie im Alltag?Ausgehend vom erwähnten Forschungs<strong>in</strong>teresse ist dieWechselwirkung zwischen dem <strong>kulturelle</strong>n (das sich imZugang zu e<strong>in</strong>er adäquaten Schulausbildung äußert),dem ökonomischen (das durch die Wohnsituationaber auch durch den Beruf der Eltern zum Ausdruckkommt) sowie dem sozialen Kapital (das sich <strong>in</strong> derReproduktion sozialer Beziehungen darstellen lässt) zuergründen <strong>und</strong> auf das Raumverhalten der Jugendlichenumzulegen. Ich bediente mich des gesellschaftstheoretischenAnsatzes von Bourdieu, der von e<strong>in</strong>erungleichen Verteilung von Kapitalsorten <strong>in</strong> der Gesellschaftausgeht <strong>und</strong> <strong>in</strong> der Folge soziale <strong>Ungleichheit</strong>begründet. Untersuchungsaspekte dieser Arbeit s<strong>in</strong>dEr<strong>in</strong>nerungen bzw. Erfahrungen der Jugendlichen überdie von ihnen aufgesuchten Räume. Ich richtete me<strong>in</strong>eAufmerksamkeit auf die Wahl der Erlebnisräume vonJugendlichen als reflektierte Umgangsweise mit demUmfeld <strong>und</strong> auf die Handlungsstrategien als reflektierteLebensweise der Jugendlichen. Ausschlaggebend war,die Bee<strong>in</strong>flussung der Handlungen von Jugendlichendurch die Interaktion mit ihrer Umwelt zu erfassen. AlsErhebungs<strong>in</strong>strument verwendete ich qualitative Methoden,die E<strong>in</strong>sichten <strong>in</strong> die soziale Welt der befragtenJugendlichen lieferten.ForschungsfrageDie vorangegangenen Überlegungen führten mich zufolgender Fragestellung:// Welche raumbezogenen Alltagsstrategien verfolgenJugendliche?Im E<strong>in</strong>zelnen sollte unter dem Sammelbegriff „raumbezogeneAlltagsstrategien“ geklärt werden, wieAktivitäten zustande kommen <strong>und</strong> an welchen Ortensie stattf<strong>in</strong>den. Die folgenden drei Aspekte dienten alsIndikatoren <strong>und</strong> standen <strong>in</strong> unmittelbarem Zusammenhangmit der Forschungsfrage:// Schauplatz,// Interaktion,// soziales Handeln.Ich betrachte verschiedene Arten von Räumen <strong>und</strong>verzichtete bei me<strong>in</strong>er empirischen Untersuchungauf e<strong>in</strong>e strikte Trennung des öffentlichen Raumes imtraditionellen S<strong>in</strong>ne. Die räumliche Unterscheidungwar dennoch für me<strong>in</strong>e Untersuchung relevant, weildie jeweiligen Raumarten verschiedene Sozialisationsfunktionendarstellen. E<strong>in</strong>en weiteren Untersuchungsaspektstellten die Aktivitäten von Jugendlichen unterBerücksichtigung des E<strong>in</strong>flusses der sozialen Umweltdar. In diesem Zusammenhang ersche<strong>in</strong>t es mir wichtig,den Begriff der Figuration zu verwenden. Figurationverweist auf das Verhältnis von Individuum <strong>und</strong> Gesellschaft.Das Individuum steht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmtenBeziehungsgeflecht mit anderen sozialen AkteurInnen.Demnach <strong>in</strong>teragieren e<strong>in</strong>zelne Personen mite<strong>in</strong>ander<strong>in</strong> den jeweiligen Figurationen <strong>und</strong> halten durch sozialeBeziehungen die gesellschaftliche Struktur zusammen(Treibel 2008: 23f.). Das heißt, Interaktion liegt vor, wennIndividuen sich <strong>in</strong> ihrem Erleben <strong>und</strong> Handeln auf dasErleben <strong>und</strong> Handeln anderer Individuen beziehen.<strong>Soziale</strong>s Handeln ist nun dadurch begründet, dassPersonen im Austauschprozess mit anderen Personenmittels Kommunikation die Situation def<strong>in</strong>ieren <strong>und</strong>folglich <strong>in</strong>teragieren. Demzufolge stellt Interaktion fürsoziales Handeln <strong>und</strong> soziale Strukturen e<strong>in</strong>e Gr<strong>und</strong>funktiondar.21 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


TheorieDas Aufwachsen <strong>in</strong>nerhalb bestimmter Lebensbed<strong>in</strong>gungenlässt darauf schließen, dass Jugendlicheaufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>es Sozialisationsprozesses Strukturenver<strong>in</strong>nerlichen, die ihnen Orientierung für ihr Handelnbieten. Bourdieu verweist auf den Begriff des Habitus,der im Zusammenhang mit Klasse, Geschlecht, Alter,Ethnie etc. steht. Demnach kommt e<strong>in</strong> bestimmterHabitus, der symbolisch übersetzt <strong>und</strong> im klassenspezifischenLebensstil Ausdruck f<strong>in</strong>det, zum Vorsche<strong>in</strong>(Bourdieu 1993: 81). Dieser Habitus wird verstärkt durchgesellschaftliche Machtverhältnisse, die voraussetzen,dass zum Beispiel den Geschlechtern e<strong>in</strong> spezifischerS<strong>in</strong>n zugeordnet wird <strong>und</strong> somit die Grenzen ihrerpraktischen Bewegungsmöglichkeiten gesellschaftlichvorgegeben s<strong>in</strong>d. Der Ansatz von Bourdieu geht vone<strong>in</strong>er ungleichen Verteilung von Kapitalsorten <strong>in</strong> derGesellschaft aus, die soziale <strong>Ungleichheit</strong> begründet.JedeR AkteurIn nimmt e<strong>in</strong>en bestimmten Platz imsozialen Raum e<strong>in</strong> <strong>und</strong> bewegt sich <strong>in</strong>nerhalb dieserSozialstruktur, die sich schließlich im Habitus manifestiert.Im Gr<strong>und</strong>e stellt der Habitus die Vermittlungvon Struktur <strong>und</strong> Handlung dar. Bourdieu beschreibtden sozialen Raum häufig als e<strong>in</strong> Feld, „<strong>in</strong> dem dieAkteure mit je nach ihrer Position <strong>in</strong> der Struktur desKraftfelds unterschiedlichen Mitteln <strong>und</strong> Zweckenmite<strong>in</strong>ander rivalisieren <strong>und</strong> auf diese Weise zu Erhaltoder Veränderung se<strong>in</strong>er Struktur beitragen“ (Bourdieu1998: 49f.). Die Position im sozialen Raum ist vomAusmaß <strong>und</strong> der Zusammensetzung der Kapitalsortenabhängig. Untersuchungsaspekte dieser Arbeit s<strong>in</strong>d<strong>in</strong>dividuelle Handlungen sowie der Zusammenhangzwischen Handlung <strong>und</strong> sozialem Raum, <strong>in</strong> dem sichdie Jugendlichen bewegen <strong>und</strong> positioniert s<strong>in</strong>d.Ausschlaggebend dabei s<strong>in</strong>d das Ausmaß <strong>und</strong> dieArt der sozialen Beziehungen (Netzwerke) sowie derZugang zu verschiedenen Kapitalsorten (ökonomisches,<strong>kulturelle</strong>s, soziales Kapital, etc.). Es handeltsich um Ressourcen, die den Jugendlichen das Handelnim Alltag erleichtern.Von hier aus lassen sich enge Zusammenhänge zwischenpraktischen Handlungen (subjektive Lebensweisen)<strong>und</strong> vorherrschenden räumlichen Strukturen(objektive Lebensbed<strong>in</strong>gungen) erkennen. Aus jederStruktur e<strong>in</strong>es sozialen Raumes gehen Regeln <strong>und</strong> Normenhervor, die e<strong>in</strong>e Lebensführung (Gestaltung desAlltags nach bestimmten Werten) ermöglichen. Dahers<strong>in</strong>d Kulturmuster <strong>und</strong> Lebensweisen an ihre Rahmenbed<strong>in</strong>gungengeknüpft. Darüber h<strong>in</strong>aus gehe ich davonaus, dass sozio<strong>kulturelle</strong> Muster mit gesellschaftlichkonstruierten Merkmalen wie z.B. Alter, Geschlecht <strong>und</strong>Herkunft <strong>in</strong> Zusammenhang gebracht werden müssen.Demzufolge s<strong>in</strong>d Lebensweisen Ausdruck unterschiedlicherHandlungsformen <strong>und</strong> auf sozio<strong>kulturelle</strong> Formierungender Menschen zurückzuführen.MethodeDie empirischen Daten wurden <strong>in</strong> Form von Befragungenerhoben. Die Anzahl der Interviews belief sich auf<strong>in</strong>sgesamt sieben. Bevorzugte Altersgruppen warenSchülerInnen der KMS 18 <strong>und</strong> des BG 18 im Alter vonfünfzehn bis sechzehn Jahren. Die Datenerhebung erfolgtedurch narrative Interviews mit zwei SchülerInnender KMS 18. Nachdem die Befragungen <strong>in</strong> der KMS18 abgeschlossen waren, führte ich problemzentrierteInterviews mit drei SchülerInnen aus dem BG 18 durch.Die zweite Befragungsmethode erschien mir <strong>in</strong>sofernals s<strong>in</strong>nvoll, weil dadurch e<strong>in</strong> breit gestreuter thematischerRahmen, der durch das narrative Interviewgewonnen wurde, fokussiert werden konnte. Die Interpretationnach Mayr<strong>in</strong>g (2002) erfolgte anhand e<strong>in</strong>ertextimmanenten Analyse e<strong>in</strong>zelner Bestandteile. Die imnächsten Abschnitt dargestellten Ergebnisse beruhenauf e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>haltlich strukturierten Auswertung, die Bezugauf die forschungsleitenden Thesen nimmt.ErgebnisdarstellungRessourcen wie zum Beispiel Wissen, Freizeit, sozialeKontakte, Dienste bestimmter Organisationen etc. vere<strong>in</strong>fachenJugendlichen den Umgang mit gesellschaftlichenSpielregeln <strong>und</strong> ermöglichen dadurch den Zugangzu Räumen. Das bedeutet, der Besitz e<strong>in</strong>er bestimmtenKapitalsorte (Geld, Beziehungen, etc.) eröffnet denZugang zu (privaten) Vere<strong>in</strong>en bzw. Organisationen,wodurch sich Jugendliche Fähigkeiten aneignen, dieihnen dann verhelfen, e<strong>in</strong>em bestimmten gesellschaftlichenMilieu anzugehören. Gleichzeitig werden bessereVoraussetzungen für soziale Kontakte geschaffen, dieweitere Gestaltungsmöglichkeiten für die Freizeit mitsich br<strong>in</strong>gen.Alle befragten SchülerInnen des BG 18 haben angegeben,dass sie e<strong>in</strong>e private Tanzschule besuchen. DieTanzschule ist als e<strong>in</strong> Ort anzusehen, der e<strong>in</strong>erseitsFähigkeiten vermittelt, andererseits den Jugendlichenverhilft, soziale Kontakte zu knüpfen. Die Aussagen derbefragten SchülerInnen erwecken den E<strong>in</strong>druck, als obsie die Mitgliedschaft als e<strong>in</strong> wesentliches Unterscheidungskriteriumzu Nichtmitgliedern e<strong>in</strong>er Tanzschule22 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


empf<strong>in</strong>den. Diese Unterscheidung manifestiert sich <strong>in</strong>Eigenschaften wie Kleidungsstil, Auftreten, Musikgeschmack<strong>und</strong> Bildung. Im Gr<strong>und</strong>e unterliegt das Verhaltender Jugendlichen e<strong>in</strong>er Struktur, die für sie nichtsichtbar ist, sondern unbewusst befolgt wird. DieseRegeln verdeutlichen, was im Rahmen dieses sozialenRaumes erlaubt bzw. verboten ist.In diesem Fall agieren Institutionen bzw. Organisationenals „Gatekeeper“, <strong>in</strong>dem sie <strong>in</strong>direkt <strong>in</strong> die Freizeitgestaltung<strong>in</strong>tervenieren <strong>und</strong> somit die Freizeit derJugendlichen prägen. Am Beispiel e<strong>in</strong>er Lehrer<strong>in</strong> des BG18, die Theaterkarten für ihre SchülerInnen h<strong>in</strong>terlässt,wird deutlich, <strong>in</strong> welcher Form die Schule ebenfalls dieFreizeit der Jugendlichen bee<strong>in</strong>flusst. Ob dieses Angebotgenutzt wird, hängt alle<strong>in</strong> von den SchülerInnenab. Nach Aussagen e<strong>in</strong>er Schüler<strong>in</strong> ist das e<strong>in</strong>e guteMöglichkeit, nach der Schule mit ihren KlassenkameradInnenetwas zu unternehmen.Die vorangegangenen Erkenntnisse führen mich zufolgenden Thesen:// Die Freizeitgestaltung der SchülerInnen ausdem BG 18 wird überwiegend von Institutionenbzw. Organisationen gestaltet.E<strong>in</strong> Beispiel von SchülerInnen der KMS 18 zeigt, dassebenso Personen aus dem Eltern-, Verwandten- oderBekanntenkreis E<strong>in</strong>fluss auf die Freizeitgestaltung derJugendlichen nehmen können. E<strong>in</strong>e Schüler<strong>in</strong> der KMS18 erzählte von ihrer Tante, die im Schwimmbad ander Kassa arbeitet <strong>und</strong> ihr dadurch kostenfreien E<strong>in</strong>trittermöglicht. Zusätzlich darf sie Fre<strong>und</strong>Innen mitnehmen,die ebenso ohne E<strong>in</strong>tritt zu bezahlen dort schwimmenkönnen. Demzufolge stellt die Beziehung zu ihrer Tantee<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuelle Ressource dar, die sich über das Gewährendes freien E<strong>in</strong>tritts äußert. Darüber h<strong>in</strong>aus verschafftihr dies Ansehen bei ihren Fre<strong>und</strong>Innen. DiesesAnsehen stellt im übertragenen S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>e Art symbolischesKapital dar, das e<strong>in</strong>e Machtressource ist. Aus denAussagen der KMS 18 SchülerInnen g<strong>in</strong>g hervor, dasssie ihre Freizeit bevorzugt mit Personen aus dem Verwandtenkreisoder näheren Fre<strong>und</strong>eskreis verbr<strong>in</strong>gen.Dies verweist darauf, dass diese Art von Beziehung aufVertrauen <strong>und</strong> Solidarität aufbaut <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>lage füremotionalen Zusammenhalt schafft.// Die Freizeitgestaltung der SchülerInnen ausder KMS 18 ist durch persönliche Beziehungengeprägt.Ausgehend von der Wechselwirkung der Kapitalarteneignen sich die SchülerInnen beider Schulenunterschiedliche Alltagsstrategien an. Es ist vor allementscheidend, welchen Stellenwert die vorhandenenKapitalarten im Alltag der Jugendlichen e<strong>in</strong>nehmen<strong>und</strong> welche Auswirkungen ihr E<strong>in</strong>satz auf das raumbezogeneVerhalten hat. Der E<strong>in</strong>satz e<strong>in</strong>er Kapitalart kannGr<strong>und</strong>lage für e<strong>in</strong>e weitere Anhäufung schaffen.Des Weiteren wird ersichtlich, dass die SchülerInnender KMS 18 überwiegend selbst für ihre Freizeitgestaltungverantwortlich s<strong>in</strong>d. Demzufolge beanspruchensie den öffentlichen Raum häufiger als die SchülerInnendes BG 18. Der öffentliche Raum bietet denJugendlichen Gelegenheit, unbeaufsichtigt die Freizeitzu verbr<strong>in</strong>gen. Abhängig davon, welche Bedürfnissedie Jugendlichen haben, setzen sie ihre Handlungen<strong>und</strong> nutzen zahlreiche Treffpunkte wie Spielplatz, Parkanlagenoder Fußgängerzonen etc. Das Handeln derJugendlichen f<strong>in</strong>det also an verschiedenen Orten statt,die mehr oder weniger formale Strukturen aufweisen.Für beide Gruppen spielt das soziale Kapital e<strong>in</strong>e wichtigeRolle für die Möglichkeit Räume zu nutzen, dieArt dieser Beziehungen ist jedoch gr<strong>und</strong>legend anders.Dieser Unterschied erklärt sich über die ungleicheAusstattung mit ökonomischem <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong>m Kapital,die unterschiedliche Formen des sozialen Kapitals(Jungschar, Musikschule, Verwandte, Parkbetreuung,etc.) notwendig <strong>und</strong> <strong>in</strong>teressant macht.Literatur:Bourdieu, Pierre (1993): Sagten Sie „populär“? In: Wulf,Christoph/Gebauer, Gunter (Hrsg.): Praxis <strong>und</strong> Ästhetik. NeuePerspektiven im Denken Pierre Bourdieus. Frankfurt am Ma<strong>in</strong>:Suhrkamp Verlag, 72–92.Bourdieu, Pierre (1998): Praktische Vernunft. Zur Theorie desHandelns. Frankfurt am Ma<strong>in</strong>: Suhrkamp Verlag.Grosser, Simone (2009): Von der „Brennpunktschule zur Herzeigeschule“.http://www.paulofreirezentrum.at/?art_id=884[Stand: 22.10.2010]Mayr<strong>in</strong>g, Philipp (2002): E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die qualitative Inhaltsanalyse.E<strong>in</strong>e Anleitung zu qualitativem Denken. We<strong>in</strong>heim:Beltz.Novy, Andreas (2007): Entwicklung gestalten. Gesellschaftsveränderungen<strong>in</strong> der E<strong>in</strong>en Welt: Brandes&Apsel.Treibel, Annette (2008): Die Soziologie von Norbert Elias. E<strong>in</strong>eE<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> ihre Geschichte, Systematik <strong>und</strong> Perspektiven.Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.23 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


7. Ungleiche Zukunft –Strategien <strong>und</strong> PerspektivenE<strong>in</strong>leitungK<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendliche mit migrantischem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>s<strong>in</strong>d mit unterschiedlichen Barrieren <strong>und</strong> Hürdenkonfrontiert. Der Zugang zu gesellschaftlichenBereichen wie Bildung, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Arbeitsmarktist außerdem für junge Menschen erschwert, derenEltern nicht nur im Ausland geboren s<strong>in</strong>d, sondern dieaus sozial benachteiligten Schichten kommen. So s<strong>in</strong>dBildungslaufbahnen von Jugendlichen mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>öfters durch ger<strong>in</strong>gere Bildungsabschlüsseoder schulische Misserfolge geprägt, als die von e<strong>in</strong>heimischenJugendlichen (Bauer/Ka<strong>in</strong>z 2007: 18). Diesverstärkt soziale <strong>und</strong> städtische Polarisierung.Die Diplomarbeit, die hier kurz vorgestellt werdensoll, untersucht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em qualitativ <strong>in</strong>terpretativenForschungsansatz, wie Mädchen mit migrantischemH<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> aus Familien der Unterschicht mitdem zweiten Bildungsübergang (Übergang von derSek<strong>und</strong>arstufe I zur Sek<strong>und</strong>arstufe II) umgehen, welche(Bildungs-)Ziele sie sich setzen, welche E<strong>in</strong>flussfaktoren<strong>in</strong> dieser Phase prägend s<strong>in</strong>d, was die Mädchen fördert,ihre Ziele zu erreichen <strong>und</strong> was sie daran h<strong>in</strong>dert. DieseFragen werden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>dividuellen <strong>und</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emgesellschaftlich-strukturellen Kontext analysiert.Forschung & MethodeForschungsfrageDie Forschungsfrage, die im Rahmen e<strong>in</strong>es zirkulärenForschungsansatzes (siehe Punkt 2.3) entstand, lautetfolgendermaßen:// „Welche Strategien verfolgen weibliche Jugendlichemit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> beim zweiten Bildungsübergang(Sek<strong>und</strong>arstufe I <strong>in</strong> die Sek<strong>und</strong>arstufe II)?“Das Forschungsziel besteht dar<strong>in</strong>, Gründe <strong>und</strong> E<strong>in</strong>flussfaktorenfür die jeweiligen Bildungsentscheidungenzu erforschen. Erfahrungen, welche die Mädchen mitMigrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> <strong>in</strong> dieser Phase erleben, sowiee<strong>in</strong>e umfassende Ause<strong>in</strong>andersetzung mit den Handlungsmustern<strong>und</strong> -strategien der Mädchen stehen imMittelpunkt des Forschungs<strong>in</strong>teresses.N<strong>in</strong>a BorufkaForschungspartner<strong>in</strong>nen & ForschungsfeldDie Forschungspartner<strong>in</strong>nen waren drei Mädchenaus der Kooperativen Mittelschule im 18. WienerGeme<strong>in</strong>debezirk (im Folgenden KMS 18) im Alter zwischen14 <strong>und</strong> 16 Jahren <strong>und</strong> mit unterschiedlichemmigrantischem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> (Pakistan, Indien, Türkei).Sie besuchten <strong>in</strong> der Zeit der geme<strong>in</strong>samen Forschungdie vierte Klasse der KMS 18 <strong>und</strong> standen allesamtvor der Entscheidung des zweiten Bildungsübergangs.Diese Mädchen kommen alle aus sozial benachteiligtenFamilien mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>, wodurch ihreAusgangslage bei dieser Entscheidungsf<strong>in</strong>dung bereitsdurch hohe <strong>Ungleichheit</strong> charakterisiert ist.Die KMS 18, das Forschungsfeld der Diplomarbeit, istmittlerweile schon über fünf Jahre Projektpartner derWirtschaftsuniversität Wien (WU Wien) <strong>und</strong> des <strong>Paulo</strong><strong>Freire</strong> <strong>Zentrum</strong>s <strong>und</strong> ist e<strong>in</strong>e Schule mit Besonderheit.Sie ist die e<strong>in</strong>zige öffentliche Hauptschule im 18.Bezirk, <strong>in</strong> der zum Großteil SchülerInnen mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>unterrichtet werden. Die <strong>Vielfalt</strong> derHerkunftsländer <strong>und</strong> Sprachen <strong>und</strong> der offene Umgangmit dieser Diversität machen diese Schule zu etwasBesonderem.MethodeDer Forschungsablauf orientierte sich an der Methodeder <strong>in</strong>terpretativen Sozialforschung, die sich mit e<strong>in</strong>ermöglichst offenen Gr<strong>und</strong>haltung dem Untersuchungsfeldannähert. Die Offenheit äußert sich unter anderemdadurch, dass die Methoden den Anforderungen derlaufenden Forschung angepasst werden können <strong>und</strong>sollen. E<strong>in</strong> wesentliches Kennzeichen des <strong>in</strong>terpretativenAnsatzes ist außerdem der zirkuläre Ablauf derForschung, was bedeutet, dass sich die Vorgehensweisenicht l<strong>in</strong>ear vollzieht, sondern nach Aneignung vonneuem Wissen immer wieder zu gewissen Ausgangspunktenzurückkehrt. Der Forschungsprozess bewegtsich mehrmals zwischen den Phasen der Erhebung,Interpretation <strong>und</strong> Prüfung, die jeweils durch abstrahierendeReflexionsphasen verb<strong>und</strong>en s<strong>in</strong>d (Froschauer/Lueger2009: 74f.). Die Themene<strong>in</strong>grenzung der Diplomarbeitwie auch die Konkretisierung der Forschungsfrageerfolgte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em solchen zirkulären Forschungsprozess.Als Erhebungsmethode wurden narrative Interviewsgewählt, als Auswertungsmethode das an die24 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


Abbildung 1: E<strong>in</strong>flussfaktoren für Bildungsentscheidung; Quelle: N. BorufkaGro<strong>und</strong>ed Theory angelehnte Verfahren des „zirkulärenDekonstruierens“ (Jaeggi et al. 1998). Diese Auswertungsmethodefolgt sechs Auswertungsschritten, wobeidie kommunikativ gewonnenen empirischen Daten„dekonstruiert“ werden, mit dem Ziel, diese Daten wiederso zusammenzustellen, dass implizite <strong>und</strong> latenteS<strong>in</strong>ngehalte sichtbar werden (Jaeggi et al. 1998: 5f.).ErgebnisdarstellungDie Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der Phase des zweitenBildungsübergangs erfolgte bei den drei Forschungspartner<strong>in</strong>nenäußerst unterschiedlich. Nichtsdestotrotzhaben sich Geme<strong>in</strong>samkeiten <strong>und</strong> zentrale E<strong>in</strong>flussfaktorenherauskristallisiert, die <strong>in</strong> dieser Phase ausschlaggebends<strong>in</strong>d. Diese s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> obenstehender Grafikabgebildet <strong>und</strong> werden anschließend beschrieben.FamilieDie Familien der Forschungspartner<strong>in</strong>nen spielen e<strong>in</strong>ebedeutende Rolle im Prozess der Bildungsentscheidung.Die Rolle der Familie ist allerd<strong>in</strong>gs widersprüchlich.Die Eltern, im Speziellen die Väter der Mädchen,tragen e<strong>in</strong>e gewisse Bildungserwartung an ihre Töchterheran. Bezüglich konkreter Unterstützungsleistung(Hausübungen, Orientierungshilfe bei Bildungsübergängenetc.) können sie jedoch nur e<strong>in</strong>e passive Rolleübernehmen. Die Gründe hierfür können bspw. mangelndeSprachkenntnisse, Schwierigkeiten aufgr<strong>und</strong>ger<strong>in</strong>ger oder nicht vorhandener Schulbildung <strong>und</strong> fehlendeInformation über das österreichische Bildungssystemse<strong>in</strong>.Die beschriebenen empirischen Ergebnisse decken sichmit Ergebnissen <strong>in</strong> der fachspezifischen Literatur. Diesebenennt die genannte Diskrepanz als „Gegensätzlichkeitzwischen Bildungsaspiration der Eltern <strong>und</strong> konkreterUnterstützungsleistung“ (Boos-Nünn<strong>in</strong>g/Karakaşoğlu2005: 199). Was die Mädchen jedoch allesamt erhalten,ist e<strong>in</strong>e „abstrakte Unterstützungsleistung“ durch ihreEltern. Diese äußert sich <strong>in</strong> der Befürwortung e<strong>in</strong>esBildungsaufstiegs der Töchter sowie <strong>in</strong> moralischerUnterstützung der K<strong>in</strong>der durch die Eltern (Hummrich2002: 17).Folgendes Zitat soll beispielhaft e<strong>in</strong>erseits die fehlendeaktive Unterstützungsleistung, andererseits die vorhandeneabstrakte Unterstützungsleistung bzw. die Freiheit<strong>in</strong> der Entscheidung der Bildungswahl darstellen.„Und de<strong>in</strong>e Eltern?‘‘T: (lacht)I: „Unterstützen dich de<strong>in</strong>e Eltern, oder (...)?“T: „Ja, also schon. Also wenn ich sage, was ich machenwill, dann sagen sie, ja das kannst du halt machen. (...)zu mir nicht sagen, dass ich das nicht machen soll, also,dass ich machen soll, was sie sagen. (Z. 39, InterviewTara)(Anm. Die Eigennamen der Forschungspartner<strong>in</strong>nenwurden anonymisiert.)Selbste<strong>in</strong>schätzung <strong>und</strong> UmfeldDie Selbste<strong>in</strong>schätzung der Mädchen bzgl. Bildungsentscheidungist ausgesprochen unterschiedlich. In Anbetrachtihrer schulischen Leistungen s<strong>in</strong>d ihre gesetztenBildungsschritte entweder von Zurückhaltung odervon Überschätzung geprägt. Somit ist die Selbste<strong>in</strong>schätzungder Forschungspartner<strong>in</strong>nen bzgl. Bildungskarriereallesamt <strong>in</strong>adäquat h<strong>in</strong>sichtlich der eigenenSchulleistungen. Dies kann zur Folge haben, dass dieMädchen e<strong>in</strong>erseits, wenn es bei den bescheidenen Bildungsabschlüssenbleibt, die sie momentan anstreben,ihr Potential <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise ausschöpfen. Auf der an-25 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


deren Seite birgt die Selbstüberschätzung e<strong>in</strong> gewissesFrustrationspotential <strong>in</strong> sich, da unrealistische, zu hochgesetzte Bildungsziele mit der tatsächlichen Schulleistungnur sehr schwer erreichbar s<strong>in</strong>d.Diese wenig realistischen Selbste<strong>in</strong>schätzungen <strong>und</strong>Vorhaben können darauf zurückzuführen se<strong>in</strong>, dass dieMädchen nur e<strong>in</strong>e unzureichende Bildungs- <strong>und</strong> Berufsberatung<strong>in</strong> der Schule erhalten haben. In ke<strong>in</strong>emInterview entstand der E<strong>in</strong>druck, trotz explizitem Nachfragenzu diesem Thema, dass die Schule diesbezüglichden SchülerInnen ausreichend Beratung geboten hat.Es lässt sich daraus schließen, dass diese Beratungsmaßnahmenentweder unzureichend waren oder dasssie bei den Mädchen schlichtweg nicht „angekommen“s<strong>in</strong>d.Unsicherheit <strong>und</strong> PerspektivenlosigkeitE<strong>in</strong>e gewisse Unsicherheit von SchülerInnen <strong>in</strong> Bildungsübergangsphasenist generell nichts Untypisches.Jedoch ist der Grad der Unsicherheit der Forschungspartner<strong>in</strong>nenim Gegensatz zu e<strong>in</strong>heimischen SchülerInnenohne Zweifel höher, da nur auf unzureichendesWissen über das Bildungssystem zurückgegriffenwerden kann. Zusätzlich können sich die befragtenSchüler<strong>in</strong>nen nicht darauf verlassen, dass die Elternsie <strong>in</strong> diesen Fragen unterstützen (können). Diesesunzureichende Wissen führt zu Orientierungslosigkeit,Unsicherheit <strong>und</strong> teilweise machen die Mädchen e<strong>in</strong>enperspektivenlosen E<strong>in</strong>druck, wenn es um ihre Zukunftgeht.H<strong>in</strong>zu kommt, dass sie sich nicht darüber im Klarens<strong>in</strong>d, wo sie <strong>in</strong> der Zukunft leben wollen, was die Situationder Forschungspartner<strong>in</strong>nen zusätzlich bee<strong>in</strong>trächtigt.Sie lassen allesamt die Entscheidung offen, ob sie<strong>in</strong> Österreich bleiben oder irgendwann <strong>in</strong> ihr Heimatlandzurückkehren werden. Diese Unschlüssigkeit wirdden Forschungspartner<strong>in</strong>nen teilweise von den Elternvorgelebt, die diese Entscheidung für sich ebenfallsoffen lassen.Sozioökonomische LageE<strong>in</strong> weiterer E<strong>in</strong>flussfaktor <strong>in</strong> der Phase des zweitenBildungsübergangs ist die sozioökonomische Lage derFamilien. Um e<strong>in</strong>ige Eckpunkte zu nennen: Die Familien(Eltern wie auch Töchter) s<strong>in</strong>d MigrantInnen der erstenGeneration; die Eltern der Mädchen bef<strong>in</strong>den sichallesamt <strong>in</strong> niedrigen Berufspositionen, Hilfsarbeiterpositionen,s<strong>in</strong>d auf Arbeitssuche oder gehen Haus- <strong>und</strong>Familienarbeiten nach.E<strong>in</strong> Gr<strong>und</strong> für den Widerspruch zwischen der Bildungsaspirationder Eltern an die K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> der Unmöglichkeite<strong>in</strong>er Unterstützungsleistung lässt sich unteranderem <strong>in</strong> der nachteiligen sozioökonomischen Lageder Familie f<strong>in</strong>den.Beispielsweise können schwache Schulleistungen nichtmit (privaten) Nachhilfest<strong>und</strong>en kompensiert werdenoder das <strong>in</strong>formelle Netzwerk der Familie, „wertvolle“Beziehungen, von denen die Töchter <strong>in</strong> Bildungs- <strong>und</strong>Berufsfragen profitieren könnten, ist äußerst beschränkt.Dies s<strong>in</strong>d nur beispielhafte Beschreibungen, welche dieAusgangslage der Forschungspartner<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> der Phasedes zweiten Bildungsübergangs prägen <strong>und</strong> teilweiseerschweren. Zusammenfassend kann gesagt werden,dass e<strong>in</strong>e Vielzahl der Herausforderungen der Mädchenzum heutigen Zeitpunkt auf e<strong>in</strong>e generelle „ungleiche“Position <strong>in</strong>nerhalb der Gesellschaft zurückzuführens<strong>in</strong>d.<strong>Ungleichheit</strong> prägte die Vergangenheit der Mädchen.Dies wirkt sich auf ihre Ist-Situation aus <strong>und</strong> hat e<strong>in</strong>engroßen E<strong>in</strong>fluss auf ihre Zukunftspläne.Literatur:Bauer, Fritz/Ka<strong>in</strong>z, Gudrun (2007): Benachteiligung von K<strong>in</strong>dernmit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> beim Bildungszugang. In: WISO (4),18–64.Boos-Nünn<strong>in</strong>g, Ursula/Karakaşoğlu, Yasem<strong>in</strong> (2005): Viele Weltenleben. Zur Lebenssituation von Mädchen <strong>und</strong> jungen Frauenmit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>. Münster: Waxmann.Froschauer, Ulrike/Lueger, Manfred (2009): Interpretative Sozialforschung:Der Prozess. Wien: Facultas.Hummrich, Merle (2002): Bildungserfolg <strong>und</strong> Migration. Opladen:Leske + Budrich.Jaeggi, Eva/Faas, Angelika/Mruck, Katja (1998): Denkverbotegibt es nicht! Vorschlag zur <strong>in</strong>terpretativen Auswertungkommunikativ gewonnener Daten. Forschungsbericht aus derAbteilung Psychologie am Institut für Sozialwissenschaften derTechnischen Universität Berl<strong>in</strong>, Nr. 98-2.26 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


8. Ungleiche Bildung <strong>in</strong> der StadtChrist<strong>in</strong>e BaurE<strong>in</strong>leitungSeit Beg<strong>in</strong>n der Teilnahme Deutschlands an den <strong>in</strong>ternationalenPISA-Studien im Jahr 2000 <strong>und</strong> den IGLU-Studien (Internationale Gr<strong>und</strong>schulleseuntersuchung/PIRLS) ab 2001 verg<strong>in</strong>g kaum e<strong>in</strong> Tag, an dem diedeutsche Bildungsmisere nicht Gegenstand von Presseberichten,Studien <strong>und</strong> politischen Debatten war. DerFokus richtete sich auf das niedrige Kompetenzniveauder schulpflichtigen K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendlichen mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>aus sozioökonomisch benachteiligtenVerhältnissen. In der Bildungsforschung wird diesbezüglichseit langem das mehrgliedrige Schulsystem<strong>in</strong> Deutschland, das die SchülerInnen im <strong>in</strong>ternationalenVergleich zu früh <strong>in</strong> leistungsbezogene Schulformenaufteilt, kritisiert (Solga/Wagner 2007).Die stadtsoziologische Forschung zu den Ersche<strong>in</strong>ungsformen<strong>und</strong> Ursachen sozialer <strong>Ungleichheit</strong> griff dieBildungsthematik auf <strong>und</strong> erweiterte sie um die Fragenach (sozial-) räumlichen Prozessen, die e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>flussauf Bildung haben. Sozialräumliche Segregationsprozesseals Folge von mehr oder weniger freiwilligenWanderungsbewegungen <strong>und</strong> Wohnstandortentscheidungenwerden im H<strong>in</strong>blick auf ihre Auswirkungen aufdie Bildungschancen von K<strong>in</strong>dern <strong>und</strong> Jugendlichen mitMigrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> analysiert (Häußermann 2008;Baur/Häußermann 2009).Der folgende Beitrag fragt nach den Ursachen derger<strong>in</strong>geren Bildungschancen dieser K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendlichen,die sich <strong>in</strong> den Ergebnissen der Schulleistungsstudien,den Schullaufbahnempfehlungen, Bildungsabschlüssen<strong>und</strong> dem Übergang <strong>in</strong> Ausbildung <strong>und</strong> Berufzeigen. Die vielfach kritisierte Schulstruktur bildet nure<strong>in</strong>e Seite der Benachteiligung ab. Vor allem <strong>in</strong> großstädtischenBallungsgebieten mit e<strong>in</strong>em wachsendenAnteil an K<strong>in</strong>dern mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> gibt esQuartiere mit e<strong>in</strong>er hohen Armutsquote der Bevölkerung<strong>und</strong> e<strong>in</strong>em hohen Anteil an Menschen mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>.Die lokalen Schulen werden überwiegendvon SchülerInnen mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>aus dem nahen Schulumfeld besucht, wobei Abwanderungsbewegungender besorgten bildungsbewusstenMittelschichtseltern unabhängig von ihrer ethnischenHerkunft aus diesen Quartieren die schulische Situationverschärfen, sodass von e<strong>in</strong>er ethnischen <strong>und</strong> sozialenSegregation <strong>in</strong> den Schulen gesprochen werden kann.Der Beitrag konzentriert sich auf die strukturelle Bildungsbenachteiligungvon K<strong>in</strong>dern <strong>und</strong> Jugendlichenmit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> im Kontext ethnischer <strong>und</strong>sozialer Segregation <strong>in</strong> Schulen <strong>und</strong> umliegenden Quartierenals zentralen E<strong>in</strong>zugsgebieten. Nach der Darstellungder Ergebnisse von den Schulleistungsstudien wirdder E<strong>in</strong>fluss von Schullaufbahnempfehlungen <strong>und</strong> derEntstehung von schwierigen Milieus an Schulen auf dieLeistungsentwicklung der K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendlichen mitMigrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> diskutiert. E<strong>in</strong>e Verfestigung benachteiligterBildungs- <strong>und</strong> Ausbildungskarrieren zeigtsich an den Bildungsabschlüssen <strong>und</strong> der mangelndenE<strong>in</strong>gliederung <strong>in</strong> den Ausbildungsmarkt. Anschließendwird die soziale Spaltung <strong>in</strong> der Stadt anhand der ethnischen<strong>und</strong> sozialen Segregation an Schulen am Beispiele<strong>in</strong>er Berl<strong>in</strong>er <strong>in</strong>tegrierten Haupt- <strong>und</strong> Realschulediskutiert. Es folgt e<strong>in</strong> Blick auf b<strong>und</strong>esweite Maßnahmenzur Erhöhung der Bildungschancen <strong>und</strong> konkreteReformen <strong>und</strong> Interventionen am Beispiel Berl<strong>in</strong>s.Vor diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> werden zum Abschluss Möglichkeitender städtischen Steuerung der sozialen Zusammensetzungder SchülerInnenschaft im H<strong>in</strong>blick aufdie Verbesserung von Bildungschancen diskutiert, umdie Entkoppelung von benachteiligender Schule <strong>und</strong>benachteiligendem Quartier zu ermöglichen.<strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> zeigt sich <strong>in</strong> denSchulleistungsstudien PISA <strong>und</strong> IGLUDie <strong>in</strong> Deutschland anhaltende Korrelation von Bildung<strong>und</strong> Bildungschancen mit der sozialen <strong>und</strong> ethnischenHerkunft haben die <strong>in</strong>ternationalen SchulleistungsstudienPISA (Programme for International Student Assessment)<strong>und</strong> die Gr<strong>und</strong>schulleseuntersuchung IGLUbei ihren mehrfachen Testungen seit dem Jahr 2000verdeutlicht. Im unteren Leistungssegment bef<strong>in</strong>densich vor allem K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendliche mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>.PISA-2006 (Schwerpunkt Naturwissenschaften)hat bei ihnen e<strong>in</strong>en Leistungsrückstand imVergleich zu den e<strong>in</strong>heimischen SchülerInnen von etwazwei Jahren gemessen, obwohl sie als Bildungs<strong>in</strong>länderInnendas deutsche Schulsystem komplett durchlaufenhaben. Damit haben die Studien auf erhebliche Defiziteim deutschen Bildungssystem aufmerksam gemacht.Sie zeigen, dass es dem deutschen Schulsystem nichtgel<strong>in</strong>gt, schulischen Erfolg <strong>und</strong> soziale Herkunft derSchülerInnen im Bildungsprozess zu entkoppeln. Wenn27 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


auch e<strong>in</strong>zelne Fortschritte bei der zweiten IGLU-Studie2006 <strong>in</strong> der Lesekompetenz gemessen werden konnten,so profitierte die Gruppe der K<strong>in</strong>der aus sozioökonomischbenachteiligten Verhältnissen – Eltern ohneBerufsausbildung, von staatlichen Transferleistungenabhängig oder prekär beschäftigt – kaum davon.Dass die Kompetenzen <strong>in</strong> der Gruppe der bei PISA getesteten15-Jährigen weiter ause<strong>in</strong>ander liegen als beiden getesteten Gr<strong>und</strong>schülerInnen, weist bereits aufdie Folgen e<strong>in</strong>er frühen Aufteilung der K<strong>in</strong>der nach vierJahren Gr<strong>und</strong>schulzeit auf die leistungsdifferenziertenSchulformen h<strong>in</strong>. Sie verfestigt <strong>und</strong> vergrößert die Leistungsunterschiede<strong>in</strong> der Schullaufbahn (AutorengruppeBildungsberichterstattung 2008).<strong>Soziale</strong> Herkunft bee<strong>in</strong>flusst dieSchullaufbahnempfehlungDie am Ende der Gr<strong>und</strong>schulzeit ausgestelltenSchullaufbahnempfehlungen bergen die Gefahr, dassnicht nur die harten Kriterien wie Schulnoten handlungsleitends<strong>in</strong>d, sondern e<strong>in</strong>e Erfolgsprognose nachsozialer <strong>und</strong> ethnischer Herkunft der K<strong>in</strong>der erfolgt.Mehrere Studien zeigten, dass K<strong>in</strong>der aus MigrantInnenfamilienbessere Leistungen als ihre deutschenMitschülerInnen erbr<strong>in</strong>gen müssen, um e<strong>in</strong>e Gymnasialempfehlungzu erhalten (Ditton 2007; Gomolla/Radtke2007; Bos 2007). Ethnische <strong>und</strong> soziale <strong>Ungleichheit</strong>wird dadurch verfestigt, dass der Übergang bei gleichenkognitiven Voraussetzungen an verschiedeneSchultypen zu e<strong>in</strong>em unterschiedlichen Lernzuwachsführt (Baumert/Stanat/Watermann 2006b; Ditton 2007). E<strong>in</strong>Schulplatz am Gymnasium sichert e<strong>in</strong>en deutlich größerenLernfortschritt des K<strong>in</strong>des als an der Hauptschuleoder der Realschule. Die Aufteilung der SchülerInnennach der Gr<strong>und</strong>schule auf die e<strong>in</strong>zelnen Schultypenzeigt e<strong>in</strong>e hohe Diskrepanz zwischen Deutschen <strong>und</strong>SchülerInnen mit e<strong>in</strong>em ausländischen Pass auf. Sogelangen 40,5% der AusländerInnen auf die Hauptschule,<strong>in</strong> noch höherem Maße SchülerInnen mit türkischem<strong>und</strong> italienischem Pass (vgl. Deutsche: 20%). Aufdas Gymnasium gelangen mehr als doppelt so vieleDeutsche wie AusländerInnen (B<strong>und</strong>esregierung 2007).Welche Folgen der Übergang <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Hauptschule hat,wird im nächsten Kapitel aufgezeigt.Schule <strong>und</strong> Sozialraum polarisierensichIn den PISA-Studien wurde für Deutschland e<strong>in</strong>ebeträchtliche Anzahl an Hauptschulen als Schulen„<strong>in</strong> schwierigem Milieu“ klassifiziert, die zu e<strong>in</strong>emüberwiegenden Anteil von SchülerInnen aus prekärensozialen Verhältnissen besucht werden (Baumert/Stanat/Watermann 2006b; Stanat 2003). Kennzeichnend für dieseSchulen ist e<strong>in</strong>e homogene Sozialstruktur, <strong>in</strong> der die Zusammensetzungder SchülerInnenschaft e<strong>in</strong>e Häufungvon Risiko- <strong>und</strong> Belastungsfaktoren aufweist (Baumert/Stanat/Watermann 2006a). Die SchülerInnen kommenzu e<strong>in</strong>em hohen Prozentsatz aus sozioökonomischbenachteiligten Familien <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d oftmals WiederholerInnen.Zahlreiche Studien stellen e<strong>in</strong>en negativenLeistungseffekt <strong>in</strong> Schulen mit zunehmendem Anteil anSchülerInnen, die zuhause nicht Deutsch sprechen <strong>und</strong>aus sozioökonomisch benachteiligten Familien kommen,fest (Stanat 2006: 195f). Es kann damit von e<strong>in</strong>er<strong>in</strong>stitutionellen Verstärkung der Nachteile durch die sozialeHerkunft gesprochen werden, wenn SchülerInnenaus unterprivilegierten Verhältnissen mit schulischenSchwierigkeiten den Großteil der Klassen bilden <strong>und</strong>die LehrerInnen die Leistungsanforderungen nach untenanpassen (Schümer 2004: 102f). In großstädtischenBallungsgebieten mit e<strong>in</strong>er hohen Ausdifferenzierungdes Schulsystems spiegelt sich <strong>in</strong> den Schulen nichte<strong>in</strong>fach die soziale Zusammensetzung der Wohnumgebungbzw. des E<strong>in</strong>zugsbereichs wider, sondern es zeigtsich dort oft e<strong>in</strong>e stärkere Konzentration von sozialenProblemen als im Wohnumfeld.Dabei gibt es mehrere Dynamiken, die am BeispielBerl<strong>in</strong>s verdeutlicht werden sollen. Zum e<strong>in</strong>en zeigtdas seit Beg<strong>in</strong>n der 2000er Jahre erhobene Monitor<strong>in</strong>gsoziale Stadtentwicklung, dass <strong>in</strong> Quartieren mit e<strong>in</strong>erhohen Konzentration von Problemen e<strong>in</strong> Wegzug vonFamilien mit K<strong>in</strong>dern vor der E<strong>in</strong>schulung zu verzeichnenist. Sie entfliehen damit der nach dem Berl<strong>in</strong>erSchulgesetz vorgesehenen Zuweisung e<strong>in</strong>es Schulplatzes<strong>in</strong> Wohnortnähe, dem Gr<strong>und</strong>schule<strong>in</strong>zugsbereich.Zum anderen bleiben Familien vor Ort <strong>und</strong> verfolgendie Strategie, ihre K<strong>in</strong>der an ihrer mittelschichtsorientiertenWunschschule mit Sche<strong>in</strong>adressen bzw. an e<strong>in</strong>erPrivatschule unterzubr<strong>in</strong>gen. Dadurch polarisiert sichsowohl die sozialräumliche Struktur der Stadt wie auchdie der Schulen, sodass von e<strong>in</strong>er gespaltenen K<strong>in</strong>dheitmit ungleichen Lebensbed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong> der Stadtgesprochen wird (Häußermann 2007). Die Entstehungvon Schulen mit e<strong>in</strong>er sozial <strong>und</strong> ethnisch entmischten28 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


SchülerInnenschaft ist damit nicht dem Wunsch derSchülerInnen geschuldet, unter ihresgleichen zu bleiben,sondern e<strong>in</strong>e Folge der Flucht der mit besserenRessourcen ausgestatteten Mittelschicht.Der mangelnde Schulerfolg ist also von mehreren Faktorenabhängig: Er ist e<strong>in</strong>e Folge von sozialer Herkunft,von räumlicher Konzentration sozialer Probleme <strong>und</strong>von <strong>in</strong>stitutionell verstärkten Nachteilen bei fehlendersozialer Mischung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em niedrig qualifizierendenSchultyp. Welche Folge dies für die schulischen Abschlüsse<strong>und</strong> die E<strong>in</strong>mündung <strong>in</strong> das Ausbildungssystemhat, ist das Thema des nächsten Kapitels.Mangelnde Bildungsabschlüsse führen<strong>in</strong> die SackgasseBildungsbenachteiligung bei denBildungsabschlüssenIm Jahr 2008 verließen 15% der AusländerInnen <strong>und</strong>6,2% der Deutschen die Schule ohne e<strong>in</strong>en Hauptschulabschluss(Statistisches B<strong>und</strong>esamt 2010). Die Zahl dersogenannten SchulabbrecherInnen kommt hauptsächlichdurch die AbgängerInnen aus Förderschulen zustande,die zu 76% <strong>in</strong> ihrer Schulart <strong>und</strong> zu 55% unterallen AbgängerInnen <strong>und</strong> AbsolventInnen ke<strong>in</strong>en qualifiziertenAbschluss erreichen (Klemm 2010: 17f). Dabeiwerden ausländische SchülerInnen doppelt so häufigan Förderschulen beschult als Deutsche. H<strong>in</strong>gegenhaben deutsche SchülerInnen mit 30,5% e<strong>in</strong>e knappdreifache Chance auf die Hochschulreife im Vergleichzu jenen mit e<strong>in</strong>em ausländischen Pass (10,7%). Damitführt der Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> <strong>in</strong> allen Stufen desSchulsystems zu Benachteiligungen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung2008: 11), die nach der allgeme<strong>in</strong>bildendenSchulzeit um so mehr wirken, je ger<strong>in</strong>ger dererworbene Schulabschluss ist.Exklusion bei der E<strong>in</strong>gliederung <strong>in</strong> denAusbildungsmarktDer Hauptschulabschluss gilt bei steigenden Anforderungen<strong>in</strong> den Ausbildungsberufen als M<strong>in</strong>destvoraussetzungfür den Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er Berufsausbildung.Statistisch gesehen haben Jugendliche mit ihm jedochger<strong>in</strong>ge Chancen auf e<strong>in</strong>en Ausbildungsplatz. DieHandwerkskammern beklagen die mangelnde Ausbildungsreifevieler SchülerInnen, die sich <strong>in</strong> Lese-,Rechen- <strong>und</strong> Schreibschwächen bemerkbar machen<strong>und</strong> Betriebe greifen nach Möglichkeit auf (Fach-/)HochschulabsolventInnen zurück, wenn es um dieBesetzung von Ausbildungsplätzen geht. Dies zeigtalle<strong>in</strong> die hohe Zahl von etwa 300.000 nicht versorgtenAltbewerberInnen (Beicht/Friedrich/Ulrich 2007:7f). InDeutschland hat sich e<strong>in</strong> massives Übergangssystemherausgebildet, das SchülerInnen ohne Anschlussperspektivenach der Allgeme<strong>in</strong>bildenden Schule auffangen<strong>und</strong> qualifizieren soll. Alle<strong>in</strong> im Jahr 2008 wurde diesesÜbergangssystem mit 76.000 SchülerInnen ohneChancen auf dem ersten Ausbildungsmarkt gespeist.Die Verteilung der Neuzugänge auf die drei Sektorendes beruflichen Ausbildungssystems – duales System,Schulberufssystem <strong>und</strong> Übergangssystem – zeigt e<strong>in</strong>eDiskrepanz zwischen AusländerInnen <strong>und</strong> Deutschenzuungunsten der AusländerInnen. Deutlich mehr AusländerInnenkonzentrieren sich im Übergangssystem,also außerhalb von Berufsschule <strong>und</strong> dualem System.Dabei zeigt sich: je niedriger der Abschluss, desto größerdie Diskrepanz zwischen Deutschen <strong>und</strong> AusländerInnen<strong>in</strong> der E<strong>in</strong>mündung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e duale Ausbildung.Übergangsprobleme zeigen sich nicht nur im direktenAnschluss an das allgeme<strong>in</strong>bildende Schulsystem,sondern auch über e<strong>in</strong>en längeren Zeitraum. DasB<strong>und</strong>es<strong>in</strong>stitut für Berufsbildung konnte beispielsweisenachweisen, dass es Jugendlichen mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong><strong>in</strong> besonderem Maße erschwert ist, imAnschluss an die allgeme<strong>in</strong>bildende Schule kurzfristig<strong>in</strong> das Ausbildungssystem zu gelangen (Beicht/Friedrich/Ulrich2007). 50% von ihnen erreichten erst nach17 Monaten e<strong>in</strong>en Ausbildungsplatz (im Vergleich:Deutsche ohne Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>: 3 Monate).Nach zweie<strong>in</strong>halb Jahren lag die Übergangsquote vonJugendlichen mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> bei 60%, beiden Jugendlichen ohne Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> bei77% trotz gleicher Bildungsabschlüsse (Beicht/Friedrich/Ulrich 2007). Damit s<strong>in</strong>d Jugendliche mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>deutlich schlechter beruflich <strong>in</strong>tegriert <strong>und</strong>bef<strong>in</strong>den sich am längsten im beruflichen Übergangssystemzwischen allgeme<strong>in</strong> bildender Schule <strong>und</strong> vollqualifizierender Berufsausbildung. Knapp die Hälfteder Jugendlichen mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> mündet<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e Berufsausbildung e<strong>in</strong> <strong>und</strong> hat angesichts desAbbaus an niedrig qualifizierten Arbeitsplätzen ke<strong>in</strong>eChance auf e<strong>in</strong>e gesicherte Berufsperspektive. Aus dieserEntwicklung ist zu schlussfolgern, dass Risiken e<strong>in</strong>erlangfristigen sozialen Exklusion vorliegen (AutorengruppeBildungsberichterstattung 2008: 213).29 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


Abbildung 1: Verteilung der Neuzugänge auf die drei Sektoren des beruflichen Ausbildungssystems 2008 nach schulischer Vorbildung<strong>und</strong> Staatsangehörigkeit; Quelle: Konsortium Bildungsberichterstattung 2010: 99<strong>Soziale</strong> Spaltung <strong>in</strong> der Stadt – dieethnische <strong>und</strong> soziale Segregation <strong>in</strong>Berl<strong>in</strong>er SchulenVergleichbar den Stadtstaaten Bremen <strong>und</strong> Hamburgliegt auch Berl<strong>in</strong> beim PISA-Rank<strong>in</strong>g auf e<strong>in</strong>em derletzten Plätze. H<strong>in</strong>zu kommt e<strong>in</strong>e hohe SchulabbrecherInnenquotevon 25%, die 2006 zur Entwicklung des„Arbeitsprogramms Hauptschulen“ führte. Mit Hilfevon mehr Praxisorientierung (vor allem im Rahmen derPraxisklassen für abschlussgefährdete SchülerInnen)<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er verstärkten Kooperation mit dem Wirtschaftssektor<strong>und</strong> anderen PartnerInnen sollte die Quote derAbbrecherInnen bis 2010 halbiert werden.Längst war die Berl<strong>in</strong>er Hauptschule e<strong>in</strong>e unbeliebte„Restschule“, die jährlich von immer weniger SchülerInnenbesucht wurde, zuletzt von ca. 7% der SchülerInnenschaft.Die Hauptschulen <strong>in</strong> den migrantischgeprägten <strong>in</strong>nerstädtischen Ortsteilen Kreuzberg,Wedd<strong>in</strong>g <strong>und</strong> Neukölln hatten e<strong>in</strong>en hohen Anteil anSchülerInnen mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>, <strong>in</strong> der Amtssprache„nichtdeutscher Herkunftssprache“. An derZahl der Lernmittelbefreiungen der K<strong>in</strong>der, die e<strong>in</strong>estatistische Erhebung zum Transferleistungsbezug derFamilien erlaubt, wird deutlich, dass sich <strong>in</strong> diesenSchulen ethnische <strong>und</strong> soziale Segregation besondersüberlagern, was am Schulalltag des nächsten Kapitelsnachvollziehbar ist.E<strong>in</strong>e Haupt- <strong>und</strong> Realschule vor der SchulreformAn dieser Stelle soll e<strong>in</strong>e Haupt- <strong>und</strong> Realschule beispielhaftvorgestellt werden.Die <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Kreuzberg liegende Schule wird seit 2003ausschließlich von Jugendlichen mit türkischem, kurdischem<strong>und</strong> arabischem Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> besucht.E<strong>in</strong> Teil der SchülerInnenschaft wählte die Schule aus,viele jedoch landeten dort aus „RückläuferInnenkarrieren“oder bed<strong>in</strong>gt durch biografische Brüche: DieSchullaufbahn der RückläuferInnen startete oftmals30 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


entgegen der Gr<strong>und</strong>schulempfehlung an e<strong>in</strong>em Gymnasium,dem dortigen Scheitern <strong>in</strong>nerhalb des Probehalbjahresfolgte die Abschulung an e<strong>in</strong>e Realschule<strong>und</strong> das Sitzenbleiben nach e<strong>in</strong>em weiteren Jahr führtezur Überweisung an die Haupt- <strong>und</strong> Realschule. DieSchülerInnen kommen überwiegend aus e<strong>in</strong>em Umkreisvon ca. zwei Kilometern. Die dort lebenden 0–18jährigenhaben zu 67% Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> 50%der K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendlichen leben von ArbeitslosengeldII <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d von Armut betroffen.Die Eltern bestritten im Jahr 2009 zu 93% ihren Lebensunterhaltmithilfe staatlicher Transferleistungenverschiedener Art, im Vergleich zu den Zahlen der Vorjahre<strong>in</strong> der Tendenz steigend. Die überwiegende Anzahlder Eltern hat ke<strong>in</strong>e qualifizierte Berufsausbildung<strong>und</strong> ist mehrheitlich arbeitslos oder prekär beschäftigt.Bei den <strong>in</strong> der Regel k<strong>in</strong>derreichen Familien kann vone<strong>in</strong>em verfestigten Sozialleistungsbezug ausgegangenwerden, der im Familien- <strong>und</strong> Schulalltag se<strong>in</strong>e Spurenh<strong>in</strong>terlässt. Nahezu alle SchülerInnen haben unentschuldigteFehlzeiten von Beg<strong>in</strong>n ihrer E<strong>in</strong>schulungan. H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> dieser Fehlzeiten s<strong>in</strong>d zumeist nichtbewilligte Urlaubsanträge außerhalb der Ferienzeiten,sprachliche Unterstützung der Eltern bei Ämtergängen<strong>und</strong> Arztbesuchen <strong>und</strong> das Beaufsichtigen jüngererGeschwister. In manchen Fällen entstehen Fehlzeitenzudem durch Jobs, denen die SchülerInnen nachgehen,um das Familiene<strong>in</strong>kommen zu verbessern. Elterngespräche<strong>in</strong> der Schule <strong>und</strong> bei Hausbesuchen gebene<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> oftmals beengte Wohnverhältnisse,E<strong>in</strong>schränkungen durch chronische Erkrankungen <strong>und</strong>Orientierungsschwierigkeiten wegen ger<strong>in</strong>ger Deutschkenntnisse.Die meisten Eltern haben hohe Bildungsaspirationenfür ihr K<strong>in</strong>d, kennen jedoch kaum das deutscheSchul- <strong>und</strong> Ausbildungssystem, zumal sie diesespersönlich nicht durchlaufen haben. Letztlich könnenviele SchülerInnen bei der Bewältigung schulischer Anforderungenauf nur wenig elterliche Unterstützungsleistungenzurückgreifen.Besondere Förderangebote der SchuleAngesichts dieser Problematik bietet die Schule nebendem Konzept der durchgängigen Sprachförderung(Hawighorst/Knoll 2010; Universität Hamburg 2006) mite<strong>in</strong>em multidiszipl<strong>in</strong>ären Team aus LehrerInnen, SozialpädagogInnen<strong>und</strong> außerschulischen KooperationspartnerInnenMaßnahmen <strong>und</strong> Hilfestellungen an, umdie Bildungschancen der Jugendlichen zu vergrößern.Die Erfolge <strong>in</strong> Bezug auf die schulischen Abschlüsse<strong>und</strong> die E<strong>in</strong>mündung <strong>in</strong> die berufliche Ausbildung s<strong>in</strong>ddennoch ger<strong>in</strong>g. Im Jahr 2010 lag die Bestehensquoteder Mittleren Schulabschlüsse bei 24% <strong>und</strong> damit weitunter dem Durchschnitt des Bezirks <strong>und</strong> des LandesBerl<strong>in</strong>. Dies ist angesichts der umfangreichen Förderung<strong>und</strong> sozialpädagogischen Betreuung e<strong>in</strong> Zeichenfür den Sog der sozialen Entmischung der Schule. Nurwenige SchulabsolventInnen gelangen auf den erstenAusbildungsmarkt <strong>und</strong> die meisten landen im bereitsbeschriebenen Übergangssystem oder starten e<strong>in</strong>enerneuten Anlauf, um den mittleren Schulabschluss zuerlangen. Dabei erfolgte <strong>in</strong> den letzten Jahren e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>tensive Berufsorientierung <strong>und</strong> -vorbereitung <strong>in</strong>Kooperation mit außerschulischen PartnerInnen wiedem Quartiersmanagement, lokalen Bildungs<strong>in</strong>itiativen,dem Netzwerk Berufsausbildung, der Agentur fürArbeit, außerbetrieblichen Ausbildungsstätten <strong>und</strong> Jobcoaches.Die aktive Unterstützung der Jugendlichen aufihrem Weg zur Berufsf<strong>in</strong>dung <strong>und</strong> der Suche nach Praktikums-<strong>und</strong> Ausbildungsplätzen verdeutlichte zahlreicheH<strong>in</strong>dernisse bei der Ausbildungse<strong>in</strong>gliederung. DieAkquise von Praktikumsplätzen ergab e<strong>in</strong>e häufige Ablehnungvon Jungen mit muslimischem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> mitder Begründung, dass man schlechte Erfahrung mit derE<strong>in</strong>passung <strong>in</strong> den Betriebsalltag gemacht habe. Bedenkengab es von Personalverantwortlichen <strong>in</strong> Bezugauf die möglicherweise ablehnende Reaktion von K<strong>und</strong>Innenbei Praktikant<strong>in</strong>nen mit Kopftuch (Baur/Wiese2007). Geschilderte Erfahrungen von Jugendlichen beiVorstellungsgesprächen be<strong>in</strong>halteten diskrim<strong>in</strong>ierendeFragen nach den Deutschkenntnissen ihrer Eltern <strong>und</strong>der ethnischen Herkunft. Damit wirken neben der vonder Handelskammer beklagten fehlenden Ausbildungsreifediskrim<strong>in</strong>ierende Mechanismen bei der mangelndenE<strong>in</strong>mündung <strong>in</strong> den Ausbildungsmarkt.Die soziale <strong>und</strong> ethnische Segregation <strong>in</strong> den Schulenhat also weit ausgreifende, benachteiligende Wirkungen.Das nächste Kapitel gibt e<strong>in</strong>en kurzen Überblicküber b<strong>und</strong>esweite Maßnahmen <strong>und</strong> Reformen zurErhöhung der Bildungschancen <strong>und</strong> stellt die Berl<strong>in</strong>erSchulreform vor.31 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


Maßnahmen zur Erhöhung der BildungschancenBildungsreformen <strong>in</strong> DeutschlandDie Debatte über den durch die demografischeEntwicklung zunehmenden Arbeitskräftemangel <strong>in</strong>Deutschland <strong>und</strong> die gleichzeitige Bildungsmisere hatauf dem nationalen Integrationsgipfel im November2010 e<strong>in</strong>en Aktionsplan hervorgebracht, der die Quoteder deutschen <strong>und</strong> ausländischen SchulabbrecherInnenbis zum Jahr 2015 nivellieren soll. In vielen B<strong>und</strong>esländernwerden Reformansätze diskutiert, die nicht nur ane<strong>in</strong>er Schulstrukturreform ansetzen, sondern den E<strong>in</strong>bezuglokaler <strong>und</strong> kommunaler KooperationspartnerInnenmitvorsehen. Übere<strong>in</strong>stimmung besteht unter den B<strong>und</strong>esländerndar<strong>in</strong>, dass der Bedarf an e<strong>in</strong>er Sprachförderungder K<strong>in</strong>der im vorschulischen Alter mit Sprachtestsermittelt <strong>und</strong> e<strong>in</strong> entsprechendes Förderangebotbereit gestellt werden muss, da Sprachkenntnisse e<strong>in</strong>eSchlüsselkompetenz für Bildung <strong>und</strong> für e<strong>in</strong>e langfristigeIntegration s<strong>in</strong>d. Die Festlegung von Bildungsstandardsbezieht damit bereits die K<strong>in</strong>dertagesstätten e<strong>in</strong>.Eltern werden zunehmend als PartnerInnen gesehen,deren Erziehungskompetenz durch die Förderung partizipativerStrukturen im Schulalltag mehr E<strong>in</strong>gang f<strong>in</strong>denmuss (thematische Elterncafés, Elternschule, Elternals MentorInnen usw.). Vorausgegangen war die Verpflichtungaller Schulen zur Schulentwicklungsplanung<strong>und</strong> Evaluation zur Qualitätssteigerung. Die E<strong>in</strong>führungder Ressourcenzuteilung an den Schulen e<strong>in</strong>iger B<strong>und</strong>esländernicht nur nach der Anzahl an K<strong>in</strong>dern nichtdeutscherHerkunftssprache, sondern nach dem Anteilan Lernmittelbefreiungen ist der Erkenntnis geschuldet,dass der sozioökonomische vor dem ethnischen H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>den Schulerfolg bee<strong>in</strong>flusst.Die deutschlandweite Tendenz geht zu e<strong>in</strong>em zweisäuligenSchulmodell, das mehr Durchlässigkeit <strong>und</strong> damitdie Chance, e<strong>in</strong>en hochwertigen Schulabschluss zu erreichen,bietet. Dieses Modell wird am Beispiel Berl<strong>in</strong>s,deren Bildungsverwaltung mit Beg<strong>in</strong>n des Schuljahres2010/2011 e<strong>in</strong>e neue Schulstruktur e<strong>in</strong>geführt hat, dargestellt.Reformierte Schullandschaft <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>Im Schuljahr 2010/2011 wurde die Sek<strong>und</strong>arschule alsZusammenfassung von Haupt-, Real- <strong>und</strong> Gesamtschulemit der Möglichkeit, das Abitur zu erlangen, nebendem Gymnasium e<strong>in</strong>geführt. Daneben existiert dasSondermodell „Geme<strong>in</strong>schaftsschule“ mit e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samenBeschulung von der ersten bis zur 13. Klasse,das im Jahr 2013 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Sek<strong>und</strong>arschule besondererForm umgewandelt wird. Mit dieser Schulformwerden verschiedene Ziele verfolgt: Die Erweiterungauf 13 Schuljahre bietet e<strong>in</strong>e höhere Durchlässigkeit<strong>und</strong> Attraktivität als die bisherigen Haupt- <strong>und</strong> Realschulen<strong>und</strong> die Möglichkeit, e<strong>in</strong>en höherwertigenSchulabschluss zu erreichen. In der Umwandlung zuGanztagsschulen liegt die Hoffnung, die Bildungschancenaller SchülerInnen durch e<strong>in</strong>e lernförderlicheUmgebung zu erhöhen. Die Verzahnung an den Übergängenvon der K<strong>in</strong>dertagesstätte <strong>in</strong> die Gr<strong>und</strong>schule,von dort <strong>in</strong> die Sek<strong>und</strong>arstufe I der Sek<strong>und</strong>arschuleoder des Gymnasiums wird durch e<strong>in</strong>en fachlichen Austauschgewährleistet. LehrerInnen aus der Gr<strong>und</strong>schuleunterrichten an Sek<strong>und</strong>arschulen <strong>und</strong> Gymnasien <strong>und</strong>umgekehrt.Duales Lernen soll an allen Schularten verstärkt werden,um die berufliche Orientierung frühzeitig zu ermöglichen.Die Spanne reicht von der E<strong>in</strong>richtung vonPraxisklassen als Regelangebot für abschlussgefährdeteJugendliche bis h<strong>in</strong> zu Kursen an der Universitätzum Erwerb e<strong>in</strong>es Bachelor-Moduls für leistungsstarkeSchülerInnen ab 16 Jahre. Das Vergabeverfahren fürübernachgefragte Sek<strong>und</strong>arschulen <strong>und</strong> Gymnasienwurde dah<strong>in</strong> gehend verändert, dass nicht mehr derWohnort, sondern e<strong>in</strong> Auswahlverfahren maßgebendist. Dabei kann sich die Schulleitung 70% der SchülerInnenschaftaussuchen (darunter 10% Härtefälle) <strong>und</strong>30% der Plätze verlosen.Nachteilig ist die mangelnde e<strong>in</strong>heitliche Regelung zurschul<strong>in</strong>ternen Organisation. An manchen Sek<strong>und</strong>arschulenwerden Haupt- <strong>und</strong> RealschülerInnen getrenntunterrichtet, wor<strong>in</strong> die Gefahr besteht, dass e<strong>in</strong>e homogenbenachteiligte <strong>und</strong> lernschwache SchülerInnenschaftweiterh<strong>in</strong> unter sich bleibt <strong>und</strong> dadurch ger<strong>in</strong>geLeistungszuwächse hat.32 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


Lösungsansätze auf QuartiersebeneDas Programm „<strong>Soziale</strong> Stadt“ wurde 1999 gestartet,um der zunehmenden sozialen <strong>und</strong> räumlichen Spaltung<strong>in</strong> den Städten entgegenzuwirken. Dazu gehörtenzunächst Maßnahmen zur Aufwertung des Gebietes,die Vernetzung der lokalen AkteurInnen <strong>und</strong> die Aktivierungder Bevölkerung dah<strong>in</strong>gehend, sich für ihreBelange im Quartier zu engagieren. Das Thema Bildunggewann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Programmgebieten sehr früh e<strong>in</strong>eprioritäre Stellung <strong>und</strong> führte zu e<strong>in</strong>er Vernetzung vonQuartiersmanagement, Schulen, E<strong>in</strong>richtungen derJugendhilfe <strong>und</strong> weiteren BildungsakteurInnen zu Bildungsoffensiven(B<strong>und</strong>esm<strong>in</strong>isterium für Verkehr 2010).Im Quartier der vorgestellten Haupt- <strong>und</strong> Realschulekonnten aufgr<strong>und</strong> der Bildungsoffensive <strong>und</strong> zahlreichenMaßnahmen zur Verbesserung der Schulqualitätan der benachbarten Gr<strong>und</strong>schule e<strong>in</strong>e Erhöhung derGymnasialempfehlungen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e wieder zunehmendeAkzeptanz der Schule von deutschen Eltern festgestelltwerden. Damit zeigen sich positive Effekte der Anstrengungenauf Quartiers- <strong>und</strong> Schulebene.Fazit <strong>und</strong> AusblickZahlreiche Reformen <strong>und</strong> Vorhaben im Bildungsbereich<strong>und</strong> auf der Quartiersebene – Schulstrukturreformen,frühk<strong>in</strong>dliche Bildungspläne <strong>und</strong> Bildung als vorrangigesThema der Quartiersentwicklung – s<strong>in</strong>d vorwärtsbr<strong>in</strong>gende Maßnahmen zur Erhöhung der Bildungschancenvon K<strong>in</strong>dern <strong>und</strong> Jugendlichen mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>.Dennoch s<strong>in</strong>d längst nicht alle deutschenB<strong>und</strong>esländer reformwillig <strong>und</strong> die bereits erfolgtenUmstrukturierungen des Schulsystems müssen daraufh<strong>in</strong>überprüft werden, ob sie ungünstigen Lernbed<strong>in</strong>gungenentgegen wirken. E<strong>in</strong> Qualitätskriterium wirddie Verh<strong>in</strong>derung von ethnischer <strong>und</strong> sozialer Segregationan Schulen se<strong>in</strong>, um e<strong>in</strong> leistungsm<strong>in</strong>derndes <strong>und</strong>gesellschaftlich ausgrenzendes Milieu zu vermeiden.Die Schulleistungsergebnisse <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> <strong>und</strong> Hamburgals bisherige PISA-Verlierer werden nach den aktuellenSchulstrukturreformen von besonderem Interesse se<strong>in</strong>.Zu befürchten ist jedoch, dass e<strong>in</strong>e neue Schulstrukturohne e<strong>in</strong>e bezirksübergreifende Steuerung bei der sozialenZusammensetzung der SchülerInnenschaft Bildungschancenkaum erhöht, da SchulleiterInnen <strong>in</strong> derRegel die leistungsstärksten SchülerInnen aussuchenwerden.Mehr zielgruppenspezifisch qualifiziertes Personal <strong>und</strong>materielle Ressourcen an Schulen mit e<strong>in</strong>em hohenAnteil an SchülerInnen aus sozioökonomisch benachteiligtenFamilien oder mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> s<strong>in</strong>de<strong>in</strong> wichtiger Schritt zur Erhöhung der Bildungschancen.Allerd<strong>in</strong>gs lösen bessere Ausstattungen nicht dasGr<strong>und</strong>problem der ethnischen <strong>und</strong> sozialen Segregationan Schulen. Hier lohnt sich e<strong>in</strong> Blick <strong>in</strong> andere Länder,die Maßnahmen zur Erhöhung der Bildungschancenvon SchülerInnen aus benachteiligten Schulen <strong>in</strong>benachteiligten Quartieren getroffen haben.In Oull<strong>in</strong>s/Frankreich werden bereits seit 2004 Gr<strong>und</strong>schülerInnennach der Schulschließung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>embenachteiligten Quartier mit Bussen an verschiedeneSchulstandorte <strong>in</strong> besser gestellte Quartiere mit e<strong>in</strong>ersozioökonomisch ausgewogenen SchülerInnenschaftgebracht. Die Vorteile für die SchülerInnen zeigen sich<strong>in</strong> Leistungsverbesserungen <strong>und</strong> der Entkoppelung desRufs der Schule <strong>und</strong> des Wohnortes, die e<strong>in</strong>er Stigmatisierungentgegenwirkt (Baur 2010). E<strong>in</strong> weiterer, erfolgreicherAnsatz aus e<strong>in</strong>igen Staaten der USA zur Erhöhungder Bildungschancen von SchülerInnen bestehtdar<strong>in</strong>, Schulen ohne Erfolg zu schließen <strong>und</strong> neue mite<strong>in</strong>em attraktiven Profil zu eröffnen (Magnet Schools).Um e<strong>in</strong>e bessere soziale Mischung an Schulen zu gewährleisten,wird den Eltern zugesichert, dass die freieSchulspeisung für die bedürftige SchülerInnenschaftnicht mehr als 10 Prozent über dem kommunalenDurchschnitt an freier Schulspeisung liegt (Kahlenberg2009). Damit werden sozioökonomische <strong>und</strong> nicht ethnischeKriterien bei e<strong>in</strong>er Verteilung der SchülerInnenschaftwirksam.Beide Beispiele zeigen, dass die Steuerung der sozialenZusammensetzung an Schulen zum Zwecke derErhöhung von Bildungschancen durch die Schaffunglernförderlicher Milieus möglich ist. Da die sozialeZusammensetzung im Quartier nur schwer gesteuertwerden kann, wäre die Umverteilung von SchülerInnennach sozialer Herkunft an verschiedene Schulen e<strong>in</strong>ediskutierbare Ergänzung zu den bisherigen Reformen<strong>und</strong> Maßnahmen.33 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


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9. Transdiszipl<strong>in</strong>arität <strong>in</strong> der Entwicklungsforschung?Reflektionen <strong>und</strong> persönliche AnmerkungenPetra DanneckerDie Themenbereiche Entwicklung <strong>und</strong> Gender, zu denenich sowohl <strong>in</strong> der Forschung als auch <strong>in</strong> der Lehrearbeite, s<strong>in</strong>d transdiszipl<strong>in</strong>äre Forschungsfelder, diemit fachlichen oder diszipl<strong>in</strong>ären Zugängen <strong>und</strong> Def<strong>in</strong>itionennicht greifbar s<strong>in</strong>d. Zweifelsfrei bedarf es hierder Transformation der bisherigen wissenschaftlichenOrdnung aufgr<strong>und</strong> der spezifischen Problemorientierungen.Dennoch hat me<strong>in</strong>e Beschäftigung mit demThema Transdiszipl<strong>in</strong>arität erst begonnen, nachdem ichals Gastprofessor<strong>in</strong> für Global Studies <strong>und</strong> Entwicklungssoziologienach Wien gekommen war, um hier imBereich Internationale Entwicklung zu lehren. DieserWechsel hat dazu geführt, mich mit dem Konzept derTransdiszipl<strong>in</strong>arität, den wissenstheoretischen Überlegungen,die diesem zugr<strong>und</strong>e liegen sowie mit me<strong>in</strong>eneigenen Ansprüchen an me<strong>in</strong>e Lehre <strong>und</strong> Forschungbezüglich Transdiszipl<strong>in</strong>arität ause<strong>in</strong>anderzusetzen.Dabei wurde mir rückblickend bewusst, dass im <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ärenGraduiertenkolleg „Market, State, Ethnicity“an der Universität Bielefeld, <strong>in</strong>nerhalb dessen ichme<strong>in</strong>e Dissertation geschrieben hatte, der Anspruch derTransdiszipl<strong>in</strong>arität der operative Modus der projektbezogenenForschung war, auch wenn dies nicht explizitthematisiert wurde. Auch e<strong>in</strong>, von der Volkswagen Stiftungf<strong>in</strong>anziertes, Forschungsprojekt zur Aushandlungvon globalen Entwicklungsvorstellungen <strong>und</strong> -visionen<strong>in</strong> unterschiedlich islamisch geprägten Gesellschaften,das ich mit e<strong>in</strong>er Kolleg<strong>in</strong> leitete, hatte transdiszipl<strong>in</strong>äreZüge, da wir versuchten, das Problemverständnis <strong>und</strong>die Problembearbeitung vor allem methodisch neu zudef<strong>in</strong>ieren <strong>und</strong> neue Zugänge zu f<strong>in</strong>den, die rückblickendals transdiszipl<strong>in</strong>är bezeichnet werden können.Wichtig war uns <strong>in</strong> dem Projektkontext auch, mitPartnerInnen <strong>und</strong> AkteurInnen vor Ort das Forschungsthemazu entwickeln <strong>und</strong> dabei unterschiedliche Erkenntniskulturen<strong>und</strong> Erfahrungen mit aufzunehmen.Es g<strong>in</strong>g dabei vor allem darum, das Verhältnis vonForschungssubjekt <strong>und</strong> Objekt der Forschung kritischzu reflektieren.Diese Erfahrungen, aber auch die Reflexionen <strong>und</strong>Diskussionen, die wir im Rahmen der InternationalenEntwicklung führten <strong>und</strong> führen, <strong>in</strong>sbesondere im Zugeder Entwicklung des Masterstudiengangs InternationaleEntwicklung sowie der Institutionalisierung des InstitutsInternationale Entwicklung, haben viele Fragenaufgeworfen, die weiterer Diskussionen <strong>und</strong> Reflexionenbedürfen.Für mich wurde deutlich, dass Transdizipl<strong>in</strong>arität nichtdef<strong>in</strong>iert werden kann bzw. für unterschiedliche AkteurInnenunterschiedliche Bedeutungen hat. Während imwissenschaftlichen Bereich Transdizipl<strong>in</strong>arität häufig alse<strong>in</strong> Forschungs- <strong>und</strong> Wissenschaftspr<strong>in</strong>zip mit dem Ziele<strong>in</strong>er neuen wissenschaftssystematischen Ordnung verstandenwird (Mittelstraß 2005), gibt es e<strong>in</strong>e Reihe vonAnsätzen, die über die Grenzen der Wissenschaft h<strong>in</strong>ausgehen<strong>und</strong> neue Formen der Kooperation zwischenWissenschaft, Politik <strong>und</strong> Zivilgesellschaft unter demBegriff der Transdizipl<strong>in</strong>arität diskutieren. In beiden Fällenstellt sich m.E. aber die Frage, was transdiszipl<strong>in</strong>äreKooperation <strong>in</strong> unterschiedlichen Kontexten bedeutet,welche Rolle Machtstrukturen spielen <strong>und</strong> auch welchekontextspezifischen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen bestehen.35 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


Im Rahmen des Studiengangs Internationale Entwicklungist Transdiszipl<strong>in</strong>arität e<strong>in</strong> Organisationspr<strong>in</strong>zipvon Lehre. Was dies bedeutet, muss m.E. noch weiterdiskutiert werden, denn die meisten Lehrveranstaltungens<strong>in</strong>d diszipl<strong>in</strong>är e<strong>in</strong>gebettet. Auf epistemologischerEbene stellt zwar „Entwicklung“ das transdiszipl<strong>in</strong>äreForschungsfeld dar <strong>und</strong> das Ziel ist zweifelsfrei diszipl<strong>in</strong>äreParadigmen zu überschreiten Die Frage, die jedoch<strong>in</strong> diesem Kontext immer wieder auftaucht, ist, <strong>in</strong>wieweite<strong>in</strong>e diszipl<strong>in</strong>äre E<strong>in</strong>bettung Vorrausetzung oderH<strong>in</strong>dernis für Transdiszipl<strong>in</strong>arität darstellt. Damit istauch die Frage verknüpft, <strong>in</strong>wieweit Diszipl<strong>in</strong>en nochals geschlossene E<strong>in</strong>heiten verstanden werden können.Als Entwicklungssoziolog<strong>in</strong> <strong>und</strong> Genderforscher<strong>in</strong> würdeich argumentieren wollen, auch wenn dies nun etwasanmaßend kl<strong>in</strong>gen mag, dass e<strong>in</strong> transdizipl<strong>in</strong>ärerZugang schon aufgr<strong>und</strong> des Forschungsgegenstands<strong>und</strong> somit aufgr<strong>und</strong> der sozialen Realität schon immerGr<strong>und</strong>vorrausetzung war. Das mag nun nicht für allediszipl<strong>in</strong>ären Bereiche zutreffen, wie zum Beispiel dieaktuellen wissenschaftlichen Debatten <strong>in</strong> Bezug aufKlimawandel zeigen. Hier sche<strong>in</strong>t die Entwicklung e<strong>in</strong>es„transdiszipl<strong>in</strong>ären“ Problemverständnisses aufgr<strong>und</strong>der Konkurrenz zwischen den Diszipl<strong>in</strong>en <strong>und</strong> der unterschiedlichenInteressen sehr schwierig.Literatur:Mittelstraß, Jürgen (2005): Methodische Transdiszipl<strong>in</strong>arität. In:Technikfolgenabschätzung, Theorie <strong>und</strong> Praxis, 14 (2), 18–23.Ich verb<strong>in</strong>de mit Transdizipl<strong>in</strong>arität vor allem das Generierenvon Forschungsfragen aus dem Problemfeld heraus<strong>und</strong> das F<strong>in</strong>den neuer Beziehungsformen zwischenunterschiedlichen wissenschaftlichen Diszipl<strong>in</strong>en <strong>und</strong>Systemen <strong>und</strong> nichtwissenschaftlichen Institutionen.Das ersche<strong>in</strong>t mir jedoch noch e<strong>in</strong> langer Weg zu se<strong>in</strong>,aber vielleicht s<strong>in</strong>d die Diskussionen <strong>und</strong> Debatten umTransdiszipl<strong>in</strong>arität der Weg zum Ziel.36 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


10. Position zur Transdiszipl<strong>in</strong>arität aus der Sicht derStadt- <strong>und</strong> RegionalforschungAlexander Hamed<strong>in</strong>gerTransdiszipl<strong>in</strong>arität ist e<strong>in</strong> schillernder Begriff, derschon <strong>in</strong> den 1970er Jahren E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong> den wissenschaftstheoretischenDiskurs gef<strong>und</strong>en hat (Blättel-M<strong>in</strong>k/Kastenholz 2000). Im Kern g<strong>in</strong>g es <strong>in</strong> diesemDiskurs immer um die Frage, wie die Organisation desProzesses der Wissensproduktion <strong>und</strong> der Wissensverbreitungverändert werden muss, um der zunehmendenDifferenzierung der Gesellschaft <strong>und</strong> der steigendenKomplexität von sozialen, ökologischen <strong>und</strong> ökonomischenProblemstellungen gerecht werden zu können.Gleichwohl waren <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d heute mehr denn jenormative Ansprüche mit diesem Prozess verknüpft:Wissensproduktion <strong>und</strong> Wissensverbreitung sollenso organisiert werden, dass sie die Demokratisierungder Gesellschaft fördern <strong>und</strong> konkrete Veränderungen<strong>in</strong> den „Lebenswelten“ der „Beforschten“ bewirken.Diesen Anspruch teilt der Ansatz der Transdiszipl<strong>in</strong>aritätmit der Aktionsforschung (Friedrichs 1990; Astleithner/Hamed<strong>in</strong>ger2003), die ihren Ursprung ebenso<strong>in</strong> der Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs am Endeder 1960er Jahre bzw. Beg<strong>in</strong>n der 1970er Jahre hat.Während mit dem Begriff der Transdiszipl<strong>in</strong>arität <strong>in</strong> derFolge vor allem im Rahmen der Nachhaltigkeits- <strong>und</strong>Kulturlandschaftsforschung (s. TRAFO – Schwerpunkt desLebensm<strong>in</strong>isteriums; vgl. Brand 2000) weitergearbeitetwurde, wurde der Ansatz der Aktionsforschung etwa <strong>in</strong>den Bildungswissenschaften – allerd<strong>in</strong>gs nur marg<strong>in</strong>al– weiterentwickelt. Heute f<strong>in</strong>det wieder e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensivierteDebatte um Transdiszipl<strong>in</strong>arität <strong>in</strong> der Forschungstatt, was nicht zuletzt im Kontext e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>tensiviertensozialen Wandels sowie der tiefen Wirtschafts- <strong>und</strong>F<strong>in</strong>anzkrise zu sehen ist. Offensichtlich werden Fragennach der Organisation von Wissensproduktion <strong>und</strong>Wissensverbreitung vor allem dann virulent, wenn sichgesellschaftliche Umbrüche abzeichnen oder wennsich durch Krisensituationen Handlungsspielräume für„neue“ Konzepte der Wissensproduktion eröffnen.diszipl<strong>in</strong>ären Hürden zu überw<strong>in</strong>den, andererseits„PraktikerInnen“ oder „Alltags-ExpertInnen“ <strong>in</strong> e<strong>in</strong>enForschungsprozess als gleichberechtigte PartnerInnenzu <strong>in</strong>volvieren. Nicht zuletzt hängt dies mit e<strong>in</strong>er langandauernden, sich aber langsam verändernden Vernachlässigungvon Raumtheorien zusammen, die langeZeit für bestimme Wissensdiszipl<strong>in</strong>en der Stadt- <strong>und</strong>Regionalforschung (z.B. Regionalwissenschaft, Raumplanung)charakteristisch war. Zentrale Kennzeichenvon Transdiszipl<strong>in</strong>arität aus me<strong>in</strong>er Sicht s<strong>in</strong>d: 1) problembezogeneKooperation zwischen verschiedenenWissensdiszipl<strong>in</strong>en, 2) E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung von PraktikerInnen/Alltags-ExpertInnen <strong>in</strong> den gesamten Forschungsprozess(von der Formulierung der Forschungsfrage biszur Durchführung <strong>und</strong> eventuellen Umsetzung vonErgebnissen), damit auch Inklusion verschiedener Wissensformen,konkreter sozialer Problembezug als Ausgangspunktfür die Forschung (<strong>und</strong> nicht Themenbezug),3) gegenseitiges Lernen im Forschungsprozess, 4)Zirkularität <strong>und</strong> Emergenz des Forschungsprozesses.Die Herausforderungen, die sich aus dem Anspruch derTransdiszipl<strong>in</strong>arität ergeben, sollen für vier der genanntenKennzeichen anhand von Beispielen aus der Stadt<strong>und</strong>Regionalforschung kurz beleuchtet werden:In der Stadt- <strong>und</strong> Regionalforschung spielten sowohlder Begriff Transdiszipl<strong>in</strong>arität als auch der Ansatz derAktionsforschung bisher e<strong>in</strong>e eher marg<strong>in</strong>ale Rolle.Obwohl sich raumbezogene Forschung durch denFokus auf e<strong>in</strong>en Ort (Region, Stadtteil, etc.) quasi alstransdiszipl<strong>in</strong>äre Forschung sui generis hätte positionierenkönnen, ist es nur <strong>in</strong> wenigen Forschungsprojektengelungen, e<strong>in</strong>erseits die immer noch wirkmächtigen37 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


1) Problembezogene Kooperation zwischenverschiedenen Wissensdiszipl<strong>in</strong>en<strong>und</strong> Überw<strong>in</strong>dung von diszipl<strong>in</strong>ärenGrenzen:Im Rahmen e<strong>in</strong>es von der Österreichischen Raumordnungskonferenz(ÖROK) f<strong>in</strong>anzierten Projektes, <strong>in</strong> demes um Möglichkeiten der Steuerung der räumlichenEntwicklungen <strong>in</strong> österreichischen Stadtregionen g<strong>in</strong>g,wurde versucht, verschiedene Wissensdiszipl<strong>in</strong>en (F<strong>in</strong>anzwissenschaft,Verkehrsplanung, Regionalwissenschaft,Soziologie) problembezogen <strong>in</strong> den Forschungsprozesszu <strong>in</strong>tegrieren. Aufgr<strong>und</strong> unterschiedlicherdiszipl<strong>in</strong>ärer Begrifflichkeiten (z.B. <strong>in</strong> Bezug auf dieDef<strong>in</strong>ition von Stadtregion), Sprachen <strong>und</strong> Methodensowie den dem engen zeitlichen wie budgetären Korsettgeschuldeten ger<strong>in</strong>gen Möglichkeiten, „Übersetzungsleistungen“durchzuführen, ist die Integration nurpartiell gelungen. Im Endeffekt wurde die Problemstellung<strong>in</strong> Teilaspekte zerlegt, die dann von den e<strong>in</strong>zelnenTeildiszipl<strong>in</strong>en bearbeitet wurden. Zudem zeigte sich,dass e<strong>in</strong>e Kultur der Kooperation zwischen den e<strong>in</strong>zelnen<strong>in</strong>volvierten Fachbereichen (<strong>und</strong> damit Wissensdiszipl<strong>in</strong>en)noch weiter entwickelt werden musste.Die universitären Strukturen haben bisher eher e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>stitutionelle Zementierung von Wissensdiszipl<strong>in</strong>en <strong>in</strong>e<strong>in</strong>zelnen Fachbereichen als e<strong>in</strong>e fächerübergreifendeZusammenarbeit gefördert. Karrieren <strong>in</strong> der Wissenschafts<strong>in</strong>d nach wie vor sehr stark an die diszipl<strong>in</strong>ärenCodes <strong>und</strong> an e<strong>in</strong>zelnen Wissensdiszipl<strong>in</strong>en orientierten<strong>in</strong>stitutionellen Strukturen geb<strong>und</strong>en.2) E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung von PraktikerInnen/AlltagsexpertInnen <strong>in</strong> den gesamtenForschungsprozess:Das EU-Forschungsprojekt PASTILLE (Promot<strong>in</strong>g Actionfor Susta<strong>in</strong>ability through Indicators at the Local Level)sah von Beg<strong>in</strong>n des Projektes e<strong>in</strong>e gleichberechtigteTeilnahme von WissenschafterInnen <strong>und</strong> PraktikerInnen(<strong>in</strong> diesem Fall: VertreterInnen der lokalen Verwaltungen)am gesamten Prozess vor. Um die Frage beantwortenzu können, wie Ergebnisse wissenschaftlicherForschung <strong>und</strong> Prozesse politischer Entscheidungsf<strong>in</strong>dungverknüpft werden können, wurde bewusste<strong>in</strong> <strong>in</strong>teraktionsorientierter Forschungsansatzangewandt. Zentrale Herausforderungen <strong>in</strong> diesemProjekt waren: das F<strong>in</strong>den e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen Sprachezwischen Wissenschaft <strong>und</strong> Praxis, die konsequent geme<strong>in</strong>sameDurchführung aller Forschungsschritte, dieÜberbrückung unterschiedlicher Erwartungshaltungen<strong>und</strong> Handlungslogiken der <strong>in</strong>volvierten AkteurInnen,die sich auch aus den <strong>in</strong>stitutionellen E<strong>in</strong>bettungen derAkteurInnen <strong>und</strong> den damit verb<strong>und</strong>enen E<strong>in</strong>schränkungen<strong>und</strong> Zwängen ergaben sowie der limitierteZeitrahmen für notwendige Lern-, Kommunikations<strong>und</strong>Abstimmungsprozesse. Zwar kann durchaus konstatiertwerden, dass sowohl PraktikerInnen (etwa imH<strong>in</strong>blick auf theoriegeleitete <strong>und</strong> systematische Argumentation)als auch WissenschafterInnen (z.B. <strong>in</strong> Bezugauf die Rahmenbed<strong>in</strong>gungen des Verwaltungshandelns)im gesamten Projekt vone<strong>in</strong>ander gelernt haben.Allerd<strong>in</strong>gs haben im Rahmen der WissensverbreitungWissenschafterInnen <strong>und</strong> PraktikerInnen schlussendlichunterschiedliche Produkte erstellt.3) Gegenseitiges Lernen im Forschungsprozess:Im Projekt PASTILLE war dies aufgr<strong>und</strong> der bereitserwähnten engen Forschungsrahmenbed<strong>in</strong>gungen nursehr begrenzt möglich. Gegenseitiges Lernen erfordertvor allem Respekt vor dem Wissen aller <strong>in</strong>volviertenAkteurInnen, professionelles Prozessmanagement(Moderation) sowie entsprechende Ressourcen (Zeit,Geld). Nur so können Orte des gegenseitigen Lernenszwischen WissenschafterInnen <strong>und</strong> PraktikerInnen/Alltags-ExpertInnen <strong>in</strong>stitutionalisiert werden („Institutionalisierungvon <strong>Vielfalt</strong>“).38 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


4) Zirkularität <strong>und</strong> Emergenz:Transdiszipl<strong>in</strong>äre Forschungsprozesse s<strong>in</strong>d nichtgänzlich planbar; „Unerwartetes“ <strong>und</strong> „Unsicherheit“s<strong>in</strong>d wichtige Merkmale solcher Prozesse. Vor allemWissenschafterInnen, die gewohnt s<strong>in</strong>d, den gesamtenForschungsprozess <strong>in</strong>haltlich sowie organisatorisch zuplanen <strong>und</strong> zu steuern, müssen sich darauf e<strong>in</strong>stellen.Nicht nur ihre Fähigkeiten als ForscherInnen s<strong>in</strong>d damitherausgefordert (weil sie etwa auch soziale Kompetenzenbesitzen sollten), sondern auch ihre Haltungen <strong>und</strong>Rollenwahrnehmung im Forschungsprozess.Weitere Herausforderungen für transdiszipl<strong>in</strong>äre Forschungs<strong>in</strong>d die Entwicklung von Qualitätskriterien fürden Forschungsprozess, die Entwicklung von Methodenzur Durchführung der „Übersetzungsleistungen“ sowiedie Erarbeitung von unterschiedlichen Modellen für dieE<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung von PraktikerInnen/Alltags-ExpertInnen mitunterschiedlichem <strong>in</strong>stitutionellen, sozialen <strong>und</strong>/oderökonomischen H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>.Literatur:Astleithner, Florent<strong>in</strong>a/Hamed<strong>in</strong>ger, Alexander (2003): The Analysisof Susta<strong>in</strong>ability Indicators as Socially Constructed PolicyInstruments: Benefits and Challenges of Interactive Research. In:Local Environment, Vol. 8, No. 6, 627–640.Blättel-M<strong>in</strong>k, Birgit/Kastenholz, Hans (2000): Zwischen transdiszipl<strong>in</strong>äremAnspruch <strong>und</strong> Forschungsrealität. Erfahrungen ausder Nachhaltigkeitsforschung <strong>in</strong> Baden-Württemberg. In: Brand,Karl-Werner (Hrsg.): Nachhaltige Entwicklung <strong>und</strong> Transdiszipl<strong>in</strong>arität.Berl<strong>in</strong>: Analytica, 111–126.Bourdieu, Pierre (1976): Entwurf e<strong>in</strong>er Theorie der Praxis aufder ethnologischen Gr<strong>und</strong>lage der kabylischen Gesellschaft.Frankfurt am Ma<strong>in</strong>: Suhrkamp.Brand, Karl-Werner (Hrsg., 2000): Nachhaltige Entwicklung <strong>und</strong>Transdizipl<strong>in</strong>arität. Berl<strong>in</strong>: Analytica.Friedrichs, Jürgen (1990): Methoden empirischer Sozialforschung.Opladen: Westdeutscher Verlag.Transdiszipl<strong>in</strong>arität <strong>in</strong> der Stadt- <strong>und</strong> Regionalforschungist sicherlich e<strong>in</strong> Ansatz, um praktisch relevantes, dieLebenswelt der <strong>in</strong>volvierten AkteurInnen direkt betreffendesWissen geme<strong>in</strong>sam zu erzeugen. Allerd<strong>in</strong>gs solltendie kurz skizzierten Herausforderungen vor Beg<strong>in</strong>ndes Forschungsprozesses bedacht werden. Ich plädierefür e<strong>in</strong>e weitere Diskussion <strong>und</strong> Anwendung von Transdiszipl<strong>in</strong>arität<strong>in</strong> der Stadt- <strong>und</strong> Regionalforschung, vorallem aufgr<strong>und</strong> ihres raumtheoretischen Bezuges, derBedeutung der Auftragsforschung <strong>in</strong> diesem Bereich –<strong>in</strong> welchem es immer um die Klärung des Verhältnisseszwischen Wissenschaft <strong>und</strong> Praxis geht – <strong>und</strong> des normativenAnspruches der aktiven Veränderung von städtischen<strong>und</strong> regionalen Strukturen (<strong>in</strong> Anlehnung andie Forderung des „Rechtes auf die Stadt“ nach HenriLefebvre). Damit trete ich auch für e<strong>in</strong>e – im S<strong>in</strong>ne vonBourdieu (1976) – praxeologische Stadt- <strong>und</strong> Regionalforschunge<strong>in</strong>, der es zunächst um das Verstehenvon sozialen Praktiken <strong>und</strong> sozialen Problemen geht,um dann die dah<strong>in</strong>terliegenden gesellschaftlichenStrukturen zu dechiffrieren.39 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


11. Transdiszipl<strong>in</strong>arität <strong>in</strong> der Stadtforschung:Öffentlicher Raum als Chance der Wissensfelderüberspannenden Betrachtung der sozialen WeltSab<strong>in</strong>e Knierbe<strong>in</strong>Stadt wird von vielen KollegInnen <strong>und</strong> ExpertInnen <strong>in</strong>Fachressorts, die unterschiedlicher nicht se<strong>in</strong> könnten,als analytisches E<strong>in</strong>gangsfenster betrachtet, um diesoziale Welt zu verstehen. Innerhalb dieses E<strong>in</strong>gangsfensterskann man unter dem Brennglas betrachtetnoch e<strong>in</strong> zweites, kle<strong>in</strong>eres Fenster erkennen, <strong>in</strong> demMechanismen, Mentalitäten, Struktur <strong>und</strong> Handlung,aber auch Aktion <strong>und</strong> Reflexion kulm<strong>in</strong>ieren: Dies s<strong>in</strong>ddie öffentlichen Räume, verstanden als Gesamtheitder Orte, an denen sich öffentliches Leben zu entfaltenvermag (Madanipour 2003, 2010).Auf diese Räume richtet sich das Interesse derForschung zu neuen Wegen der kapitalistischenWertschöpfung <strong>in</strong>nerhalb der Restrukturierung vonWirtschaftskreisläufen, zu den Risiken der Durchsetzungpolitischer Hegemonien, aber auch zu neuenPotenzialen zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation<strong>und</strong> der Sozialisierung – etwa h<strong>in</strong>sichtlich verschiedenerLebensstile <strong>und</strong> diverser Kulturen. In der Erforschungöffentlicher Räume treten Raumdimensionenzu Tage, die verschiedene Ebenen überspannen, etwa:die e<strong>in</strong>es Beserlparks im 18. Bezirk <strong>in</strong> Wien, oder dergesamtstädtischen Netzwerke der Orte öffentlichenLebens <strong>in</strong> der Donaumetropole bis h<strong>in</strong> zur strukturellenVerknüpfung städteübergreifender Netzwerke, etwa imVerb<strong>und</strong> der Donaumetropolen Budapest, Bratislava<strong>und</strong> Wien. Diese multiple Raumebenen überspannendeBetrachtungen f<strong>in</strong>den sich auch <strong>in</strong> raumtheoretischenAnsätzen: Hier werden Städte <strong>und</strong> öffentliche Räumeweniger als gebaute Objekte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er zeitlichenMomentaufnahme verstanden, sondern zunehmendals global überformte <strong>und</strong> mit Lokalkolorit sedimentierendesoziohistorische Urbanisierungsprozesse<strong>in</strong>terpretiert. Der akademische Fachjargon, bezogenauf öffentliche Räume, spricht von e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>tegriertenRaumverständnis (Schubert 2000), dass das <strong>Soziale</strong>nicht dem Physischen gegenüberstellt, sondern sozialesLeben <strong>und</strong> physische Ausprägungen desselben als zweiSeiten derselben Medaille versteht. Raum ist dahernicht Photokopie von Gesellschaft, sondern Gesellschaft(vgl. Castells 1996: 410).Zudem verselbständigt sich bereits seit e<strong>in</strong>igen Dekadender fachübergreifende Tenor, öffentliche Räumeseien e<strong>in</strong> per se <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>äres Feld (Selle 2003). Inder Universität f<strong>in</strong>det man Studien zu öffentlichen Räumen<strong>in</strong> kritischer Geographie, Landschaftsarchitektur,Stadtplanung, Anthropologie, Ethnologie, Soziologie,<strong>in</strong> der Politikwissenschaft, den Kulturwissenschaften,der Architektur sowie <strong>in</strong> der Bildenden Kunst, um nure<strong>in</strong>ige zu nennen. In anderen staatlichen Institutionen,so etwa <strong>in</strong> den Ressorts städtischer Verwaltungen,werden öffentliche Räume nicht alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> den Grünflächen-,Bau-, <strong>und</strong> Verkehrsressorts, sondern zunehmendauch <strong>in</strong> den Kultur-, Rechts-, <strong>und</strong> Wirtschaftsressortsbehandelt (Knierbe<strong>in</strong> 2010). Im Falle Wiens stellendarüber h<strong>in</strong>aus der Wohnungsbau sowie die Stadtentwicklungmaßgebliche Weichen für die Entwicklungstädtischer Freiräume, die oftmals objekthaft beplantden öffentlichen Räumen gleichgesetzt werden. Hierscheiden sich allerd<strong>in</strong>gs die raumtheoretischen Geister<strong>in</strong> der Wissenschaft, denn was für den e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>eöffentlich nutzbare Stadtmorphologie oder „öffentlichnutzbarer Raum“ ist (Selle 2003), ist für den anderenhybrid (Berd<strong>in</strong>g et al. 2005) <strong>und</strong> für dritte längst nochnicht mit öffentlichen Räumen gleichzusetzen, die vielmehrgesellschaftshistorische Prozesse <strong>und</strong> nicht alle<strong>in</strong>bauliche Momentaufnahmen mit öffentlichem Zugangdarstellen (Knierbe<strong>in</strong> 2010). Perspektivenvielfalt <strong>und</strong> Methodenreichtum<strong>in</strong> der Erforschung öffentlicher Räumestellen e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>e Krux für die fast verunmöglichtepenible Erforschung e<strong>in</strong>es klar umrissenen Gegenstandes,andererseits e<strong>in</strong>e Chance für das Erkennen e<strong>in</strong>esMetadiskurses dar. Denn bei der Erforschung öffentlicherRäume ist es möglich, Wissen aus verschiedenstengesellschaftlichen Feldern im Rahmen e<strong>in</strong>es Metadiskursesmite<strong>in</strong>ander zu konfrontieren <strong>und</strong> systematischdialektisch zu bündeln.Generell vernachlässigt wurde bisher jedoch <strong>in</strong> denDebatten um öffentliche Räume e<strong>in</strong>e Fragestellung, diemit dem Aufkommen der Wissensgesellschaft (Madanipour2011, forthcom<strong>in</strong>g) e<strong>in</strong>e neue Bedeutung erlangenwird: Die Möglichkeit, verschiedene Wissensfelder jenseitsfest vorgezimmerter Fachdiskurse niederschwelligmite<strong>in</strong>ander zu verb<strong>in</strong>den. Denn auf öffentliche Räume40 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


ichtet sich auch die mediale Berichterstattung, dadiesen die Rolle der öffentlichen Me<strong>in</strong>ungsbildungimmer dann (wissenschaftlich) überantwortet wird,wenn Debatten h<strong>in</strong>sichtlich öffentlicher Räume <strong>in</strong> e<strong>in</strong>enZusammenhang mit Diskursen um die öffentliche Sphäre(Low/Smith 2006, Bezugnehmend auf Habermas 1990[1962]) gebracht werden. Diskursives Agendasett<strong>in</strong>g,strategische Kommunikation zur Bee<strong>in</strong>flussung sowieder Schutz der öffentlichen Me<strong>in</strong>ung(en) werden hiernicht nur theoretisch thematisiert, sondern ebenfallsschlicht <strong>und</strong> ergreifend empirisch praktiziert.Öffentliche Räume stellen für viele städtische BewohnerInnenweiters e<strong>in</strong>e ungezwungene Sphäreungeplanter Kommunikation <strong>und</strong> nicht <strong>in</strong>tendiertenAustausches dar, der manchmal nicht e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>esWortes bedarf. Sie s<strong>in</strong>d daher Orte der vielfältigenErfahrungsanreicherung <strong>in</strong> der städtischen Sozialwelt.Die Rede ist von Orten, „deren Öffentlichkeit sich bunt<strong>und</strong> vielfältig zeigt <strong>und</strong> wo nahezu alle Bevölkerungsgruppenvertreten s<strong>in</strong>d“. Die Rede ist von den herausragendenSchauplätzen großstädtischer Öffentlichkeit(Eckel 1998: 94).Die Erforschung der vielfältigen Orte öffentlichenLebens ermöglicht daher, e<strong>in</strong>e Brücke zwischenverschiedenen Wissensfeldern zu schlagen: zwischendem Alltagswissen, dem beruflichen Wissen sowiedem akademischen Wissen, um nur e<strong>in</strong>ige zu nennen.Öffentliche Räume bergen daher große Potenzialefür die wissensfeldübergreifende Wissensproduktion.Sie s<strong>in</strong>d gleichzeitig aber auch Orte der alltäglichenBedeutungsproduktion im S<strong>in</strong>ne gelebter Räume, wassie umso attraktiver <strong>in</strong> diesem Feld transdiszipl<strong>in</strong>ärerStadtforschung macht.Nichtsdestotrotz s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> bleiben sie jene Orte, an denenstille gesellschaftliche Konflikte sichtbar <strong>und</strong> dr<strong>in</strong>glichegesellschaftliche Konflikte laut werden, die Wohnzimmerverlassen <strong>und</strong> auf die Straßen zurückf<strong>in</strong>den: DieKonflikte um die Pariser Banlieue, das entschlosseneErwachen e<strong>in</strong>er realpolitikverdrossenen schwäbischenMittelschicht, die im grünen Wohnzimmer Stuttgartsbeharrlich gegen e<strong>in</strong> europäisches Infrastrukturprojektkämpft, die studentischen Demonstrationen auf derWiener R<strong>in</strong>gstraße <strong>und</strong> im Museumsquartier sowie dieauf den Straßen Athens kämpfende Zivilgesellschaftzeugen neben den wiederkehrenden Ause<strong>in</strong>andersetzungender Globalisierungs- <strong>und</strong> Kernkraftgegner (etwaHeiligendamm 2008 <strong>und</strong> Wendland 2010) von den lautenKonflikten, die sich <strong>in</strong> europäischen Städten gegenwärtigmanifestieren. Leise Konflikte bahnen sich manchesMal auch durch Geräuschreduzierung an, etwa wennunbemannte Drohnen <strong>in</strong> der Überwachung privatisierteröffentlicher Räume e<strong>in</strong>gesetzt werden („Drohnenüber Liverpool“, FAZ vom 15.11.2010). Die empirischewie theoretische Bedeutung von gesellschaftlichenKonflikten <strong>in</strong> öffentlichen Räumen ist immer auch imZusammenhang mit den Möglichkeiten zu untersuchen,die diese als wissensfeldübergreifende Sphären desLernens darstellen. Denn an dieser Stelle kann die ReflexionHandlungsmöglichkeiten aufzeigen, <strong>und</strong> damitAktion <strong>in</strong>spirieren.Workshop Transdiszipl<strong>in</strong>arität <strong>in</strong> derStadtforschungAbbildung 1: Rapporteur<strong>in</strong> resümiert die Ergebnisse des Workshops;Quelle: S. Knierbe<strong>in</strong>Abschließend möchte ich me<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>druck von e<strong>in</strong>emder Workshops im Rahmen des Symposiums darstellen.Er thematisierte weniger diese aktuellen Tendenzen dertransdiszipl<strong>in</strong>ären Erforschung öffentlicher Räume. Vielmehrermöglichte er e<strong>in</strong>e offene Diskussion, die zume<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>e analytisch nüchterne Debatte h<strong>in</strong>sichtlichder Rolle von Transdiszipl<strong>in</strong>arität <strong>in</strong> der Stadtforschung,zum anderen idealtypisch-emanzipatorische Nuancender Betrachtung hervorbrachte. Man reflektierte überse<strong>in</strong>e eigenen Lernprozesse im Rahmen transdiszipl<strong>in</strong>ärenAustausches <strong>in</strong> der Stadtforschung <strong>und</strong> s<strong>in</strong>nierteüber verschiedene Arten von Inspirationen für die täglicheberufliche Arbeit. Erfahrungen wurden währenddes Workshops <strong>in</strong> vier Gruppen anhand von selbstgewähltenThemen ausgetauscht:// Gender Plann<strong>in</strong>g, Schulhöfe <strong>und</strong> Schulwege// Stadtentwicklungssituation L<strong>in</strong>z// Sozialraumanalyse Wien// Transdiszipl<strong>in</strong>äre Täter (Abb. 2)41 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


dem jeweiligen Durchsetzungscharakter derartigerGrenzüberschreitungen <strong>in</strong> der Reflexion, Haltung <strong>und</strong>Handlung gegenüber strukturellen E<strong>in</strong>flüssen <strong>und</strong>Mentalitäten <strong>in</strong> der Stadtforschung offen. Denn bislangs<strong>in</strong>d die Potenziale des öffentlichen Raums als genu<strong>in</strong><strong>in</strong>ter-, trans- <strong>und</strong> postdiszipl<strong>in</strong>äres Forschungsfeld <strong>in</strong>der Stadtforschung längst nicht ausgeschöpft.Abbildung 2: Workshopdokumentation Gruppe „Transdiszipl<strong>in</strong>äreTäter“; Quelle: S. Knierbe<strong>in</strong>Als Fazit des Workshops kann festgehalten werden,dass es Zeit <strong>und</strong> Vertrauen braucht, Alltagswissen <strong>in</strong>wissenschaftliche Forschung zu <strong>in</strong>tegrieren. Es brauchtPersonen mit entsprechender Haltung <strong>und</strong> sozialerFähigkeit zur Empathie, die die ‚Liebe zur eigenenDiszipl<strong>in</strong>’ überw<strong>in</strong>den, um am Gegenstand – Wandelsozialen Lebens <strong>in</strong> den Städten – <strong>in</strong>teressiert als ‚transdiszipl<strong>in</strong>äreTäter’ Offenheit mitbr<strong>in</strong>gen, verschiedenediszipl<strong>in</strong>äre Felder <strong>in</strong>nerhalb der Universitäten, Stadtverwaltungen<strong>und</strong> beruflichen Vere<strong>in</strong>igungen <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ärsowie außerhalb dieser Institutionen zwischenTheorie, Praxis <strong>und</strong> Alltagserfahrung transdiszipl<strong>in</strong>ärzu überbrücken. Interdiszipl<strong>in</strong>äre, transdiszipl<strong>in</strong>äre <strong>und</strong>am Gegenstand Stadt <strong>in</strong>teressierte postdiszipl<strong>in</strong>äre Herangehensweisenschließen sich daher per se nicht aus,sondern bergen Potenziale, sich gegenseitig zu ergänzen(Knierbe<strong>in</strong> 2011). Neben dem Fokus auf Handlung<strong>und</strong> Haltung wurde jedoch auch kritisch angemerkt,dass e<strong>in</strong>em derart skizzierten Optimalzustand transdiszipl<strong>in</strong>ärerHerangehensweisen <strong>in</strong> der Stadtforschungoftmals die Realpolitik von Institutionen, ressourcenorientierteHandlungsmotivationen sowie e<strong>in</strong>e oftmalsfehlende Reflexion h<strong>in</strong>sichtlich der fairen Rückb<strong>in</strong>dungvon Wissen <strong>in</strong> die e<strong>in</strong>geb<strong>und</strong>enen Wissenssphären,Institutionen <strong>und</strong> Gruppen weiterh<strong>in</strong> entgegenstünden.Für die Zukunft bleibt weiterh<strong>in</strong> die Frage nachLiteratur:Berd<strong>in</strong>g, Ulrich/Selle, Klaus (2005): Öffentlich ist öffentlich ist... ? In: Garten + Landschaft 8/2005, 12–14.Castells, Manuel (1996): The Rise of Network Society. TheInformation Age. Economy. Society. Culture. Malden, Oxford:Blackwell Publishers.Eckel, Eva-Maria (1998): Individuum <strong>und</strong> Stadtraum: ÖffentlichesVerhalten im Wandel. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag.Knierbe<strong>in</strong>, Sab<strong>in</strong>e (2010): Die Produktion zentraler öffentlicherRäume <strong>in</strong> der Aufmerksamkeitsökonomie. Ästhetische, ökonomische<strong>und</strong> wirtschaftliche Restrukturierungen durch gestaltwirksameKoalitionen am Beispiel Berl<strong>in</strong> seit 1980. Wiesbaden: VSVerlag für Sozialwissenschaften.Knierbe<strong>in</strong>, Sab<strong>in</strong>e (2011): Stadtkultur. E<strong>in</strong>e postdiszipl<strong>in</strong>äre Positionierung<strong>in</strong> der Stadtforschung. In: Frey, Oliver/Koch, Florian(Hrsg.): Positionen zur Urbanistik I. Stadtkultur <strong>und</strong> neue Methodender Stadtforschung. Wien: LIT Verlag, 79–103.Low, Setha/Smith, Neil (2006): The Politics of Public Space. NewYork: Routlegde.Madanipour, Ali (2003): Public and private spaces of the city.London: Routlegde.Madanipour, Ali (2010): Whose public space? International casestudies <strong>in</strong> urban design. London: Routledge.Madanipour, Ali (2011): Knowledge Economy and the City.Spaces of Knowledge. London: Routledge.Schubert, Herbert (2000): Städtischer Raum <strong>und</strong> Verhalten. Zue<strong>in</strong>er <strong>in</strong>tegrierten Theorie des öffentlichen Raums. Opladen:Leske + Budrich.Selle, Klaus (2003): Was ist los mit öffentlichen Räumen?Analysen, Positionen, Konzepte. 2., erweiterte <strong>und</strong> aktualisierteAuflage. Dortm<strong>und</strong>: Dortm<strong>und</strong>er Vertrieb für Bau- <strong>und</strong> Planungsliteratur.42 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


12. Geme<strong>in</strong>wesenarbeit <strong>und</strong> Sozialraumanalyse alstransdiszipl<strong>in</strong>äre Zugänge?Christoph StoikEuropäische Städte wie Wien werden <strong>in</strong>ternationaler,unübersichtlicher <strong>und</strong> offener. Daraus ergeben sichkomplexe Fragestellungen: Wie wird mit der Vervielfältigungvon Milieus <strong>und</strong> deren Interessen <strong>in</strong> Bezug aufdas Zusammenleben, aber auch bei Entscheidungsf<strong>in</strong>dungenumgegangen? Wie müssen Aushandlungsprozesse<strong>und</strong> politische Entscheidungsf<strong>in</strong>dungsprozessegestaltet werden, wenn manche Menschen immermehr darauf drängen, dass sie mitbestimmen können,während andere mehr mit existenziellen Problemenbeschäftigt s<strong>in</strong>d? Wie können die unterschiedlichenInteressen <strong>in</strong> die Stadtentwicklung <strong>und</strong> Stadtplanunge<strong>in</strong>fließen? Wie wird damit umgegangen, dass sichmanche Menschen immer weniger mit demokratischlegitimierten Prozessen identifizieren? Wie kann mitdem Spannungsverhältnis zwischen <strong>in</strong>ternationalerKonkurrenzfähigkeit <strong>und</strong> „sozialem Zusammenhalt“umgegangen werden? Wie wird mit zunehmender Armut<strong>und</strong> räumlichen Spaltungstendenzen <strong>in</strong> den Städtenumgegangen?Solche <strong>und</strong> ähnliche Fragen stellen sich aus der Perspektiveder Stadteil- <strong>und</strong> Geme<strong>in</strong>wesenarbeit, aus derPerspektive der Stadtentwicklung <strong>und</strong> -planung <strong>und</strong>aus e<strong>in</strong>er sozialräumlichen Perspektive der Stadtforschung.Hier sollen zwei Antwort-Zugänge thesenartigdargestellt werden – e<strong>in</strong>e aus der Sicht der Geme<strong>in</strong>wesenarbeit<strong>und</strong> e<strong>in</strong>e aus der Sicht der Ause<strong>in</strong>andersetzungmit dem „sozialen Raum“.Geme<strong>in</strong>wesenarbeit alstransdizipl<strong>in</strong>ärer Zugang?Anfang des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts setzte sich im Rahmen derSettlementbewegung u.a. Jane Adams <strong>in</strong> Chicago mitArmut ause<strong>in</strong>ander. Mit Studierenden lebte sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emHaus <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Armutsviertel Chicagos. Geme<strong>in</strong>sammit der Armutsbevölkerung wurde an Maßnahmen zurBekämpfung der Armut gearbeitet, wie Sonntagsschulen,K<strong>in</strong>derbetreuungse<strong>in</strong>richtungen, etc. (Müller 1999).Geme<strong>in</strong>wesenarbeit (bzw. Community-Development)ist auch heute als Konzept def<strong>in</strong>iert, das ausgehendvon den Bedürfnissen von Menschen daran arbeitet,dass sich Lebensverhältnisse verbessern. Betroffenewerden dabei unterstützt, Interessen selbst e<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen<strong>und</strong> sie zu organisieren. Im Rahmen der sozialenArbeit entwickelt, ist Geme<strong>in</strong>wesenarbeit (GWA) als<strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>äres Konzept zu verstehen. Bei der Bearbeitungvon sozialen Problemen soll „ganzheitlich“vorgegangen werden <strong>und</strong> unterschiedliche diszipl<strong>in</strong>ärePerspektiven sollen <strong>in</strong>tegriert werden (z.B. Planung beider Gestaltung von Raum, Ökonomie bei Fragen der lokalenVersorgung, etc.). Je nach gesellschaftlicher Fragestellungf<strong>in</strong>det GWA bzw. Community-Developmentu.a. Anwendung <strong>in</strong> der sozialen <strong>in</strong>tegrierten Stadtentwicklung,bei der Gestaltung von Partizipations-,Aushandlungs- <strong>und</strong> Integrationsprozessen oder <strong>in</strong> derOrganisation solidarischer Ökonomien. Mit GWA bzw.Community-Development wird e<strong>in</strong> emanzipatorischer<strong>und</strong> partizipatorischer Ansatz verfolgt, der sich u.a. andem pädagogischen Konzept <strong>Paulo</strong> <strong>Freire</strong>s orientiert(H<strong>in</strong>te/Lüttr<strong>in</strong>ghaus/Oelschlägel 2007, Campfens 1999).Zusammengefasst ist GWA dadurch gekennzeichnet, dasskomplexe gesellschaftliche Fragestellungen ganzheitlich(multiperspektivisch) <strong>und</strong> geme<strong>in</strong>sam mit den Betroffenenbearbeitet werden. So gesehen könnte gesagt werden,dass im Rahmen der GWA schon lange e<strong>in</strong> transdiszipl<strong>in</strong>ärerZugang verfolgt wird. Andererseits kämpft die <strong>Soziale</strong>Arbeit um die Anerkennung als eigenständige Diszipl<strong>in</strong>– e<strong>in</strong>e groteske Situation, bei der sich die Frage stellt, obTransdiszipl<strong>in</strong>arität erst möglich ist, wenn sich vorher diediszipl<strong>in</strong>ären Positionen abgegrenzt herausgebildet haben.Oder aber geht der veränderungsorientierte, lebensweltnaheZugang verloren, wenn soziale Arbeit sich mehr mitder eigenen diszipl<strong>in</strong>ären Verortung beschäftigt?43 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


Transdiszipl<strong>in</strong>äreMethodenentwicklung im Rahmen derSozialraumanalyse?Seit Ende der 1990er Jahre ist, so wie <strong>in</strong> anderenSozialwissenschaften, auch <strong>in</strong> der sozialen Arbeit dieRede vom sozialen Raum. Auch wenn nicht von e<strong>in</strong>eme<strong>in</strong>heitlichen Verständnis der „Sozialraumorientierung“gesprochen werden kann, trägt die Ause<strong>in</strong>andersetzungmit dem sozialen Raum zu e<strong>in</strong>er Weiterentwicklungder sozialen Arbeit bei. Neben e<strong>in</strong>er theoretischenSchärfung (v.a. durch die Betrachtung derWechselwirkung von gesellschaftlichen Verhältnissen,dem Handeln der Menschen <strong>und</strong> sozial bzw. physischräumlicher Ausdrucksformen) werden <strong>in</strong>nerhalb dersozialen Arbeit neue Erhebungsmethoden entwickelt.Mit Methoden der Sozialraumanalysen werden auchqualitative Zugänge zu den verräumlichten Lebensweltenhergestellt. Stadtteilbegehungen, Autofotografie,subjektive Landkarten oder die Nadelmethode s<strong>in</strong>dMethoden, die es ermöglichen, die Lebensweltene<strong>in</strong>zub<strong>in</strong>den. Sie werden bei der Konzeptentwicklungvon sozialen E<strong>in</strong>richtungen ebenso angewendet wiebei der Stadtplanung. Bei letzterer werden quantitativemit qualitativen Zugängen verknüpft <strong>und</strong> es wird<strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>är vorgegangen. Diese Entwicklung vonMethoden der Sozialraumanalyse zeigen transdiszipl<strong>in</strong>äreZugänge auf: Komplexe Fragestellungen, wie etwadie Gestaltung des öffentlichen Raums, werden unterHeranziehung unterschiedlicher Perspektiven betrachtet(planerisch, soziologisch, ökonomisch, etc.). Dabeiwerden diszipl<strong>in</strong>äre Grenzen auch überschritten, weilmethodische Vorgehensweisen neu entwickelt werden.Diese Methoden werden so adaptiert, dass die jeweiligeZielgruppe <strong>in</strong> ihrer Lebenswelt tatsächlich erreichtwird. Sozialraumanalysen weisen dabei e<strong>in</strong>en starkenanwendungsorientierten Zugang auf – die Bedürfnissevon Menschen sollen z.B. <strong>in</strong> die Planungsprozessee<strong>in</strong>fließen (Kessl/Reutl<strong>in</strong>ger 2007; Riege/Schubert 2007,De<strong>in</strong>et/Krisch 2002).SchlussSowohl das Konzept Geme<strong>in</strong>wesenarbeit als auch dieH<strong>in</strong>wendung zu Sozialraumanalysen werden nicht ause<strong>in</strong>er Diszipl<strong>in</strong> alle<strong>in</strong>e betrieben. In beiden Ansätzenwerden komplexe gesellschaftliche Fragestellungen sobetrachtet, dass enge diszipl<strong>in</strong>äre Positionen aufgegebenwerden müssen. Auch s<strong>in</strong>d beide veränderungsorientiert.Es sche<strong>in</strong>en also transdiszipl<strong>in</strong>äre Zugängevorzuliegen, an die angeknüpft werden könnte. Es stelltsich die Frage, wie e<strong>in</strong> Rahmen geschaffen werdenkann, diese Zugänge zu erproben <strong>und</strong> weiter zu entwickeln,ohne dass e<strong>in</strong>e diszipl<strong>in</strong>äre Vere<strong>in</strong>nahmungstattf<strong>in</strong>det.Literatur:Campfens, Hubert (Ed., 1999): Community-Development Aro<strong>und</strong>the World. Toronto/Buffalo/London: University of Toronto Press.De<strong>in</strong>et, Ulrich/Krisch, Richard (2002): Der sozialräumliche Blick<strong>in</strong> der Jugendarbeit. Methoden <strong>und</strong> Bauste<strong>in</strong>e zur Konzeptentwicklung<strong>und</strong> Qualifizierung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.H<strong>in</strong>te, Wolfgang/Lüttr<strong>in</strong>ghaus, Maria/Oelschlägel, Dieter (2007):Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> Standards der Geme<strong>in</strong>wesenarbeit. Reader.We<strong>in</strong>heim: Juventa.Kessl, Fabian/Reutl<strong>in</strong>ger, Christian (2007): Sozialraum. E<strong>in</strong>eE<strong>in</strong>führung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.Müller, Wolfgang C. (1999): Wie Helfen zum Beruf wurde. E<strong>in</strong>eMethodengeschichte der <strong>Soziale</strong>n Arbeit. Band 1. We<strong>in</strong>heim:Juventa.Riege, Marlo/Schubert, Herbert. (Hrsg., 2007): Sozialraumanalyse.Gr<strong>und</strong>lagen – Methoden – Praxis. Wiesbaden: VS Verlag fürSozialwissenschaften.44 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


13. Vone<strong>in</strong>ander (Ver-)LernenMe<strong>in</strong>e Gedanken über tansdiszipl<strong>in</strong>äre Forschung formuliereich vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> me<strong>in</strong>er Erfahrungen<strong>in</strong> dem Sparkl<strong>in</strong>g Science-Projekt „Tricks of the Trade.Feldforschung mit SchülerInnen“. In diesem Projektführten fünf WissenschafterInnen des Vere<strong>in</strong>s ScienceCommunications Research mit 24 elf bis 14-jährigenJugendlichen der Kooperativen Mittelschule (KMS)Pfeilgasse sozialwissenschaftliche Forschungsprojektedurch, <strong>in</strong> denen Elemente der Lebenswelt der Jugendlichenerforscht wurden (z.B. Migration, Chatten,Fußball, Berufswahl, etc.). Im Laufe der zweijährigenZusammenarbeit zwischen WissenschafterInnen, LehrerInnen<strong>und</strong> SchülerInnen stellte sich heraus, dass unsereursprünglichen Ideen davon, was Schule, Wissenschaft<strong>und</strong> Forschung s<strong>in</strong>d, was „relevantes“ Wissen ist<strong>und</strong> wie es generiert werden kann, differierten, sich imLaufe des Projektes veränderten <strong>und</strong> am Ende bei unsallen andere waren als zu Beg<strong>in</strong>n. Wir hatten also alleetwas gelernt: Die WissenschafterInnen beispielsweiseüber die Interessen, Tätigkeiten <strong>und</strong> Probleme vonJugendlichen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er KMS oder über die Wichtigkeitvon Noten am Übergang von der KMS zur nächsten(Aus-)Bildungs<strong>in</strong>stitution bzw. dem Arbeitsmarkt, dieLehrerInnen über sozialwissenschaftliche Methoden,die SchülerInnen beispielsweise über das (Forschungs-)Fragen stellen <strong>und</strong> Antworten darauf f<strong>in</strong>den.Veronika WöhrerWir lernten Neues <strong>und</strong> mussten dabei alte Ideen <strong>und</strong>Bilder bisweilen h<strong>in</strong>terfragen oder ganz über den Haufenwerfen. So lernten wir SozialwissenschafterInnenbeispielsweise, dass die Methoden <strong>und</strong> Verfahren, diewir an der Uni lernen, nicht unbed<strong>in</strong>gt dazu taugen,um sie mit jungen SchülerInnen anzuwenden. Wir begannenbeispielsweise Skizzen <strong>und</strong> Zeichnungen alsInstrumente der Datenerhebung zu verwenden oderInterviews anhand der Audioaufnahmen anstatt mitTranskripten zu analysieren. Wir mussten nicht nurunsere Ausdrucksweise, sondern auch unser Tempo,die Intensität der Ause<strong>in</strong>andersetzung sowie e<strong>in</strong>igeunserer Vorstellungen <strong>und</strong> Ideen über die Schule oderdas Zusammenspiel von Migration, sozialer Herkunft<strong>und</strong> Bildungserfolg überdenken <strong>und</strong> adaptieren. DieSchülerInnen lernten auf der anderen Seite, dass amEnde e<strong>in</strong>er Forschung oft mehr Fragen als Antwortenstehen. So me<strong>in</strong>te etwa e<strong>in</strong>e Schüler<strong>in</strong> am Ende desersten Forschungs-Schuljahres: „Ich habe gedacht, wirwerden diese Fragen, die am Anfang am Plakat gestandens<strong>in</strong>d (z.B. „Wie kann man sich verlieben?“, „Istes wirklich Liebe, wenn man am nächsten Tag wiederSchluss macht?“), beantworten. Ich hab wirklich gedacht,wir werden die e<strong>in</strong>fach beantworten“. Sie hattealso erwartet, dass es <strong>in</strong> der Forschung – wie oft <strong>in</strong>der Schule – klare Antworten auf die gestellten Fragengibt. Am Ende standen stattdessen neue Fragen – aberauf komplexerem Niveau. Dementsprechend me<strong>in</strong>teihre Kolleg<strong>in</strong>: „Zuerst denkst du, es ist ganz e<strong>in</strong>fach:love is love. Und dann merkst du, es geht um kompliziertereSachen.“45 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


Transdiszipl<strong>in</strong>arität verstehe ich als Forschungsansatz,der mit den betroffenen Personen <strong>und</strong> Institutionen ander Lösung von Problemen <strong>und</strong> der Bearbeitung vonFragestellungen arbeitet, ohne sie notwendigerweise <strong>in</strong>jeden Schritt des Forschungsprozesses mit e<strong>in</strong>zubeziehen.Hier unterscheidet sich transdiszipl<strong>in</strong>äre Forschungme<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach von partizipativer Sozialforschung.Letztere hat den Anspruch, alle Phasen des Forschungsprozesses– von der Erstellung der Fragestellungbis zur Umsetzung der Ergebnisse – geme<strong>in</strong>sammit den Ko-ForscherInnen zu erarbeiten. Unser Projektwar e<strong>in</strong> Versuch, dies mit SchülerInnen e<strong>in</strong>er KMSumzusetzen. Dabei wird das Alltags- <strong>und</strong> Erfahrungswissender Menschen vor Ort, die ja selbst ExpertInnenihrer Lebenswelt s<strong>in</strong>d, ihre Ideen, Interpretationen <strong>und</strong>Visionen, ernst genommen.Ich denke, dass Transdizipl<strong>in</strong>arität aus mehreren Gründenwichtig ist. Es ist nicht nur politisch <strong>und</strong> ethischvertretbarer, mit den im Forschungsfeld lebenden oderarbeitenden Personen geme<strong>in</strong>sam zu arbeiten, sondern<strong>in</strong> vielen Fällen auch wissenschaftlich s<strong>in</strong>nvoller. Nurunter E<strong>in</strong>bezug der Personen, die unmittelbar mit denFragen, an denen die Forschung arbeitet, befasst s<strong>in</strong>d,können s<strong>in</strong>nvolle <strong>und</strong> dauerhafte Lösungen für Problemeentwickelt werden. Ideen, Anliegen <strong>und</strong> Kritiken derExpertInnen vor Ort – <strong>in</strong> diesem Fall der SchülerInnen<strong>und</strong> LehrerInnen – eröffnen den WissenschafterInnendabei neue Perspektiven.SozialwissenschafterInnen müssen sich allerd<strong>in</strong>gs imKlaren darüber se<strong>in</strong>, dass sie dabei auch ihre eigeneWissenschaft zur Disposition stellen: Wenn sich Sozialwissenschaftneuen Kontexten gegenüber wirklichöffnet, d.h. wenn sie versucht an Orten anwendbarzu werden <strong>und</strong> aktiv betrieben zu werden, an denensonst allzu oft nur „Objekte“ der Forschung vermutetwerden, muss sie sich gefallen lassen, f<strong>und</strong>amental <strong>in</strong>Frage gestellt zu werden (dies trifft auf nicht-westlicheebenso wie auf nicht-weiße, oder nicht-Mittelschichtskontextezu): E<strong>in</strong>ige Begriffe, Methoden, Thesen <strong>und</strong>Theorien werden sich als unbrauchbar erweisen, h<strong>in</strong>terfragt,kritisiert <strong>und</strong> adaptiert werden müssen. Genaudas trägt aber nicht nur zur valideren Erarbeitung oderzur besseren Umsetzung von Forschungsergebnissenbei, sondern kann als Chance für die (Sozial-)Wissenschaften<strong>in</strong>sgesamt verstanden werden: Diese Fragen,Kritiken <strong>und</strong> Veränderungen s<strong>in</strong>d notwendig, damitWissenschaft sich weiterentwickelt <strong>und</strong> neue Wege <strong>und</strong>Fragestellungen f<strong>in</strong>den kann.Nicht nur das Lernen, auch das „Verlernen“ ist beimtransdiszipl<strong>in</strong>ären Forschen also e<strong>in</strong> gegenseitiges:Während die SchülerInnen sche<strong>in</strong>bare Tatsachen oderGegebenheiten h<strong>in</strong>terfragen <strong>und</strong> neu denken müssen(z.B. dass Buben ke<strong>in</strong>e Gefühle haben, dass Männerbesser Fußball spielen als Frauen, etc.), müssen dieWissenschafterInnen Methoden, Begriffe <strong>und</strong> Erklärungenh<strong>in</strong>terfragen <strong>und</strong> neu denken. Beide lernen dadurchNeues, <strong>und</strong> beiden werden dadurch neue Fakten,Fähigkeiten <strong>und</strong> Perspektiven eröffnet.46 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


14. querdenkenNachgetragene Überlegungen zu e<strong>in</strong>er transdiszipl<strong>in</strong>ären VeranstaltungGerald Fasch<strong>in</strong>gederBei Transdiszipl<strong>in</strong>arität geht es um nichts Ger<strong>in</strong>geresals um das Erfassen <strong>und</strong> Verstehen der gegenwärtigenWelt. Das ist e<strong>in</strong>e große Ansage, nicht ganz frei vonPathos <strong>und</strong> Kritik. Der <strong>in</strong> den letzten Jahren auch <strong>in</strong>Österreich präsent gewordene Ansatz der transdiszipl<strong>in</strong>ärenForschung steht nicht nur für Innovation <strong>in</strong> derForschungswelt, sondern artikuliert auch Kritik an derUnfähigkeit des gegenwärtigen Wissenschaftsbetriebes,für die Fragen der Menschheit brauchbare <strong>und</strong> umsetzbareAntworten hervorzubr<strong>in</strong>gen.E<strong>in</strong>e solche Ansage kl<strong>in</strong>gt allerd<strong>in</strong>gs etwas hochtrabend.Kann denn e<strong>in</strong> Symposium, dessen Dokumentationhier vorliegt, beanspruchen, zur Lösung solchgewichtiger Herausforderungen e<strong>in</strong>en relevantenBeitrag zu leisten? Ist es denn dem Symposium, dasam 14. <strong>und</strong> 15. Oktober 2010 <strong>in</strong> Wien unter dem Titel„<strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischenStädten“ stattfand <strong>und</strong> etwa 50 Personenaus verschiedenen diszipl<strong>in</strong>ären Kontexten zusammenbrachte,gelungen, die gegenwärtige Welt zu erfassen<strong>und</strong> zu verstehen? Etwas mehr Bescheidenheit, geradeaufgr<strong>und</strong> der ger<strong>in</strong>gen Tragweite der Lösungsvorschläge,wie sie auch die kritischen Sozialwissenschaftenhervorbr<strong>in</strong>gen, ersche<strong>in</strong>t doch angebracht.Wieso also von Transdiszipl<strong>in</strong>arität sprechen, wennes dazu verleitet, <strong>in</strong> den eigenen Zielvorstellungenabzuheben? Welche Chancen birgt denn dieser Wissenschaftszugang<strong>in</strong> sich? Dieser Beitrag stellt Kernaspektedes transdiszipl<strong>in</strong>ären Denkens <strong>und</strong> Forschensvor <strong>und</strong> br<strong>in</strong>gt diese <strong>in</strong> Zusammenhang mit demForschungsprojekt „<strong>Vielfalt</strong> der Kulturen – ungleicheStadt“, dessen Zwischenergebnisse beim Symposiumpräsentiert <strong>und</strong> diskutiert wurden (Näheres auch <strong>in</strong> Novy/Habersack/Be<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> 2012. Dieser Text kann Transdiszipl<strong>in</strong>aritätals solche nicht e<strong>in</strong>gehend darstellen, dazu sei aufBals<strong>in</strong>ger 2005, Cass<strong>in</strong>ari et al. 2011, Hisch Hadorn et al.2008 sowie Kle<strong>in</strong> et al. 2011 verwiesen.)Zunächst werden hier die drei Phasen transdiszipl<strong>in</strong>ärenForschens vorgestellt <strong>und</strong> davon ausgehend dieNotwendigkeit der Wissenskritik dargelegt. Aus dieserergibt sich die Frage, wie Forschung zu e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>tegriertenWissen <strong>und</strong> Begreifen der Welt beitragen kann. MitBasarab Nicolescu wird die transdiszipl<strong>in</strong>äre Methodikerläutert, die e<strong>in</strong> komplexes Denken ermöglicht, dasjenseits der diszipl<strong>in</strong>ären Grenzen führt.Damit komme ich zu unserem Thema <strong>und</strong> zur Fragenach der Transdiszipl<strong>in</strong>arität. Die E<strong>in</strong>ladung zum Symposium„<strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong><strong>in</strong> europäischen Städten“ wirft e<strong>in</strong>e ganze Reihe vongewichtigen Fragen auf: Da wird von „zunehmender“sozialer <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong>r <strong>Vielfalt</strong> gesprochen,die „große Herausforderungen“ darstellen. Dagibt es e<strong>in</strong> „komplexes Zusammenspiel“ von städtischer,nationaler, europäischer <strong>und</strong> globaler Ebene,„verstärkt“ durch die derzeitige Wirtschaftskrise. Diesevielen kräftigen Formulierungen lassen ke<strong>in</strong>en Zweifeldaran, dass es um e<strong>in</strong> relevantes Wissen geht, das zuwirksamen Aktivitäten führen muss.Dies entspricht e<strong>in</strong>er der Ordnungsformen des transdiszipl<strong>in</strong>ärenForschungsprozesses, wird doch dieserzumeist <strong>in</strong> drei Phasen geteilt (vgl. Novy/Be<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> 2009,Bergmann et al. 2010):1. Problemidentifikation <strong>und</strong> -strukturierung2. Problembearbeitung3. In-Wert-Setzung bzw. transdiszipl<strong>in</strong>äre Integrationim H<strong>in</strong>blick auf Handlungsoptionen.Das Problem der Problemdef<strong>in</strong>itionIm Gegensatz zu diesem Drei-Phasen-Modell stelltdiszipl<strong>in</strong>äre Forschung die Problembearbeitung <strong>in</strong>s <strong>Zentrum</strong>ihrer Aufmerksamkeit: Es werden Thesen gebildet,Daten erhoben <strong>und</strong> <strong>in</strong>terpretiert, schließlich neueTheorien erarbeitet. Der Ansatz der Transdiszipl<strong>in</strong>aritätwill dieses Wissenschaftsverständnis überschreiten <strong>und</strong>thematisiert daher auch das, was vorher, <strong>und</strong> jenes,was nach der eigentlichen Problembearbeitung liegt.Hier ist die Frage nicht unerheblich, was eigentlich zum„Problem“ erhoben wird. „Probleme“ ergeben sichnicht von selbst aus e<strong>in</strong>em bestimmten Forschungsfeldheraus, sondern s<strong>in</strong>d Ergebnis sozialer Def<strong>in</strong>itionsprozesse:„In transdiszipl<strong>in</strong>ären Forschungsprozessen werdengesellschaftliche Sachverhalte als lebensweltliche Problemlagenaufgegriffen <strong>und</strong> wissenschaftlich bearbeitet.In die Beschreibung dieser Problemlagen werden dieproblemadäquaten Fächer bzw. Diszipl<strong>in</strong>en sowie dasnotwendige Praxiswissen e<strong>in</strong>bezogen. Sie wirken auch47 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


ei der Überführung der gesellschaftlichen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>ewissenschaftliche Problemstellung <strong>und</strong> bei der Beschreibungder daraus resultierenden Forschungsfragenzusammen. Bei der Problembearbeitung überschreitetdie transdiszipl<strong>in</strong>äre Forschung die Diszipl<strong>in</strong>- <strong>und</strong> Fachgrenzensowie die Grenzen zwischen wissenschaftlichemWissen <strong>und</strong> Praxiswissen, das für die angemesseneBehandlung der Fragestellung notwendig ist.“(Bergmann et al. 2010: 38)Im Wissenschaftsbetrieb obliegt es gewöhnlich denWissenschafterInnen selbst, „Probleme“ zu def<strong>in</strong>ieren<strong>und</strong> Forschungsfragen dazu zu formulieren. WissenschafterInnengehören aber mitunter e<strong>in</strong>em bestimmtengesellschaftlichen Milieu an <strong>und</strong> der Wissenschaftsbetriebfolgt ganz spezifischen Logiken. Sie bilden e<strong>in</strong>e„Sozietät“ eigener Ordnung <strong>und</strong> repräsentieren nichtdie Gesellschaft als Ganze. Gesellschaft <strong>und</strong> Wissenschaftgeraten damit <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Spannungsfeld.Es kann daher ke<strong>in</strong>eswegs davon ausgegangen werden,dass Problemdef<strong>in</strong>itionen von WissenschafterInnenvon Nicht-WissenschafterInnen geteilt werden. Wersich jemals, ausgehend von e<strong>in</strong>er bestimmten Diszipl<strong>in</strong>,mit e<strong>in</strong>er anderen näher befasst hat, etwa als HistorikerInmit Mediz<strong>in</strong> oder als ÖkonomIn mit Germanistik,kennt die Erfahrung, dass ihm/ihr diese neue Diszipl<strong>in</strong>zunächst wie e<strong>in</strong> „spanisches Dorf“ vorkommt: Es gibtnicht nur e<strong>in</strong>e eigene Fachsprache, sondern auch e<strong>in</strong>eganz eigene Art <strong>und</strong> Weise, wie man zu Fragestellungengelangt <strong>und</strong> Hypothesen generiert.Jede Diszipl<strong>in</strong> stellt ihren eigenen S<strong>in</strong>nkosmos dar.Michel Foucault hat Diszipl<strong>in</strong>en kritisch als Ort derS<strong>in</strong>nproduktion <strong>und</strong> Wahrheitskonstruktion beschrieben,als Dispositive, die „wahr“ von „falsch“ nachganz eigenen Kriterien zu unterscheiden vermögen,die E<strong>in</strong>- <strong>und</strong> Ausschlussmechanismen kennen <strong>und</strong> dazutendieren, zu selbstreferentiellen Systemen zu werden(vgl. Foucault 1966). Sie <strong>in</strong>tegrieren <strong>in</strong> sich selbst sogarWidersprüche <strong>und</strong> Kritik.WissenschaftstheoretischerAnarchismusMichel Foucault war nicht alle<strong>in</strong>e mit se<strong>in</strong>er Kritik.Während er sich mit Quellen <strong>und</strong> Konzepten aus demBereich der Geschichte <strong>und</strong> der Philosophie befasste,beobachteten <strong>und</strong> analysierten Thomas S. Kuhn <strong>und</strong>Paul Feyerabend die spezifische Kultur im Bereich derNaturwissenschaften. Ihre Kritik wurde gr<strong>und</strong>legendfür heutige Wissenschaftstheorie: Wissenschaftenfußten nicht auf Rationalität als solcher, sondern aufÜbere<strong>in</strong>kunft, so der geme<strong>in</strong>same Punkt der beidenWissenschaftstheoretiker. Feyerabend war <strong>in</strong> se<strong>in</strong>erKritik sehr radikal, verne<strong>in</strong>te er doch, dass es allgeme<strong>in</strong>eMaßstäbe gäbe, mit denen man Wissenschaftenbewerten könne. Produktive Forschung müsse daherwissenschaftliche Methoden immer wieder kreativ variieren,verändern oder aufgeben. Se<strong>in</strong> wissenschaftstheoretischerAnarchismus richtete sich gegen den vonihm als Dogmatismus kritisierten Ansatz des KritischenRationalismus Karl Poppers. Zu Erfolg <strong>und</strong> <strong>in</strong>novativerErkenntnis kämen WissenschafterInnen nicht deshalb,weil sie sich an Regeln <strong>und</strong> Normen ihres Faches halten,sondern wenn sie sich im Gegenteil quer dazustellten, Theorienpluralismus <strong>und</strong> Methodenanarchismusbetrieben.Thomas S. Kuhn beschrieb die Herausbildung e<strong>in</strong>er„Normalwissenschaft“, deren Charakteristik nichtsanderes ist, als dass sie normativ wirkt. Sie erklärtdie Welt nicht unbed<strong>in</strong>gt besser als konkurrierendeTheorieansätze, aber sie wird von der relevanten Bezugsgruppeals zutreffend <strong>und</strong> „richtig“ betrachtet. Inihr entfaltet sich e<strong>in</strong> bestimmtes Paradigma, e<strong>in</strong> Erklärungsansatzmit sehr spezifischem Anspruch:„E<strong>in</strong>erseits steht er [der Begriff Paradigma, Anm. GF]für die ganze Konstellation von Me<strong>in</strong>ungen, Werten,Methoden usw., die von den Mitgliedern e<strong>in</strong>er gegebenenGeme<strong>in</strong>schaft geteilt werden. Andererseitsbezeichnet er e<strong>in</strong> Element <strong>in</strong> dieser Konstellation, diekonkreten Problemlösungen, die, als Vorbilder oderBeispiele gebraucht, explizite Regeln als Basis für dieLösung der übrigen Probleme der ‚normalen Wissenschaft‘ersetzen können.“ (Kuhn 1981 [1969]: 186)Nun beobachtete Kuhn, dass <strong>in</strong> der Geschichte derPhysik e<strong>in</strong> Paradigma e<strong>in</strong> anderes abzulösen imstandewar – e<strong>in</strong> Vorgang, der als wissenschaftliche Revolutionbezeichnet wurde. Der Paradigmenwechsel selbstaber erfolgt gar nicht aus der Logik der Wissenschaftheraus <strong>und</strong> jedenfalls nicht, weil das alte Paradigma48 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


widerlegt oder das neue „bewiesen“ worden sei. Ess<strong>in</strong>d vielmehr außerwissenschaftliche, soziale Prozesse,die dazu führen, dass Paradigmen e<strong>in</strong>ander ablösen.Als Beispiel führt Kuhn dazu den Wechsel vom ptolemäischenzum kopernikanischen Weltbild an, als dasgeozentrische durch das heliozentrische Weltbild abgelöstwurde.Vor diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> wird verständlich, weshalb dertransdiszipl<strong>in</strong>äre Ansatz fordert, dass bereits bei derProblemdef<strong>in</strong>ition außerwissenschaftliche AkteurInnene<strong>in</strong>bezogen werden. Wissenschaften s<strong>in</strong>d auf ihre Paradigmenfixiert; diszipl<strong>in</strong>äre Forschung bleibt aufgr<strong>und</strong>der spezifischen Fokussierung damit gerne etwas kurzsichtig.Außerwissenschaftliche AkteurInnen könnendabei helfen, die Sicht zu erweitern. Novy <strong>und</strong> Be<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>fordern deshalb e<strong>in</strong>en „doppelten Dialog“, der fürtransdiszipl<strong>in</strong>äres Forschen handlungsleitend se<strong>in</strong> sollte(vgl. Novy/Be<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> 2009).Gleichzeitig stellt sich Transdiszipl<strong>in</strong>arität auch derHerausforderung e<strong>in</strong>er Entwicklung, die gerade durchdie Arbeiten Feyerabends <strong>und</strong> Kuhns provoziert wurde:dem radikalen Relativismus. Wenn Feyerabends Slogan„anyth<strong>in</strong>g goes“ konsequent weitergedacht wird, ist es<strong>und</strong>enkbar, e<strong>in</strong> kohärentes <strong>und</strong> <strong>in</strong>tegriertes Bild von dergegenwärtigen Welt, wie sie ist, zu erarbeiten. Transdiszipl<strong>in</strong>aritätgreift relativierende Wissenschaftskritik auf,strebt aber nach e<strong>in</strong>er Überw<strong>in</strong>dung des Relativismusdurch Integration verschiedener Wissensformen.Der Wert des WissensÄhnlich kann auch die dritte Phase des transdiszipl<strong>in</strong>ärenForschungsprozesses argumentiert werden, dieIn-Wert-Setzung von Wissen. Der eigentliche Wert desGef<strong>und</strong>enen, Beschriebenen, Entdeckten, Erkannten,kann eigentlich nicht von der Diszipl<strong>in</strong> selbst, sondernmuss von außerwissenschaftlichen AkteurInnenbestimmt werden. Dies bedeutet freilich, dass e<strong>in</strong>erDiszipl<strong>in</strong> e<strong>in</strong> großer Autonomieverlust droht, lässt siesich auf solche Bewertungsprozesse e<strong>in</strong>. In Wahrheitwissen zwar alle ForscherInnen ohneh<strong>in</strong>, dass es nichte<strong>in</strong> bestimmtes peer-review-Verfahren ist, das ihr Werkder Nachwelt sichern wird, sondern die Geschichteselbst dafür sorgt, ob Gras über Erkenntnisse wächstoder Institutionen sowie soziale Bewegungen auf bestimmteKonzepte rekurrieren. Dies ist jedoch e<strong>in</strong> aufLangzeit angelegtes Evaluierungskriterium, das auchnur wenig dafür geeignet ersche<strong>in</strong>t, das beste Wissenaus e<strong>in</strong>em bestimmten Korpus an Wissens<strong>in</strong>halten herauszufiltern.Wie viel wertvolles menschliches Wissenwurde <strong>in</strong> den letzten Jahrh<strong>und</strong>erten nicht bereits vergessen,verbannt oder verbrannt? Politische Umstände,Moden <strong>und</strong> auch Zufälle spielen gewiss ebenfalls ihreRolle bei der Rezeption wissenschaftlicher Erkenntnisse.Doch dieser Mangel auf der e<strong>in</strong>en Seite macht denMangel der <strong>in</strong>nerwissenschaftlichen Evaluierung vonwissenschaftlicher Erkenntnis nicht ger<strong>in</strong>ger. Es brauchtwohl mehr, um zu e<strong>in</strong>em Wissen zu gelangen, mit demes möglich ist, die gegenwärtige Welt zu erfassen. Ausdiesem Gr<strong>und</strong> fordert das Konzept der Transdiszipl<strong>in</strong>arität,dass nicht-wissenschaftliche AkteurInnen <strong>in</strong> denForschungsprozess e<strong>in</strong>bezogen werden. Bergmann etal. formulieren im H<strong>in</strong>blick auf den „transdiszipl<strong>in</strong>ärenMehrwert“:„Transdiszipl<strong>in</strong>äre Forschungsprozesse [...] erheben e<strong>in</strong>enInterventionsanspruch, verlaufen <strong>in</strong> der Regel projektförmig,s<strong>in</strong>d auf def<strong>in</strong>ierte Forschungsziele gerichtet<strong>und</strong> werden mit e<strong>in</strong>em begrenzten Ressourcene<strong>in</strong>satz<strong>und</strong> Teambildung auf Zeit durchgeführt. Angestrebtwird, dass Forschungsergebnisse <strong>in</strong> der außerwissenschaftlichenWelt praktische Wirkungen haben.“ (Bergmannet al. 2010: 39f.)Die Notwendigkeit e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>tegriertenWissensDas Konzept der Transdiszipl<strong>in</strong>arität wurde zunächst1970 vom Pädagogen Jean Piaget geprägt. Drei Reflexionsanlässewaren damals aktuell: In dieser Zeitwurden erstens die wissenschaftstheoretischen Textevon Kuhn <strong>und</strong> Feyerabend rezipiert, aber es gab zweitensdamals auch e<strong>in</strong>e besorgte Diskussion über dieethische Zulässigkeit von Nuklearforschung. Schließlichstellten drittens auch die Nachwirkungen der 1968er-Bewegung manches Denkmodell <strong>in</strong> Frage. Wir könnendiese drei Elemente als Interventionen <strong>in</strong> die akademischeWelt begreifen, die Piaget ermutigten, denWissenschaftsbetrieb als solchen <strong>in</strong> Frage zu stellen: Esbrauche e<strong>in</strong> anderes Wissen, e<strong>in</strong> über die Diszipl<strong>in</strong>enh<strong>in</strong>ausgehendes Wissen, um die Fragen der Menschheitwirksam zu bearbeiten. Piaget stand damit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>eremanzipatorischen, befreiungsorientierten Tradition.“F<strong>in</strong>ally, we hope to see succeed<strong>in</strong>g to the stage of <strong>in</strong>terdiscipl<strong>in</strong>aryrelations a superior stage, which shouldbe “transdiscipl<strong>in</strong>ary”, i.e. which will not be limited torecognize the <strong>in</strong>teractions and or reciprocities betweenthe specialized researches, but which will locate thesel<strong>in</strong>ks <strong>in</strong>side a total system without stable bo<strong>und</strong>ariesbetween the discipl<strong>in</strong>es.” (Piaget 1972: 144; übersetztvon <strong>und</strong> zitiert nach Nicolescu 2007: 1)49 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


Daran anknüpfend lässt sich e<strong>in</strong> Konzept von Transdiszipl<strong>in</strong>aritätentfalten, das dieses als <strong>in</strong>tegrierte Formder Wissenschaft versteht <strong>und</strong> damit dem Verständnisvon Jürgen Mittelstraß entspricht:“Transdiszipl<strong>in</strong>arität wird als e<strong>in</strong> Forschungs- <strong>und</strong> Wissenschaftspr<strong>in</strong>zipverstanden, das überall dort wirksamwird, wo e<strong>in</strong>e alle<strong>in</strong> fachliche oder diszipl<strong>in</strong>äre Def<strong>in</strong>itionvon Problemlagen <strong>und</strong> Problemlösungen nicht möglichist bzw. über derartige Def<strong>in</strong>itionen h<strong>in</strong>ausgeführtwird. H<strong>in</strong>gegen ist Transdiszipl<strong>in</strong>arität ke<strong>in</strong> Theoriepr<strong>in</strong>zip,das Lehrbücher verändern könnte.” (Mittelstraß2005: 18)Piagets Forderung nach e<strong>in</strong>em Wissen, das jenseitsaktueller wissenschaftlicher Paradigmen steht, wurdevon Basarab Eftimie Nicolescu aufgegriffen. Dieserfranzösische Physiker rumänischer Herkunft verfasste1996 e<strong>in</strong> Manifest der Transdiszipl<strong>in</strong>arität. E<strong>in</strong> kurzerAuszug dieses Textes, gerade e<strong>in</strong>mal vier Seiten lang,f<strong>in</strong>det sich auf der Website des von Nicolescu geleitetenCentre International de Recherches et Etudes Transdiscipl<strong>in</strong>aires<strong>und</strong> gehört wohl zum Aufregendsten, waszu diesem Thema geschrieben wurde. Nicolescu gehtvon der Wahrnehmung e<strong>in</strong>es Verfalls der Zivilisationenaus, dessen Wurzeln im Dunklen liegen. Alles deutedarauf h<strong>in</strong>, dass das vorhandene Wissen nicht vonjenen <strong>in</strong>tegriert werden könne, die diese Zivilisationtragen. Die Diszipl<strong>in</strong>en gelangen nämlich zu e<strong>in</strong>em bigbang, e<strong>in</strong>em ungeheuerlichen Anwachsen <strong>und</strong> Zustandpermanenter Mutationen, der weder von WissenschafterInnenselbst, noch von Außenstehenden mit verfolgt<strong>und</strong> erfasst, geschweige denn gestaltet werden könne.Nicolescu plädiert daher für Transdiszipl<strong>in</strong>arität als jeneForm des Forschens, die zwischen den Diszipl<strong>in</strong>en, querzu ihnen <strong>und</strong> jenseits jeglicher Diszipl<strong>in</strong> liegt: „Ce quiest à la fois entre les discipl<strong>in</strong>es, à travers les différentesdiscipl<strong>in</strong>es et au delà de toute discipl<strong>in</strong>e.” (Nicolescu1996) Nicolescu bezieht sich dabei auf die dreifacheBedeutung des late<strong>in</strong>ischen Präfixes „trans-“. Das Zielder Transdiszipl<strong>in</strong>arität ist das Verstehen der gegenwärtigenWelt, das als e<strong>in</strong>e se<strong>in</strong>er Voraussetzungen e<strong>in</strong>eE<strong>in</strong>heit des Wissens verlangt. Damit ist der Bedarf nach<strong>in</strong>tegriertem Weltverstehen angesprochen, ohne dasdie Zivilisation auf ihr Scheitern zusteuere.Methodologie der Transdiszipl<strong>in</strong>aritätDer Begriff der Transdiszipl<strong>in</strong>arität wurde <strong>in</strong> den letztenJahren <strong>in</strong>tensiv aufgegriffen. Insbesondere der Umstand,dass die Komplexität der Welt auch komplexeHerangehensweisen braucht, die nur durch Überschreitunggegenwärtiger diszipl<strong>in</strong>ärer Grenzen erarbeitetwerden können, fand viel Beachtung. Doch Nicolescudef<strong>in</strong>iert neben der Komplexität noch zwei weitereSäulen der Transdiszipl<strong>in</strong>arität, nämlich die Existenzverschiedener Realitätsniveaus <strong>und</strong> die Logik des e<strong>in</strong>geschlossenenDritten. Sie machen, so Nicolescu, dieMethodologie transdiszipl<strong>in</strong>ären Forschens aus.Damit werden freilich herkömmliche Gr<strong>und</strong>lagenwissenschaftlichen Arbeitens <strong>in</strong> Frage gestellt: E<strong>in</strong>hypothesenprüfendes Verfahren erörtert etwa, ob e<strong>in</strong>eHypothese zutrifft oder nicht. Da gibt es ke<strong>in</strong> Drittes,das denkbar wäre, beispielsweise e<strong>in</strong>: sowohl richtigals auch falsch. Das Pr<strong>in</strong>zip des e<strong>in</strong>geschlossenen Drittenverlangt aber von der Wissenschaft dialektischesDenken, das e<strong>in</strong> Sowohl-als-auch kennt <strong>und</strong> auf e<strong>in</strong>erneuen Ebene der Erkenntnis <strong>in</strong>tegriert.Realität <strong>und</strong> ihre EbenenDamit zur Rede von den unterschiedlichen Realitätsniveaus,die aufs Erste eigenartig wirkt, manchenvielleicht etwas esoterisch kl<strong>in</strong>gt. Nicolescu def<strong>in</strong>iertRealitätsebene folgendermaßen:„By ‚level of Reality‘, I designate a set of systemswhich are <strong>in</strong>variant <strong>und</strong>er certa<strong>in</strong> laws: for example,quantum entities are subord<strong>in</strong>ate to quantum laws,which depart radically from the laws of the macrophysicalworld. That is to say that two levels of Reality aredifferent if, while pass<strong>in</strong>g from one to the other, thereis a break <strong>in</strong> the applicable laws and a break <strong>in</strong> f<strong>und</strong>amentalconcepts (like, for example, causality). Thereforethere is a discont<strong>in</strong>uity <strong>in</strong> the structure of levels ofReality, similar to the discont<strong>in</strong>uity reign<strong>in</strong>g over thequantum world.” (Nicolescu 2007)Zwischen Realitätsebenen besteht e<strong>in</strong> epistemischerBruch, e<strong>in</strong>e Diskont<strong>in</strong>uität. Das hat zur Folge, dassVerstehen <strong>und</strong> Verständigung zwischen diesen Ebenennicht so e<strong>in</strong>fach möglich ist. Dazu kommt e<strong>in</strong> neuesRelativitätspr<strong>in</strong>zip:„A new Pr<strong>in</strong>ciple of Relativity emerges from the coexistencebetween complex plurality and open unity <strong>in</strong> ourapproach: no level of Reality constitutes a privilegedplace from which one is able to <strong>und</strong>erstand all the50 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


other levels of Reality. A level of Reality is what it isbecause all the other levels exist at the same time. ThisPr<strong>in</strong>ciple of Relativity is what orig<strong>in</strong>ates a new perspectiveon religion, politics, art, education, and social life.And when our perspective on the world changes, theworld changes.” (Nicolescu 2007)Dies ist es, was unsere Erkenntnis so sehr verunsichert:Die Welt ändert sich, wenn die Perspektive daraufverändert wird. Schräges wird gerade <strong>und</strong> L<strong>in</strong>eareskrumm, wenn es von e<strong>in</strong>er anderen Realitätsebene ausbetrachtet wird.Ich versuche dies nun anhand des Beispiels unsereskonkreten Forschungsthemas zu veranschaulichen, diesoziale <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischenStädten. Die Statistik Austria bietet auf ihrerWebsite allen Interessierten relevante Daten zu sozialer<strong>Ungleichheit</strong> bzw. Armut <strong>und</strong> soziale E<strong>in</strong>gliederung (vgl.Statistik Austria 2012). Zur Realität der österreichischenSchule f<strong>in</strong>det man dort auch H<strong>in</strong>weise auf <strong>kulturelle</strong><strong>Vielfalt</strong>, etwa <strong>in</strong> Statistiken über Sprachen <strong>und</strong> Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>der Schulpopulation. Doch e<strong>in</strong>e solcheHerangehensweise, empirisch belegt <strong>und</strong> <strong>in</strong>tersubjektivnachprüfbar, kommt rasch an ihre Grenzen, wenngefragt wird, was denn diese Zahlen bedeuten. E<strong>in</strong>eMöglichkeit der Interpretation ist es, die Zahlen mit derräumlichen Ebene zu verb<strong>in</strong>den <strong>und</strong> sie mit Werten andererösterreichischer B<strong>und</strong>esländer oder europäischerStaaten zu vergleichen. Oder sie werden <strong>in</strong> Zusammenhangmit transnationalen Migrationsströmen gebracht.Mit diesen hier geschilderten Methoden der quantitativenSozialforschung wird gewiss e<strong>in</strong>e Ebene der Realitätberührt, die ebenso von der Ökonomie, Teilen derSoziologie <strong>und</strong> der Stadtforschung, des ma<strong>in</strong>streamsder Bildungsforschung <strong>und</strong> anderen, auf die Ermittlungvon Quantitäten spezialisierten Wissenschaften erfasstwird. Was bedeutet soziale <strong>Ungleichheit</strong>, was <strong>kulturelle</strong><strong>Vielfalt</strong> für diese Realitäten?E<strong>in</strong>e andere Realitätsebene lässt sich aber erfahren,wenn die subjektive Sicht von SchülerInnen <strong>und</strong> Lehrpersonenzweier Schulen im 18. Wiener Geme<strong>in</strong>debezirke<strong>in</strong>geholt wird. Aus deren Perspektive erschließtsich die konkrete Praxis von Gleichheit <strong>und</strong> <strong>Ungleichheit</strong>,von Kultur <strong>und</strong> Unkultur. Solche Begrifflichkeitens<strong>in</strong>d ausgesprochen vage, sie zeigen aber, dass hier unmittelbaresoziale Erfahrungen bestehen. Zahlen werdenzu Geschichten, h<strong>in</strong>ter identen Zahlenverhältnissenstehen heterogene Erfahrungen, h<strong>in</strong>ter unterschiedlichenWerten möglicherweise geme<strong>in</strong>same Realitäten.Diese andere Realität zu erforschen, ist gewöhnlich dieAufgabe der Soziologie – aber auch von Hermeneutik,Sozialpsychologie, Tiefenpsychologie, L<strong>in</strong>guistik, Geschichte,Literaturwissenschaft, Ethnologie <strong>und</strong> anderen,auf die Erfassung von Qualitäten spezialisiertenWissenschaften.An dieser Stelle muss darauf h<strong>in</strong>gewiesen werden, dasses nicht um e<strong>in</strong>e Methodenfrage geht: Quantitative<strong>und</strong> qualitative Zugänge können ergänzend e<strong>in</strong>gesetztwerden <strong>und</strong> Ergebnisse produzieren, die auf e<strong>in</strong> <strong>und</strong>derselben Realitätsebene angesiedelt s<strong>in</strong>d. Uns geht esh<strong>in</strong>gegen darum, die Brüche zwischen Realitätsebenenzu erfahren <strong>und</strong> diese dann zu verb<strong>in</strong>den. Nur als e<strong>in</strong>Beispiel: Es besteht e<strong>in</strong> scharfer Bruch zwischen derWahrnehmung der Defizite im Bildungssystem, dieSchülerInnen mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> anhaften <strong>und</strong>den Identitätsentwürfen dieser SchülerInnen selbst,die sich auf e<strong>in</strong>er anderen Ebene bewegen: Ihnen gehtes um ihre Beziehungen <strong>in</strong> der peer-group, sie erlebendas, was ForscherInnen als soziale Probleme def<strong>in</strong>ieren,als ihren gewöhnlichen Alltag <strong>und</strong> sie verorten sichzum Teil transnational <strong>und</strong> blicken damit weit über dieStadtgrenzen <strong>in</strong> andere europäische Räume. Darausentstehen jene Kommunikationsprobleme, die NikiGlattauer <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Publikationen immer wieder sopo<strong>in</strong>tiert darstellt:„Wiener Pflichtschule, Sek<strong>und</strong>arstufe e<strong>in</strong>s, kle<strong>in</strong>e Umfrage<strong>in</strong> der Deutsch-St<strong>und</strong>e: ‚Wer von euch spie… äharbeitet täglich mit e<strong>in</strong>em Computer?‘ (Alle heben dieHand.) ‚Wer von euch schaut täglich fern?‘ (Alle hebendie Hand.) ‚Wer von euch macht täglich Sport?‘ (Zweiheben die Hand.) ‚Wer von euch liest täglich?‘ (Sanelahebt die Hand) ‚Toll, Sanela. Wenigstens du.‘ (Pause)‚Welches Buch liest du denn gerade?‘ (Pause) ‚Wieme<strong>in</strong>en Sie das?‘ ‚Du hast doch eben gesagt, dass dutäglich liest ... was liest du denn?‘ ‚SMS.‘“ (Glattauer2010: 15)Es liegt nahe, davon zu sprechen, dass LehrerInnen <strong>und</strong>SchülerInnen an der KMS 18 (Kooperative MittelschuleWien 18) <strong>in</strong> unterschiedlichen Galaxien leben. Nicolescumacht darauf aufmerksam, dass sich zwischenGalaxien nicht nichts, sondern durchaus etwas bef<strong>in</strong>det,nämlich unsichtbare D<strong>in</strong>ge <strong>und</strong> Energie. Es ist dieAufgabe transdiszipl<strong>in</strong>ärer Forschung, das Ganze Universumzu erfassen: die verschiedenen Galaxien, aberauch das Vakuum dazwischen: „Without the <strong>in</strong>terplanetaryand <strong>in</strong>tergalactic vacuum there is no Universe.”(Nicolescu 2007)51 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


Epistemologische ErnüchterungUnsere konkrete Erfahrung im Forschungsprojekt “Ungleiche<strong>Vielfalt</strong>” ist freilich e<strong>in</strong>e epistemologisch hochgradigernüchternde. Es ist nämlich ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>fach,etwas über diese Ebene der Qualitäten zu erfahren<strong>und</strong> zu dokumentieren. In Schulen entwickeln sicheigenständige Kulturen, im S<strong>in</strong>ne von Alltagspraktiken,die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten Gebäude von den Menschengeteilt werden, die sich dort bewegen. Quer dazu liegenaber Bedeutungskonstruktionen, die SchülerInnenaus ihrer primären Sozialisations<strong>in</strong>stanz, ihren Familienmitbr<strong>in</strong>gen. Manche tragen Migrationserfahrungen <strong>in</strong>die Schule, andere nicht. Die e<strong>in</strong>en mussten mehr Brüche<strong>in</strong> ihrer Biographie erfahren, die anderen weniger.Manche s<strong>in</strong>d traumatisiert <strong>und</strong> wissen selbst nichtdavon. Andere s<strong>in</strong>d tatsächlich nur verträumt, vielleichtweil sie nie zu diszipl<strong>in</strong>ierter Traumlosigkeit erzogenwurden. Ahnungen von Ängsten können Ursachen fürLernblockaden <strong>und</strong> sche<strong>in</strong>bar destruktive Strategiense<strong>in</strong>. Eigentlich ist es so, dass e<strong>in</strong> ganz konventionellesSchulgebäude wie die KMS 18 oder das BG 18 (B<strong>und</strong>esgymnasiumWien 18) e<strong>in</strong>e Vielzahl von unterschiedlichenGeschichten <strong>und</strong> Stimmen <strong>in</strong> sich birgt.Hier zu erfassen, was die relevanten, die sozial verb<strong>in</strong>dlichenDeutungen <strong>und</strong> Erzählungen s<strong>in</strong>d, ist ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>facheAufgabe. Das für so unterschiedliche MenschenBedeutsame <strong>in</strong> nur e<strong>in</strong>er Sprache nacherzählen zuwollen, ist vermessen <strong>und</strong> kann nicht gel<strong>in</strong>gen. Ebensowenig kann es <strong>in</strong> der Sprache nur e<strong>in</strong>er Diszipl<strong>in</strong> erzähltwerden. Wie gesagt: In e<strong>in</strong>em Schulgebäude f<strong>in</strong>den wirmehrere Sonnensysteme <strong>und</strong> Galaxien. Manche wohnenh<strong>in</strong>ter dem Mond, andere s<strong>in</strong>d vom Mars. Um daszu erfassen, braucht es e<strong>in</strong>e neue Form des Wissens,e<strong>in</strong> auf e<strong>in</strong>er höheren Ebene <strong>in</strong>tegriertes Weltwissen.Transdiszipl<strong>in</strong>arität bedeutet, diese hier angesprochenenGeschichte <strong>und</strong> Stimmen, von Sonnensystemen<strong>und</strong> Galaxien, von divergenten Realitätsebenen zuverb<strong>in</strong>den zu suchen, <strong>und</strong> damit “trans-”, nämlich zwischendie Diszipl<strong>in</strong>en zu gehen. Das ist der erste vondrei Verweisen durch das Präfix „trans-“.Doch wir wissen auch, dass die Verwaltung der StadtWien vor der Herausforderung steht, mit <strong>Vielfalt</strong> <strong>und</strong><strong>Ungleichheit</strong> umzugehen. <strong>Vielfalt</strong> wie auch <strong>Ungleichheit</strong>wandeln sich ständig, sodass es ke<strong>in</strong>e Option ist,alles zu lassen, wie es ist. Der Arbeitsmarkt verlangtnach jungen Menschen, die lesen <strong>und</strong> schreiben können.Die politischen Prozesse sollten von Menschen gesteuertwerden, die über ihre subjektive Erfahrung h<strong>in</strong>auszu reflektieren imstande s<strong>in</strong>d. Bildungsforschungmuss mit Politikwissenschaft kurzgeschlossen werden,L<strong>in</strong>guistik mit Institutionenk<strong>und</strong>e. Hier gilt es, quer zuden Diszipl<strong>in</strong>en zu wandern, also nochmals „trans-“.Womit wir bei dem zweiten von drei Verweisen durchdas Präfix „trans-“ wären.Jenseits der Diszipl<strong>in</strong>enEs schaut derzeit nicht so aus, trotz aller Probleme, alswürde das soziale Geme<strong>in</strong>wesen <strong>in</strong> Wien <strong>in</strong> absehbarerZeit kollabieren. Ist denn das alles wirklich so wichtig?Der von Nicolescu beschriebene Zusammenbruch derZivilisation dürfte sich mehr auf der Ebene der anhaltendenWeltwirtschaftskrise <strong>und</strong> der Klimakrise abspielen.Daher jetzt, als dritter <strong>und</strong> letzter Verweis durchdas Präfix „trans-“, die Frage, wie denn s<strong>in</strong>nvoll überdas Weltklima gesprochen, wie die Weltwirtschaftskrisebewältigt werden kann, wenn nicht e<strong>in</strong>mal die SchülerInnenmite<strong>in</strong>ander kommunizieren können, wenn siee<strong>in</strong>ander im Marie von Ebner-Eschenbach-Park begegnen,ausgespuckt von ihren jeweiligen Institutionenauf das kle<strong>in</strong>e Fleckchen Grün dazwischen. Jenseitsder Diszipl<strong>in</strong>en geht es um Demokratie, <strong>und</strong> die setztallenthalben Kommunikation <strong>und</strong> Verstehen voraus.Demokratie ist aber auch e<strong>in</strong>e utopische Tätigkeit. Eswar e<strong>in</strong>er der wichtigen Slogans der Pariser 68er-Bewegung,daran zu er<strong>in</strong>nern, dass es unter den Pflasterste<strong>in</strong>ene<strong>in</strong>en Strand gibt: “Sous les pavés la plage.”Mit Blick auf die Pflaster des 18. Wiener Geme<strong>in</strong>debezirkesist man geneigt, das für e<strong>in</strong>en Witz zu halten– oder eventuell e<strong>in</strong>e pubertäre Verwirrung. Docheigentlich geht es um jenes „trans-“, das jenseits derDiszipl<strong>in</strong>en verweist. Gewiss kl<strong>in</strong>gt hier auch so etwaswie Freiheit von unterdrückender Diszipl<strong>in</strong>ierung an,doch es geht um mehr, denn es geht eigentlich umTranszendenz: Um die Dimension des Wünschens <strong>und</strong>des Begehrens. Was mag unter dem Pflaster zu f<strong>in</strong>dense<strong>in</strong>? Die Träume der jungen Menschen hoffen aufsozialen Aufstieg oder malen beängstigende Bilder dessozialen Abstiegs. Diese Träume machen auch die Stadtaus, denn auch sie bilden e<strong>in</strong>e Realitätsebene, e<strong>in</strong>etraumpolitische, e<strong>in</strong>e politische Onirik gewissermaßen.52 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


Weiterh<strong>in</strong> bleiben <strong>in</strong> Wien große Hürden bestehen,die verh<strong>in</strong>dern, dass diese Stadt zu e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>tegriertenGeme<strong>in</strong>wesen wird. Ausschlussmechanismen wirkenausgrenzend. Welche Realität ist es, die fruchtbareLösungen verh<strong>in</strong>dert? Welche Sprachen sollten gesprochenwerden, um epistemische Barrieren, Wälle derBedeutungszuschreibung, die Schützengräben der Semiotiküberw<strong>in</strong>den zu können? Wir leben nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erfriedlichen Stadt, heute nicht <strong>und</strong> morgen nicht.Es sche<strong>in</strong>t, als täte es Not, mehr quer zu denken – querzu den Diszipl<strong>in</strong>en, quer zu den sozialen Grenzziehungen,quer zu politischen Erwartungen. Transdiszipl<strong>in</strong>aritätmuss als e<strong>in</strong>e Strategie des Querdenkens verstandenwerden.Wir stehen immer noch am Anfang unseres Forschungsprojektes.Literatur:Balsiger, Philipp W. (2005): Transdiszipl<strong>in</strong>arität: systematischvergleichendeUntersuchung diszipl<strong>in</strong>enübergreifender Wissenschaftspraxis.München: F<strong>in</strong>k.Bergmann, Matthias/Jahn, Thomas/Knobloch, Tobias/Krohn,Wolfgang/Pohl, Christian/Schramm, Engelbert (2010): Methodentransdiszipl<strong>in</strong>ärer Forschung. E<strong>in</strong> Überblick mit Anwendungsbeispielen.Frankfurt am Ma<strong>in</strong>/New York: Campus.Cass<strong>in</strong>ari, Davide/Hillier, Jean/Miciukiewicz, Konrad/Novy,Andreas/Habersack, Sarah/MacCallum, Diana/Moulaert, Frank:Transdiscipl<strong>in</strong>ary Research <strong>in</strong> Social Polis. Social Polis, 2011.http://www.socialpolis.eu/uploads/tx_sp/Trans_f<strong>in</strong>al_web_s<strong>in</strong>gle_page.pdf [Stand: 2.7.2012]Feyerabend, Paul (1975): Wider den Methodenzwang. Frankfurtam Ma<strong>in</strong>: Suhrkamp.Foucault, Michel (1966): Les mots et les choses. Une archéologiedes sciences huma<strong>in</strong>es. Paris: Gallimard.Glattauer, Niki (2010): Der engagierte Lehrer <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Fe<strong>in</strong>de.Zur Lage an Österreichs Schulen. Wien: Ueberreuter.Hisch Hadorn et al. (2008): Handbook of Transdiscipl<strong>in</strong>aryResearch. Dordrecht: Spr<strong>in</strong>ger.Kle<strong>in</strong>, Julie Thompson/Grossenbacher-Mansuy, Walter/Häberli,Rudolf/Bill, Ala<strong>in</strong>/Scholz, Roland/Welti, Myrtha (2001, Hrsg.):Transdiscipl<strong>in</strong>arity – jo<strong>in</strong>t problem solv<strong>in</strong>g among science, technology,and society: an effective way for manag<strong>in</strong>g complexity.Basel/Boston/Berl<strong>in</strong>: Birkhäuser.Kuhn, Thomas S. (1981): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen.Mit e<strong>in</strong>em Postskriptum von 1969. 5. Auflage. Frankfurtam Ma<strong>in</strong>: Suhrkamp.Mittelstraß, Jürgen (2005): Methodische Transdiszipl<strong>in</strong>arität. In:Technikfolgenabschätzung. Theorie <strong>und</strong> Praxis, 14 (2), 18–23.Nicolescu, Basarab (1996): La transdiscipl<strong>in</strong>arité, manifeste. Monaco:Le Rocher. (English translation: ders. (2002): Manifesto ofTransdiscipl<strong>in</strong>arity. Translation from the French by Karen-ClaireVoss. New York: SUNY Press.)Nicolescu, Basarab (2007): Transdiscipl<strong>in</strong>arity as methodologicalframework for go<strong>in</strong>g beyond the science-religion debate. Paperpresented as the Metanexus Conference, Transdiscipl<strong>in</strong>arityand the Unity of Knowledge: Beyond the “Science and ReligionDialogue”. http://www.metanexus.net/magaz<strong>in</strong>e/tabid/68/id/10013/Default.aspx [Stand: 11.2.2011]Novy, Andreas/Be<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>, Barbara (2009): Transdiscipl<strong>in</strong>arity andsocial <strong>in</strong>novation research. SRE-DISC, 01/2009.http://iir-hp.wu-wien.ac.at/sre-disc/sre-disc-2009_01.pdf[Stand: 2.7.2012]Novy, Andreas/Habersack, Sarah/Be<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>, Barbara (2012forthcom<strong>in</strong>g): Innovat<strong>in</strong>g our way of know<strong>in</strong>g and act<strong>in</strong>g:Transdiscipl<strong>in</strong>arity and knowledge alliances. In: Moulaert, Franket al. (2012 forthcom<strong>in</strong>g): International handbook on social <strong>in</strong>novation:collective action, social learn<strong>in</strong>g and transdiscipl<strong>in</strong>aryresearch. London: Edward Elgar.Piaget, Jean (1972): L’épistémologie des relations <strong>in</strong>terdiscipl<strong>in</strong>aires.In: L’<strong>in</strong>terdiscipl<strong>in</strong>arité: problèmes d’enseignement et derecherche dans les universités. 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15. AutorInnenAndreas Novy ist außerordentlicher Universitätsprofessor<strong>und</strong> Dozent am Institut für Regional- <strong>und</strong>Umweltwirtschaft der Wirtschaftsuniversität Wien.Er ist der Projektleiter von „Ungleiche <strong>Vielfalt</strong>“ <strong>und</strong>Ko-Koord<strong>in</strong>ator vom Projekt Social Polis, außerdemwissenschaftlicher Leiter des <strong>Paulo</strong> <strong>Freire</strong> <strong>Zentrum</strong>s<strong>und</strong> Kuratoriumsvorsitzender der ÖFSE (ÖsterreichischeForschungsstiftung für Internationale Entwicklung).Sarah Habersack hat Internationale Entwicklung ander Universität Wien studiert. Sie ist Forschungsassistent<strong>in</strong>am Institut für Regional- <strong>und</strong> Umweltwirtschaftan der WU Wien im Rahmen des Projekts SocialPolis <strong>und</strong> wissenschaftliche Mitarbeiter<strong>in</strong> im Projekt„Hauptschule trifft Hochschule“. Derzeit arbeitet sie alsNetzwerkkoord<strong>in</strong>ator<strong>in</strong> bei Enchada, der KatholischenJugend Österreich.Göksel Yilmaz hat Politikwissenschaften an der UniversitätWien studiert <strong>und</strong> ist türkischer Muttersprachenlehreran der Kooperativen Mittelschule 18. Erarbeitet seit Beg<strong>in</strong>n des Projekts „Hauptschule trifftHochschule“ mit der WU Wien <strong>und</strong> dem <strong>Paulo</strong> <strong>Freire</strong><strong>Zentrum</strong> zusammen <strong>und</strong> war als <strong>kulturelle</strong>r Experteauch für die Kooperation mit dem Istanbul Lisesi <strong>in</strong> derTürkei zuständig.Kamil Horbaczynski studiert Sozioökonomie mit derVertiefung Internationale Wirtschaft <strong>und</strong> Entwicklungan der WU Wien. Im Rahmen e<strong>in</strong>er Lehrveranstaltungim W<strong>in</strong>tersemester 2009/2010 bei ao.Univ.Prof. AndreasNovy konnte Kamil Horbaczynski erste E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong>das Projekt „<strong>Vielfalt</strong> der Kulturen – Ungleiche Stadt“sammeln, im Zuge dessen er se<strong>in</strong> Forschungs<strong>in</strong>teressekonkretisierte.Doris Hoffelner hat das Studium der <strong>in</strong>ternationalenBetriebswirtschaft an der WU Wien abgeschlossen <strong>und</strong>studiert derzeit Landschaftsplanung <strong>und</strong> -architekturan der Universität für Bodenkultur <strong>in</strong> Wien.N<strong>in</strong>a Borufka ist Student<strong>in</strong> der Sozioökonomie an derWU Wien <strong>und</strong> ihre Diplomarbeit verfasste sie im Rahmendes Sparkl<strong>in</strong>g Science-Projekts „<strong>Vielfalt</strong> der Kulturen– ungleiche Stadt“.Petra Dannecker ist Entwicklungssoziolog<strong>in</strong> <strong>und</strong> seitOktober 2008 als Universitätsprofessor<strong>in</strong> am Institut fürInternationale Entwicklung der Universität Wien tätig.Alexander Hamed<strong>in</strong>ger ist Universitätsassistent ander TU Wien, Department für Raumentwicklung, Infrastruktur-<strong>und</strong> Umweltplanung, Fachbereich Soziologie.Se<strong>in</strong>e Forschungsschwerpunkte s<strong>in</strong>d neben urban andregional governance die Verräumlichung sozialer <strong>Ungleichheit</strong>,Raum- <strong>und</strong> Planungstheorien sowie nachhaltigeStadtentwicklung.Sab<strong>in</strong>e Knierbe<strong>in</strong>, Dr. phil. European Urban Studies,leitet den Arbeitsbereich für Stadtkultur <strong>und</strong> öffentlichenRaum (http://skuor.tuwien.ac.at) an der Fakultätfür Architektur <strong>und</strong> Raumplanung der TU Wien. Sieforscht diszipl<strong>in</strong>en- <strong>und</strong> wissensfeldübergreifend zuThemen wie Stadtkultur, Stadtpolitik, öffentliche Räume,Stadtproduktion, europäische sowie late<strong>in</strong>amerikanischeStadt.Christoph Stoik ist diplomierter Sozialarbeiter <strong>und</strong>Master of Community Development. Zurzeit ist er wissenschaftlicherMitarbeiter am FH Campus Wien imRahmen des Bachelor-Studienganges „<strong>Soziale</strong> Arbeit“<strong>und</strong> des Master-Studienganges „Sozialraumorientierte<strong>und</strong> kl<strong>in</strong>ische <strong>Soziale</strong> Arbeit“. Se<strong>in</strong>e Schwerpunkte s<strong>in</strong>dneben der Geme<strong>in</strong>wesenarbeit, Sozialraumarbeit <strong>und</strong>-orientierung die soziale Arbeit <strong>in</strong> der Stadt- <strong>und</strong> Regionalentwicklungsowie Partizipation <strong>und</strong> BeteiligungBenachteiligter.Veronika Wöhrer ist Soziolog<strong>in</strong>, derzeit wissenschaftlicheMitarbeiter<strong>in</strong> am Institut für Soziologie an derUniversität Freiburg <strong>und</strong> Lektor<strong>in</strong> für Gender Studies ander Universität Wien.Christ<strong>in</strong>e Baur ist Diplompädagog<strong>in</strong> <strong>und</strong> Promovend<strong>in</strong>am Georg-Simmel-<strong>Zentrum</strong> für Metropolenforschungder Humboldt-Universität zu Berl<strong>in</strong> über die Bildungsbenachteiligungvon K<strong>in</strong>dern <strong>und</strong> Jugendlichen mitMigrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> im Zusammenhang mit schulischer<strong>und</strong> sozialräumlicher Segregation. Zusätzlich warsie langjährig als Schulsozialarbeiter<strong>in</strong> mit türkischen<strong>und</strong> arabischen Jugendlichen <strong>und</strong> Familien an e<strong>in</strong>erKreuzberger Haupt- <strong>und</strong> Realschule tätig.54 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


16. AbbildungsverzeichnisDoris Hoffelner:Seite 18, Abb. 1–4: Entwürfe der BG-SchülerInnen weisenÄhnlichkeiten zu Landschaftsparks auf; Quelle: D.HoffelnerSeite 19, Abb. 5–8: Entwürfe der KMS-SchülerInnenweisen Ähnlichkeiten mit Beserlparks auf; Quelle: D.HoffelnerN<strong>in</strong>a Borufka:Seite 25, Abb. 1: E<strong>in</strong>flussfaktoren für Bildungsentscheidung;Quelle: N. BorufkaChrist<strong>in</strong>e Baur:Seite 30, Abb. 1: Verteilung der Neuzugänge auf diedrei Sektoren des beruflichen Ausbildungssystems 2008nach schulischer Vorbildung <strong>und</strong> Staatsangehörigkeit;Quelle: Konsortium Bildungsberichterstattung 2010: 99Sab<strong>in</strong>e Knierbe<strong>in</strong>:Seite 41, Abb. 1: Rapporteur<strong>in</strong> resümiert die Ergebnissedes Workshops; Quelle: S. Knierbe<strong>in</strong>Seite 42, Abb. 2: Workshopdokumentation Gruppe„Transdiszipl<strong>in</strong>äre Täter“; Quelle: S. Knierbe<strong>in</strong>55 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion


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