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Der Musiker Friedrich Nietzsche. Zugleich eine Anleitung zum ...

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Verdeutschung für „inspiriert“ war; „possessed“ wäre heute am ehesten mit „entrückt“<br />

oder (im positiven Sinne) „besessen“ wiederzugeben; im Original lautet der erste Satz:<br />

„During this time he grew so animated and possessed, that he not only played, but<br />

looked like one inspired.“ 37<br />

Ähnlich ,inspiriert‘ müssen wir uns wohl auch <strong>Nietzsche</strong>s Fantasieren am Klavier<br />

vorstellen, im Sinne <strong>eine</strong>s hörenden „Fortgerissenwerdens“, <strong>eine</strong>r „geistige[n]<br />

Intuition, die auf den Menschen bei ihrer […] Ahnungsfülle so einwirkt wie ein<br />

plötzliches Wunderbares“, wie es im Brief an Buddensieg heißt, anheimgegeben der im<br />

Verständnis des altgriechischen daímōn „dämonischen“ Wirkung der Musik. Wenn<br />

auch in erheblich verkl<strong>eine</strong>rtem dilettantischen Maßstab ist diese Inspiration schon<br />

beim Improvisieren s<strong>eine</strong>s Vaters anzunehmen, der als Theologe zu den „Erweckten“,<br />

pietistisch Empfindsamen zählte. „Im Klavierspielen hatte er <strong>eine</strong> bedeutende<br />

Fertigkeit, besonders i[m] freien Variieren erlangt“ 38 , schrieb der dreizehnjährige<br />

<strong>Nietzsche</strong> in s<strong>eine</strong>m ersten autobiografischen Artikel Aus m<strong>eine</strong>m Leben, was durch <strong>eine</strong><br />

Erinnerung s<strong>eine</strong>r Mutter bestätigt wurde: „Bei fröhlichem Geplauder wurde Kaffee<br />

getrunken, sodann der Herr Pastor, uns als Klavierspieler schon bekannt, zu<br />

phantasieren animiert, was er an diesem Tage mit besonderer Meisterschaft<br />

ausgeführt.“ 39 Und nicht von ungefähr ist die einzige dem Titel nach bekannte<br />

Komposition von <strong>Nietzsche</strong>s Vater ein Adagio des 13-jährigen (das Titelblatt lautet:<br />

„Sonntag, am 29.ten Januar 1826, als am Geburtstage unser’s guten Vaters: Ein kurzes<br />

Adagio für das Klavier, von Carl Ludwig <strong>Nietzsche</strong>“ 40 ). <strong>Nietzsche</strong>s Vater pflegte<br />

demnach schon als Jugendlicher Umgang mit <strong>eine</strong>r Gattung, die in der Epoche der<br />

Empfindsamkeit „<strong>zum</strong> ästhetischen Symbol für melancholischen Monolog und<br />

sentimental überhöhte Liebesgefühle“ wurde 41 und als solches noch, stets auch<br />

versehen mit moralischen Implikationen und, im Falle von <strong>Nietzsche</strong>s Vater, sicher<br />

religiös transformiert, in das 19. Jahrhundert hineinwirkte. So diagnostizierte der<br />

Kulturhistoriker und Komponist Wilhelm Heinrich Riehl 1852 geradezu <strong>eine</strong><br />

„Adagioseligkeit“ der vorangegangenen Epoche: „In der Jean-Paul’schen Zeit schrieb<br />

37<br />

Charles Burney, The present state of music in Germany, the Netherlands, and United<br />

Provinces. Or, the Journal of a Tour through those Countries […], Band 2, London 2 1775, S.<br />

270; Hervorhebung original.<br />

38<br />

KGW I, 1, S. 282.<br />

39<br />

zitiert nach: Curt Paul Janz, <strong>Friedrich</strong> <strong>Nietzsche</strong>. Biographie, München 1978, Bd. 1, S.<br />

36.<br />

40<br />

zitiert nach: Klaus Goch, <strong>Nietzsche</strong>s Vater oder Die Katastrophe des deutschen<br />

Protestantismus, Berlin 2001, S. 33, Anm. 78.<br />

41<br />

Ruth E. Müller, Erzählte Töne. Studien zur Musikästhetik im späten 18. Jahrhundert,<br />

Stuttgart 1989, S. 52.

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