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Der Musiker Friedrich Nietzsche. Zugleich eine Anleitung zum ...

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„<strong>Nietzsche</strong> war <strong>eine</strong>s Tages, im Februar 1865, allein nach Köln gefahren, hatte sich dort<br />

von <strong>eine</strong>m Dienstmann zu den Sehenswürdigkeiten geleiten lassen und forderte diesen<br />

zuletzt auf, ihn in ein Restaurant zu führen. <strong>Der</strong> aber bringt ihn in ein übel berüchtigtes<br />

Haus. ,Ich sah mich‘, so erzählte mir <strong>Nietzsche</strong> am andern Tage, ,plötzlich umgeben<br />

von <strong>eine</strong>m halben Dutzend Erscheinungen in Flitter und Gaze, welche mich<br />

erwartungsfroh ansahen. Sprachlos stand ich <strong>eine</strong> Weile. Dann ging ich instinktmäßig auf<br />

ein Klavier als auf das einzige seelenhafte Wesen in der Gesellschaft los und schlug<br />

einige Akkorde an. Sie lösten m<strong>eine</strong> Erstarrung, und ich gewann das Freie.‘ “ 19<br />

Das Klavier, ein „Freund“, in <strong>Nietzsche</strong>s Worten „das einzige seelenhafte Wesen in der<br />

Gesellschaft“, wird hier, obwohl nur von „einigen Akkorden“ die Rede ist, geradezu zu<br />

<strong>eine</strong>m Instrument des Exorzismus gesteigert; bezeichnenderweise ereignete sich diese<br />

vielsagende Szene just zu jenem Zeitpunkt, im Februar 1865, als <strong>Nietzsche</strong> sich selbst<br />

Kompositionsaskese verordnet hatte. Es gibt k<strong>eine</strong>n Grund, an der Authentizität der,<br />

<strong>zum</strong>indest sinngemäß richtig wiedergegebenen Worte <strong>Nietzsche</strong>s zu zweifeln. Für die<br />

Deutung dieser Begebenheit ist entscheidend, dass sich <strong>Nietzsche</strong> in der unerwarteten<br />

Situation selbst als „sprachlos“ erlebte, die vertraute Nähe <strong>zum</strong> Klavier, das Erklingen<br />

der Musik, ihn jedoch wieder in befreiendes seelisches Gleichgewicht brachte. In<br />

<strong>Nietzsche</strong> lebte solcherart noch, vermittelt, wie sich zeigen wird, durch s<strong>eine</strong>n Vater,<br />

den pietistischen Pfarrer Carl Ludwig <strong>Nietzsche</strong>, ein zentraler Topos der<br />

empfindsamen Musikästhetik des 18. Jahrhunderts weiter, nämlich der des quasi<br />

musiktherapeutisch eingesetzten Klaviers. Im zeitgenössischen Kontext erscheint der<br />

spontane Affektausdruck im unmittelbar und ungefiltert erlebten und ausgeführten<br />

nonverbalen Musizieren am Instrument in <strong>eine</strong>r monologischen beziehungsweise mit<br />

dem Instrument dialogisierenden und <strong>eine</strong>r kommunikativ eingesetzten Variante. Für<br />

letztere soll hier <strong>eine</strong> Szene aus dem s<strong>eine</strong>rzeit äußerst populären Briefroman Sophiens<br />

Reise von Memel nach Sachsen von Johann Timotheus Hermes paradigmatisch stehen:<br />

„,Wolltest du mich wohl allein lassen?‘, sagte sie […] – Ich machte <strong>eine</strong> kl<strong>eine</strong><br />

Verbeugung: aber – ich fühlte Bitterkeit im Herzen. Im Vorbeigehn vor dem Clavier, im<br />

Saal, setzte ich, ohne es eigentlich gewollt zu haben, mich an das Clavier, und merkte<br />

erst an der Erleichterung des Herzens, dass ich spielte. Ich muss etwas Ausdrückendes<br />

gespielt haben, denn sie kam, mit <strong>eine</strong>r gefälligern Miene, mir nach.“ 20<br />

19<br />

Paul Deussen, Erinnerungen an <strong>Friedrich</strong> <strong>Nietzsche</strong>, Leipzig 1901, S. 23;<br />

Hervorhebungen C. W.<br />

20<br />

Johann Timotheus Hermes, Sophiens Reise von Memel nach Sachsen, 3. Band, Leipzig<br />

1778, S. 117.

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