Besachwaltung Vortrag ND 09 20101
Besachwaltung Vortrag ND 09 20101
Besachwaltung Vortrag ND 09 20101
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<strong>Besachwaltung</strong> im Strukturwandel der postfordistischen<br />
Wissensgesellschaft.<br />
Eckmarken künftiger Reformdebatten<br />
Nikolaus Dimmel (Salzburg)<br />
1. <strong>Besachwaltung</strong> zwischen Inkompetenz, psychischen<br />
Störungen und Behinderung<br />
1.1. Ausgangspunkt<br />
Eine Standortbestimmung des Instituts der „<strong>Besachwaltung</strong>“<br />
kann pragmatisch oder reflexiv erfolgen. Pragmatisch wäre<br />
sie, Zahlen zu KlientInnen, AnregerInnen oder Verfahren zu<br />
erörtern und einen Ausblick auf künftige<br />
Budgetierungserfordernisse zu geben. Reflexiv wäre sie,<br />
wenn die Entwicklung der „<strong>Besachwaltung</strong>“<br />
gesellschaftstheoretisch und historisch eingebettet wird.<br />
Beides gemeinsam zu versuchen ist zwar unverschämt<br />
ambitioniert; lassen wird es hier aber zumindest auf den<br />
Versuch ankommen.<br />
1.2. Ökonomischer Wahnsinn und <strong>Besachwaltung</strong><br />
Wer aufgrund geistiger Behinderung oder psychischer<br />
Krankheit besachwaltet wird, dem wurde erfolgreich<br />
unterstellt, er könne seine Geschäfte nicht ohne Nachteil für<br />
sich selbst besorgen. Er ist also ökonomisch inkompetent.<br />
Dabei geht es in erster Linie um Rechtsgeschäfte, also die<br />
„Vermögenssorge“, daneben natürlich auch um die soziale<br />
Betreuung der Betroffenen. Die Sorge des Gesetzgebers um<br />
1
das Vermögen der Staatsbürger, gründet im aktuellen Bezug<br />
nicht nur auf der steigenden Lebenserwartung der<br />
Bevölkerung, sondern wohl auch auf der dynamischen<br />
Zunahme geistig behinderter, pflegebedürftiger,<br />
inkompetenter oder psychisch kranker Personen. Zugleich<br />
war der Übergang von der Entmündigungsordnung zur<br />
Sachwalterschaft 1984 wohl auch eine Reaktion auf die<br />
Kritik des institutionellen Umgangs mit diesen Gruppen.<br />
Wer besachwaltet wird kann wirtschaftlich nicht haushalten.<br />
In kapitalistischen Warenverkehrswirtschaften ist das ein<br />
Stigma. Die Messlatte des Haushaltens findet sich in der<br />
juristischen Figur der „Dispositions- und<br />
Diskretionsfähigkeit“. Damit ist gemeint, das jemand weiß,<br />
was er tut. Meine Ausgangsthese lautet nun, dass es sich<br />
einerseits bei dieser Figur um eine ideologische Projektion<br />
handelt; und dass andererseits die moderne Wirtschaft<br />
geradezu darauf beruht, dass ihre KonsumentInnen nicht<br />
wissen, was sie tun, um mit Geld, das sie borgen müssen,<br />
Dinge zu kaufen, die sie nicht brauchen. Der moderne<br />
Werbung/Marketing-Aufwand erreicht zwischenzeitig einen<br />
durchschnittlichen Anteil von 21% des Verkaufspreises eines<br />
Produktes. Niemand wird ernsthaft behaupten wollen, dies<br />
sei ökonomisch rational.<br />
Tatsächlich geht das bürgerliche Recht seit seiner<br />
Kodifikation bloß vom Ideal rational entscheidender,<br />
planender und wirtschaftlich vernünftiger Subjekte aus. Die<br />
gesellschaftliche Wirklichkeit des Rechts zeigt uns freilich ein<br />
kontrastiertes Gegenbild. Der preisgekrönte Film „The<br />
2
Corporation“ hat etwa am Beispiel der Öl- oder<br />
Pharmakonzerne gezeigt, dass eine multinationale<br />
„Corporation“, die zwecks Profitmaximierung lügt, betrügt,<br />
stiehlt oder ermorden lässt, als natürliche Person vor Gericht<br />
als psychopathischer Serienkiller erscheinen würde. Die<br />
Märkte, auf denen derartige Unternehmen ihre Waren<br />
absetzen, sind durch Schmiergeldbeziehungen, Lobbying,<br />
„gekaufte Gesetzgebungsprozesse“, Kartellierungen,<br />
Oligopole und Monopolbildungen bis zur Unkenntlichkeit<br />
verzerrt. Die neoliberale Idee eines „mündigen Konsumenten“<br />
ist eine Farce, wie die Werbekampagnen für status- und<br />
prestigeorientierte Warenkonsumtionspraktiken zeigen, in<br />
denen es nur noch darum geht, soziale Unterschiede und<br />
Wahnvorstellungen individueller Besonderheit zu<br />
reproduzieren.<br />
Je komplexer die Konsumbeziehungen, desto deutlicher wird<br />
der proportionale Zusammenhang zwischen sozialer<br />
Kompetenz und Geschäftsfähigkeit. Prozesse der<br />
Verrechtlichung, Technisierung und Komplexitätssteigerung<br />
in der Wissensgesellschaft machen deutlich, dass ein stet<br />
wachsendes Maß an Aufmerksamkeit, Lernbereitschaft oder<br />
Orientierungswissen erforderlich ist, um dem bürgerlichen<br />
Ideal der Geschäftsfähigkeit zu entsprechen. Zugleich steigt<br />
die Zahl jener, die an den Anforderungen scheitern.<br />
Eingriffe in die individuelle Entscheidungsautonomie und<br />
ihre rechtliche Beschränkung tragen deshalb ´cum grano<br />
salis` etwas Willkürliches in sich, führen sie doch zu Frage,<br />
wo die <strong>Besachwaltung</strong> ihre sachliche Grenze in einer immer<br />
3
komplexeren Gesellschaft findet. Zugleich müssen sie sich<br />
fragen lassen, wieso in einer Ökonomie der ökologisch-<br />
desaströsen Verschwendung und Vernichtung kollektive<br />
Vergeudung – etwa die deutsche Verschrottungsprämie 2010<br />
als Anreiz zum vorzeitigen Ankauf von Neuwagen – prämiert<br />
wird, während individuelle Vergeudung pathologisiert wird.<br />
Es ist wahrlich ein Allgemeinplatz zu betonen, dass eine<br />
wachsende Anzahl von Personen den<br />
Handlungsanforderungen des modernen Wirtschaftsverkehrs<br />
nicht entspricht. Untersuchungen (BMJ) zeigen, dass nicht<br />
nur 90% aller Bankkunden die Mechanismen der<br />
Geldgeschäfte nicht verstehen, die sie hier tätigen. Sighard<br />
Neckel hat jüngst unter dem Titel „Strukturierte<br />
Verantwortungslosigkeit“ nachgezeichnet, dass auch Banker<br />
nicht verstehen, was sie tun.<br />
Ökonomische Inkompetenz ist endemisch und eng mit<br />
sozialer Ungleichheit und sozialem Abstieg verbunden. So<br />
nahm die Zahl der überschuldeten Haushalte 1990-20<strong>09</strong> von<br />
80.000 auf 320.000 zu. 20<strong>09</strong> wurden knapp 900.000<br />
Gehaltsexekutionen vollzogen. Das erheblichenteils wohl<br />
nicht, weil die Betroffenen maßlos wären, sondern weil sie<br />
entweder arm oder inkompetent sind, mit Geld umzugehen.<br />
Mehr als 92% von ihnen haben nur Pflichtschul- oder<br />
Berufsschulabschluss.<br />
Überdies ist ökonomische Inkompetenz auch eng mit<br />
gesundheitlichen Beeinträchtigungen verbunden. Hier hat<br />
sich zwischen 1990 und 2004 die Zahl der stationären<br />
psychiatrischen Diagnosen beinahe verdoppelt. Heute<br />
4
asieren 10% der 2,4 Mio stationären Behandlungsepisoden<br />
auf einer psychiatrischen Diagnose, wobei 75% dieser<br />
Episoden in nicht-psychiatrischen Abteilungen an<br />
Allgemeinkrankenhäusern stattfinden. Die häufigsten<br />
Diagnosen sind in der Reihenfolge Depression,<br />
Alkoholabhängigkeit und Demenz. 2000 waren 90.000<br />
Personen dement, 2010 sind es 110.000, der künftige<br />
jährliche Zuwachs wird mit bis zu 20.000 Personen<br />
angegeben. 2050 sollen 235.000 Personen an Demenz<br />
erkrankt sein. Auch die Zahl der geistig und mehrfach<br />
Behinderten stieg 1990-2007 dem Behindertenbericht 2008<br />
zufolge geschätzterweise von 35.000 auf 85.000. Weitere<br />
205.000 Personen oder 2,5% der Bevölkerung müssen<br />
psychisch-nervliche Probleme wie Depressionen,<br />
Angststörungen oder psychosomatische Erkrankungen<br />
bewältigen. Man könnte diese Liste fortsetzen mit den<br />
340.000 chronischen Alkoholikern des Alkoholberichtes<br />
20<strong>09</strong> (Handbuch Alkohol), was mehr als dem Zehnfachen<br />
des Volumens problematischen Drogenkonsums entspricht,<br />
oder mit jenen 31% der ArbeitnehmerInnen, die Burn-Out-<br />
gefährdet oder bereits davon betroffen sind. Kurz: die<br />
Möglichkeiten, ökonomisch inkompetent zu handeln,<br />
nehmen für einen erheblichen Bevölkerungsteil dynamisch<br />
zu.<br />
In soziologischer Sicht werden drei Angelpunkte dieser<br />
Entwicklung sichtbar:<br />
- zum ersten gibt es für all diese Phänomene eine<br />
soziale Inzidenz. D.h.: mit sinkendem sozialem Status<br />
steigt die relative Zahl der Armen, Kranken,<br />
5
Überschuldeten, Verhaltensauffälligen, Inkompetenten,<br />
Analphabeten, Dementen, psychisch Auffälligen oder<br />
Behinderten;<br />
- zum zweiten wird deutlich, dass die sozialen Netze,<br />
welche bislang Inkompetenz, Fehlverhalten und<br />
Abweichung traditionell aufgefangen haben, schwächer<br />
werden. Das betrifft insbesondere die Familie;<br />
- zum dritten ist unübersehbar, dass die gegenwärtige<br />
Entwicklung kapitalistischer Beschäftigungs- und<br />
Lebensverhältnisse die Anzahl der Nischen verringert, in<br />
denen die Langsamen, Beeinträchtigten und sog.<br />
„Minderleister“ noch geschützten Platz finden.<br />
Damit sind fundamentale Eckpunkte künftiger<br />
Reformdebatten markiert.<br />
In diesem Gefüge spielt die Sachwalterschaft eine ganz<br />
bestimmte Rolle, weil sie als Agentur sozialer Disziplinierung,<br />
Hilfe und Kontrolle im Kern berührt, was man seit der<br />
Aufklärung und ihrer bürgerlichen Familienform<br />
„Verschwendungssucht“ oder modern: „ökonomische<br />
Inkompetenz“ nennt und worauf seit jeher mit<br />
Entmündigung (oder modern: <strong>Besachwaltung</strong>), Testier- und<br />
Heiratsunfähigkeit geantwortet wird.<br />
Die bürgerliche Gesellschaft des ausgehenden 18.Jhdts<br />
etikettierte, etwa bei Immanuel Kant, auch die „ökonomische<br />
Unvernunft“ als wahnsinnig. Meinte doch die bürgerliche<br />
Vernunft sowohl die staatsbürgerliche Vernunft des<br />
„Citoyen“ als auch die ökonomische Vernunft des<br />
„Bourgeois“ als ´homo oeconomicus`. Folgerichtig sahen das<br />
6
preußische allgemeine Landrecht 1794 ebenso wie der Code<br />
Civil des Jahres 1803 aber auch die Entmündigungsordnung<br />
1916 neben Geisteskrankheit, Geistesschwäche oder<br />
Trunksucht die Verschwendungssucht als zentralen<br />
Auslöser der Entmündigung an. Noch heute spricht man von<br />
„Verschwendungssucht“,wenn Ausgaben getätigt werden, die<br />
in einem krassen Missverhältnis zur eigenen wirtschaftlichen<br />
Leistungsfähigkeit stehen und dadurch das Einkommen oder<br />
das Vermögen der betreffenden Person oder ihrer Familie<br />
massiv gefährden oder schädigen. Seit der Pandektistik des<br />
19.Jhdts besteht Konsens darüber, dass die Vergeudung von<br />
Vermögen das fürsorgende Eingreifen der Rechtsordnung<br />
herausfordert, wenn dadurch die wirtschaftliche Existenz<br />
des Einzelnen oder seiner Familie gefährdet wird.<br />
Die Modernisierung der Entmündigung durch Einführung<br />
der Sachwalterschaft 1984 (oder in Deutschland der<br />
„Teilbetreuung“ im BetreuungsG 1992) führt diese Tradition<br />
der Etikettierung und Sanktionierung wirtschaftlicher<br />
Unvernunft in veränderter Terminologie und flexibilisierter<br />
Form weiter. Gleichzeitig trug sie der Entwicklungen der<br />
Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie, Behinderten-, Alten-<br />
und Sozialpädagogik Rechnung.<br />
1.3. Ökonomische Inkompetenz als sozialer Prozess<br />
Wirft man heute einen Blick auf die gesellschaftliche<br />
Umwälzungsdynamik, in welche die Sachwalterschaft<br />
eingebettet ist, so werden soziale Polarisierungen nicht nur<br />
in der Verteilung von Reichtum und Armut, sondern auch in<br />
7
der Verteilung alphabetischer, mathematischer, technischer,<br />
ökonomischer und sozialer Kompetenzen sichtbar.<br />
Individuelle Inkompetenzen sind indes kein Ergebnis<br />
biologisch generierter Zufälle. Sie werden vielmehr sozial<br />
vererbt, erworben und vertiefen sich biographisch, spitzen<br />
sich also im Alter oder bei gesundheitlicher Beeinträchtigung<br />
ggf weiter zu. Im Ergebnis sind ökonomische wie soziale<br />
Inkompetenz oder die Wahrscheinlichkeit, mit den<br />
Anforderungen der mobilen und flexiblen Ökonomie<br />
mitzuhalten, nicht nur sozial, sondern zugleich auch<br />
demographisch ungleich verteilt. Es macht also keinen Sinn,<br />
von den Alten, den Pflegebedürftigen, der psychiatrisch<br />
Behandlungsbedürftigen schlechthin zu sprechen. Vielmehr<br />
bedarf es der Vergewisserung, dass auch die Klientel der<br />
Sachwalterschaft auch mit Instrumenten der Schicht- und<br />
Milieuanalyse beschrieben werden muss.<br />
Erst vor diesem Hintergrund mag deutlich werden, dass der<br />
Einsatz des Instrumentes der <strong>Besachwaltung</strong> – als einer<br />
Verknüpfung von Kontrolle, Hilfe und Disziplinierung – einen<br />
konkreten sozialen Ort und eine sozialpolitische Funktion<br />
hat.<br />
1.3.1. Analphabeten<br />
Ökonomische Inkompetenz ist vielfach mit Lese-, Schreib-<br />
und Rechenschwierigkeiten verbunden. Nun sind zwar nur<br />
5% der österr. Bevölkerung (400.000) primäre Analphabeten,<br />
denen es unmöglich ist, einfache Texte zu schreiben oder zu<br />
verstehen, Straßenschilder zu lesen oder ein Formular<br />
auszufüllen. Weitere 12% jedoch sind<br />
8
Sekundäranalphabeten, die mangels trotz Schulbesuchs<br />
keine Schrift- und Sprachbeherrschung mehr vorweisen,<br />
wofür vor allem Abkopplungsprozesse sozial Schwacher am<br />
Arbeits- und Bildungsmarkt ursächlich sind. Knapp 17,5%<br />
der Bevölkerung weisen so schlechte Lese- und<br />
Schreibkompetenzen auf, dass sie in ihrer gesellschaftlichen<br />
Umgebung nicht alleine konflikt- und friktionslos zurecht<br />
kommen. Im Vergleich erreichen Jugendliche und Senioren<br />
die vergleichsweise schlechtesten Werte. Bei den<br />
Grundrechnungsarten und einfachen mathematischen<br />
Aufgabenstellungen schließlich weisen 50% der Bevölkerung<br />
über 16 Jahren funktionale Defizite auf.<br />
1.3.2. Informations- und Kommunikationstechnologien<br />
Vielfach geht ökonomische Inkompetenz in der E-Commerce-<br />
Ökonomie auch mit einem „digitalen Wissensleck“, „IT-<br />
Analphabetismus“ oder „PC-Analphabetismus“ einer. EURO-<br />
Stat zufolge haben 31% der Bevölkerung keine PC-<br />
Grundkenntnisse; bei den 55-74-Jährigen sind 67% gänzlich<br />
inkompetent. Einer Fessel-GfK Umfrage zum „E-<br />
Government“ zufolge liegen die niedrigsten<br />
Inanspruchnahme-Quoten bei den 65-74-Jährigen, bei<br />
AbsolventInnen der niedrigsten Bildungsstufe (Pflichtschule)<br />
sowie bei den nicht-erwerbstätigen Personen.<br />
Vor allem ältere Personen, mental und intellektuell<br />
beeinträchtigte, Behinderte und sozial Schwache sind von<br />
diesen Umwälzungen negativ betroffen. Obgleich formal<br />
handlungsfähig benötigen sie Unterstützung bei<br />
Gerichtsverfahren, Grundbuchsangelegenheiten,<br />
9
Behördenwegen und -entscheidungen, Antragstellungen für<br />
Förderungen, Sozialleistungen wie Pflegegeld oder<br />
Sozialhilfe/BMS, Urkunden und Bescheiden,<br />
Konsumentenschutzfragen, Energie- und<br />
Kommunikationsdienstleistungen.<br />
1.4. Demographie und Demenz<br />
Nicht nur ökonomische und soziale Kompetenzen, auch die<br />
Demenz ist als kognitive, emotionale und soziale<br />
Beeinträchtigung sozial unterschiedlich nach Schicht und<br />
Milieu verteilt. So sind Risikofaktoren der Demenz<br />
eingeschränkte oder fehlende physische Aktivität, soziales<br />
Engagement, intellektuelle Auseinandnersetzung sowie<br />
Übergewicht, Tabakkonsum und unbehandelte<br />
Depressionen. Diese Risikofaktoren sind mit erdrückender<br />
Klarheit sozial unterschiedlich verteilt. Das Risiko, in der<br />
oberen Mittelschichten dement zu werden ist nicht einmal<br />
halb mal so groß wie in der oberen Unterschicht. Untere<br />
Unterschichten haben ein vergleichsweise geringeres<br />
Demenzproblem auf ihrer verkürzten Lebenserwartung.<br />
Heute betrifft die Sachwalterschaft zu 75% Personen in<br />
einem Alter über 60. 62% aller Verfahrensanregungen<br />
beziehen sich auf altersbedingte Zustände (darunter: 46%<br />
auf Altersdemenz und 16% auf körperlichen Verfall). Etwa<br />
6% aller Menschen über 65 leiden unter Demenz. Bei den<br />
über 90-Jährigen sind es 40%. Aber dem 65-igsten<br />
Lebensjahr verdoppeln sich alle fünf Jahre die<br />
Prävalenzzahlen. 1951 wurden in Ö. geschätzte 35.500<br />
10<br />
Demenzkranke erfasst. 2000 waren es 90.500. Derzeit
verdoppelt sich die Zahl der Demenzerkrankten alle 20<br />
Jahre. Bis 2050 wird ihre Zahl auf etwa 235.000 ansteigen.<br />
Die demographische Entwicklung treibt diese<br />
Risikobelastung voran. 2008 lebten in Österreich 1,88 Mio<br />
(oder 22,6% der Bev.) Personen über 60, bei den wenigstens<br />
75-Jährigen wurden schon mehr als 662.000 gezählt. Im<br />
Jahr 2000 waren es noch 1,65 Millionen über 60 und rund<br />
568.000 mindestens 75 gewesen. 2010 liegt die Zahl der<br />
über 60-Jährigen bei 2,07 Millionen; 2030 wird sie bei 2,81<br />
Mio liegen. 2018 werden bereits mehr als 25% der<br />
Gesamtbevölkerung über 60 Jahre alt sein, nach 2028<br />
bereits mehr als 30%.<br />
Noch stärker zunehmen wird der Anteil der über 75-jährigen<br />
Bevölkerung. Diese Bevölkerungsgruppe wird von 662.000<br />
Personen im Jahr 2008 bis 2030 auf 1,02 Millionen<br />
wachsen. Besonders stark fällt der Zuwachs bei den<br />
Hochbetagten (85+ Jahre) aus. Deren Zahl stieg in den<br />
letzten fünf Jahren von 123.500 auf 173.200 Personen, ihr<br />
Anteil an der Gesamtbevölkerung liegt damit bereits bei<br />
2,1%.<br />
Im Ergebnis bringt der demographische Prozess zwar eine<br />
stet wachsende Gruppe von Alten hervor, die dement werden<br />
können; nur wer tatsächlich dement wird, hängt<br />
entscheidend von der Verteilung sozialer Lagen, von<br />
Lebenspraktiken, von materieller Teilhabe und Leistungen<br />
der öffentlichen Wohlfahrt ab. Altern ist zwar ein irreversibler<br />
biologischer Prozess organischer und funktioneller<br />
11<br />
Veränderungen, der unausweichlich mit dem Tode endet.
Trotzdem aber bedingen Alter und Krankheit einander eben<br />
nicht wechselseitig (Lang 1999,256ff). Für keine einzige<br />
Krankheit ist erwiesen, dass sie genuin altersbedingt, dass<br />
sie in Alterungsprozessen an sich begründet ist (Steinhagen-<br />
Thiessen/Borchelt 1996,156).<br />
1.5. Behinderung und Psychische Erkrankungen<br />
Ein letzter zu betrachtender Faktor liegt in der Entwicklung<br />
von Behinderung und psychiatrischer Inzidenz. Denn in etwa<br />
24% der Sachwalterschafts-Anregungen wird eine<br />
altersunabhängige geistige Behinderung angeführt, bei 18%<br />
eine psychische Erkrankung, darunter bei 6% eine<br />
Suchtproblematik. Der letztverfügbare Ö.Psychiatriebericht<br />
2004/05 zeigt, dass 1996-2002 die Zahl der Entlassungen<br />
mit einer psychiatrischen Haupt- oder Nebendiagnose aus<br />
psychiatrischen Krankenanstalten und psychiatrischen<br />
Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern um mehr als 20%<br />
zugenommen hat (von 45.000 auf etwa 57.000). Die Inzidenz<br />
psychiatrisch attestierter Erkrankungen steigt in den letzten<br />
20 Jahren massiv an. Jede/r dritte wird im Laufe<br />
seines/ihres Lebens psychiatrisch auffällig. Dabei sind es vor<br />
allem Modernisierungsverlierer, Langzeitarbeitslose,<br />
chronisch Kranke und andere Armutsbetroffene, welche<br />
diese Population repräsentieren. Die Ätiologie geistiger<br />
Behinderung zeigt, dass nur 5% auf erblichen (rezessiv<br />
vererbten), angeborenen Stoffwechselstörungen oder<br />
singulären Genveränderungen (Down-Syndrom) beruhen.<br />
30% gehen auf sozial und lebensführungsbedingte frühe<br />
12<br />
Schädigungen der Embryonalentwicklung zurück, etwa auf
toxische Stoffe wie Alkohol. 10% gehen auf<br />
Mangelernährungen und milieuspezifische Infektionen<br />
zurück. 5% gehen auf Infektionen, Traumata oder<br />
Vergiftungen zurück. 20% gehen auf einen frühkindlichen<br />
Mangel an Nahrung, sozialen und sprachlichen<br />
Stimulationen zurück. Etwa 30% der Fälle kann man nicht<br />
erklären. So wird selbst im Falle geistiger Behinderung<br />
deutlich, dass es soziale Faktoren sind, welche die<br />
Behinderungshäufigkeit entscheidend beeinflussen.<br />
1.6. Zwischenbetrachtung<br />
Fakt ist nicht nur, dass die Möglichkeiten, seine Geschäfte<br />
mit Nachteil für sich zu besorgen, fortlaufend ausgeweitet<br />
werden, nämlich durch das gestiegene Tempo alltäglicher<br />
Interaktionen, durch die Manipulationsmöglichkeiten des<br />
Warenverkehrs sowie durch die Automatisierung und<br />
Technisierung von Dienstleistungs- und<br />
Verwaltungsabläufen. Fakt ist auch, dass die Ursachen,<br />
welche zur <strong>Besachwaltung</strong> führen, keine gegebene Größe<br />
darstellen, sondern Ergebnis gesellschaftlicher<br />
Ungleichverteilungen sind. Man könnte in Anlehnung an<br />
Wilkinson die These wagen zu sagen: „je ungleicher die<br />
Gesellschaft, desto höher das Gesamtvolumen der Fälle von<br />
Abweichung, Inkompetenz und geistiger Behinderung.“<br />
Slavoj Zizek hat im Übrigen einmal bemerkt, dass sich in<br />
Zeiten der Revolution die Irrenhäuser regelhaft schlagartig<br />
leeren, weil die Menschen, die bisher an den Verhältnissen,<br />
in denen sie zu leben gezwungen waren, irre wurden, für ihre<br />
Biographie neue Perspektiven entwickeln können.<br />
13
Fakt ist schließlich auch, dass sowohl die Definition von<br />
behandlungsbedürftiger Abweichung als auch die Art und<br />
Weise der Behandlung selbst Ergebnis sozialer Konflikte<br />
zwischen Professionisten, Interessengruppen und<br />
Betroffenen ist. Karl-Otto Hondrich hat trefflich festgehalten,<br />
dass ebenso wie der Wahnsinn im Auge des Betrachters liegt<br />
auch die Krankheit im Auge des Arztes oder die<br />
hilfebedürftige Person im Auge des Sozialarbeiters entsteht.<br />
Ervin Goffmann und nach ihm die Labeling-Approach-Schule<br />
haben herausgehoben, dass jede Form von Abweichung und<br />
Disziplinierung letztlich Ergebnis einer diskursiven<br />
Auseinandersetzung ist. Was Institutionen der Gesellschaft<br />
daher als „abweichend“ oder „besachwaltungsbedürftig“<br />
markieren / etikettieren, sagt daher mehr über<br />
Machtverteilungen und Herrschaftsstrukturen aus als über<br />
die Besachwalteten. Und als Randnote muss angemerkt<br />
werden: wer besachwaltet, übt im Namen abstrakter<br />
ökonomischer Prinzipien und Vernunftvorstellungen Macht<br />
aus.<br />
2. Grundinformationen zur <strong>Besachwaltung</strong><br />
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wo wir heute in<br />
der Sachwalterschaft stehen:<br />
2.1. Anzahl der Sachwalterschaften<br />
Ungebrochen hält das Wachstum der KlientInnenzahlen an.<br />
Das SWRÄG 2006 konnte die bisherige Wachstumsdynamik<br />
nicht umgekehren, sondern nur verlangsamen (von 3.000<br />
auf 2.000 p.a.). 20<strong>09</strong> bestanden knapp 50.000<br />
14<br />
Sachwalterschaften in Österreich. Das waren 50% mehr als
im Jahr 2000. Ende 2010 haben 58.000<br />
Österreicherinnen/Österreicher einen Sachwalter/eine<br />
Sachwalterin.<br />
Der Anstieg seit 2000 ging vor allem auf die<br />
Sachwalterschaften durch Rechtsvertreter (81%) und<br />
Familienangehörige oder nahestehende Personen (61%)<br />
zurück. Die geringste Zunahme lag bei den von<br />
VereinssachwalterInnen durchgeführten Betreuungen (14%).<br />
Verfügbare Prognosen gehen von einem weiteren jährlichen<br />
Wachstum in Höhe von etwa 3.000 Personen p.a. aus. Bis<br />
2020 werden es vermutlich zwischen 80.000 und 83.000<br />
Besachwaltete sein.<br />
2.2. Wer wird besachwaltet ?<br />
Besachwaltet werden heute junge geistig Behinderte,<br />
psychisch Erkrankte sowie alte, körperlich und geistig<br />
beeinträchtigte Menschen.<br />
Die Population der Besachwalteten lebt zu mehr als 4/5 in<br />
Anstaltshaushalten. Jährlich wird für 2.500<br />
HeimbewohnerInnen eine <strong>Besachwaltung</strong> angeregt, während<br />
es in der Psychiatrie knapp 200 Personen sind.<br />
2.3. Anreger<br />
48% aller Anregungen einer Sachwalterschaft geht von<br />
Angehörigen oder sonstigen nahestehenden Personen aus -<br />
genauer: 20% von Kindern/Enkeln, 8% von Eltern, 6% von<br />
Lebensgefährten, 10% von weiteren Verwandten, 4% von<br />
15<br />
nicht verwandten Nahestehenden. Nur knapp 2% der
Verfahrensanregungen erfolgen durch die betroffene Person<br />
selbst. <strong>Besachwaltung</strong> muss deshalb im Regelfall als<br />
familiärer Interessenkonflikt verstanden werden.<br />
35% der Sachwalterschaftsanregungen kommt von<br />
stationären Wohn-, Pflege- und mobilen<br />
Betreuungseinrichtungen: 12% von Wohn-, Pensionisten-<br />
und Pflegeheimen, ebenso 12% von Krankenanstalten (davon<br />
7% von allgemeinen, 5% von psychiatrischen), 6% von<br />
sozialen Betreuungsdiensten.<br />
17% der Anregungen schließlich rühren direkt von<br />
Rechtsinstitutionen oder aus Rechtsberufen, nämlich zu 8%<br />
von Ämtern, 5% von Gerichten und 3% von Notaren oder aus<br />
anderen juristischen Berufsgruppen.<br />
2.4. Warum wird besachwaltet ?<br />
Etwa 50% der Fälle gehen auf attestierte Überforderungen im<br />
alltäglichen Finanzmanagement, 20% auf Pflegegeldfragen<br />
und Heimaufnahmen im Zusammenhang mit finanziellen<br />
Eigenleistungen, 15% auf komplexe<br />
Vermögensverwaltungsfragen, der Rest auf Fragen der<br />
Heilbehandlung zurück. Im Kern der <strong>Besachwaltung</strong> steht<br />
also auch empirisch nachweisbar die Frage nach einem als<br />
rational oder eben irrational qualifizierten Umgang mit<br />
ökonomischen Ressourcen.<br />
Die überschießende soziale Bedeutung dieses Dispositivs<br />
wird dort deutlich, wo potentielle Erben aus Sorge um ihr<br />
Erbe gegen den Erblasser die <strong>Besachwaltung</strong> anregen. Die<br />
16<br />
einschlägigen Fälle sind nicht von der Hand zu weisen. Man
lässt besachwalten, um Sorge zu tragen, dass der Erblasser<br />
das von ihm erarbeitete/ererbte Vermögen nicht vergeudet.<br />
Werner Sombart hat in seinem Buch „Der Bourgeois“ trefflich<br />
ausgeführt, dass das Klassenbewusstsein der<br />
unternehmerischen Bourgeoisie darauf gründet, Kapital als<br />
Familienkapital zu akkumulieren und auch zwischen den<br />
Generationen weiterzugeben. Eben das scheint auch der<br />
eigentliche Zweck dieser Veranstaltung. Zugleich wird daran<br />
deutlich, dass die Justiz Louis Althusser folgend als<br />
„ideologischer Staatsapparat“ verstanden werden muss, der<br />
soziale Anpassung und Wirtschaftlichkeitsregeln mit Mitteln<br />
sozialer Kontrolle und Disziplinierung durchsetzt. Ein<br />
Betroffener formuliert das so: „was einem gehört, gehört<br />
einem nicht wirklich.“<br />
2.5. Wer führt eine Sachwalterschaft ?<br />
Etwa 61% aller Sachwalterschaften werden 2010 von<br />
Angehörigen und nahestehenden Personen geführt, 24% von<br />
Angehörigen der Rechtsberufe und circa 15% von<br />
„Sachwaltervereinen“. Die Nachfrage nach letzten ist enorm.<br />
Auf der Basis einer Befragung von RichterInnen stellt das<br />
IRKS eine 90-%-ige Unterdeckung an Vereinssachwaltern<br />
fest, das entspricht 15.000 SachwalterInnen.<br />
2.6. Professionalisierung der Dienstleistung<br />
In der Tat hat die Vereinssachwalterschaft hohe<br />
Professionalität entwickelt, nämlich eine Kombination aus<br />
rechtlicher und psychosozialer Expertise. Sie hat einige<br />
17<br />
hundert ehrenamtliche Sachwalter rekrutiert. Erst dies hat
es möglich gemacht, die Patientenvertretung im<br />
Unterbringungsgesetz und Heimaufenthaltsgesetz zu<br />
verankern. Ohne Patientenanwälte wäre das UbG zahnlos<br />
geblieben. Selbiges kann für die Heimbewohnervertretung im<br />
Heimaufenthaltsrecht gesagt werden.<br />
2.7. Räumliche Verteilung der Sachwalterschaften<br />
Auffällig ist die ungleiche regionale Verteilung der<br />
Sachwalterschaften. Nach Bundesländern aufgeschlüsselt<br />
gibt es in Wien die meisten aufrechten Sachwalterschaften<br />
pro 100.000 Einwohner, gefolgt von den Bundesländern<br />
Stmk und Nö. Bgld, Ktn und Vlbg rangieren im Mittelfeld.<br />
Am unteren Ende der Skala liegen die anderen westlichen<br />
Bundesländer Oö, Trl und Sbg. Dies deutet weniger auf eine<br />
ungleiche Inzidenz als vielmehr auf eine ungleiche Praxis der<br />
befassten Gerichte sowie auf die lokal-regionalen<br />
Gegebenheiten wie Krankenhäuser, geriatrische Abteilungen,<br />
Pflegeheime, die eine Konzentration von sachwalterrechtlich<br />
relevanten Bevölkerungsgruppen im Sprengel bewirken<br />
können.<br />
2.8. Anwendungswirklichkeit<br />
Die Maßnahme Sachwalterschaft wird heute mehr als fünf<br />
Mal so oft eingesetzt wie die „alte Entmündigung“. Die<br />
weitestgehende Beschränkung, die das Gesetz vorsieht - die<br />
Bestellung eines Sachwalters für alle Angelegenheiten - stellt<br />
zugleich die häufigste Anwendungsform dar, obwohl die<br />
Geschäftsfähigkeit nur soweit eingeschränkt werden soll, als<br />
18<br />
dies unbedingt notwendig ist. 2000-20<strong>09</strong> ging der Anteil von
Sachwalterschaften für sämtliche Angelegenheiten allerdings<br />
von 61% auf 55% zurück. Gestiegen ist demgegenüber der<br />
Anteil von Sachwalterschaften mit einer Beschränkung auf<br />
wesentliche ökonomische Belange von 36% auf 41%.<br />
Gleichwohl steht dies in eigenartigem Kontrast zur<br />
ursprünglichen Zielsetzung, die Entmündigung durch<br />
flexible und dosierte Modelle der <strong>Besachwaltung</strong> zu ersetzen.<br />
Gleichwohl das Gericht regelmäßig zu prüfen hat, ob die<br />
Sachwalterschaft beendet werden kann oder ob der<br />
Aufgabenkreis einzuschränken bzw. auszuweiten ist, nimmt<br />
2000-20<strong>09</strong> die Zahl der Langzeit-Sachwalterschaften zu.<br />
Während der Anteil der einjährigen Sachwalterschaften von<br />
19% auf 14% sinkt, steigt der Anteil der länger als 5 Jahre<br />
dauernden von 23% auf 27%. Für einen wachsenden Anteil<br />
wird die Sachwalterschaft eine lebenslange Perspektive. Von<br />
den 1996 Unter-30-Jährigen Besachwalteten waren dies<br />
2008 85% in unverändertem Status.<br />
Deutschen Forschungsberichten zufolge ist bei einem Drittel<br />
der Betreuten (Besachwalteten) die Betreuung nicht<br />
unbedingt nötig. Rolf-Dieter Hirsch (brandeins 1/2007)<br />
zufolge regen vor allem Familien aus unsachlichen<br />
Erwägungen eine <strong>Besachwaltung</strong> an. Überlastete Ärzte,<br />
Richter, die sich auf gutachtliche Stellungnahmen von<br />
Ärzten verlassen und überforderte Betreuungssysteme bilden<br />
im Weiteren ein System, das Hürden herabsetzt und zum<br />
Selbstläufer wird, weil es Rechtssicherheit in organisierter<br />
Verantwortungslosigkeit vorgaukelt. Ausgangspunkt dieser<br />
19<br />
Dynamik ist die Erosion der Familie als traditionellem
sozialen Sicherungssystem. Vielfach lautet der Befund, dass<br />
ein modernes Betreuungsrecht an den Familien und deren<br />
ökonomischen Interessen scheitert. Einerseits geht es wie<br />
gezeigt um Erbinteressen und die Vermeidung ökonomischer<br />
Solidarität in der Familie, andererseits um die schwindende<br />
Bereitschaft der Familie zur Fürsorge und Betreuung. Aus<br />
dieser Perspektive erscheint die Forderung, Anregungen aus<br />
dem Familienkreis zu erschweren und die professionelle<br />
<strong>Besachwaltung</strong> massiv auszudehnen, mehr als plausibel.<br />
3. Zur aktuellen Entwicklungsdynamik der<br />
Sachwalterschaft<br />
Während es die ursprüngliche Intention des Gesetzgebers<br />
1984 war, die Fallzahl zu reduzieren, so ist nach dem<br />
Inkrafttreten des SWR zu einer Trendumkehr gekommen:<br />
Sanken vorher über einen längeren Zeitraum die<br />
Entmündigungen, so begann ab 1984 ein stetiger Anstieg der<br />
neuen Sachwalterschaften. In der Tat stieg die Zahl der<br />
Sachwalterbestellungen seit 1984 weitaus stärker an als dies<br />
dem Wachstum des selbst nicht mehr voll handlungsfähigen<br />
Bevölkerungssegments entsprach.<br />
Vor diesem Hintergrund ist die Einführung des Clearing-<br />
Modells zu verstehen, welches tatsächlich (allerdings mit<br />
starken regionalen Unterschieden) zu einer Verlangsamung<br />
des Anstieg des Fallzahlen geführt hat. Tatsächlich wurden<br />
Filtereffekte durch die Verrechtlichung von Clearing-<br />
Maßnahmen und eine adäquate Sozialberatung erzielt.<br />
Das Sachwalterrechts-Änderungsgesetz 2006 (Juli 2007 in<br />
20<br />
Kraft) betonte die Subsidiarität der Sachwalterschaft.
Deshalb wurde zum einen die Selbstbestimmung behinderter<br />
Menschen durch die Sachwalterverfügung und<br />
Vorsorgevollmacht gestärkt, zum andern der<br />
Familienautonomie durch die Vertretungsbefugnisse naher<br />
Angehöriger größerer Raum eingeräumt.<br />
Mit dem Sachwalterrechts-Änderungsgesetz 2006 wurde der<br />
Anwendungsbereich der Sachwalterschaft auf jene Fälle<br />
eingeschränkt, in denen die Bestellung eines Sachwalters<br />
unumgänglich ist, es also keine Alternative hiefür gibt. Wie<br />
so oft in komplexen Rechtsentwicklungsprozessen fallen das<br />
„law in the books“, was also im Gesetzblatt steht, und das<br />
„law in action“, also die Rechtsanwendung, auseinander. So<br />
ist die Justiz nicht ganz mit dem gesetzgeberischen Willen<br />
mitgezogen. Deshalb wird weiterhin knapp 80% der Anträge<br />
auf <strong>Besachwaltung</strong> stattgegeben.<br />
Auch wenn den Gerichten im Weiteren eine wesentliche<br />
Prüfkompetenz zukommt, bleibt die faktische Zurückweisung<br />
der Sachwalterschaft in die Familie (mehr als 60% der<br />
Führenden) ein zentrales Problem. Hinlänglich bekannt sind<br />
die Probleme gewalttätiger Übergriffe ausgebrannter und<br />
überforderter pflegender bzw. betreuender<br />
Familienangehöriger. Ebenso bekannt sind die Varianten der<br />
missbräuchlichen Handhabung sachwalterischer<br />
Kompetenzen im familiären Umfeld.<br />
Verstärktes Augenmerk wendet das neue Recht auch der<br />
Personensorge zu; dies kommt etwa in den neuen<br />
Regelungen für die medizinische Behandlung und die<br />
Wohnortbestimmung zum Ausdruck.<br />
21
Die jüngere Entwicklung wird einerseits als problematische<br />
Ausweitung der Fallzahlen mit vielen tragischen<br />
individuellen Zumutungen, andererseits als Krise und<br />
Überbeanspruchung der Sachwalterschaft wahrgenommen.<br />
Diese Krise hat neben den erwähnten sozialen und<br />
demographischen Aspekten mehrere Facetten:<br />
- zum ersten wurde die maßgeschneiderte, befristete<br />
Sachwalterschaft tendenziell durch die umfassende<br />
<strong>Besachwaltung</strong> als Lebenszeit-Maßnahme ersetzt.<br />
- zum zweiten hat der Terrainverlust der professionellen<br />
Vereinssachwalterschaft zugunsten nahestehender Personen<br />
aus dem Familienkreis ein unleugbares Betreuungsgefälle<br />
zur Folge<br />
- zum dritten wird es seitens der Gerichte schwieriger,<br />
familiäre Netzwerke zu aktivieren<br />
- zum vierten sehen sich nicht-professionelle<br />
SachwalterInnen vielfach mit erheblichen Zugangshürden<br />
etwa bei Zugang zu Sozialleistungen konfrontiert<br />
- zum fünften sind die Gerichte überlastet<br />
- zum sechsten fehlen Konzepte, um Mitnahmeeffekte und<br />
überschießende Maßnahmen zu verhindern.<br />
Heinz Trompisch hat festgehalten, dass die Glaubwürdigkeit<br />
und Effizienz der Schutzfunktion der Sachwalterschaft<br />
deshalb leidet, weil sie ungefiltert unverhältnismäßige<br />
Eingriffe in die Autonomie älterer sowie geistig behinderter<br />
Menschen ermögliche. Dem ist wenig hinzuzufügen.<br />
22
4. Künftige Herausforderungender Sachwalterschaft<br />
Meine These lautet, dass prioritäres Ziel weiterer<br />
Entwicklungsschritte der Sachwalterschaft die Vermeidung<br />
von Sachwalterschaften sein muss. Dies muss in Anlehnung<br />
an das Denken der „evidence based medicine“ sowie der<br />
salutogenetischen Forschung darauf fokussieren, die<br />
Einwirkung von Risikofaktoren, welche zur <strong>Besachwaltung</strong><br />
führen, abzuschwächen. Das ist augenfällig eine langfristige<br />
Perspektive. Armut macht inkompetent und hilflos. Es geht<br />
um Bildung, Lebensführung und Teilhabechancen, um<br />
Bemächtigung und die Fähigkeit zur Selbstorganisation.<br />
Daher gilt: wer über eine Politik der <strong>Besachwaltung</strong> spricht,<br />
spricht daher eigentlich über Verteilungs- und Sozialpolitik.<br />
2004 hat Rudolf Forster gefordert, es müssten alternative<br />
Rechtsinstrumente der rechtsfürsorglichen Unterstützung<br />
entwickelt werden, die es erlauben, die paternalistische<br />
Konstruktion der Sachwalterrechts zur tatsächlich letzten<br />
Alternative für einen möglichst kleinen Kreis von Betroffenen<br />
zu machen. Daran ist kein Beistrich zu ändern.<br />
Die Frage ist nur, wo findet sich diese Alternative ? Wohl<br />
nicht in einem anderen, sondern in einem geänderten<br />
Rechtsinstitut der Sachwalterschaft.<br />
Anhaltspunkte hierfür ergeben sich aus dem SWRÄG 2006,<br />
nämlich aus dem Subsidiaritätsgedanken, demnach die<br />
Geschäftsfähigkeit nur soweit eingeschränkt werden soll, als<br />
es unbedingt notwendig ist. In den nicht von der<br />
Sachwalterschaft betroffenen Bereichen soll die betroffene<br />
23<br />
Person ihr Leben frei von Einschränkungen gestalten
können. Hier stehen der Justiz noch erhebliche Spielräume<br />
offen. Weitere Anhaltspunkte ergeben sich aus der<br />
Behindertenhilfe, deren „Normalisierungsprinzip“ eine<br />
weitestgehende Angleichung und nicht-behinderte Personen<br />
vorsieht. Bestehende Taschengeldregelungen, in denen<br />
erwachsene Menschen wie Kinder betteln müssen, spiegeln,<br />
dass der Spielraum der SachwalterInnen zu groß ist.<br />
Denkbar wäre, dass das Gesetz künftig Mindestbeträge in<br />
Anlehnung an die BMS oder ein Mindestlohnregime vorsieht,<br />
über welche die Betroffenen grundsätzlich frei verfügen<br />
können. Die Debatte um das „persönliche Budget“ in der<br />
Behindertenhilfe weist hier den Weg.<br />
Ein anderer Zugang ergibt sich aus dem sozialpädagogischen<br />
Assistenzgedanken. Wenn der Sachwalter nicht als<br />
geschäftsführender Kontrolleur, sondern als Coach, Tutor<br />
oder Sozialberater zum Einsatz gelangt, verschiebt sich das<br />
Problem vom rechtlich gewaltbewehrten Eingriff in die<br />
Geschäftsfähigkeit hin zu einer Herausforderung der<br />
„Compliance“, des Zusammenwirkens der beiden Teile. Die<br />
partizipatorische Konstruktion der Helferkonferenzen in<br />
Behindertenhilfe oder Jugendwohlfahrt könnte hier den Weg<br />
weisen.<br />
Es geht also im Kern darum, das Gewicht der<br />
rechtsgeschäftlichen Komponente der Sachwalterschaft, also<br />
die Frage der Geschäftsfähigkeit, aber auch den formellen<br />
Eingriff in die Geschäftsfähigkeit, zurückzunehmen und<br />
stattdessen die sozial– assistierende Komponente zu stärken,<br />
<strong>Besachwaltung</strong> also als Soziale Arbeit im Weitesten Sinne zu<br />
24
verstehen. Dabei wird man zweifellos sorgfältig nach<br />
Sachverhalten, Ziel- und Anspruchsgruppen zu<br />
unterscheiden haben. Schon bisher hat sich ja die<br />
Vereinssachwalterschaft auf jene Klientel konzentriert, bei<br />
der die soziale und materielle Existenzsicherung im<br />
Vordergrund steht.<br />
Demgegenüber bedarf Forderung, Personen aus dem<br />
Nahbereich, also Familienangehörige, sollten zur Führung<br />
einer Sachwalterschaft verstärkt angeregt, begleitet und<br />
professionalisiert werden, einer genaueren Betrachtung.<br />
Auch hier gilt, dass es nicht darum geht, funktionsfähige<br />
familiale Netzwerke zu beeinträchtigen. Umgekehrt aber<br />
muss klar gesehen werden, dass die Familie als soziale<br />
Institution schicht- und milieuspezifisch unterschiedlich an<br />
Leistungsgrenzen gerät. Jede empirische Betrachtung der<br />
rückläufigen Assistenz-, Pflege- und Solidaritätsleistungen<br />
im Familienkreis macht diese Erwägung plausibel. Hier<br />
wiederum sind Gerichte gefordert, die Eignung von Personen<br />
aus dem Familienkreis eingehender zu beurteilen.<br />
Ebenso falsch ist es, professionelle Rechtsvertreter mit<br />
dutzenden, wenn nicht hunderten Sachwalterschaften zu<br />
betrauen.<br />
Daher kann es im Weiteren nur um einen bedarfsgeprüften<br />
Ausbau der professionellen Dienstleistung gehen.<br />
Künftig absehbare Herausforderungen werden nur bewältigt<br />
werden können, wenn<br />
1. ein individuelles „Tailoring“ (Zuschneidern) von<br />
25<br />
Maßnahmen zur Richtschnur des gerichtlichen
Entscheidens wird und dem Auftrag regelmäßiger<br />
Maßnahmenüberprüfungen Rechnung getragen wird<br />
2. von der Möglichkeit der Vorsorgevollmacht regelhaft<br />
Gebrauch gemacht wird, wofür es ein „public awareness<br />
rising“ benötigt<br />
3. die Angehörigenvertretung nicht als Instrument zur<br />
Verweigerung oder Zurückweisung der Zuständigkeit an<br />
die Sorge Tragenden gebraucht wird, sondern es zu einer<br />
kooperativen Verflechtung zwischen<br />
Vereinssachwalterschaft, Gericht und Angehörigen<br />
kommt<br />
4. Clearing-Prozesse so umfassend ausgestaltet sind, dass<br />
sie das gesamte Netz sozialer Dienste unter Einschluss<br />
der Anreger von Sachwalterschaften einbezogen werden<br />
müssen<br />
5. die Sachwalterschaft rechtspolitisch ´ultima ratio`, also<br />
das äußerste Mittel bleibt.<br />
Nikolaus Dimmel<br />
September 2010<br />
26