11.08.2012 Aufrufe

Besachwaltung Vortrag ND 09 20101

Besachwaltung Vortrag ND 09 20101

Besachwaltung Vortrag ND 09 20101

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Besachwaltung</strong> im Strukturwandel der postfordistischen<br />

Wissensgesellschaft.<br />

Eckmarken künftiger Reformdebatten<br />

Nikolaus Dimmel (Salzburg)<br />

1. <strong>Besachwaltung</strong> zwischen Inkompetenz, psychischen<br />

Störungen und Behinderung<br />

1.1. Ausgangspunkt<br />

Eine Standortbestimmung des Instituts der „<strong>Besachwaltung</strong>“<br />

kann pragmatisch oder reflexiv erfolgen. Pragmatisch wäre<br />

sie, Zahlen zu KlientInnen, AnregerInnen oder Verfahren zu<br />

erörtern und einen Ausblick auf künftige<br />

Budgetierungserfordernisse zu geben. Reflexiv wäre sie,<br />

wenn die Entwicklung der „<strong>Besachwaltung</strong>“<br />

gesellschaftstheoretisch und historisch eingebettet wird.<br />

Beides gemeinsam zu versuchen ist zwar unverschämt<br />

ambitioniert; lassen wird es hier aber zumindest auf den<br />

Versuch ankommen.<br />

1.2. Ökonomischer Wahnsinn und <strong>Besachwaltung</strong><br />

Wer aufgrund geistiger Behinderung oder psychischer<br />

Krankheit besachwaltet wird, dem wurde erfolgreich<br />

unterstellt, er könne seine Geschäfte nicht ohne Nachteil für<br />

sich selbst besorgen. Er ist also ökonomisch inkompetent.<br />

Dabei geht es in erster Linie um Rechtsgeschäfte, also die<br />

„Vermögenssorge“, daneben natürlich auch um die soziale<br />

Betreuung der Betroffenen. Die Sorge des Gesetzgebers um<br />

1


das Vermögen der Staatsbürger, gründet im aktuellen Bezug<br />

nicht nur auf der steigenden Lebenserwartung der<br />

Bevölkerung, sondern wohl auch auf der dynamischen<br />

Zunahme geistig behinderter, pflegebedürftiger,<br />

inkompetenter oder psychisch kranker Personen. Zugleich<br />

war der Übergang von der Entmündigungsordnung zur<br />

Sachwalterschaft 1984 wohl auch eine Reaktion auf die<br />

Kritik des institutionellen Umgangs mit diesen Gruppen.<br />

Wer besachwaltet wird kann wirtschaftlich nicht haushalten.<br />

In kapitalistischen Warenverkehrswirtschaften ist das ein<br />

Stigma. Die Messlatte des Haushaltens findet sich in der<br />

juristischen Figur der „Dispositions- und<br />

Diskretionsfähigkeit“. Damit ist gemeint, das jemand weiß,<br />

was er tut. Meine Ausgangsthese lautet nun, dass es sich<br />

einerseits bei dieser Figur um eine ideologische Projektion<br />

handelt; und dass andererseits die moderne Wirtschaft<br />

geradezu darauf beruht, dass ihre KonsumentInnen nicht<br />

wissen, was sie tun, um mit Geld, das sie borgen müssen,<br />

Dinge zu kaufen, die sie nicht brauchen. Der moderne<br />

Werbung/Marketing-Aufwand erreicht zwischenzeitig einen<br />

durchschnittlichen Anteil von 21% des Verkaufspreises eines<br />

Produktes. Niemand wird ernsthaft behaupten wollen, dies<br />

sei ökonomisch rational.<br />

Tatsächlich geht das bürgerliche Recht seit seiner<br />

Kodifikation bloß vom Ideal rational entscheidender,<br />

planender und wirtschaftlich vernünftiger Subjekte aus. Die<br />

gesellschaftliche Wirklichkeit des Rechts zeigt uns freilich ein<br />

kontrastiertes Gegenbild. Der preisgekrönte Film „The<br />

2


Corporation“ hat etwa am Beispiel der Öl- oder<br />

Pharmakonzerne gezeigt, dass eine multinationale<br />

„Corporation“, die zwecks Profitmaximierung lügt, betrügt,<br />

stiehlt oder ermorden lässt, als natürliche Person vor Gericht<br />

als psychopathischer Serienkiller erscheinen würde. Die<br />

Märkte, auf denen derartige Unternehmen ihre Waren<br />

absetzen, sind durch Schmiergeldbeziehungen, Lobbying,<br />

„gekaufte Gesetzgebungsprozesse“, Kartellierungen,<br />

Oligopole und Monopolbildungen bis zur Unkenntlichkeit<br />

verzerrt. Die neoliberale Idee eines „mündigen Konsumenten“<br />

ist eine Farce, wie die Werbekampagnen für status- und<br />

prestigeorientierte Warenkonsumtionspraktiken zeigen, in<br />

denen es nur noch darum geht, soziale Unterschiede und<br />

Wahnvorstellungen individueller Besonderheit zu<br />

reproduzieren.<br />

Je komplexer die Konsumbeziehungen, desto deutlicher wird<br />

der proportionale Zusammenhang zwischen sozialer<br />

Kompetenz und Geschäftsfähigkeit. Prozesse der<br />

Verrechtlichung, Technisierung und Komplexitätssteigerung<br />

in der Wissensgesellschaft machen deutlich, dass ein stet<br />

wachsendes Maß an Aufmerksamkeit, Lernbereitschaft oder<br />

Orientierungswissen erforderlich ist, um dem bürgerlichen<br />

Ideal der Geschäftsfähigkeit zu entsprechen. Zugleich steigt<br />

die Zahl jener, die an den Anforderungen scheitern.<br />

Eingriffe in die individuelle Entscheidungsautonomie und<br />

ihre rechtliche Beschränkung tragen deshalb ´cum grano<br />

salis` etwas Willkürliches in sich, führen sie doch zu Frage,<br />

wo die <strong>Besachwaltung</strong> ihre sachliche Grenze in einer immer<br />

3


komplexeren Gesellschaft findet. Zugleich müssen sie sich<br />

fragen lassen, wieso in einer Ökonomie der ökologisch-<br />

desaströsen Verschwendung und Vernichtung kollektive<br />

Vergeudung – etwa die deutsche Verschrottungsprämie 2010<br />

als Anreiz zum vorzeitigen Ankauf von Neuwagen – prämiert<br />

wird, während individuelle Vergeudung pathologisiert wird.<br />

Es ist wahrlich ein Allgemeinplatz zu betonen, dass eine<br />

wachsende Anzahl von Personen den<br />

Handlungsanforderungen des modernen Wirtschaftsverkehrs<br />

nicht entspricht. Untersuchungen (BMJ) zeigen, dass nicht<br />

nur 90% aller Bankkunden die Mechanismen der<br />

Geldgeschäfte nicht verstehen, die sie hier tätigen. Sighard<br />

Neckel hat jüngst unter dem Titel „Strukturierte<br />

Verantwortungslosigkeit“ nachgezeichnet, dass auch Banker<br />

nicht verstehen, was sie tun.<br />

Ökonomische Inkompetenz ist endemisch und eng mit<br />

sozialer Ungleichheit und sozialem Abstieg verbunden. So<br />

nahm die Zahl der überschuldeten Haushalte 1990-20<strong>09</strong> von<br />

80.000 auf 320.000 zu. 20<strong>09</strong> wurden knapp 900.000<br />

Gehaltsexekutionen vollzogen. Das erheblichenteils wohl<br />

nicht, weil die Betroffenen maßlos wären, sondern weil sie<br />

entweder arm oder inkompetent sind, mit Geld umzugehen.<br />

Mehr als 92% von ihnen haben nur Pflichtschul- oder<br />

Berufsschulabschluss.<br />

Überdies ist ökonomische Inkompetenz auch eng mit<br />

gesundheitlichen Beeinträchtigungen verbunden. Hier hat<br />

sich zwischen 1990 und 2004 die Zahl der stationären<br />

psychiatrischen Diagnosen beinahe verdoppelt. Heute<br />

4


asieren 10% der 2,4 Mio stationären Behandlungsepisoden<br />

auf einer psychiatrischen Diagnose, wobei 75% dieser<br />

Episoden in nicht-psychiatrischen Abteilungen an<br />

Allgemeinkrankenhäusern stattfinden. Die häufigsten<br />

Diagnosen sind in der Reihenfolge Depression,<br />

Alkoholabhängigkeit und Demenz. 2000 waren 90.000<br />

Personen dement, 2010 sind es 110.000, der künftige<br />

jährliche Zuwachs wird mit bis zu 20.000 Personen<br />

angegeben. 2050 sollen 235.000 Personen an Demenz<br />

erkrankt sein. Auch die Zahl der geistig und mehrfach<br />

Behinderten stieg 1990-2007 dem Behindertenbericht 2008<br />

zufolge geschätzterweise von 35.000 auf 85.000. Weitere<br />

205.000 Personen oder 2,5% der Bevölkerung müssen<br />

psychisch-nervliche Probleme wie Depressionen,<br />

Angststörungen oder psychosomatische Erkrankungen<br />

bewältigen. Man könnte diese Liste fortsetzen mit den<br />

340.000 chronischen Alkoholikern des Alkoholberichtes<br />

20<strong>09</strong> (Handbuch Alkohol), was mehr als dem Zehnfachen<br />

des Volumens problematischen Drogenkonsums entspricht,<br />

oder mit jenen 31% der ArbeitnehmerInnen, die Burn-Out-<br />

gefährdet oder bereits davon betroffen sind. Kurz: die<br />

Möglichkeiten, ökonomisch inkompetent zu handeln,<br />

nehmen für einen erheblichen Bevölkerungsteil dynamisch<br />

zu.<br />

In soziologischer Sicht werden drei Angelpunkte dieser<br />

Entwicklung sichtbar:<br />

- zum ersten gibt es für all diese Phänomene eine<br />

soziale Inzidenz. D.h.: mit sinkendem sozialem Status<br />

steigt die relative Zahl der Armen, Kranken,<br />

5


Überschuldeten, Verhaltensauffälligen, Inkompetenten,<br />

Analphabeten, Dementen, psychisch Auffälligen oder<br />

Behinderten;<br />

- zum zweiten wird deutlich, dass die sozialen Netze,<br />

welche bislang Inkompetenz, Fehlverhalten und<br />

Abweichung traditionell aufgefangen haben, schwächer<br />

werden. Das betrifft insbesondere die Familie;<br />

- zum dritten ist unübersehbar, dass die gegenwärtige<br />

Entwicklung kapitalistischer Beschäftigungs- und<br />

Lebensverhältnisse die Anzahl der Nischen verringert, in<br />

denen die Langsamen, Beeinträchtigten und sog.<br />

„Minderleister“ noch geschützten Platz finden.<br />

Damit sind fundamentale Eckpunkte künftiger<br />

Reformdebatten markiert.<br />

In diesem Gefüge spielt die Sachwalterschaft eine ganz<br />

bestimmte Rolle, weil sie als Agentur sozialer Disziplinierung,<br />

Hilfe und Kontrolle im Kern berührt, was man seit der<br />

Aufklärung und ihrer bürgerlichen Familienform<br />

„Verschwendungssucht“ oder modern: „ökonomische<br />

Inkompetenz“ nennt und worauf seit jeher mit<br />

Entmündigung (oder modern: <strong>Besachwaltung</strong>), Testier- und<br />

Heiratsunfähigkeit geantwortet wird.<br />

Die bürgerliche Gesellschaft des ausgehenden 18.Jhdts<br />

etikettierte, etwa bei Immanuel Kant, auch die „ökonomische<br />

Unvernunft“ als wahnsinnig. Meinte doch die bürgerliche<br />

Vernunft sowohl die staatsbürgerliche Vernunft des<br />

„Citoyen“ als auch die ökonomische Vernunft des<br />

„Bourgeois“ als ´homo oeconomicus`. Folgerichtig sahen das<br />

6


preußische allgemeine Landrecht 1794 ebenso wie der Code<br />

Civil des Jahres 1803 aber auch die Entmündigungsordnung<br />

1916 neben Geisteskrankheit, Geistesschwäche oder<br />

Trunksucht die Verschwendungssucht als zentralen<br />

Auslöser der Entmündigung an. Noch heute spricht man von<br />

„Verschwendungssucht“,wenn Ausgaben getätigt werden, die<br />

in einem krassen Missverhältnis zur eigenen wirtschaftlichen<br />

Leistungsfähigkeit stehen und dadurch das Einkommen oder<br />

das Vermögen der betreffenden Person oder ihrer Familie<br />

massiv gefährden oder schädigen. Seit der Pandektistik des<br />

19.Jhdts besteht Konsens darüber, dass die Vergeudung von<br />

Vermögen das fürsorgende Eingreifen der Rechtsordnung<br />

herausfordert, wenn dadurch die wirtschaftliche Existenz<br />

des Einzelnen oder seiner Familie gefährdet wird.<br />

Die Modernisierung der Entmündigung durch Einführung<br />

der Sachwalterschaft 1984 (oder in Deutschland der<br />

„Teilbetreuung“ im BetreuungsG 1992) führt diese Tradition<br />

der Etikettierung und Sanktionierung wirtschaftlicher<br />

Unvernunft in veränderter Terminologie und flexibilisierter<br />

Form weiter. Gleichzeitig trug sie der Entwicklungen der<br />

Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie, Behinderten-, Alten-<br />

und Sozialpädagogik Rechnung.<br />

1.3. Ökonomische Inkompetenz als sozialer Prozess<br />

Wirft man heute einen Blick auf die gesellschaftliche<br />

Umwälzungsdynamik, in welche die Sachwalterschaft<br />

eingebettet ist, so werden soziale Polarisierungen nicht nur<br />

in der Verteilung von Reichtum und Armut, sondern auch in<br />

7


der Verteilung alphabetischer, mathematischer, technischer,<br />

ökonomischer und sozialer Kompetenzen sichtbar.<br />

Individuelle Inkompetenzen sind indes kein Ergebnis<br />

biologisch generierter Zufälle. Sie werden vielmehr sozial<br />

vererbt, erworben und vertiefen sich biographisch, spitzen<br />

sich also im Alter oder bei gesundheitlicher Beeinträchtigung<br />

ggf weiter zu. Im Ergebnis sind ökonomische wie soziale<br />

Inkompetenz oder die Wahrscheinlichkeit, mit den<br />

Anforderungen der mobilen und flexiblen Ökonomie<br />

mitzuhalten, nicht nur sozial, sondern zugleich auch<br />

demographisch ungleich verteilt. Es macht also keinen Sinn,<br />

von den Alten, den Pflegebedürftigen, der psychiatrisch<br />

Behandlungsbedürftigen schlechthin zu sprechen. Vielmehr<br />

bedarf es der Vergewisserung, dass auch die Klientel der<br />

Sachwalterschaft auch mit Instrumenten der Schicht- und<br />

Milieuanalyse beschrieben werden muss.<br />

Erst vor diesem Hintergrund mag deutlich werden, dass der<br />

Einsatz des Instrumentes der <strong>Besachwaltung</strong> – als einer<br />

Verknüpfung von Kontrolle, Hilfe und Disziplinierung – einen<br />

konkreten sozialen Ort und eine sozialpolitische Funktion<br />

hat.<br />

1.3.1. Analphabeten<br />

Ökonomische Inkompetenz ist vielfach mit Lese-, Schreib-<br />

und Rechenschwierigkeiten verbunden. Nun sind zwar nur<br />

5% der österr. Bevölkerung (400.000) primäre Analphabeten,<br />

denen es unmöglich ist, einfache Texte zu schreiben oder zu<br />

verstehen, Straßenschilder zu lesen oder ein Formular<br />

auszufüllen. Weitere 12% jedoch sind<br />

8


Sekundäranalphabeten, die mangels trotz Schulbesuchs<br />

keine Schrift- und Sprachbeherrschung mehr vorweisen,<br />

wofür vor allem Abkopplungsprozesse sozial Schwacher am<br />

Arbeits- und Bildungsmarkt ursächlich sind. Knapp 17,5%<br />

der Bevölkerung weisen so schlechte Lese- und<br />

Schreibkompetenzen auf, dass sie in ihrer gesellschaftlichen<br />

Umgebung nicht alleine konflikt- und friktionslos zurecht<br />

kommen. Im Vergleich erreichen Jugendliche und Senioren<br />

die vergleichsweise schlechtesten Werte. Bei den<br />

Grundrechnungsarten und einfachen mathematischen<br />

Aufgabenstellungen schließlich weisen 50% der Bevölkerung<br />

über 16 Jahren funktionale Defizite auf.<br />

1.3.2. Informations- und Kommunikationstechnologien<br />

Vielfach geht ökonomische Inkompetenz in der E-Commerce-<br />

Ökonomie auch mit einem „digitalen Wissensleck“, „IT-<br />

Analphabetismus“ oder „PC-Analphabetismus“ einer. EURO-<br />

Stat zufolge haben 31% der Bevölkerung keine PC-<br />

Grundkenntnisse; bei den 55-74-Jährigen sind 67% gänzlich<br />

inkompetent. Einer Fessel-GfK Umfrage zum „E-<br />

Government“ zufolge liegen die niedrigsten<br />

Inanspruchnahme-Quoten bei den 65-74-Jährigen, bei<br />

AbsolventInnen der niedrigsten Bildungsstufe (Pflichtschule)<br />

sowie bei den nicht-erwerbstätigen Personen.<br />

Vor allem ältere Personen, mental und intellektuell<br />

beeinträchtigte, Behinderte und sozial Schwache sind von<br />

diesen Umwälzungen negativ betroffen. Obgleich formal<br />

handlungsfähig benötigen sie Unterstützung bei<br />

Gerichtsverfahren, Grundbuchsangelegenheiten,<br />

9


Behördenwegen und -entscheidungen, Antragstellungen für<br />

Förderungen, Sozialleistungen wie Pflegegeld oder<br />

Sozialhilfe/BMS, Urkunden und Bescheiden,<br />

Konsumentenschutzfragen, Energie- und<br />

Kommunikationsdienstleistungen.<br />

1.4. Demographie und Demenz<br />

Nicht nur ökonomische und soziale Kompetenzen, auch die<br />

Demenz ist als kognitive, emotionale und soziale<br />

Beeinträchtigung sozial unterschiedlich nach Schicht und<br />

Milieu verteilt. So sind Risikofaktoren der Demenz<br />

eingeschränkte oder fehlende physische Aktivität, soziales<br />

Engagement, intellektuelle Auseinandnersetzung sowie<br />

Übergewicht, Tabakkonsum und unbehandelte<br />

Depressionen. Diese Risikofaktoren sind mit erdrückender<br />

Klarheit sozial unterschiedlich verteilt. Das Risiko, in der<br />

oberen Mittelschichten dement zu werden ist nicht einmal<br />

halb mal so groß wie in der oberen Unterschicht. Untere<br />

Unterschichten haben ein vergleichsweise geringeres<br />

Demenzproblem auf ihrer verkürzten Lebenserwartung.<br />

Heute betrifft die Sachwalterschaft zu 75% Personen in<br />

einem Alter über 60. 62% aller Verfahrensanregungen<br />

beziehen sich auf altersbedingte Zustände (darunter: 46%<br />

auf Altersdemenz und 16% auf körperlichen Verfall). Etwa<br />

6% aller Menschen über 65 leiden unter Demenz. Bei den<br />

über 90-Jährigen sind es 40%. Aber dem 65-igsten<br />

Lebensjahr verdoppeln sich alle fünf Jahre die<br />

Prävalenzzahlen. 1951 wurden in Ö. geschätzte 35.500<br />

10<br />

Demenzkranke erfasst. 2000 waren es 90.500. Derzeit


verdoppelt sich die Zahl der Demenzerkrankten alle 20<br />

Jahre. Bis 2050 wird ihre Zahl auf etwa 235.000 ansteigen.<br />

Die demographische Entwicklung treibt diese<br />

Risikobelastung voran. 2008 lebten in Österreich 1,88 Mio<br />

(oder 22,6% der Bev.) Personen über 60, bei den wenigstens<br />

75-Jährigen wurden schon mehr als 662.000 gezählt. Im<br />

Jahr 2000 waren es noch 1,65 Millionen über 60 und rund<br />

568.000 mindestens 75 gewesen. 2010 liegt die Zahl der<br />

über 60-Jährigen bei 2,07 Millionen; 2030 wird sie bei 2,81<br />

Mio liegen. 2018 werden bereits mehr als 25% der<br />

Gesamtbevölkerung über 60 Jahre alt sein, nach 2028<br />

bereits mehr als 30%.<br />

Noch stärker zunehmen wird der Anteil der über 75-jährigen<br />

Bevölkerung. Diese Bevölkerungsgruppe wird von 662.000<br />

Personen im Jahr 2008 bis 2030 auf 1,02 Millionen<br />

wachsen. Besonders stark fällt der Zuwachs bei den<br />

Hochbetagten (85+ Jahre) aus. Deren Zahl stieg in den<br />

letzten fünf Jahren von 123.500 auf 173.200 Personen, ihr<br />

Anteil an der Gesamtbevölkerung liegt damit bereits bei<br />

2,1%.<br />

Im Ergebnis bringt der demographische Prozess zwar eine<br />

stet wachsende Gruppe von Alten hervor, die dement werden<br />

können; nur wer tatsächlich dement wird, hängt<br />

entscheidend von der Verteilung sozialer Lagen, von<br />

Lebenspraktiken, von materieller Teilhabe und Leistungen<br />

der öffentlichen Wohlfahrt ab. Altern ist zwar ein irreversibler<br />

biologischer Prozess organischer und funktioneller<br />

11<br />

Veränderungen, der unausweichlich mit dem Tode endet.


Trotzdem aber bedingen Alter und Krankheit einander eben<br />

nicht wechselseitig (Lang 1999,256ff). Für keine einzige<br />

Krankheit ist erwiesen, dass sie genuin altersbedingt, dass<br />

sie in Alterungsprozessen an sich begründet ist (Steinhagen-<br />

Thiessen/Borchelt 1996,156).<br />

1.5. Behinderung und Psychische Erkrankungen<br />

Ein letzter zu betrachtender Faktor liegt in der Entwicklung<br />

von Behinderung und psychiatrischer Inzidenz. Denn in etwa<br />

24% der Sachwalterschafts-Anregungen wird eine<br />

altersunabhängige geistige Behinderung angeführt, bei 18%<br />

eine psychische Erkrankung, darunter bei 6% eine<br />

Suchtproblematik. Der letztverfügbare Ö.Psychiatriebericht<br />

2004/05 zeigt, dass 1996-2002 die Zahl der Entlassungen<br />

mit einer psychiatrischen Haupt- oder Nebendiagnose aus<br />

psychiatrischen Krankenanstalten und psychiatrischen<br />

Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern um mehr als 20%<br />

zugenommen hat (von 45.000 auf etwa 57.000). Die Inzidenz<br />

psychiatrisch attestierter Erkrankungen steigt in den letzten<br />

20 Jahren massiv an. Jede/r dritte wird im Laufe<br />

seines/ihres Lebens psychiatrisch auffällig. Dabei sind es vor<br />

allem Modernisierungsverlierer, Langzeitarbeitslose,<br />

chronisch Kranke und andere Armutsbetroffene, welche<br />

diese Population repräsentieren. Die Ätiologie geistiger<br />

Behinderung zeigt, dass nur 5% auf erblichen (rezessiv<br />

vererbten), angeborenen Stoffwechselstörungen oder<br />

singulären Genveränderungen (Down-Syndrom) beruhen.<br />

30% gehen auf sozial und lebensführungsbedingte frühe<br />

12<br />

Schädigungen der Embryonalentwicklung zurück, etwa auf


toxische Stoffe wie Alkohol. 10% gehen auf<br />

Mangelernährungen und milieuspezifische Infektionen<br />

zurück. 5% gehen auf Infektionen, Traumata oder<br />

Vergiftungen zurück. 20% gehen auf einen frühkindlichen<br />

Mangel an Nahrung, sozialen und sprachlichen<br />

Stimulationen zurück. Etwa 30% der Fälle kann man nicht<br />

erklären. So wird selbst im Falle geistiger Behinderung<br />

deutlich, dass es soziale Faktoren sind, welche die<br />

Behinderungshäufigkeit entscheidend beeinflussen.<br />

1.6. Zwischenbetrachtung<br />

Fakt ist nicht nur, dass die Möglichkeiten, seine Geschäfte<br />

mit Nachteil für sich zu besorgen, fortlaufend ausgeweitet<br />

werden, nämlich durch das gestiegene Tempo alltäglicher<br />

Interaktionen, durch die Manipulationsmöglichkeiten des<br />

Warenverkehrs sowie durch die Automatisierung und<br />

Technisierung von Dienstleistungs- und<br />

Verwaltungsabläufen. Fakt ist auch, dass die Ursachen,<br />

welche zur <strong>Besachwaltung</strong> führen, keine gegebene Größe<br />

darstellen, sondern Ergebnis gesellschaftlicher<br />

Ungleichverteilungen sind. Man könnte in Anlehnung an<br />

Wilkinson die These wagen zu sagen: „je ungleicher die<br />

Gesellschaft, desto höher das Gesamtvolumen der Fälle von<br />

Abweichung, Inkompetenz und geistiger Behinderung.“<br />

Slavoj Zizek hat im Übrigen einmal bemerkt, dass sich in<br />

Zeiten der Revolution die Irrenhäuser regelhaft schlagartig<br />

leeren, weil die Menschen, die bisher an den Verhältnissen,<br />

in denen sie zu leben gezwungen waren, irre wurden, für ihre<br />

Biographie neue Perspektiven entwickeln können.<br />

13


Fakt ist schließlich auch, dass sowohl die Definition von<br />

behandlungsbedürftiger Abweichung als auch die Art und<br />

Weise der Behandlung selbst Ergebnis sozialer Konflikte<br />

zwischen Professionisten, Interessengruppen und<br />

Betroffenen ist. Karl-Otto Hondrich hat trefflich festgehalten,<br />

dass ebenso wie der Wahnsinn im Auge des Betrachters liegt<br />

auch die Krankheit im Auge des Arztes oder die<br />

hilfebedürftige Person im Auge des Sozialarbeiters entsteht.<br />

Ervin Goffmann und nach ihm die Labeling-Approach-Schule<br />

haben herausgehoben, dass jede Form von Abweichung und<br />

Disziplinierung letztlich Ergebnis einer diskursiven<br />

Auseinandersetzung ist. Was Institutionen der Gesellschaft<br />

daher als „abweichend“ oder „besachwaltungsbedürftig“<br />

markieren / etikettieren, sagt daher mehr über<br />

Machtverteilungen und Herrschaftsstrukturen aus als über<br />

die Besachwalteten. Und als Randnote muss angemerkt<br />

werden: wer besachwaltet, übt im Namen abstrakter<br />

ökonomischer Prinzipien und Vernunftvorstellungen Macht<br />

aus.<br />

2. Grundinformationen zur <strong>Besachwaltung</strong><br />

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wo wir heute in<br />

der Sachwalterschaft stehen:<br />

2.1. Anzahl der Sachwalterschaften<br />

Ungebrochen hält das Wachstum der KlientInnenzahlen an.<br />

Das SWRÄG 2006 konnte die bisherige Wachstumsdynamik<br />

nicht umgekehren, sondern nur verlangsamen (von 3.000<br />

auf 2.000 p.a.). 20<strong>09</strong> bestanden knapp 50.000<br />

14<br />

Sachwalterschaften in Österreich. Das waren 50% mehr als


im Jahr 2000. Ende 2010 haben 58.000<br />

Österreicherinnen/Österreicher einen Sachwalter/eine<br />

Sachwalterin.<br />

Der Anstieg seit 2000 ging vor allem auf die<br />

Sachwalterschaften durch Rechtsvertreter (81%) und<br />

Familienangehörige oder nahestehende Personen (61%)<br />

zurück. Die geringste Zunahme lag bei den von<br />

VereinssachwalterInnen durchgeführten Betreuungen (14%).<br />

Verfügbare Prognosen gehen von einem weiteren jährlichen<br />

Wachstum in Höhe von etwa 3.000 Personen p.a. aus. Bis<br />

2020 werden es vermutlich zwischen 80.000 und 83.000<br />

Besachwaltete sein.<br />

2.2. Wer wird besachwaltet ?<br />

Besachwaltet werden heute junge geistig Behinderte,<br />

psychisch Erkrankte sowie alte, körperlich und geistig<br />

beeinträchtigte Menschen.<br />

Die Population der Besachwalteten lebt zu mehr als 4/5 in<br />

Anstaltshaushalten. Jährlich wird für 2.500<br />

HeimbewohnerInnen eine <strong>Besachwaltung</strong> angeregt, während<br />

es in der Psychiatrie knapp 200 Personen sind.<br />

2.3. Anreger<br />

48% aller Anregungen einer Sachwalterschaft geht von<br />

Angehörigen oder sonstigen nahestehenden Personen aus -<br />

genauer: 20% von Kindern/Enkeln, 8% von Eltern, 6% von<br />

Lebensgefährten, 10% von weiteren Verwandten, 4% von<br />

15<br />

nicht verwandten Nahestehenden. Nur knapp 2% der


Verfahrensanregungen erfolgen durch die betroffene Person<br />

selbst. <strong>Besachwaltung</strong> muss deshalb im Regelfall als<br />

familiärer Interessenkonflikt verstanden werden.<br />

35% der Sachwalterschaftsanregungen kommt von<br />

stationären Wohn-, Pflege- und mobilen<br />

Betreuungseinrichtungen: 12% von Wohn-, Pensionisten-<br />

und Pflegeheimen, ebenso 12% von Krankenanstalten (davon<br />

7% von allgemeinen, 5% von psychiatrischen), 6% von<br />

sozialen Betreuungsdiensten.<br />

17% der Anregungen schließlich rühren direkt von<br />

Rechtsinstitutionen oder aus Rechtsberufen, nämlich zu 8%<br />

von Ämtern, 5% von Gerichten und 3% von Notaren oder aus<br />

anderen juristischen Berufsgruppen.<br />

2.4. Warum wird besachwaltet ?<br />

Etwa 50% der Fälle gehen auf attestierte Überforderungen im<br />

alltäglichen Finanzmanagement, 20% auf Pflegegeldfragen<br />

und Heimaufnahmen im Zusammenhang mit finanziellen<br />

Eigenleistungen, 15% auf komplexe<br />

Vermögensverwaltungsfragen, der Rest auf Fragen der<br />

Heilbehandlung zurück. Im Kern der <strong>Besachwaltung</strong> steht<br />

also auch empirisch nachweisbar die Frage nach einem als<br />

rational oder eben irrational qualifizierten Umgang mit<br />

ökonomischen Ressourcen.<br />

Die überschießende soziale Bedeutung dieses Dispositivs<br />

wird dort deutlich, wo potentielle Erben aus Sorge um ihr<br />

Erbe gegen den Erblasser die <strong>Besachwaltung</strong> anregen. Die<br />

16<br />

einschlägigen Fälle sind nicht von der Hand zu weisen. Man


lässt besachwalten, um Sorge zu tragen, dass der Erblasser<br />

das von ihm erarbeitete/ererbte Vermögen nicht vergeudet.<br />

Werner Sombart hat in seinem Buch „Der Bourgeois“ trefflich<br />

ausgeführt, dass das Klassenbewusstsein der<br />

unternehmerischen Bourgeoisie darauf gründet, Kapital als<br />

Familienkapital zu akkumulieren und auch zwischen den<br />

Generationen weiterzugeben. Eben das scheint auch der<br />

eigentliche Zweck dieser Veranstaltung. Zugleich wird daran<br />

deutlich, dass die Justiz Louis Althusser folgend als<br />

„ideologischer Staatsapparat“ verstanden werden muss, der<br />

soziale Anpassung und Wirtschaftlichkeitsregeln mit Mitteln<br />

sozialer Kontrolle und Disziplinierung durchsetzt. Ein<br />

Betroffener formuliert das so: „was einem gehört, gehört<br />

einem nicht wirklich.“<br />

2.5. Wer führt eine Sachwalterschaft ?<br />

Etwa 61% aller Sachwalterschaften werden 2010 von<br />

Angehörigen und nahestehenden Personen geführt, 24% von<br />

Angehörigen der Rechtsberufe und circa 15% von<br />

„Sachwaltervereinen“. Die Nachfrage nach letzten ist enorm.<br />

Auf der Basis einer Befragung von RichterInnen stellt das<br />

IRKS eine 90-%-ige Unterdeckung an Vereinssachwaltern<br />

fest, das entspricht 15.000 SachwalterInnen.<br />

2.6. Professionalisierung der Dienstleistung<br />

In der Tat hat die Vereinssachwalterschaft hohe<br />

Professionalität entwickelt, nämlich eine Kombination aus<br />

rechtlicher und psychosozialer Expertise. Sie hat einige<br />

17<br />

hundert ehrenamtliche Sachwalter rekrutiert. Erst dies hat


es möglich gemacht, die Patientenvertretung im<br />

Unterbringungsgesetz und Heimaufenthaltsgesetz zu<br />

verankern. Ohne Patientenanwälte wäre das UbG zahnlos<br />

geblieben. Selbiges kann für die Heimbewohnervertretung im<br />

Heimaufenthaltsrecht gesagt werden.<br />

2.7. Räumliche Verteilung der Sachwalterschaften<br />

Auffällig ist die ungleiche regionale Verteilung der<br />

Sachwalterschaften. Nach Bundesländern aufgeschlüsselt<br />

gibt es in Wien die meisten aufrechten Sachwalterschaften<br />

pro 100.000 Einwohner, gefolgt von den Bundesländern<br />

Stmk und Nö. Bgld, Ktn und Vlbg rangieren im Mittelfeld.<br />

Am unteren Ende der Skala liegen die anderen westlichen<br />

Bundesländer Oö, Trl und Sbg. Dies deutet weniger auf eine<br />

ungleiche Inzidenz als vielmehr auf eine ungleiche Praxis der<br />

befassten Gerichte sowie auf die lokal-regionalen<br />

Gegebenheiten wie Krankenhäuser, geriatrische Abteilungen,<br />

Pflegeheime, die eine Konzentration von sachwalterrechtlich<br />

relevanten Bevölkerungsgruppen im Sprengel bewirken<br />

können.<br />

2.8. Anwendungswirklichkeit<br />

Die Maßnahme Sachwalterschaft wird heute mehr als fünf<br />

Mal so oft eingesetzt wie die „alte Entmündigung“. Die<br />

weitestgehende Beschränkung, die das Gesetz vorsieht - die<br />

Bestellung eines Sachwalters für alle Angelegenheiten - stellt<br />

zugleich die häufigste Anwendungsform dar, obwohl die<br />

Geschäftsfähigkeit nur soweit eingeschränkt werden soll, als<br />

18<br />

dies unbedingt notwendig ist. 2000-20<strong>09</strong> ging der Anteil von


Sachwalterschaften für sämtliche Angelegenheiten allerdings<br />

von 61% auf 55% zurück. Gestiegen ist demgegenüber der<br />

Anteil von Sachwalterschaften mit einer Beschränkung auf<br />

wesentliche ökonomische Belange von 36% auf 41%.<br />

Gleichwohl steht dies in eigenartigem Kontrast zur<br />

ursprünglichen Zielsetzung, die Entmündigung durch<br />

flexible und dosierte Modelle der <strong>Besachwaltung</strong> zu ersetzen.<br />

Gleichwohl das Gericht regelmäßig zu prüfen hat, ob die<br />

Sachwalterschaft beendet werden kann oder ob der<br />

Aufgabenkreis einzuschränken bzw. auszuweiten ist, nimmt<br />

2000-20<strong>09</strong> die Zahl der Langzeit-Sachwalterschaften zu.<br />

Während der Anteil der einjährigen Sachwalterschaften von<br />

19% auf 14% sinkt, steigt der Anteil der länger als 5 Jahre<br />

dauernden von 23% auf 27%. Für einen wachsenden Anteil<br />

wird die Sachwalterschaft eine lebenslange Perspektive. Von<br />

den 1996 Unter-30-Jährigen Besachwalteten waren dies<br />

2008 85% in unverändertem Status.<br />

Deutschen Forschungsberichten zufolge ist bei einem Drittel<br />

der Betreuten (Besachwalteten) die Betreuung nicht<br />

unbedingt nötig. Rolf-Dieter Hirsch (brandeins 1/2007)<br />

zufolge regen vor allem Familien aus unsachlichen<br />

Erwägungen eine <strong>Besachwaltung</strong> an. Überlastete Ärzte,<br />

Richter, die sich auf gutachtliche Stellungnahmen von<br />

Ärzten verlassen und überforderte Betreuungssysteme bilden<br />

im Weiteren ein System, das Hürden herabsetzt und zum<br />

Selbstläufer wird, weil es Rechtssicherheit in organisierter<br />

Verantwortungslosigkeit vorgaukelt. Ausgangspunkt dieser<br />

19<br />

Dynamik ist die Erosion der Familie als traditionellem


sozialen Sicherungssystem. Vielfach lautet der Befund, dass<br />

ein modernes Betreuungsrecht an den Familien und deren<br />

ökonomischen Interessen scheitert. Einerseits geht es wie<br />

gezeigt um Erbinteressen und die Vermeidung ökonomischer<br />

Solidarität in der Familie, andererseits um die schwindende<br />

Bereitschaft der Familie zur Fürsorge und Betreuung. Aus<br />

dieser Perspektive erscheint die Forderung, Anregungen aus<br />

dem Familienkreis zu erschweren und die professionelle<br />

<strong>Besachwaltung</strong> massiv auszudehnen, mehr als plausibel.<br />

3. Zur aktuellen Entwicklungsdynamik der<br />

Sachwalterschaft<br />

Während es die ursprüngliche Intention des Gesetzgebers<br />

1984 war, die Fallzahl zu reduzieren, so ist nach dem<br />

Inkrafttreten des SWR zu einer Trendumkehr gekommen:<br />

Sanken vorher über einen längeren Zeitraum die<br />

Entmündigungen, so begann ab 1984 ein stetiger Anstieg der<br />

neuen Sachwalterschaften. In der Tat stieg die Zahl der<br />

Sachwalterbestellungen seit 1984 weitaus stärker an als dies<br />

dem Wachstum des selbst nicht mehr voll handlungsfähigen<br />

Bevölkerungssegments entsprach.<br />

Vor diesem Hintergrund ist die Einführung des Clearing-<br />

Modells zu verstehen, welches tatsächlich (allerdings mit<br />

starken regionalen Unterschieden) zu einer Verlangsamung<br />

des Anstieg des Fallzahlen geführt hat. Tatsächlich wurden<br />

Filtereffekte durch die Verrechtlichung von Clearing-<br />

Maßnahmen und eine adäquate Sozialberatung erzielt.<br />

Das Sachwalterrechts-Änderungsgesetz 2006 (Juli 2007 in<br />

20<br />

Kraft) betonte die Subsidiarität der Sachwalterschaft.


Deshalb wurde zum einen die Selbstbestimmung behinderter<br />

Menschen durch die Sachwalterverfügung und<br />

Vorsorgevollmacht gestärkt, zum andern der<br />

Familienautonomie durch die Vertretungsbefugnisse naher<br />

Angehöriger größerer Raum eingeräumt.<br />

Mit dem Sachwalterrechts-Änderungsgesetz 2006 wurde der<br />

Anwendungsbereich der Sachwalterschaft auf jene Fälle<br />

eingeschränkt, in denen die Bestellung eines Sachwalters<br />

unumgänglich ist, es also keine Alternative hiefür gibt. Wie<br />

so oft in komplexen Rechtsentwicklungsprozessen fallen das<br />

„law in the books“, was also im Gesetzblatt steht, und das<br />

„law in action“, also die Rechtsanwendung, auseinander. So<br />

ist die Justiz nicht ganz mit dem gesetzgeberischen Willen<br />

mitgezogen. Deshalb wird weiterhin knapp 80% der Anträge<br />

auf <strong>Besachwaltung</strong> stattgegeben.<br />

Auch wenn den Gerichten im Weiteren eine wesentliche<br />

Prüfkompetenz zukommt, bleibt die faktische Zurückweisung<br />

der Sachwalterschaft in die Familie (mehr als 60% der<br />

Führenden) ein zentrales Problem. Hinlänglich bekannt sind<br />

die Probleme gewalttätiger Übergriffe ausgebrannter und<br />

überforderter pflegender bzw. betreuender<br />

Familienangehöriger. Ebenso bekannt sind die Varianten der<br />

missbräuchlichen Handhabung sachwalterischer<br />

Kompetenzen im familiären Umfeld.<br />

Verstärktes Augenmerk wendet das neue Recht auch der<br />

Personensorge zu; dies kommt etwa in den neuen<br />

Regelungen für die medizinische Behandlung und die<br />

Wohnortbestimmung zum Ausdruck.<br />

21


Die jüngere Entwicklung wird einerseits als problematische<br />

Ausweitung der Fallzahlen mit vielen tragischen<br />

individuellen Zumutungen, andererseits als Krise und<br />

Überbeanspruchung der Sachwalterschaft wahrgenommen.<br />

Diese Krise hat neben den erwähnten sozialen und<br />

demographischen Aspekten mehrere Facetten:<br />

- zum ersten wurde die maßgeschneiderte, befristete<br />

Sachwalterschaft tendenziell durch die umfassende<br />

<strong>Besachwaltung</strong> als Lebenszeit-Maßnahme ersetzt.<br />

- zum zweiten hat der Terrainverlust der professionellen<br />

Vereinssachwalterschaft zugunsten nahestehender Personen<br />

aus dem Familienkreis ein unleugbares Betreuungsgefälle<br />

zur Folge<br />

- zum dritten wird es seitens der Gerichte schwieriger,<br />

familiäre Netzwerke zu aktivieren<br />

- zum vierten sehen sich nicht-professionelle<br />

SachwalterInnen vielfach mit erheblichen Zugangshürden<br />

etwa bei Zugang zu Sozialleistungen konfrontiert<br />

- zum fünften sind die Gerichte überlastet<br />

- zum sechsten fehlen Konzepte, um Mitnahmeeffekte und<br />

überschießende Maßnahmen zu verhindern.<br />

Heinz Trompisch hat festgehalten, dass die Glaubwürdigkeit<br />

und Effizienz der Schutzfunktion der Sachwalterschaft<br />

deshalb leidet, weil sie ungefiltert unverhältnismäßige<br />

Eingriffe in die Autonomie älterer sowie geistig behinderter<br />

Menschen ermögliche. Dem ist wenig hinzuzufügen.<br />

22


4. Künftige Herausforderungender Sachwalterschaft<br />

Meine These lautet, dass prioritäres Ziel weiterer<br />

Entwicklungsschritte der Sachwalterschaft die Vermeidung<br />

von Sachwalterschaften sein muss. Dies muss in Anlehnung<br />

an das Denken der „evidence based medicine“ sowie der<br />

salutogenetischen Forschung darauf fokussieren, die<br />

Einwirkung von Risikofaktoren, welche zur <strong>Besachwaltung</strong><br />

führen, abzuschwächen. Das ist augenfällig eine langfristige<br />

Perspektive. Armut macht inkompetent und hilflos. Es geht<br />

um Bildung, Lebensführung und Teilhabechancen, um<br />

Bemächtigung und die Fähigkeit zur Selbstorganisation.<br />

Daher gilt: wer über eine Politik der <strong>Besachwaltung</strong> spricht,<br />

spricht daher eigentlich über Verteilungs- und Sozialpolitik.<br />

2004 hat Rudolf Forster gefordert, es müssten alternative<br />

Rechtsinstrumente der rechtsfürsorglichen Unterstützung<br />

entwickelt werden, die es erlauben, die paternalistische<br />

Konstruktion der Sachwalterrechts zur tatsächlich letzten<br />

Alternative für einen möglichst kleinen Kreis von Betroffenen<br />

zu machen. Daran ist kein Beistrich zu ändern.<br />

Die Frage ist nur, wo findet sich diese Alternative ? Wohl<br />

nicht in einem anderen, sondern in einem geänderten<br />

Rechtsinstitut der Sachwalterschaft.<br />

Anhaltspunkte hierfür ergeben sich aus dem SWRÄG 2006,<br />

nämlich aus dem Subsidiaritätsgedanken, demnach die<br />

Geschäftsfähigkeit nur soweit eingeschränkt werden soll, als<br />

es unbedingt notwendig ist. In den nicht von der<br />

Sachwalterschaft betroffenen Bereichen soll die betroffene<br />

23<br />

Person ihr Leben frei von Einschränkungen gestalten


können. Hier stehen der Justiz noch erhebliche Spielräume<br />

offen. Weitere Anhaltspunkte ergeben sich aus der<br />

Behindertenhilfe, deren „Normalisierungsprinzip“ eine<br />

weitestgehende Angleichung und nicht-behinderte Personen<br />

vorsieht. Bestehende Taschengeldregelungen, in denen<br />

erwachsene Menschen wie Kinder betteln müssen, spiegeln,<br />

dass der Spielraum der SachwalterInnen zu groß ist.<br />

Denkbar wäre, dass das Gesetz künftig Mindestbeträge in<br />

Anlehnung an die BMS oder ein Mindestlohnregime vorsieht,<br />

über welche die Betroffenen grundsätzlich frei verfügen<br />

können. Die Debatte um das „persönliche Budget“ in der<br />

Behindertenhilfe weist hier den Weg.<br />

Ein anderer Zugang ergibt sich aus dem sozialpädagogischen<br />

Assistenzgedanken. Wenn der Sachwalter nicht als<br />

geschäftsführender Kontrolleur, sondern als Coach, Tutor<br />

oder Sozialberater zum Einsatz gelangt, verschiebt sich das<br />

Problem vom rechtlich gewaltbewehrten Eingriff in die<br />

Geschäftsfähigkeit hin zu einer Herausforderung der<br />

„Compliance“, des Zusammenwirkens der beiden Teile. Die<br />

partizipatorische Konstruktion der Helferkonferenzen in<br />

Behindertenhilfe oder Jugendwohlfahrt könnte hier den Weg<br />

weisen.<br />

Es geht also im Kern darum, das Gewicht der<br />

rechtsgeschäftlichen Komponente der Sachwalterschaft, also<br />

die Frage der Geschäftsfähigkeit, aber auch den formellen<br />

Eingriff in die Geschäftsfähigkeit, zurückzunehmen und<br />

stattdessen die sozial– assistierende Komponente zu stärken,<br />

<strong>Besachwaltung</strong> also als Soziale Arbeit im Weitesten Sinne zu<br />

24


verstehen. Dabei wird man zweifellos sorgfältig nach<br />

Sachverhalten, Ziel- und Anspruchsgruppen zu<br />

unterscheiden haben. Schon bisher hat sich ja die<br />

Vereinssachwalterschaft auf jene Klientel konzentriert, bei<br />

der die soziale und materielle Existenzsicherung im<br />

Vordergrund steht.<br />

Demgegenüber bedarf Forderung, Personen aus dem<br />

Nahbereich, also Familienangehörige, sollten zur Führung<br />

einer Sachwalterschaft verstärkt angeregt, begleitet und<br />

professionalisiert werden, einer genaueren Betrachtung.<br />

Auch hier gilt, dass es nicht darum geht, funktionsfähige<br />

familiale Netzwerke zu beeinträchtigen. Umgekehrt aber<br />

muss klar gesehen werden, dass die Familie als soziale<br />

Institution schicht- und milieuspezifisch unterschiedlich an<br />

Leistungsgrenzen gerät. Jede empirische Betrachtung der<br />

rückläufigen Assistenz-, Pflege- und Solidaritätsleistungen<br />

im Familienkreis macht diese Erwägung plausibel. Hier<br />

wiederum sind Gerichte gefordert, die Eignung von Personen<br />

aus dem Familienkreis eingehender zu beurteilen.<br />

Ebenso falsch ist es, professionelle Rechtsvertreter mit<br />

dutzenden, wenn nicht hunderten Sachwalterschaften zu<br />

betrauen.<br />

Daher kann es im Weiteren nur um einen bedarfsgeprüften<br />

Ausbau der professionellen Dienstleistung gehen.<br />

Künftig absehbare Herausforderungen werden nur bewältigt<br />

werden können, wenn<br />

1. ein individuelles „Tailoring“ (Zuschneidern) von<br />

25<br />

Maßnahmen zur Richtschnur des gerichtlichen


Entscheidens wird und dem Auftrag regelmäßiger<br />

Maßnahmenüberprüfungen Rechnung getragen wird<br />

2. von der Möglichkeit der Vorsorgevollmacht regelhaft<br />

Gebrauch gemacht wird, wofür es ein „public awareness<br />

rising“ benötigt<br />

3. die Angehörigenvertretung nicht als Instrument zur<br />

Verweigerung oder Zurückweisung der Zuständigkeit an<br />

die Sorge Tragenden gebraucht wird, sondern es zu einer<br />

kooperativen Verflechtung zwischen<br />

Vereinssachwalterschaft, Gericht und Angehörigen<br />

kommt<br />

4. Clearing-Prozesse so umfassend ausgestaltet sind, dass<br />

sie das gesamte Netz sozialer Dienste unter Einschluss<br />

der Anreger von Sachwalterschaften einbezogen werden<br />

müssen<br />

5. die Sachwalterschaft rechtspolitisch ´ultima ratio`, also<br />

das äußerste Mittel bleibt.<br />

Nikolaus Dimmel<br />

September 2010<br />

26

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!