Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte - Institut für Zeitgeschichte
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Nationaler Sozialismus in Österreich vor 1918 355<br />
faschistischen Bewegungen rechnen, die mit der politischen Mobilisierung der reaktionären<br />
Heinbürgerlichen Massen im Interesse des kapitalistischen Unternehmertums<br />
die Arbeiterschaft niederzuhalten suchten. Die nationalen Gewerkschaften<br />
hatten zwar in den 80er Jahren in hohem Maße ständisches Gepräge, jedoch trug<br />
ihnen die Flutwelle des Nationalismus, die der Badeni-Krise von 1897 folgte,<br />
Tausende von Industriearbeitern zu. So hatte der Nationalsozialismus sowohl im<br />
nordwestböhmischen Kohlenrevier, wo die Großbetriebe dominierten, wie bei den<br />
proletarisierten Gesellen des nordöstlichen Böhmen starken Rückhalt. Es entsprach<br />
der allgemeinen, von Burschofsky bewußt bejahten Tendenz im Strukturwandel<br />
der Mitgliedschaft, wenn er den Titel seiner Zeitung von „Deutscher Geselle" in<br />
„Deutscher Arbeiter" veränderte. Praktisch stammten alle nationalsozialistischen<br />
Führer aus den arbeitenden Schichten, waren Partei und Gewerkschaften demokratisch<br />
organisiert und geführt, die Gewerkschaftsführer und der Parteivorstand von<br />
der Mitgliedschaft gewählt und wurde die Parteipolitik vom Vorstand oder einer<br />
breiteren Körperschaft gewählter Delegierter diskutiert und bestimmt. Es gibt<br />
keinen Hinweis darauf, daß das Unternehmertum, die Aristokratie oder Teile des<br />
Großbürgertums entscheidenden Einfluß gehabt und die Bewegung etwa gegen die<br />
demokratischen Tendenzen ausgespielt hätten.<br />
Übrigens stimmt die regionale Ausbreitung des Nationalsozialismus mit der Verbreitung<br />
der tschechischen Einwanderung nicht genau überein. Sein Einfluß war<br />
vielmehr durch lokale wirtschaftliche und soziale Verhältnisse und durch den mehr<br />
zufälligen Faktor der lokalen Führerschaft mitbedingt. Gleichwohl kann man <strong>für</strong><br />
die Zentren des Nationalsozialismus einige charakteristische gemeinsame Merkmale<br />
nachweisen: 1. Ein nicht lange zurückliegender tschechischer Andrang auf die<br />
industriellen Berufe im deutschen Sprachgebiet (auch Graz und Wien erfuhren<br />
den tschechischen Einwanderungsdruck, und so erneuerte sich hier in mehrfacher<br />
Hinsicht die sozialökonomische und ethnische Situation Nordböhmens). 2. Herausbildung<br />
scharfer Konkurrenz auf dem übersättigten Arbeitskräftemarkt auf Grund<br />
einer Krise in den dominierenden Industriezweigen. 3. Überwiegen industrieller<br />
Beschäftigungsarten, die handwerkliche Fertigkeiten voraussetzen und ein starkes<br />
soziales Zusammengehörigkeits- und Gruppenbewußtsein erzeugen. 4. Vorhandensein<br />
einer ungewöhnlich stark entwickelten Bindung der deutschen Arbeiter an<br />
ihre Heimat und ein daraus entspringender Widerwille gegen die freizügige Ausnützung<br />
der Arbeitschancen an anderen Orten. Es sind daher bestimmte und <strong>für</strong><br />
Österreich weithin spezifische Umstände, auf denen die besondere Wirksamkeit der<br />
nationalsozialistischen Ideologie im nördlichen Grenzland der Monarchie beruhte.<br />
Die allgemeine soziale Unsicherheit der deutschen Arbeiterschaft, ihr Unwille<br />
darüber, daß sie auf dem Arbeitsmarkt von den „niedriger stehenden" Tschechen<br />
überspielt wurden, und ihre Weigerung, sich kampflos in die Dinge zu fügen,<br />
wirkten zusammen und erzeugten ein <strong>für</strong> die Entstehung totalitärer Bewegungen<br />
ausgesprochen günstiges psychologisches Klima.<br />
Weiterhin wurden die deutschen Arbeiter, die sich zu ihrer Selbstverteidigung<br />
in Schutzverbänden zusammengeschlossen hatten, durch kollektive Sympathie-