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Aufsatz von Rolf Marschner - BGT

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R & PRecht und Psychiatrie<strong>Rolf</strong> <strong>Marschner</strong>Aktuelles zur Zwangsbehandlung –in welchen Grenzen ist sie noch möglich?An der grundlegenden Unsicherheit im Umgang mit der Zwangsbehandlung hat sich in der Praxis in den letzten Jahrennichts geändert. Dies liegt einerseits an den unklaren gesetzlichen Regelungen im Bereich der öffentlich-rechtlichenUnterbringung und des Maßregelvollzugs und der ggf. möglichen stellvertretenden Einwilligung des gesetzlichen Vertreters,insbesondere des rechtlichen Betreuers. Dies liegt zum anderen an aktuellen Entwicklungen in Gesetzgebungund Rechtsprechung. Die Voraussetzungen und Grenzen der Zwangsbehandlung sind daher neu zu bestimmen.Schlüsselwörter: Zwangsbehandlung , Grund- und Menschenrechte, PatientenverfügungInvoluntary Treatment in Germany – an update on criteria and limitationsThe prevailing uncertainty in dealing with involuntary treatment in German psychiatric institutions has not abated over thelast few years. This is because of a lack of clarity in current public mental health law governing detention in hospital and inlegal regulations pertaining to patients in forensic psychiatric treatment. Furthermore, there is uncertainty whether the legalguardian can consent to involuntary treatment. Current developments in legislation and relevant case law will be reviewed.Based on these the criteria and limitations for involuntary treatment need to be redefined.Key words: Involuntary treatment, human rights, advance directives, GermanyHerausgeber: Redaktion Recht & PsychiatrieRedaktion: Helmut Pollähne, Bremen (verantwortlich); Martin Zinkler, Heidenheim (verantwortlich); Uwe Dönisch-Seidel, Düsseldorf;Heinfried Duncker, Moringen; Dirk Fabricius, Frankfurt; Birgit Hoffmann, Freiburg; Heinz Kammeier, Münster; Norbert Konrad, Berlin;Wolfgang Lesting, Oldenburg; <strong>Rolf</strong> <strong>Marschner</strong>, München; Sabine Nowara, Waltrop; Friedemann Pfäfflin, Ulm; Dorothea Rzepka,Bielefeld/Frankfurt a. M.; Norbert Schalast, Essen; Herbert Steinböck, Haar; Birgit Völlm, Manchester; Helga Wullweber, BerlinRedaktionsanschrift: Marina Broll, Lange Straße 17, 44137 Dortmund; Tel.: 0231 1505460, Fax: 0231 1505461E-Mail: rp@psychiatrie.deVerlag: Psychiatrie Verlag, Thomas-Mann-Straße 49 a, 53111 Bonnverlag@psychiatrie.de; www.psychiatrie.de/verlagSonderdruck2011, 29. Jahrgang, 3. Vierteljahr, Seite 160 – 167Recht und Psychiatrie is regularly indexed in:Embase, Journal Citation Reports/Social Sciences Edition, Juris, JournalCitation Reports/Science Edition, KJB, PsycInfo, Science Citation IndexExpanded (SciSearch) © , Social Sciences Citation Index (SSCI) © , SocialScisearch ©


R & P (2011) 29: 160 – 167<strong>Marschner</strong>: Aktuelles zur Zwangsbehandlung – in welchen Grenzen ist sie noch möglich?1982, 691, 692 f.; NJW 1998, 1774 = R & P 1998, 101 jeweilszur fürsorgerechtlichen Unterbringung). Eine Unterbringungund Behandlung <strong>von</strong> Personen, die nicht an einer psychischenKrankheit leiden, allein zur Besserung kommt wegen des hohenRechtsgutes der Freiheit der Person und bei Beachtung desGrundsatzes der Verhältnismäßigkeit <strong>von</strong> vornherein nicht inBetracht (BVerfGE 22, 180, 219 f. = NJW 1967, 1800).In der Europäischen Menschenrechtskonvention wird dieZwangsbehandlung am Maßstab des Art. 3 EMRK (Verbotder Folter) geprüft, in der UN-Konvention über die Rechte<strong>von</strong> Menschen mit Behinderungen sind vor allem Art. 12 undArt. 17 UN-BRK zu beachten (Gewährleistung der allgemeinenHandlungsfreiheit auch bei ärztlicher Behandlung, Schutz derkörperlichen und seelischen Unversehrtheit).3. UN-Konvention über die Rechte <strong>von</strong>Menschen mit BehinderungenBei der Zwangsbehandlung stellt sich die Frage, ob die geltendengesetzlichen Regelungen den Vorgaben der UN-BRKentsprechen, insbesondere ob eine Zwangsbehandlung psychischkranker bzw. seelisch behinderter Menschen überhauptzulässig ist und ob bei einer Zwangsbehandlung grundsätzlichoder in bestimmten Fällen der Kernbereich der Rechts- undHandlungsfähigkeit erreicht ist, in den keine Eingriffe zulässigsind.Die UN-BRK wirkt sich im Zusammenhang des BetreuungsundUnterbringungsrechts auch auf die Regelungen derZwangsbehandlung aus, unabhängig da<strong>von</strong>, ob eine Zwangsbehandlungim Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Unterbringungoder auf betreuungsrechtlicher Grundlage stattfindet(siehe hierzu BVerfG R & P 2011, 168; Lachwitz 2008, 143;<strong>Marschner</strong> 2009, 135; Baufeld 2009, 167; Aichele/<strong>von</strong>Bernstorff 2010, 199). Das Recht auf Anerkennung dervollen Rechts- und Handlungsfähigkeit im Sinn des Art. 12Abs. 2 UN-BRK, das auch die Entscheidung über die ärztlicheBehandlung betrifft, ist zwar nach überwiegender Auffassungnicht schrankenlos (a. A. Kaleck/Hilbrans/Scharmer2008). Die Grenzen der Zwangsbehandlung sind aber unterBeachtung der Vorgaben der UN-BRK zu bestimmen. Diesbedeutet einerseits, dass ein Eingriff in das Recht der körperlichenUnversehrtheit nur zulässig ist zum Schutz kollidierenderhöherwertiger Rechtsgüter, die ebenso durch die UN-BRKgeschützt sind (so Lachwitz 2008, 143; <strong>Marschner</strong> 2009,135). Zum anderen gibt es einen nicht einschränkbaren Kernbereichder Rechts- und Handlungsfähigkeit. Zu diesem Kernbereich,in den durch Dritte im Sinn einer Stellvertreterentscheidungnicht eingegriffen werden darf, gehören z. B. dieEinwilligung in nicht gemeinnützige Forschung an behindertenMenschen oder die Entscheidung über die Sterilisationwegen einer Behinderung. Der unverfügbare Kernbereich desMenschenrechts auf gleiche Anerkennung vor dem Recht istverletzt, wo die Behinderung zu einer Instrumentalisierung desbetroffenen Menschen für außerhalb seiner selbst liegendeZwecke oder zu einem irreversiblen und besonders intensivenEingriff in die Autonomie des behinderten Menschen führt(siehe Aichele/<strong>von</strong> Bernstorff 2010, 199). Es spricht vieldafür, dass dazu im Rahmen der Zwangsbehandlung die Behandlungmit Neuroleptika mit irreversiblen oder lebensgefährlichenNebenwirkungen gehört.4. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtsvom 23.03.2011Das Bundesverfassungsgericht hat nunmehr umfassend zu denrechtlichen Voraussetzungen und Grenzen der Zwangsbehandlungunter Berücksichtigung der Vorschriften der UN-BRKStellung genommen (BVerfG R & P 2011, 168). Der entschiedeneFall betrifft zwar die Zwangsbehandlung eines in Rheinland-Pfalzim Maßregelvollzug untergebrachten Betroffenen(hierzu Pollähne 2011). Die Entscheidung wirkt sich aberauch auf die Zwangsbehandlung im Vollzug der öffentlichrechtlichenUnterbringung sowie während der zivilrechtlichenUnterbringung durch den Betreuer aus. Die Entscheidung desBundesverfassungsgerichts lässt sich wie folgt zusammenfassen:ıı Bei der medizinischen Zwangsbehandlung eines Untergebrachtenmit Neuroleptika handelt es sich um einenbesonders schweren Eingriff in das Grundrecht derFreiheit der Person sowie das allgemeine Persönlichkeitsrecht.Dies gilt bei einer Behandlung gegen den Willen desBetroffenen unabhängig da<strong>von</strong>, ob die Behandlung mitkörperlichem Zwang durchgesetzt wird.ıı Ungeachtet der Schwere des Grundrechtseingriffs ist demGesetzgeber nicht grundsätzlich verwehrt, solche Eingriffezuzulassen. Als Rechtfertigung kommt aber nicht derSchutz Dritter, sondern nur das grundrechtliche Freiheitsinteressedes Betroffenen selbst in Betracht, wenn dieser zurEinsicht in die Schwere seiner Krankheit und die Notwendigkeit<strong>von</strong> Behandlungsmaßnahmen oder zum Handelngemäß solcher Einsicht krankheitsbedingt nicht fähig ist. Indiesen Fällen kann es ausnahmsweise zulässig sein, dietatsächlichen Voraussetzungen freier Selbstbestimmung desUntergebrachten wiederherzustellen. Dies eröffnet aberkeine »Vernunfthoheit« des Staates insbesondere in denFällen, in denen der Betroffene eine aus ärztlicher Sichterforderliche Behandlung ablehnt, ohne dass seine Entscheidungsfähigkeitkrankheitsbedingt aufgehoben ist.ıı Einer entsprechenden Auslegung steht auch nicht dieVorschrift des Art. 12 Abs. 2 UN-BRK entgegen, daArt. 12 Abs. 4 UN-BRK für solche Maßnahmen geeigneteSicherungen vorschreibt.ıı Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet, dassZwangsmaßnahmen nur eingesetzt werden dürfen, wennsie im Hinblick auf das Behandlungsziel Erfolg versprechenund mildere Mittel keinen Erfolg versprechen, d. h.eine weniger eingreifende Behandlung aussichtslos ist.Daher muss vor einer Zwangsbehandlung unabhängig <strong>von</strong>der Einwilligungsfähigkeit des Betroffenen der ernsthafte,mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Druck erfolgteVersuch vorausgegangen sein, die auf Vertrauen gegründeteZustimmung des Betroffenen zu erreichen.ıı Die Zwangsbehandlung darf für den Betroffenen nichtmit unverhältnismäßigen Belastungen verbunden sein.Dies ist dann der Fall, wenn die Behandlung mit einemnicht vernachlässigbaren Restrisiko irreversibler Gesundheitsschädenverbunden ist.ıı Der Betroffene muss Gelegenheit haben, vor Schaffungvollendeter Tatsachen eine gerichtliche Entscheidungherbeizuführen und zwar auch in den Fällen, in denen dieEinwilligung des gesetzlichen Vertreters vorliegt. Wegender Schwere des Grundrechtseingriffs sind besondereSicherungen des gerichtlichen Verfahrens vorzusehen.ıı Die Einschaltung eines rechtlichen Betreuers ist verfassungsrechtlichnicht geboten, da der Eingriff, der in der161


<strong>Marschner</strong>: Aktuelles zur Zwangsbehandlung – in welchen Grenzen ist sie noch möglich? R & P (2011) 29: 160 – 167162 medizinischen Zwangsbehandlung liegt, nicht dadurchweniger belastend wird, dass der Betreuer zugestimmt hat.ıı Eine Zwangsbehandlung ist zeitlich zu begrenzen, ärztlichanzuordnen und zu überwachen sowie zu dokumentieren.ıı Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zwangsbehandlungmüssen hinreichen klar und bestimmt geregelt sein.Das Bundesverfassungsgericht hat im konkreten Fall die gesetzlichenRegelungen der Zwangsbehandlung im MVG RhPf.für verfassungswidrig erklärt. Damit stellt sich gleichzeitig dieFrage der Verfassungswidrigkeit vergleichbarer (unklarer) Regelungenin den Unterbringungs- und Maßregelvollzugsgesetzenaller Bundesländer. Darüber hinaus enthält die EntscheidungVorgaben für eine verfassungskonforme Bestimmung derUnter- und Obergrenzen der Zwangsbehandlung. Mit Blickauf Art. 12 Abs. 4 UN-BRK wird die verfahrensrechtliche Absicherungin den Vordergrund gestellt, soweit Grundrechtseingriffeausnahmsweise zulässig bleiben.5. Stufen der ZwangsbehandlungDie Unterteilung in eine untere und eine obere Eingriffsgrenze(R & P 1988, 19 f.) hat Eingang in die einschlägigen Kommentierungengefunden (Kammeier-Wagner 2010 Rn. D149 ff.; Volckart/Grünebaum 2009, 238 ff.; <strong>Marschner</strong>/Volckart/Lesting 2010 Rn. B 200 f.).Die Untergrenze bezeichnet dabei die Anforderungen an die<strong>von</strong> dem Betroffenen ausgehende Gefahr, die mindestens vorliegenmuss, um eine Zwangsbehandlung zu rechtfertigen. DieObergrenzen beschreiben die Gefahren, die mit der Behandlungverbunden sind und dazu führen, dass die Zwangsbehandlungnur unter besonderen Bedingungen (Einwilligung desBetroffenen, des rechtlichen Betreuers und/oder des Betreuungsgerichts)oder gar nicht zulässig ist. Zu unterscheiden sindsomit für alle Bereiche der Zwangsbehandlung folgende Stufen:ıı eine untere Eingriffsgrenze, unterhalb derer eine Zwangsbehandlungnicht stattfinden darf,ıı eine obere Eingriffsgrenze, die nur unter bestimmtenVoraussetzungen überschritten werden darf, sowieıı eine absolute Eingriffsgrenze.Die Eingriffsgrenzen bei der Zwangsbehandlung sind unterBeachtung der neueren Gesetzgebung und Rechtsprechungneu zu bestimmen. Dabei stellt die vom Bundesverfassungsgerichtformulierte krankheitsbedingte Unfähigkeit zur Ausübungder Selbstbestimmung nur einen Gesichtspunkt dar, der dieUntergrenze der Zwangsbehandlung vor allem dort beschreibt,wo Zwangsbehandlungen an das Vollzugsziel anknüpfen. Eineweitergehende Untergrenze ergibt sich aus den Vorschriftender UN-BRK. Sowohl das Bundesverfassungsgericht als auchdie UN-BRK beschreiben als absolute Obergrenze der Zwangsbehandlungdas Risiko irreversibler Gesundheitsschäden alsFolge der Behandlung.dem nötigen Zeitaufwand und ohne Druck versucht werden,die auf Vertrauen gegründete Zustimmung des Betroffenen zuerreichen (BVerfG R & P 2011, 168). Allein wegen dieser Vorgabewird es zu einer veränderten Praxis der Zwangsbehandlungkommen müssen.Bei den gesetzlichen Regelungen der Zwangsbehandlung ist zuunterscheiden zwischen den bundesrechtlichen Regelungendes Betreuungsrechts in §§ 1896 ff. BGB mit den verfahrensrechtlichenAbsicherungen des FamFG sowie den öffentlichrechtlichenRegelungen in den Psychisch-Kranken-Gesetzenund Maßregelvollzugsgesetzen der Bundesländer. Strukturellunterscheiden sich die Regelungen insoweit, als es im Betreuungsrechtzunächst nur um die stellvertretende Einwilligungdes Betreuers mit entsprechendem Aufgabenkreis in die ärztlicheBehandlung im Fall der Einwilligungsunfähigkeit desBetroffenen geht, die ausnahmsweise auch mit Gewalt gegenden Widerstand des Betroffenen durchgesetzt werden kann(hierzu II). Dagegen wird im öffentlichen Unterbringungsrechtund Maßregelvollzugsrecht den psychiatrischen Krankenhäuserneine eigenständige Kompetenz für die Durchführung einerZwangsbehandlung unter bestimmten Voraussetzungen eingeräumt(hierzu III).Allerdings räumen die öffentlich-rechtlichen Regelungen derZwangsbehandlung dem rechtlichen Betreuer unter Umständenein, eine erforderliche Einwilligung des Betroffenen ganzoder zumindest bezüglich der Obergrenze bei gefährlichenBehandlungen zu ersetzen. Es wird insoweit zwischen Bundesländernmit einem betreuungsrechtlichen Modell und Bundesländernmit einem vollzugsrechtlichen Modell bezüglichder Zwangsbehandlung unterschieden.Weiterhin ist zu unterscheiden zwischen der Behandlung derAnlasskrankheit, die der Unterbringung zugrunde liegt, undder Behandlung sonstiger Krankheiten. Insoweit besteht weitgehendeÜbereinstimmung, dass die Zwangsbehandlung sonstigerKrankheiten eines öffentlich-rechtlich oder im MaßregelvollzugUntergebrachten mangels Gesetzgebungskompetenzder Landesgesetzgeber nur nach betreuungsrechtlichen Grundsätzenmöglich ist (Kammeier-<strong>Marschner</strong> 2010 Rn. E 19 ff.;Vol ckart/Grünebaum 2009, 232 f.).7. Praktische Bedeutung der ZwangsbehandlungVerlässliche Zahlen über den Umfang der Zwangsbehandlungin der Psychiatrie fehlen. Nach Schätzungen ist da<strong>von</strong> auszugehen,dass etwa 10 % der stationäre behandelten Patienten<strong>von</strong> Zwangsmaßnahmen (Fixierung, Isolierung, zwangsweiseVerabreichung <strong>von</strong> Psychopharmaka) betroffen sind (Ketelsen/Driessen/Zechert2007, 208 ff.), eine medikamentöseZwangsbehandlung bei 2 bis 8 % der stationär behandeltenPatienten durchgeführt wird (Steinert/Kallert 2006,160 ff.). Angesichts der Schwere des Grundrechtseingriffs istdies eine erhebliche Zahl.6. ZwangsbehandlungskonzepteAllen rechtlichen Regelungen und Konzepten gemeinsam zugrundeliegt der Grundsatz der einvernehmlichen Behandlung(Kammeier-Wagner 2010 Rn. D 127 ff.; <strong>Marschner</strong>/Volckart/Lesting2010 Rn. B 202 ff.). Es muss ernsthaft mit


R & P (2011) 29: 160 – 167<strong>Marschner</strong>: Aktuelles zur Zwangsbehandlung – in welchen Grenzen ist sie noch möglich?II. Zwangsbehandlung und Betreuungsrecht1. Rechtsprechung des BGHBei Einwilligungsunfähigkeit des Betroffenen (hierzu Amelung1995, 20) entscheidet der rechtliche Betreuer mit entsprechendemAufgabenkreis stellvertretend über die Einwilligungoder die Ablehnung einer ärztlichen Behandlung. Fürdie zwangsweise Durchsetzung der Einwilligung des Betreuersin die Behandlung gegen den körperlichen Widerstand desBetreuten bedarf es nach oben genannten verfassungsrechtlichenVorgaben einer speziellen gesetzlichen Grundlage imSinn des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG (BVerfG R & P 2011, 168;BGH NJW 2001, 888 = R & P 2001, 46; BGH NJW 2006,1277 = R & P 2006, 141). Außerhalb der Vorschrift des § 326FamFG enthält das Betreuungsrecht keine Vorschriften überZwangsbefugnisse des Betreuers bzw. Bevollmächtigten, weilder Gesetzgeber zur Verbesserung der Rechtsstellung der Betroffenenbewusst <strong>von</strong> entsprechenden Regelungen Abstandgenommen hat (siehe zum ganzen <strong>Marschner</strong> 2001, 132und 2005, 47). Mangels einer dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzentsprechenden Rechtsgrundlage ist esdaher fraglich, ob das Betreuungsrecht eine Zwangsbehandlungdurch den Betreuer überhaupt ermöglicht. Teilweise wird dieAuffassung vertreten, die Befugnis für eine Zwangsbehandlungdurch den Betreuer ergebe sich aus der Zuweisung eines entsprechendenAufgabenkreises in Verbindung mit § 1901 Abs. 2und 3 BGB (Lipp 2006, 62 ff. und 2009, 53 ff.; Tietze 2006,131 ff.). Dies kann aber nur für die Einwilligung ohne odergegen den Willen des Betroffenen gelten, nicht für derenDurchsetzung mit Gewalt.Eine Zwangsbehandlung mit Psychopharmaka, insbesonderemit Depotneuroleptika, im ambulanten Bereich, also außerhalbeiner Unterbringung, ist unzulässig, da für diese Maßnahmeweder die Voraussetzungen des § 1906 Abs. 1 noch des Abs. 4BGB vorliegen und damit eine gesetzliche Grundlage fehlt(BGH NJW 2001, 888 = R & P 2001, 46; a. A. Tietze 2006,131 ff.). Eine Zwangsbehandlung im ambulanten Bereichkommt auch nicht als geringerer Eingriff gegenüber einer Unterbringungin Betracht.Die vorgenannten verfassungsrechtlichen Grundsätze gelten auchfür die Zwangsbehandlung während der Unterbringung durchden Betreuer. Allerdings kann nach Auffassung des BGH eineBehandlung des Betreuten während einer durch das Betreuungsgerichtnach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 (nicht nach Nr. 1) genehmigtenUnterbringung erforderlichenfalls ausnahmsweise unter Anwendung<strong>von</strong> Zwang gegen dessen körperlichen Widerstand durchgesetztwerden, da die erforderliche Behandlung sonst nichtdurchgeführt werden könne (BGH NJW 2006, 1277 = R & P2006, 141; a. A. <strong>Marschner</strong> 2001, 132 ff. und 2005, 47 ff.;OLG Celle BtPrax 2005, 235 = R & P 2005, 196; so auch OLGHamm NJW 2003, 2392 für einen im Maßregelvollzug untergebrachtenPatienten). Der BGH sieht in diesem Fall § 1906Abs. 1 Nr. 2 BGB als ausreichende Rechtsgrundlage auch füreine Zwangsbehandlung an, obwohl § 1906 BGB die mit Freiheitsentziehungverbundene Unterbringung regelt und damitnicht das Recht auf körperliche Unversehrtheit, sondern dasRecht auf Freiheit der Person betrifft.Geht man mit dem BGH <strong>von</strong> der ausnahmsweisen Zulässigkeiteiner Zwangsbehandlung während der betreuungsrechtlichenUnterbringung in bestimmten Fällen aus, ist auch nach Auffassungdes BGH der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in besonderemMaß zu beachten. Der mögliche therapeutische Nutzender Behandlung muss gerade bei einer Zwangsbehandlung mitNeuroleptika gegen die Gesundheitsschäden abgewogen werden,die ohne Behandlung entstehen würden. Dabei sind auchdie negativen psychischen Auswirkungen der Unterbringungund Zwangsbehandlung auf den Betroffenen einzubeziehen(BGH NJW 2006, 1277 = R & P 2006, 141; zur Problematikder Zwangsbehandlung in der Psychiatrie ausführlich Finzenu. a. 1993). In diesem Fall ist die durchzuführende Behandlungin der Entscheidung über die Unterbringung nach § 1906Abs. 1 Nr. 2 BGB hinsichtlich Arzneimittel, Wirkstoff, Dosis,Verabreichungshäufigkeit, Nebenwirkungen und ggf. Behandlungsalternativenpräzise zu bezeichnen (BGH NJW 2006,1277 = R & P 2006, 141). In einer offenen Einrichtung ist eineZwangsbehandlung immer unzulässig (BGH R & P 2008,123 = FamRZ 2008, 866). Ebenso unzulässig ist die vorsorglicheGenehmigung einer Zwangsbehandlung durch den Betreuer(BGH R & P 2011, 28).Die Frage, ob § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB eine ausreichendeErmächtigungsgrundlage für eine Zwangsbehandlung darstellt,ist nach der nunmehr vorliegenden Grundsatzentscheidungdes BVerfG (R & P 2011, 168) neu zu stellen. Es spricht vielesdafür, dass eine ausreichend klare und bestimmte gesetzlicheGrundlage für die Zwangsbehandlung in § 1906 Abs. 1 Nr. 2BGB nicht enthalten ist. Es ist außerdem fraglich, ob die Auffassungdes BGH zur Zulässigkeit der Zwangsbehandlungwährend der Unterbringung durch den Betreuer nach Inkrafttretender UN-BRK aufrechterhalten werden kann. Danachrechtfertigen eine psychische Krankheit oder seelische Behinderungals solche keine Zwangseingriffe (hierzu <strong>Marschner</strong>2009, 135; König 2009, 105).2. Unter- und Obergrenzen bei derbetreuungsrechtlichen UnterbringungJedenfalls lässt sich auch für die zivilrechtliche Unterbringungeine Untergrenze formulieren, die sich aus der Güterabwägungdes § 1901 Abs. 3 BGB sowie den Vorschriften der UN-BRKergibt: Eine Zwangsbehandlung durch den Betreuer ist allenfallsdann zulässig, wenn die freie Willensbestimmung desBetroffenen bezüglich der beabsichtigten Behandlung aufgehobenist und ein gegenüber der körperlichen Integrität, in diezwangsweise eingegriffen werden soll, höherwertiges Rechtsgutgeschützt werden soll. Dabei kann es sich nur um das Lebendes Betroffenen oder um die Abwendung schwerer irreversiblerGesundheitsgefahren handeln, Die Obergrenze ergibt sichzunächst aus § 1904 Abs. 1 BGB, wonach gefährliche Behandlungsmaßnahmendurch den Betreuer der zusätzlichen Genehmigungdurch das Betreuungsgericht bedürfen (hierzu ausführlich<strong>Marschner</strong>/Volckart/Lesting 2010 C § 1904BGB Rn. 11 ff.; zur Neuroleptikabehandlung Aderhold/Crefeld 2010, 58 und Greve 2010, 62).Daneben sind absolute Behandlungsgrenzen zu beachten, diesich entweder aus besonderen gesetzlichen Vorschriften (z. B. aus§§ 40, 41 AMG für die Arzneimittelforschung bei untergebrachtenPatienten) oder aus Art. 1 GG ergeben (Psychochirurgie).Außerdem ist in diesen Fällen der Kernbereich der nicht antastbarenRechte im Sinn der UN-BRK betroffen. Zu den im Rah-163


<strong>Marschner</strong>: Aktuelles zur Zwangsbehandlung – in welchen Grenzen ist sie noch möglich? R & P (2011) 29: 160 – 167164 men der Zwangsbehandlung nicht zulässigen Behandlungengehören nach hier vertretener Auffassung die Behandlung mitNeuroleptika mit irreversiblen oder lebensgefährlichen Nebenwirkungen(ebenso wohl BVerfG R & P 2011, 168) sowie dieEKT gegen den Willen des Betroffenen. Insoweit kommt aucheine Genehmigung des Betreuungsgerichts nicht in Betracht.Eine weitere absolute Grenze im Sinn eines Vetorechts desBetroffenen bilden die Vorschriften über die Patientenverfügungnach § 1901 a BGB. Bei Vorliegen einer verbindlichenPatientenverfügung hat der Betreuer bzw. Bevollmächtigte(§ 1901 a Abs. 5 BGB) dem Willen des Betroffenen Ausdruckund Geltung zu verschaffen, soweit die Festlegungen in derPatientenverfügung auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituationzutreffen. Eine eigene (stellvertretende) Willenserklärungdurch den Betreuer oder Bevollmächtigten erfolgt indiesem Fall nicht (zur Auslegung <strong>von</strong> PatientenverfügungenHoffmann 2009, 7 und 2010, 201). Aber auch wenn keinebeachtliche Patientenverfügung im Sinn des § 1901 a Abs. 1BGB vorliegt, hat der Betreuer bzw. Bevollmächtigte bei seinerEntscheidung die Behandlungswünsche und den mutmaßlichenWillen des Betroffenen zu berücksichtigen (§ 1901 aAbs. 2 BGB; hierzu BGH R & P 2010, 212 = BtPrax 2010,226). Insoweit ist keine Schriftform erforderlich. Der mutmaßlicheWille ist aufgrund konkreter Anhaltspunkte unterBerücksichtigung früherer mündlicher oder schriftlicher Äußerungendes Betroffenen sowie seiner persönlichen Wertvorstellungenzu ermitteln (§ 1901 a Abs. 2 Satz 2 und 3 BGB).Der Betreuer bzw. Bevollmächtigte muss jeweils im Gesprächmit dem behandelnden Arzt und ggf. weiteren Personen (Angehörigenoder Vertrauenspersonen des Betroffenen) erörtern,ob die ärztlich indizierte Maßnahme dem Willen des Betroffenenentspricht oder widerspricht (§1901 b BGB).3. Aufgaben <strong>von</strong> Betreuer und BevollmächtigtemBetreuer bzw. Bevollmächtigter entscheiden nach der Rechtsprechungdes BGH im Rahmen der Unterbringung auf derGrundlage des Genehmigungsbeschlusses des Betreuungsgerichtsnach § 1906 Abs.1 Nr. 2 BGB darüber, ob die erforderlicheBehandlung auch mit Gewalt durchgesetzt werden soll.Für die Entscheidung ist wiederum § 1901 Abs. 3 BGB heranzuziehen.Danach besteht zunächst eine Besprechungspflichtmit dem Betroffenen. Es muss ohne Druck und mit ausreichenderZeit versucht werden, die auf Vertrauen gegründeteZustimmung des Betroffenen herbeizuführen (BVerfG R & P2011, 168). Daher ist auch der nicht einwilligungsfähige Betroffeneaufzuklären (Hoffmann 2005, 52). Die vorgenanntenUnter- und Obergrenzen der Zwangsbehandlung sind zubeachten. Dem Betreuer bzw. Bevollmächtigten kommt dahereine besondere Verantwortung zu, bevor er sich ausnahmsweisezu einer Zwangsbehandlung des Betroffenen entschließt.Der Betreuer ist zur Durchführung der Zwangsbehandlungnicht verpflichtet, auch wenn ein entsprechender Beschluss desBetreuungsgerichts vorliegt, da sich die maßgeblichen die Behandlungbetreffenden Umstände zwischenzeitlich geänderthaben können (siehe BGH FamRZ 2010, 202 = R & P 2010,34). Der vom Bundesverfassungsgericht vorgegebene Ablaufbedeutet weiterhin, dass das Betreuungsgericht erst über dieGenehmigung der Zwangsbehandlung entscheiden kann, wenndie vorgenannten Voraussetzungen vorliegen. Hierfür ist einezweite gerichtliche Genehmigung erforderlich (zur entsprechendeProblematik bei freiheitsentziehenden Maßnahmenwährend der Unterbringung BGH NJW 2006, 1277 = R & P2006, 141; BayObLG FamRZ 1994, 127 = R & P 1993, 147;OLG Düsseldorf FamRZ 1995, 118 = R & P 1995, 93).III. Zwangsbehandlung und öffentlichesUnterbringungsrecht1. Überblick über die gesetzlichen RegelungenRegelungen zur Zwangsbehandlung finden sich in allen Unterbringungsgesetzenund Maßregelvollzugsgesetzen der Bundesländer.Die Regelungen unterscheiden sich <strong>von</strong> Bundeslandzu Bundesland, sind unübersichtlich und teilweise nicht schlüssig.Es fehlt generell die vom BVerfG geforderte krankheitsbedingteUnfähigkeit zur Selbstbestimmung als Voraussetzungder Zwangsbehandlung.In den meisten Bundesländern ist (unabhängig <strong>von</strong> der Frageder Einwilligung durch den Betroffenen oder den rechtlichenBetreuer) Voraussetzung für eine Zwangsbehandlung im Sinneiner Untergrenze entweder die Unaufschiebbarkeit der Behandlungsmaßnahme(so z. B. Art. 13 Abs. 2 BayUnterbrG,§ 30 Abs. 2 Satz 2 PsychKG Berlin) oder die gegenwärtigeGefahr einer erheblichen Schädigung der Gesundheit oder desLebens des Betroffenen (so § 14 Abs. 4 PsychKG SchlH). Indiesen Regelungen wird vor Durchführung der Zwangsbehandlungeine Güterabwägung verlangt, die den Vorgaben der UN-BRK weitgehend entspricht. Die Regelungen in Baden-Württemberg(§ 8 Abs. 2 BW-UG) oder Niedersachsen (§ 21 Abs. 3PsychKG Nds, § 8 Abs. 1 Satz 3 MVollzG Nds) lassen dagegeneine Zwangsbehandlung ohne weitere Voraussetzungen zu. Ineinigen Bundesländern rechtfertigt das Erreichen des Vollzugszielsdie Zwangsbehandlung (so z. B. § 6 Abs. 1 Satz 2 MVollzGRh.Pf., der vom BVerfG für verfassungswidrig erklärt wurde,ähnlich § 22 Abs. 4 PsychKG Bremen).In den meisten Gesetzen der Bundesländer wird eine Obergrenzeder Zwangsbehandlung geregelt, wenn die Behandlungmit einer erheblichen Gefahr für das Leben oder die Gesundheitdes Betroffenen verbunden ist (siehe z. B. Art. 13 Abs. 3BayUnterbrG, § 30 Abs. 3 PsychKG Berlin). Eine Behandlung,die die Persönlichkeit in ihrem Kernbereich verändern könnte,wird überwiegend für unzulässig im Sinn der absoluten Obergrenzeerklärt (so z. B. § 16 Abs. 4 PsychKG Hamburg, andersArt. 13 Abs. 3 BayUnterbrG: zulässig mit Einwilligung desBetroffenen oder seines gesetzlichen Vertreters).2. RegelungsmodelleWie eingangs dargestellt liegt den landesrechtlichen Regelungenim öffentlichen Unterbringungsrecht und Maßregelvollzugsrechtentweder ein vollzugsrechtliches oder ein betreuungsrechtlichesModell zugrunde.Ein Teil der Landesgesetze regelt die Voraussetzungen derZwangsbehandlung unabhängig vom Betreuungsrecht, indemeine Gefahrenschwelle festgelegt wird, unterhalb derer eineZwangsbehandlung nicht zulässig ist. Auf die Einwilligung desBetroffenen oder seines gesetzlichen Vertreters kommt es insoweitnicht an (siehe z. B. Art. 13 Abs. 2 BayUnterbrG: Un-


R & P (2011) 29: 160 – 167<strong>Marschner</strong>: Aktuelles zur Zwangsbehandlung – in welchen Grenzen ist sie noch möglich?aufschiebbarkeit, § 14 Abs. 4 PsychKG SchlH: gegenwärtigeGefahr einer erheblichen Schädigung der Gesundheit oder desLebens des Betroffenen). Nur besonders gefährliche Behandlungensind im Sinn der Obergrenze zusätzlich an die Einwilligungdes Betroffenen und/oder seines gesetzlichen Vertretersgeknüpft (siehe die Übersicht in R & P 1988, 19 ff.). Eine ersetzendeEinwilligung durch den Betreuer kommt bei diesenRegelungen hinsichtlich der Untergrenze der Zwangsbehandlungnicht in Betracht (a. A. BayObLG R & P 2004, 33), sondernallenfalls wenn es um die Obergrenze der Zwangsbehandlunggeht.Ein anderer Teil der Bundesländer knüpft die Behandlung zunächstan die Einwilligung des Betroffenen, die im Fall der Einwilligungsunfähigkeitdurch den rechtlichen Betreuer ersetztwerden kann (so z. B. § 30 Abs. 1 Satz 1 PsychKG Berlin auchfür den Maßregelvollzug – hierzu KG R & P 2008, 39, § 18Abs. 3 PsychKG NRW bzw. § 17 Abs. 2 MVG NRW). Diejeweils gesetzlich geregelte Untergrenze im Sinn einer Gefahr fürden Betroffenen (z. B. § 18 Abs. 4 PsychKG NRW: Lebensgefahrsowie die erhebliche Gefahr für die Gesundheit des Betroffenenoder Dritter) gilt nach diesen Regelungen nur, wenn weder Betroffenernoch Betreuer wirksam einwilligen. Gegen diese Konzeptionbestehen aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts zwarkeine Bedenken. Der Betreuer hat in diesem Fall aber die obendargelegten betreuungsrechtlichen Grundsätze zu beachten. EineZwangsbehandlung gegen den Widerstand des Betroffenen istnicht möglich, da es sich jeweils um keine Unterbringung nach§ 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB handelt (OLG München R & P 2009,149 = BtPrax 2009, 244). Die Zwangsbehandlung mit der Anwendung<strong>von</strong> Gewalt richtet sich ausschließlich nach öffentlichrechtlichenVorschriften. Der rechtliche Betreuer kann aus denöffentlich-rechtlichen Unterbringungsregelungen keine Zwangsbefugnisseableiten, da diese insoweit bundesrechtlich abschließendim Betreuungsrecht geregelt sind (Kammeier-WagnerRn. D 138 ff.; unklar insoweit OLG München R & P 2009, 149= BtPrax 2009, 244).3. Unter- und ObergrenzenDie Unter- und Obergrenzen der Zwangsbehandlung ergebensich daher, soweit sie die Anlasskrankheit betreffen, ausschließlichaus den vorstehend beispielhaft genannten öffentlichrechtlichenVorschriften in Verbindung mit den Vorgaben derUN-BRK sowie aus der Vorschrift des § 1901 a BGB. DieBehandlung sonstiger Erkrankungen richtet sich nach Betreuungsrecht.Hinsichtlich der Unter- und Obergrenzen sindunabhängig <strong>von</strong> den gesetzlichen Formulierungen folgendeGrundsätze zu beachten:Untergrenze:ıı Rechtswidrig sind alle Regelungen, die eine Zwangsbehandlungerlauben, ohne auf die krankheitsbedingteUnfähigkeit zur Selbstbestimmung abzustellen. Dies giltgerade auch im Fall der Zwangsbehandlung zum Erreichendes Vollzugsziels. Abzustellen ist auf die <strong>von</strong> Amelungentwickelten Kriterien (1995, 24). Danach ist dieAutonomie der Willensentscheidung zu respektieren,soweit keine krankhafte Verzerrung des maßgeblichensubjektiven Wertesystems des Betroffenen vorliegt.ıı Weitergehend sind Regelungen, die eine Zwangsbehandlungim Sinn einer Duldungspflicht ohne Untergrenzeerlauben, rechtswidrig, da sie unmittelbar an die Behinderungund die daraus abgeleitete Behandlungsbedürftigkeitanknüpfen und damit gegen die Grundsätze der UN-BRKverstoßen. Ein so schwerer Eingriff wie in das Recht derkörperlichen Unversehrtheit kann erst dann gerechtfertigtsein, wenn ein höherwertiges Rechtsgut (insbesondere dasLeben im Sinn des Art. 10 UN-BRK oder in erheblichemMaß die Gesundheit im Sinn des Art. 17 UN-BRK)gefährdet ist.ıı Eine Zwangsbehandlung darf nicht der Abwehr <strong>von</strong>Gefahren für Dritte dienen (BVerfG R & P 2011, 168). DerGefahrenabwehr dient zunächst die Unterbringung selbst.Gegebenenfalls sind besondere Sicherungsmaßnahmen zuergreifen. Ebenso unzulässig ist eine Zwangsbehandlung zurAufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung in derEinrichtung (so Art. 13 Abs. 2 BayUnterbrG).ıı Zulässig ist zwar, die Einwilligung des Betroffenen ggf.durch die Einwilligung des rechtlichen Betreuers zuersetzen. Dies erlaubt aber wegen der betreuungsrechtlichenVorgaben keine Zwangsbehandlung gegen denWiderstand eines Betroffenen, der öffentlich-rechtlichoder im Maßregelvollzug untergebracht ist.Obergrenze:ıı Gefährliche Behandlungen bedürfen der Einwilligung desBetroffenen oder seines gesetzlichen Vertreters im Fall derEinwilligungsunfähigkeit, ggf. zusätzlich der Genehmigungdes Betreuungsgerichts.ıı Eine Zwangsbehandlung ist absolut unzulässig, wenninsoweit <strong>von</strong> einem nicht einschränkbaren Kernbereichder Rechte auch psychisch kranker und seelisch behinderterMenschen im Sinn des Art. 1 GG sowie der Vorschriftender UN-BRK auszugehen ist. Dies betrifft neben derArzneimittelforschung die Zwangsbehandlung mitirreversiblen oder lebensgefährlichen Nebenwirkungen.ıı Eine rechtswirksame Patientenverfügung (siehe II. 2.) istwie bei einer Unterbringung nach § 1906 BGB auch beieiner Unterbringung nach PsychKG/UG oder im Maßregelvollzugals Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts desBetroffenen beachtlich und verhindert damit gegebenenfallsjede Zwangsbehandlung (siehe hierzu Olzen 2009und Brosey 2010, 161). Dies gilt entsprechend fürWünsche des Betroffenen nach § 1901 a Abs. 2 BGB,wenn keine Patientenverfügung im Sinn des § 1901 aAbs. 1 BGB vorliegt.IV. Notwendige Gesetzesänderungenund verfahrensrechtliche AbsicherungDer gesetzgeberische Handlungsbedarf ist angesichts der vorgenanntenVorgaben immens. Alle PsychKG und Maßregelvollzugsgesetzemüssen überarbeitet werden, um klare, bestimmteund widerspruchsfreie Zwangsbehandlungsregelungenzu formulieren, auf die sich die Praxis einstellen kann. Als denVorgaben der UN-BRK sowie der aktuellen Rechtsprechungentsprechend kann nach wie vor folgende Regelung mit geringfügigenModifikationen angesehen werden (siehe <strong>Marschner</strong>/Volckart1992, 54):165


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