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Kapitel 5 - Host Europe WebBuilder Login

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»Je freier ein Mensch von Vorurteilen überhaupt ist,desto weniger wird er sich für das rein Gesellschaftlicheeignen.«Hannah Arendt 15.4 POLITIK UND GESELLSCHAFT»Alles in allem gleicht der Wohlfahrtsstaat dem Versuch,die Kühe aufzublasen, um mehr Milch zubekommen.«Niklas Luhmann 2Wenn die Ökonomie unser Leben bis in die intimsten Sphären zwischenmenschlicherBeziehungen prägt, dann gilt dies mehr noch für die Gesellschaft,wobei die Wirkungen von Ökonomie und Gesellschaft auf vielfältigeWeise miteinander verzahnt und in den meisten Fällen nicht klar zu trennensind. Die Zeit der Aufklärung verklärte den Naturzustand des Menschen,der ein Zustand »vollkommener Freiheit« und ein »Zustand der Gleichheit« 3gewesen sein soll, in dem ein natürliches Recht, das Naturrecht, geherrschthat. Erst durch das Eigentum und die daraus resultierende Notwendigkeit, esgegen Übergriffe zu schützen, entstand das Bedürfnis der Menschen, sichzusammenzuschließen, »zum gegenseitigen Schutz ihres Lebens, IhrerFreiheiten und ihres Vermögens« 4 . Ein Gesellschaftsvertrag sollte diesengegenseitigen Schutz bieten. Noch Friedrich Schiller greift in seinem»Wilhelm Tell« auf das Naturrecht zurück, wenn er zum Ausdruck bringt:»Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,Wenn unerträglich wird die Last − greift erHinauf getrosten Mutes in den Himmel,Und holt herunter seine ewgen Rechte,Die droben hangen unveräußerlichUnd unzerbrechlich wie die Sterne selbst −« 5Hegel wiederum weist den Anspruch der Naturrechtsanhänger rigoroszurück und setzt ihm einen Freiheitsbegriff entgegen, der eben nicht ineinem wie auch immer gearteten natürlichen Zustand, sondern allein ineiner von Menschen geschaffenen Gesellschaft seinen Sinn finden kann. Ersagt: »Der Ausdruck Naturrecht, der für die philosophische Rechtslehre1Hannah Arendt, Was ist Politik?, München 2003, S. 182Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2000, S. 2153John Locke, Die zweite Abhandlung über die Regierung, § 44John Locke, Die zweite Abhandlung über die Regierung, § 1235Friedrich Schiller, Wilhelm Tell, Aufzug 2, Szene 2, Frankfurt am Main 1996, S. 432530


gewöhnlich gewesen, enthält die Zweideutigkeit, ob das Recht als ein inunmittelbarer Naturweise vorhandenes oder ob es so gemeint sei, wie esdurch die Natur der Sache, d.i. den Begriff, sich bestimme. Jener Sinn ist dervormals gewöhnlich gemeinte; so daß zugleich ein Naturzustand erdichtetworden ist, in welchem das Naturrecht gelten solle, wogegen der Zustandder Gesellschaft und des Staates vielmehr eine Beschränkung der Freiheitund eine Aufopferung natürlicher Rechte fordere und mit sich bringe. In derTat aber gründen sich das Recht und alle seine Bestimmungen allein auf diefreie Persönlichkeit, eine Selbstbestimmung, welche vielmehr das Gegenteilder Naturbestimmung ist. Das Recht der Natur ist darum das Dasein derStärke und das Geltendmachen der Gewalt, und ein Naturzustand einZustand der Gewalttätigkeit und des Unrechts, von welchem nichts Wahreresgesagt werden kann, als daß aus ihm herauszugehen ist. Die Gesellschaftist dagegen vielmehr der Zustand, in welchem allein das Recht seineWirklichkeit hat; was zu beschränken und aufzuopfern ist, ist eben dieWillkür und Gewalttätigkeit des Naturzustandes.« 6Hegels Aussage spannt einen weiten Bogen und ist in vieler Hinsicht vonBedeutung. Zum einen betont sie den artifiziellen Charakter des Gesellschaftlichen,der auf einem dezidierten Wollen und nicht aus Ableitungenaus einem wie immer gearteten Naturzustand besteht. Zum anderen hatHegel noch einen völlig ungebrochenen Begriff von Gesellschaft und setztihn in eins mit dem Begriff des Staates.Auch Hobbes und Rousseau unterscheiden nicht genau zwischen denbeiden Begriffen, allerdings orientiert sich Hobbes deutlich mehr ammodernen Begriff des Staates, indem er folgert, »daß ohne eine einschränkendeMacht der Zustand der Menschen ein solcher sei […], nämlich einKrieg aller gegen alle« 7 . Hobbes meint, auch wenn er bisweilen den TerminusGesellschaft gebraucht, eigentlich eine unabhängige Instanz, die dasZusammenleben der Menschen regelt, und das kann nach Lage der Dingenur der Staat sein.Bei Rousseau liest sich das mit anderer Gewichtung, wenn er seinenGesellschaftsvertrag wie folgt zusammenfasst: »Gemeinsam stellen wir alle,jeder von uns seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Richtschnurdes Gemeinwillens; und wir nehmen, als Körper, jedes Glied alsuntrennbaren Teil des Ganzen auf.« 8 Danach gibt es keine unabhängigeInstanz mehr, weil sich die Einzelnen buchstäblich entäußern und imGemeinwillen auflösen.6G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, §502, Werke in 20Bänden, Band 10, Frankfurt am Main 1970, S. 311f., Hervorhebungen im Original7Thomas Hobbes, Der Leviathan, 13. Abschnitt, Köln 2009, S. 134f.8Jean-Jacques Rousseau, Gesellschaftsvertrag, Buch 1, <strong>Kapitel</strong> 6, Vom Gesellschaftsvertrag, imOriginal hervorgehoben531


Bei Rousseau hat nicht mehr »allein das Recht seine Wirklichkeit«, wiebei Hegel, sondern der Gemeinwille, der zur obersten Richtschnur wird.Betrachtet man die Anschauungen von Rousseau und Hegel als Pole, dannlässt sich sehr gut das zur Verfügung stehende Spektrum beschreiben. Esreicht vom Staat, der Freiheitsrechte als Rahmenbedingung garantiert, diefreie Persönlichkeit aber selbst über ihre Geschicke bestimmen lässt, bis zueiner Gesellschaft, in der das Individuum im Gesellschaftskörper aufgeht.In die Sprache politischer Bewegungen übersetzt, geht die Spannbreitealso vom liberalen Nachtwächterstaat bis zum Idealbild einer sozialistischenGesellschaft. Sucht man nach realen Repräsentationen, dann entsprechendie Vereinigten Staaten bis zur Weltwirtschaftskrise noch am ehesten demliberalen Nachtwächterstaat, während das Idealbild einer sozialistischenGesellschaft sich weit mehr am Volksgemeinschaftsgedanken der Nationalsozialistenals an den Zwangsregimes des Sozialismus-Ost orientiert. Währenddiese den Gemeinwillen durch puren Zwang, wenn auch ohne großenErfolg, in die Köpfe ihrer Bürger hämmern wollten, konnten sich jenezumindest bis Stalingrad einer Zustimmung großer Teile ihrer Bevölkerungerfreuen. Wie wir wissen, nahmen die Nationalsozialisten zwar nicht »jedesGlied als untrennbaren Teil des Ganzen auf«, aber mit ihrer Volksgemeinschaftwaren sie doch recht weit gekommen.Der Streit über die richtige Gesellschaftsformation bestimmt die politischeDebatte seit einem viertel Jahrtausend, wobei die Frage nach mehroder weniger Vergesellschaftung über einen langen Zeitraum im Zentrumstand und auch heute noch keineswegs abgegolten ist. Die Anstrengungenzahlloser Menschen, die Vergesellschaftung voranzubringen, gleichenjedoch dem Versuch, Wasser in einen Ozean zu schütten, um seinen Wasserstandzu erhöhen, wie umgekehrt die Anstrengungen der Gegner demVersuch gleichen, Wasser aus dem Ozean zu schöpfen, um seinen Wasserstandzu senken. Seit mit der Anwendung der Dampfkraft die industrielleRevolution begann, brauchte die Vergesellschaftung weder vorangetriebennoch konnte sie gestoppt werden, weil sie ohnehin eine direkte Folge derneuen Produktionsweise war. Sehen wir uns einige Entwicklungsschritte hinzur Vergesellschaftung an.Es begann mit der Verfeinerung der Arbeitsteilung, die ja nicht nur dieProduktivität erheblich steigert, sondern zugleich der Produktion einegesellschaftliche Form gibt, und setzt sich ungebrochen in den Produktenselbst fort, die für einen Massenmarkt produziert werden, der nur für vergesellschafteteMenschen überhaupt hergestellt werden kann. Schon ausGründen der inneren Logik des Systems dürfen diese Menschen nicht verelenden,sondern spielen als Konsumenten eine entscheidende Rolle. Esgehört schon eine erhebliche Verblendung dazu, die offensichtlichenZusammenhänge nicht zu sehen.532


Heideggers Überlegung scheint treffend zu sein: »Diese Verblendungkommt aus der uneingestandenen Angst vor der Angst, die als der Schreckendas Ausbleiben des Seins selbst erfährt.« 9 Vereinfacht kann man sagen,wir fürchten uns davor zu erfahren, was ist, weil wir die daraus sichergebenden Konsequenzen nicht tragen wollen. Ein Widersinn, der schon anvielen anderen Stellen seine Wirkmächtigkeit unter Beweis gestellt hat.Der Zusammenhang zwischen »großer Produktion« und zunehmenderVergesellschaftung zeigt sich nicht nur in abstrakten Überlegungen, sondernin unzähligen Einzelheiten. Wie sollte eine zentrale Stromversorgung, wiedas Verkehrs- oder Bildungswesen moderner Staaten denkbar sein, ohneweitreichende Vergesellschaftung? Noch deutlicher wird der Zusammenhangzwischen Massenproduktion und Vergesellschaftung bei den Konsumgütern.Von wenigen Nischen abgesehen, bedarf die Massenproduktion,und zwar völlig unabhängig von den Eigentumsrechten an den Produktionsmitteln,eines weitgehend normierten Verbrauchers, dessen individuelleNote sich genau in der möglichen Spannbreite der Produktionsmöglichkeitenbewegen darf. Dabei liegt es durchaus in der Natur der Sache, dassEinzelne beliebig weit von diesem Rahmen abweichen dürfen. Im Sinneeiner altbekannten Erkenntnis bestätigen sie als Ausnahmen nur die Regel.Wenn die Pluralität der Menschen einmal das konstituierende Element derPolitik war, so hat sich dies mittlerweile gründlich geändert.Im Zeitalter der Massenproduktion stellt der identische Mensch, ambesten durch Klonen erzeugt, den Idealtypus eines Menschen dar. Durch ihnwürde sich nicht nur die jahrtausendealte Frage der Philosophie, was derMensch eigentlich sei, deutlich vereinfachen, er würde auch die immerwieder zu erheblichen Konflikten führenden schwierigen Produktions- undVerteilungsprobleme auf eine einfache Weise lösen. Die Utopie der Gleichheitder Menschen hätte ihren Topos gefunden, und auch der ewige Friedewäre garantiert.Wer glaubt, diese Vision als nicht weiter ernst zu nehmende Schwarzmalereiabtun zu können, der kann schnell eines Besseren belehrt werden.Wie der Fluss dem Tal, so strebt die zunehmende Vergesellschaftung genaudieser Vision zu. Die zweifellos noch vorhandenen Widerstände gegen einesolche Entwicklung sind kaum mehr als Felsen im Flussbett, die den Laufdes Wassers verändern, ohne ihn aufhalten zu können. Natürlich sind wirnoch ein gutes Stück von diesem Idealtypus entfernt, aber die vorherrschendeBlindheit gegenüber der Tendenz einer derartigen Entwicklung gibtwenig Anlass, auf eine Umkehr, Eindämmung oder wenigstens Erkenntniszu hoffen. Doch sehen wir genauer hin.In der Mathematik gibt es zur Bestimmung verschiedener Grade derGleichheit den Begriff der Äquivalenzrelation. Der Begriff ermöglicht dieZusammenfassung von Objekten unter dem Aspekt einer partiellen Gleich-9Martin Heidegger, Nietzsche, Band 2, Pfullingen 1961, S. 393533


heit. Betrachtet man zum Beispiel eine Menge von Objekten, die alle miteiner Farbe versehen sind, dann definiert eine Aussage der Form »… hat diegleiche Farbe wie …« eine Äquivalenzrelation auf dieser Menge. Die einzelnenObjekte der Menge können sich dabei in beliebiger Weise unterscheiden,werden aber als gleich betrachtet, wenn sie nur die gleiche Farbehaben.In einer vergesellschafteten Welt spielen Äquivalenzrelationen einegroße Rolle, selbst wenn sie in der Öffentlichkeit als Begriff kaum vorkommen.Bei jeder (politischen) Wahl spiegelt sich eine Äquivalenzrelationwider, die durch die Fragestellung »… hat die gleiche Partei gewählt wie…« zum Ausdruck gebracht wird. Die unterschiedlichen Motivationen derunterschiedlichen Wähler bei ihrer Wahlentscheidung werden dabei eliminiertund zu einigen wenigen Motivationen zusammengefasst. Der Wählereiner bestimmten Partei mutiert so zum Anhänger dieser Partei. Die Wählervon Splitterparteien oder die Nichtwähler fallen dabei gewöhnlich alsQuantité négligeable unter den Tisch. Nur wenn zum Beispiel die Zahl derNichtwähler bei einer Wahl einen kritischen Wert überschritten hat, wirdkurzfristig über die Politikverdrossenheit räsoniert, die betroffene Gruppemeist aber als unpolitisch abqualifiziert. Die Möglichkeit, dass das Verhaltender Nichtwähler gerade von einem besonderen politischen Bewusstseingeprägt sein könnte, wird kaum in Betracht gezogen, und wenn, dann bleibtes ohne weitere Auswirkungen. Dabei zählt die Identifizierung des Verschiedenenzu einem der fundamentalen Probleme einer jeden Form derDemokratie.Ohne jetzt in die Tiefen der Mathematik vorstoßen zu wollen, ist esnotwendig, noch ein weiteres mathematisches Gebiet zu betrachten, daseine lange Geschichte hat, aber erst ab dem 19. Jahrhundert zu voller Blütegelangt ist und seitdem eine kaum zu überschätzende Rolle in der Öffentlichkeit,vor allem bei Entscheidungsprozessen, spielt. Gemeint ist die Statistik,die aufs Engste mit der gerade betrachteten Äquivalenzrelationzusammenhängt, setzt sie doch Gruppen von Menschen einer bestimmtenFragestellung aus, um sie damit klassifizieren zu können. Die Statistikgehorcht der Macht der großen Zahl und ebnet damit die Unterschiede imDetail ein. Das bedeutet zunächst zweierlei. Die Statistik bedarf der großenZahl, aber nicht als Zusammensetzung vereinzelter Einzelner, sondern alsgruppierbare Zusammenfassung überschaubarer Unterschiede. Dies setztvoraus, dass bereits ein Prozess der Entdifferenzierung in Gang gesetztworden ist, der durch Typen der Statistik inhärenten Fragestellungen erheblichverstärkt wird. Dem steht entgegen, dass der industrielle Prozess ein534


höchstes Maß an Differenzierung erfordert, wie etwa die ins Extrem gesteigerteArbeitsteilung deutlich macht. 10Fraglos haben wir es hier mit einem Paradoxon zu tun, das in der jüngerenGeschichte für viel Verwirrung gesorgt hat. Das Paradoxon hängt engmit der Beziehung von Differenz und Gleichheit zusammen. Der genetischeCode ist für alle Lebewesen, insbesondere also auch für alle Menschen, imPrinzip gleich. Aus dieser Sicht unterscheiden sich die Menschen nur inNuancen voneinander, aus dieser Sicht unterscheiden sich aber auch Menschenkaum von Affen, Löwen oder Haifischen. Zugleich kann ein Verbrecheneinem Menschen mit hoher Wahrscheinlichkeit zugeordnet werden,wenn nur kleinste Mengen seines genetischen Materials zur Verfügungstehen. Obwohl der genetische Code aller Menschen weitgehend gleich ist,besitzt jeder Mensch einen (weitgehend) eindeutigen genetischen Fingerabdruck,mit dem man ihn identifizieren kann.Bei diesem Beispiel handelt es sich um den wahrscheinlich deutlichstenFall vom gleichzeitigen Vorkommen (fast) vollständiger Verschiedenheitund (fast) vollständiger Gleichheit. Ähnlich steigt durch die Zerlegung derArbeit in kleinste Schritte die Differenz zwischen den einzelnen Arbeitenan, um sich in der den einzelnen Schritten charakteristischen Monotoniewieder der Gleichheit zu nähern.Am heftigsten wird der Konflikt zwischen Differenz und Gleichheit aufdem Gebiet der sozialen Gerechtigkeit ausgetragen, die immer als Strebennach sozialer Gleichheit verstanden wird. Ganze Wissenschaftszweigebeschäftigen sich mit dieser Fragestellung. Für das ausgedruckte Papier derunzähligen Untersuchungen zu diesem Thema sind vermutlich ganze Wälderdem Erdboden gleichgemacht worden, wobei deren Ergebnisse denimmer gleichen Inhalt verbreiten: Die Ungleichheit nimmt dramatisch zu; esist fraglich, wie lange die Gesellschaften die Spannung der Differenz nochaushalten.Dem naiven, von keiner Wissenschaft getrübten Blick eines einfachenBetrachters vermag sich die beschworene Spannung so gar nicht vermitteln.Nicht nur, dass die soziale Klassifizierung der Menschen auf der Straßekaum wahrzunehmen ist, auch die schon vollständig zu nennende Versorgungmit Gütern nicht nur des täglichen Bedarfs, über die selbstverständlichauch die meisten Sozialhilfeempfänger verfügen, wie Kühlschrank,Waschmaschine, Auto, Telefon, Fernseher, Radio usw. − alles Güter, dienoch in den 1960er Jahren nur einer Minderheit vorbehalten waren −, stehtin seltsamem Kontrast zu der von den Forschern wahrgenommenen zunehmendenDifferenz.10Der Begriff der sozialen Differenzierung wurde wohl von Georg Simmel Ende des 19. Jahrhunderts indie Soziologie eingeführt. Vgl. Georg Simmel, Über sociale Differenzierung, Gesamtausgabe, Band 2,Frankfurt am Main 1989535


Woher kommt aber die große Differenz in der Wahrnehmung der gesellschaftlichenDifferenz? Die Antwort ist erstaunlich einfach. Mit Statistikkönnen zwar Zahlen in Verhältnisse gesetzt werden, die Inhalte steckenjedoch in der Regel bereits in der Fragestellung. Schon im 19. Jahrhunderthaben sich Forscher mit der Frage nach dem Grenznutzen beschäftigt. DerGrenznutzen besagt, dass mit zunehmendem Gebrauch der Genuss an einemGut abnimmt. Isst jemand eine Bratwurst, dann mag er seinen Hungergestillt haben, isst er eine zweite, dann mag ihm dies noch ein großerGenuss sein. Spätestens mit der dritten Wurst lässt der Genuss nach, undWiderwillen beginnt sich einzustellen. Dies ist unabhängig von jeder Forschungsarbeitein täglich zu beobachtendes Phänomen, dem unsere Gesellschaftsforscherjedoch kaum Beachtung schenken. Wie groß auch immerdie zahlenmäßige Differenz im Einkommen und Vermögen der Bürgereines modernen Wohlfahrtsstaats sein mag, die qualitative Differenz nähertsich an. Auch der reichste Bürger des Landes wird auf einer Autofahrt vonHamburg nach München nicht weniger oft im Stau stehen als der Empfängervon Sozialhilfe. Die größere Bequemlichkeit seines Autos mag ihmVorteile bringen, die jedoch stehen in keinem Verhältnis zum höheren Preis,den er für sein bequemeres Auto zahlen muss. Ein Reicher, der eine Uhr imWert mehrerer Jahresgehälter eines Arbeiters am Arm trägt, kann damitauch nicht mehr als die Zeit ablesen, die zudem noch an jeder Ecke angezeigtwird.Wenn wir in den genannten Konstellationen den Fokus auf die Differenzund nicht auf die Gleichheit legen, dann verheddern wir uns in der Tatrettungslos in den Fallstricken »sozialer Betrachtungen«, deren charakteristischesMerkmal darin besteht, in schlechter Unendlichkeit zu landen.Größte Beachtung sollten wir der unhintergehbaren Prämisse all dieserAnstrengungen schenken, die darin besteht, den Menschen an sich ihreMündigkeit abzusprechen und sie in wohlwollender Obhut zu halten. Werallerdings absolute Gleichheit herstellen will, dem bleibt kein anderer Weg,als mit totalitären Methoden den Menschen auch noch die allerletzten Freiheitenzu rauben. Sieht man von der Not der Lebenserhaltung ab, derenBeseitigung in Wohlstandsgesellschaften ernsthaft von niemandem bestrittenwird, dann bewegen sich die Vertreter der sozialen Gerechtigkeit ineinem Hamsterrad und übersehen dabei die bedrohliche Angleichung derLebensweisen, vor allem aber der Meinungen. Ohne Differenzen verschwindetjedoch das Politische aus unserem Leben.Durch die genannten mathematischen Verfahren wird also der Fokus aufdie bestimmenden, aber auch im Voraus ausgewählten Meinungen gelegt.Damit sind alle anderen Meinungen an den Rand gedrängt. Dieser Trendwird noch entscheidend verstärkt durch die Werbeabteilungen der großenIndustrie, aber auch durch die geballte Kraft der verschiedenen Medien, diesich alle auf das Meinungszentrum konzentrieren und damit den Trend536


erheblich mit beeinflussen. Dies hat eine Verarmung der öffentlichenDebatte zur Folge, in der Randthemen kaum mehr vorkommen, und wirktsich wiederum negativ auf die Vielfalt der überhaupt existierenden Meinungenaus, womit der Kreis geschlossen wäre.Am Beispiel der Einkommensteuererhebung, aber auch bei der Finanzkrise2008 kann dieses Zusammenspiel demonstriert werden. Noch gibt esvereinzelte Veröffentlichungen in den Medien, die die unhaltbare Form derSteuererhebung aufzeigen, aber sie gehen förmlich unter in der Flut vonBerichten, die stattdessen die Forderung nach Steuererleichterungen in denFokus rücken und die dann mit dem Hinweis auf die angespannten Staatsfinanzenleicht als Unsinn entlarvt werden können. Selbstverständlichkönnte es Steuererleichterungen geben, wenn nur die Möglichkeit derSteuervermeidung eingeschränkt würde. Solche einfachen Zusammenhängelösen sich einfach auf. Ganz ähnlich verlief die Berichterstattung imZusammenhang mit der Finanzkrise 2008. Unter den weitgehend vereinheitlichtenVorwürfen der »Gier der Manager« und des »Marktradikalismus«verschwanden die Analysen, wie es möglich sein kann, Gewinneeinzustreichen, ohne an den Verlusten beteiligt zu werden, verschwand vorallem aber die tiefe Verstrickung der Wohlfahrtsstaaten selbst in die heilloseSpekulation, weil deren Staatshaushalte anders gar nicht mehr finanziertwerden können. Auf diese Weise schaffen wir uns ein Bild von Realität, dasjeder »wirklichen« Realität an Wirkungskraft deutlich überlegen ist,dadurch aber auch in fataler Weise »wirkliche« Realität schafft.Im Zuge der Studentenbewegung in den späten 1960er Jahren wurde derVorwurf erhoben, die Massen seien durch die Herrschenden manipuliertund dadurch nicht mehr in der Lage, ihre wirklichen Interessen zu erkennen.In diesem Zusammenhang wurde gar in seltsamer Umkehrung der marxistischenVerelendungstheorie die griffige Formulierung vom »Konsumterror«geprägt, der unschuldige Arbeiter durch hemmungslose Manipulation zuübermäßigem Konsum zwingen würde. Die hier beschriebenen Zusammenhängedürfen mit solchen Vorwürfen nicht verwechselt werden. Mit demVorwurf der Manipulation verknüpft ist immer die bewusste Tat der einenSeite, die die andere für ihre eigenen Zwecke missbraucht.Die hier geschilderten Zusammenhänge haben aber auch nur wenig mitdem zu tun, was man als Handeln bezeichnet, weil auch da bewusstes Wolleneine Rolle spielt, das zwar in seinen Auswirkungen nicht beherrschtwerden kann, aber bei der Entstehung vorhanden sein muss. Das hierGemeinte wird nicht bewusst in Gang gesetzt, es widerfährt uns eher und istso etwas wie eine Herrschaft ohne Herren, das schleichend kommt und sichüber die Seele legt wie Nebel über das Land. Der Vorteil, den viele Menschendaraus ziehen, vermag diese Einsicht nicht zu widerlegen. Wererkennt, wann es regnen wird, der macht noch lange nicht den Regen, kannsich aber auf ihn einstellen.537


Die Vergesellschaftung ist also mit der Industriegesellschaft so verbundenwie Vorder- und Rückseite einer Münze. Sie hat in all ihren spezifischenAusprägungen aber auch die starke Tendenz zur Vereinheitlichung,was in der Praxis zu einer »oligarchischen« Meinungsherrschaft 11 führt. Jeheterogener die differierenden Meinungen sind, desto eher fallen sie durchdas Raster der Aufmerksamkeit, was im Umkehrschluss die Projektion derDifferenz auf eine nicht mehr weiter zu beachtende Gruppe zur Folge hatund so den Unterschied homogenisiert.Am einfachen Beispiel einer beliebigen Wahl lässt sich das Verfahrenbestens demonstrieren. Bei einer Wahl steht eine überschaubare Mengepolitischer Parteien zur Verfügung. Die Gründe, warum man eine Parteiwählt oder eben nicht wählt, sind vielfältig. Der Bericht über ein Wahlergebnisenthält die Prozentzahlen der einzelnen Parteien und eventuellnoch die Wahlbeteiligung. Bei der Angabe der Prozentzahlen werden in derRegel alle Parteien mit einem geringen Wahlergebnis zur Position »Sonstige«zusammengefasst. Die ungezählten Motivationen der Wahlentscheidungwerden also auf eine Handvoll Ergebnisse projiziert, aus denen danntief greifende Schlüsse gezogen werden. Während sich aber bei diesemVerfahren eine, wenn auch ungenaue, Zuordnung von Wahlentscheidungund politischer Richtung noch geben lässt, so schwindet diese Möglichkeitvollends bei denen, die nicht zur Wahl gegangen sind. Zweifellos gibt esviele Motivationen, nicht zur Wahl zu gehen. Sie reichen von der bewusstenEntscheidung, zum Beispiel einem Protest gegen die eingeschränktenWahlmöglichkeiten bei den etablierten Parteien, bis zur Faulheit.Damit stellen die Nicht-Wähler eine inhomogene Gruppe dar. Durch denVerzicht, die Substanz der Heterogenität zu erfragen, projiziert man dieVielfalt der Nicht-Wählenden auf die Gruppe Nicht-Wähler und hat soforteine homogenisierte Gruppe, die trotz ihrer beachtlichen und weiter wachsendenGröße keine adäquate Aufmerksamkeit findet. Kluge Kommentareverweisen bisweilen auf diese künstlich gemachte Gruppe, nicht ohne »diePolitik« aufzufordern, auch auf diese Gruppe zu achten. Nähmen die Verfechtereines demokratischen Gemeinwesens ihren eigenen Anspruch ernst,dann müsste der Gruppe der Nicht-Wähler, die ja an sich schon das Ergebniseiner ideologischen Betrachtung ist, eine viel größere Aufmerksamkeitzuteilwerden, zumal sie bei fast allen politischen Wahlen der letzten Jahrestärker als die stärkste politische Kraft geworden ist.11Am Vorabend des Ersten Weltkriegs veröffentlichte der Soziologe Robert Michels ein Buch überoligarchische Tendenzen des Gruppenlebens, das einige interessante Thesen enthält, die aber andem hier vorgetragenen Anliegen vorbeizielen, weil sie diese Tendenzen auf das Fehlverhalten vonIndividuen in Organisationsstrukturen zurückführen. Hier geht es um strukturelle Probleme, die derVergesellschaftung überhaupt immanent sind. Vgl. Robert Michels: Zur Soziologie des Parteiwesensin der modernen Demokratie: Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens,Leipzig 1911538


Das beschriebene Verfahren ist für zahllose Fälle prinzipiell gleich. Diesist wohl der Preis, der für die Vergesellschaftung in jeder denkbaren Formzu zahlen ist, wobei natürlich der Grad an Vergesellschaftung den Grad anHomogenisierung des Heterogenen wesentlich bestimmt. Wenn wir uns alsoideologischer Verblendungen enthalten, dann liegt es auf der Hand, dasseine industrielle Produktion unter allen Eigentumsverhältnissen zu einemhohen Maß an Vergesellschaftung führt. Weit mehr noch als durch dieEigentumsverhältnisse wird dieses Maß durch die Bedeutung bestimmt, diewir der Produktion beimessen. In einer Gesellschaft, in der das Wachstumder Produktion zu einer bestimmenden Größe geworden ist, nimmt der Gradan Vergesellschaftung zu; in einer Gesellschaft, die auf Wachstum derProduktion sich gründet, die also ohne Wachstum gar nicht mehr denkbarist, muss die Vergesellschaftung zur allumfassenden Herrschaft entarten.Wachstum der Produktion ist ein hinreichender, jedoch kein notwendigerGrund für zunehmende Vergesellschaftung.Die Vergesellschaftung kann selbst zum Zweck, zum Wert an sich werden.Was einst in der sozialistischen Bewegung als Bestreben begann, einengerechten Anteil am gesellschaftlich produzierten Reichtum zu erlangen,und auf die Ziele der Fordernden übertragen vor allem bedeutete, seinLeben ohne ständige Bedrohung und Not führen zu können, ist heute längstzum Selbstzweck geworden. Ein beredtes Beispiel dafür ist unsere Definitionvon Armut, die ihres relativen Bezugs wegen ja nur dann abgeschafftwerden kann, wenn wir uns auf eine weitgehende Gleichverteilung derGüter einigen, was wiederum in einer wachstumsorientierten Gesellschaftpure Illusion ist. Dies demonstrieren die vielfachen Versuche des Sozialismus-Ost,die Öffnung der Einkommensschere zu begrenzen, mehr abernoch die Abhängigkeit der modernen Wohlfahrtsstaaten von jenerUngleichheit der Einkommen, deren Beseitigung zum obersten Ziel politischerAnstrengungen erklärt wird. Nirgendwo zeigt sich die Aporie modernerWohlfahrtsstaaten klarer als in diesem Punkt.Noch einmal sei an dieser Stelle auf das Bundeslied der Sozialdemokratenverwiesen, das oben bereits zitiert worden ist. Dort heißt es:Brecht die Not der Sklaverei!Brecht die Sklaverei der Not!Brot ist Freiheit, Freiheit Brot! 12Das wesentliche Problem der frühen sozialistischen Bewegung war dieberechtigte Forderung nach Lösung der »Magenfrage«. Die ist inzwischentransformiert worden zu der unendlichen Frage nach der sozialen Gerechtigkeit,zu deren Voraussetzung ebenso ein ungehemmtes Wachstum wie12Georg Herwegh, Bundeslied für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, zitiert nach: ProjektGutenberg, Georg Herwegh539


eine ungehemmte Vergesellschaftung gehören. Der Vergesellschaftung inallen ihren Variationen eignet zwangsläufig die starke Tendenz zu einerVereinheitlichung von Meinungen, zu Betrachtungen, in denen die Vielheitnivelliert wird. Das liegt in der Natur der Sache und hat nichts mit einem»bösen Willen« zu tun. Damit ist ihr immer eine Zerstörung von Freiheitinhärent. Sie geht aber durch die Nivellierung noch viel weiter, vor allemweil sie Inhalte durch die Form überlagert. Was ist damit gemeint?Eine differenzierte Betrachtung wägt die verschiedenen Seiten derjeweiligen Sache ab, versucht sie einzuordnen, um ihr damit Gerechtigkeitwiderfahren zu lassen. Dies gelingt nicht immer, weil wir Menschen undkeine Götter sind. Entscheidend ist aber das Bemühen. Die gesellschaftlicheBetrachtung geht den umgekehrten Weg. Sie ordnet den betrachteten Falleiner allgemeinen Regel unter, deren Sinn gerade darin besteht, die Differenzierungaufzulösen. Dies geschieht exakt nach dem Muster der obenbeschriebenen Äquivalenzrelation, bei der die partielle Gleichheit zur Identifizierungder Objekte genügt. Im gesellschaftlichen Zusammenhang gehtman aber noch einen Schritt weiter und identifiziert die partielle Gleichheitmit der Gleichheit schlechthin, also mit der Identität. Auch dieser Zusammenhangsoll an einem Beispiel demonstriert werden, das bereits obenausführlich dargestellt wurde.Drei von fünf im Bundestag vertretenen Parteien fordern eine Vermögenssteuerals wichtigen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit. Hier liegt einebesonders interessante Version des behandelten Sachverhalts vor, weildabei mit einer Mischung aus Differenzierung und Vereinheitlichunggearbeitet wird. Die Differenzierung dient zunächst dazu, eine negativeMehrheit zu selektieren, das heißt eine Mehrheit, auf die die Kriterien derVermögenssteuer nicht zutreffen. Dies erreicht man durch einfache Nichtbeachtungbestimmter Werte bei der Vermögensbestimmung. Zu solchenVermögenswerten zählen alle Ansprüche aus Pensionen, (gesetzlichen)Renten, Abgeordnetenversorgungen, aber auch bestimmte Arten von HausundGrundbesitz und sonstige aus der Betrachtung herausgelöste Teile. DerSelektion liegt also eine auf reiner Willkür beruhende Unterscheidung von»gutem« und »schlechtem« Vermögen zugrunde, bei der es allein daraufankommt, durch Ausschluss einer Mehrheit eine Minderheit umso besserkujonieren zu können.Nach der Differenzierung folgt die Identifizierung, weil (bei den Übriggebliebenen)das Vermögen unabhängig von seiner Entstehung genommenwird: Die Betreffenden werden als Reiche betrachtet. Vermögen kann manauf unzählige Arten erworben haben, zum Beispiel durch Erbschaft, durchBetrug, durch Spekulation, durch Raub, mithilfe von Steuerhinterziehungoder exzessive Steuervermeidung, durch Ehescheidung, weil man etwasbesonders gut kann oder weil man eine Firma erfolgreich geführt hat usw.Wer sein Vermögen legal, selbst und ohne Steuervermeidung erworben hat,540


der hat darauf immerhin mehr an Steuern gezahlt, als der Vermögenswertausmacht. Im politischen Raum spielt das keine Rolle, weil ganz einfachnicht danach gefragt wird. Stattdessen wird nach dem folgenden Schemaverfahren, das zwar einer eigenartigen Logik entspricht, dessen ungeachtetjedoch vielfach angewandt wird:Schritt 1 (Existenzsuche): Es gibt einen Reichen, der sein Vermögen aufzweifelhafte Weise erworben hat. Schritt 2 (Verallgemeinerung): Reichehaben ihr Vermögen auf zweifelhafte Weise erworben. Schritt 3 (Legitimation):Deshalb dient es der Gerechtigkeit, eine Steuer auf Vermögen zuerheben. (Wer es etwas differenzierter liebt, der untermauert seine Behauptungetwa mit der Aussage: »Die Mehrheit der Reichen hat ihr Vermögenauf zweifelhafte Weise erworben.«)In genau der gleichen kruden Weise wird im Zusammenhang mit derFinanzkrise 2008 argumentiert: Diejenigen, die von der Krise profitierthaben, sollen auch dafür zahlen. Gegen diesen Satz kann man wenig einwenden.Wenn man sich allerdings die Mühe erspart, die Profiteure genauzu spezifizieren, sie stattdessen mit den Reichen gleichsetzt und damit dannpolitische Entscheidungen begründet, dann entsteht etwas, das sich in keinerWeise von einer Willkürherrschaft unterscheidet. Wer als Reicher sein Geldin Unternehmensanleihen von Lehman Brothers angelegt hat, konnte vonder Finanzkrise nicht nur nicht profitieren, er hat darüber hinaus sogar seinGeld verloren.Über Statistiken kursieren viele Witze. Einer dieser Witze lautet: Wenndie Hälfte einer Personengruppe in 70 Grad heißem Wasser badet und dieandere in 0 Grad kaltem, dann baden alle im Mittel bei angenehmer Temperatur.Selbstverständlich verfügen die Statistik und die mit ihr verwandteWahrscheinlichkeitsrechnung längst über verfeinerte Methoden, solcheZustände exakter zu bestimmen. Dessen ungeachtet können Statistik undWahrscheinlichkeitsrechnung nur Aussagen über große Zahlen, niemalsaber über Einzelfälle machen. Mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung kannman den Verkehrsfluss an einem Ferienwochenende optimieren, aber sieversagt schon bei einem Ereignis, wie zum Beispiel einem Atomunfall. EinHauptgewinn im Lotto ist wenig wahrscheinlich, durch die große Zahl derMitspieler gibt es aber fast an jedem Wochenende einen Hauptgewinner.Sobald man also Ergebnisse der Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnungauf Einzelfälle anwendet, erweisen sich die Verfahren als ungenügend.Dies ist eigentlich eine Binsenweisheit, doch in vergesellschaftlichtenGemeinwesen wird Politik immer wieder gegen diese Erkenntnis betrieben.Würde man an einer belebten Straßenecke jeden zehnten Mann verhaften,da zehn Prozent der Männer Straftaten begehen, dann würde dies in einemgeordneten Rechtswesen zumindest einen Skandal hervorrufen, weil es alleRegeln des Rechtsstaats unterliefe. Verfahren dieser Art gehören jedochzum täglichen Brot der Politik, und honorige Sachwalter des Politischen541


treten in unzähligen Talkshows auf, um solchen Unsinn mit größtem intellektuellemAufwand immer wieder zu vertreten. Benutzt man statistischeVerfahren, um gesellschaftliche Gebilde zu steuern und fehlt darüber hinausein fester und unbestrittener Wertekanon als Richtschnur, dann opfert manzwangsläufig die Freiheit zugunsten normierter Menschen.Was ist ein normierter Mensch? Wie überall sonst dient die Normierungdazu, Verschiedenes kompatibel zu machen. Durch Normierung vonSchrauben, Muttern und Schraubenschlüsseln kann man die Verbindungfester Teile auf einfache Weise bewerkstelligen, ohne jeden Einzelfallgesondert prüfen zu müssen. Beim Menschen wird die Normierung durchvorgeschriebene Verhaltensweisen erreicht. Am besten kann man sich diesam modernen Massenverkehr verdeutlichen. Dieser wäre ohne eine detaillierteVerkehrsregelung undenkbar. Ohne die verbindliche Vorschrift, aufwelcher Straßenseite der Verkehrsteilnehmer zu fahren hat, würde der Verkehrsofort zusammenbrechen. Die Regelungen gehen jedoch weit darüberhinaus. So gibt es ein ganzes Regelwerk, das von Vorfahrtsregeln bis zuGeschwindigkeitsbegrenzungen der unterschiedlichsten Art reicht. Wer sichnicht an diese Regeln hält, wird bestraft, möglicherweise sogar von derTeilnahme am Straßenverkehr ausgeschlossen. So unbestritten die Notwendigkeitvon Verhaltensnormierungen im modernen Straßenverkehr ist, soheftig kann darüber gestritten werden, wie weit die Regelungen zu gehenhaben.Damit befinden wir uns im Zentrum eines politischen Problems vongroßer Tragweite. Aus der isolierten Sicht des Straßenverkehrs wäre esvermutlich sinnvoll, nicht nur klare Regeln zu haben, sondern sie auchlückenlos zu überwachen, damit Übertretungen sofort geahndet werdenkönnen. Also zum Beispiel feste Geschwindigkeitsregelungen mit sofortigerstrenger Sanktion bei Übertretungen. Dies ist eine Forderung vieler ökologischorientierter Menschen. Eine solche Maßnahme würde nicht nur vieleMenschenleben retten, sie würde zudem die Verbrennung fossiler Treibstoffeverringern. Die solches fordernden Menschen halten die unbestreitbarenVorteile für evident und betrachten Einwände dagegen generell alsinteressengesteuert.Tatsächlich beruhen viele dieser Einwände auf einfach zu durchschauendenInteressen. In einem solchen Umfeld würde das Auto seine »magischeKraft« verlieren und zu einem gewöhnlichen Gebrauchsgegenstandmutieren, der sich noch in Fragen der Bequemlichkeit und Qualität, abernicht mehr in Fragen der Geschwindigkeit, Sportlichkeit usw. von anderenunterscheiden würde. Die Produktion von Autos wäre ein technisch weitgehenduninteressanter Prozess, der von deutlich weniger Menschen zufriedenstellendbewältigt werden könnte. Die heute technisch führenden Unternehmenwürden ihre Sonderstellung weitgehend verlieren, viele Arbeitskräftewürden freigesetzt werden. Darauf beziehen sich die meisten Ein-542


wände gegen eine umfassende Regelung des Straßenverkehrs. Die Interessenvertretersind hier vor allem die betroffenen Hersteller und dieGewerkschaften. Bis hierher ist die strittige Frage im eigentlichen Sinnenicht politisch. Im betrachteten Zusammenhang sind die Argumente derBefürworter strenger Regelungen den Argumenten ihrer Gegner bei Weitemüberlegen. Doch haben wir damit das wirkliche Problem erkannt?Politische Debatten entzünden sich im Regelfall an solchen Einzelfragenund zweckrationale Entscheidungen werden bestenfalls durch interessengesteuerteGegenpositionen be- oder verhindert. Andere Erwägungen findenkaum mehr Beachtung. In modernen Gesellschaften mit industrieller Produktiongibt es jedoch eine Unzahl ähnlicher Konstellationen wie im Straßenverkehr,ja, man kann sogar sagen, das gesamte Leben spielt sich ingeregelten Räumen ab. Ob in der Ausbildung oder im Beruf, aber auch beiVeranstaltungen aller Art, immer bewegt man sich in extrem geregeltenRäumen, in denen vorgegebene Verhaltensnormen einzuhalten sind.Die genannten Fälle lassen sich alle auf das gleiche Phänomen zurückführen.Es sind Ereignisse, an denen jeweils Massen beteiligt sind. ModerneGesellschaften sind Massengesellschaften, und niemand hat das klarererkannt als die Nationalsozialisten, die diese Erkenntnis mit furchtbarerKonsequenz umgesetzt haben. Massengesellschaften funktionieren umsobesser, je mehr die Menschen konditioniert, das heißt auf ein bestimmtesVerhalten eingestellt sind.Es ist sicher kein Zufall, dass der Siegeszug der Psychologie und der ihrverwandten Wissensgebiete begann, als die Massengesellschaft zur unumkehrbarenTatsache geworden war. Während Freuds Ansatz noch den Fokusauf die Heilung des Individuums legte, die aber im Wesentlichen auch nurdarin bestand, den seelisch Kranken wieder »gesellschaftsfähig« zu machen,ihn also an normierte Verhaltensweisen anzupassen, ging der bald schonsehr populäre Behaviorismus weit darüber hinaus, indem er das menschlicheVerhalten zum zentralen Gegenstand seiner Untersuchungen erhob unddamit zugleich Mittel fand, menschliches Verhalten gezielt zu beeinflussen.Ein geradezu ideales Mittel zur Beeinflussung menschlichen Verhaltensstellen die Massenmedien dar. Ursprünglich verstand die Presse, als frühestesOrgan der modernen Massenmedien, ihre Aufgabe darin, das freieWort und die Diskussion freier Menschen zu fördern, indem sie dafür eineÖffentlichkeit herstellte. Auf diese Weise wurde die Meinung aus demDunkel des Privaten in die Helle der Öffentlichkeit gestellt. Diese Aufgabeist in den modernen Demokratien, die das freie Wort problemlos ermöglichen,mehr oder weniger an den Rand gedrängt worden, wenngleich sienicht völlig verschwunden ist. Die Massenmedien »machen« weniger dieMeinungen, stattdessen bieten sie dem vorherrschenden Massengeschmackeine Ebene der Artikulation, die ihm die Kraft einer Naturgewalt verleiht.Im Unterschied zur Wahrnehmung in großen Teilen der Öffentlichkeit543


esteht die Gefahr der Massenmedien also viel weniger in der Produktionvon neuen Meinungen als vielmehr in der Verbreitung und Verstärkung derbereits vorherrschenden Meinungen. Damit forcieren sie als Katalysator dieKonditionierung von Menschen. Eine vollständige Konditionierung derMenschen würde einerseits die Abläufe in einer Massengesellschaft erheblichvereinfachen, hätte jedoch andererseits einen vollständigen Verlustihrer Freiheit zur Folge.Die induktiv fortgeschriebene Optimierung lokaler Abläufe kann nur inder vollständigen Konditionierung der Menschen enden. Das ist wenigerevident, und doch liegt hier das eigentlich politische Problem, das weder imFokus der Öffentlichkeit noch der verschiedenen politischen Gruppierungensteht. Eher scheint es, als arbeiteten die sich als fortschrittlich verstehendenpolitischen Gruppierungen anstatt den Raum der Freiheit zu suchen, miterheblicher Kraft an der weiteren Konditionierung des Menschen. DieSicherheit, mit der sie vorgeben, das wahre Wissen über die Zusammenhängezu haben, ruft Erschrecken hervor. Die Vehemenz, mit der sie ihreForderungen durchzusetzen versuchen, gibt einen Vorgeschmack auf das,was uns blüht, wenn das Argument der Straße den politischen Raumerobert.Dabei geht es nicht mehr um die Beförderung von irgendeiner Art derFreiheit, sogar die immer wieder beschworene Demokratie wird in zunehmenderWeise vom besonders entschiedenen Auftreten der Protagonistendes »richtigen Weges« ausgehebelt und durch Minderheitsmeinungendominiert. Noch für Hegel galt als Selbstverständlichkeit: »Die Weltgeschichteist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit − ein Fortschritt, denwir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben.« 13 Davon kann lange schonkeine Rede mehr sein. Fortschritt bedeutet heute ein Fortschreiten auf demWeg in die vollständige Vergesellschaftung des Menschen und damit inseine zunehmende Konditionierung, bei der nicht nur die Freiheit selbst,sondern das Bewusstsein von Freiheit überhaupt droht, auf kaum wahrnehmbareWeise ausgelöscht zu werden.In Massengesellschaften kann ein Bewusstsein von Freiheit nur dannaufrechterhalten bleiben, wenn man sich mit größter Anstrengung explizitdem Problem der Freiheit widmet. Eine politische Haltung, die sich derFreiheit verpflichtet fühlt, kann ihrer Natur nach nicht darin bestehen, denMenschen die richtigen Wege zu ihrem Glück aufzuzeigen. Wer vorgibt,dies zu können, kann der Freiheit nicht verpflichtet sein. Der Pfad der Freiheitist immer ein Pfad mit vielen Unwägbarkeiten, der vieles, aber keineSicherheit geben kann. Das Richtige nicht zu kennen schließt jedoch keineswegsaus, vom Falschen zu wissen. In diesem Sinne bleibt einer politischenHaltung, der an der Freiheit etwas liegt, nur der Weg, sich dem13G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke in 20 Bänden, Band 12,Frankfurt am Main 1970, S. 32544


zunehmenden Drang zu einer weiteren Vergesellschaftung entschiedenentgegenzustellen.Das bedeutet konkret, die heute übliche Vorgehensweise auf den Kopfzu stellen. Immer dann, wenn die Rationalität einer geforderten Maßnahmeals zwingend erscheint, ist besonderes Misstrauen angebracht. Der Zweckrationalitätist eine entschiedene Orientierung an Freiheitsmaximen entgegenzusetzen.Um den Stand zu gewinnen, der Widerstand erst möglichmacht, kommt es in erster Linie darauf an, ein Bewusstsein von Freiheit zugewinnen, und das ist vor allem eine Frage des Kopfes. Handeln besteht vorallem im Miteinander-Reden, im Versuchen, im Scheitern, im erneutenVersuchen und manchmal auch im Erfolgreich-Sein. Immer besteht es ineinem Neuanfang, niemals in der Verwaltung von Sicherheit. Die Protagonistender endlich notwendigen Tat können meist nur schlecht die hinterihren Taten lauernden Herrschaftsansprüche verbergen.Fragen wir uns, welche Verbesserungen unseres Lebens sich ergeben,wenn in Stuttgart kein neuer Bahnhof gebaut wird, wenn unsere Atomkraftwerkeabgeschaltet werden, dafür aber Windräder die Landschaft inunerträglichster Weise verschandeln, wenn wir zwar genaueste Vorschriftenfür die Neigung unserer Dächer einhalten müssen, diese aber von hässlichenSolarmodulen verdeckt werden, wenn wir Atommülltransporte mit großemAufwand behindern, der Müll aber dadurch um kein Gran weniger wird,wenn wir uns für rote, gelbe oder grüne Punkte auf Lebensmittelverpackungeneinsetzen, um die Schädlichkeit von Zucker und Fett für die Gesundheiterkennen zu können, wenn wir ganze Verwaltungsstäbe damit beschäftigen,Texte zu entwerfen, die Rauchern die Gefahren ihres Tuns verdeutlichen,wenn wir Gesetze für den Betrieb von Seilbahnen erlassen auch in Gebieten,die keine nennenswerte Erhebung haben, wenn die Länge und Krümmungvon Gewächsen vorgeschrieben wird, damit wir sie als Gurkenerkennen.Bei diesen Anstrengungen geht es um mehr als um Beschäftigungstherapiengelangweilter Beamten und Bürger. Sie zeigen deutlich die Richtungan, in der wir uns bewegen. Die Tendenz dieser Anstrengungen zielt auf dieAuflösung alles dessen, was einmal als Politik Eingang in das europäischeGeistesleben gefunden hat. Der Auflösung des Politischen folgt unweigerlichdie Zerstörung der Freiheit und damit die vollständige Entmündigung.Ein kleines Gedankenspiel soll verdeutlichen, wie eine einzige kleineMaßnahme weit mehr Verbesserungen unserer Lebensverhältnisse bringenwürde, als alle die gerade aufgezählten Punkte zusammengenommen. Esgeht um die Macht der Parteien und das Verhalten der Wähler. Alle westlichenDemokratien sind repräsentative Demokratien, in denen Parteien eineherausragende Rolle spielen. Unzählige Abhandlungen sind geschriebenworden, die mehr oder weniger deutlich nachweisen, dass die Bedeutungder Parteien weit größer ist, als es deren Mitgliederzahl entspricht. Im Jahr545


2006 gab es in Deutschland etwa 1,5 Millionen Parteimitglieder. 14 Die Zahlist seitdem eher noch gesunken, doch kommt es auf höchste Genauigkeithier nicht an. Zur Bundestagswahl im Jahre 2009 gab es ca. 62 MillionenWahlberechtigte. 15 Setzt man die beiden Zahlen in Beziehung, dann warengerade einmal knapp 2,5 Prozent der Wahlberechtigten Mitglieder in einerpolitischen Partei. Offensichtlich ist der Einfluss der Parteien auf die politischeWillensbildung in unserem Land überproportional groß.Zudem sind in den einzelnen Parteien ausgeprägte Hierarchien vorhanden,wobei die Führungskräfte über erhebliche Mittel verfügen, Posten undPfründen zu vergeben, um damit ihre ohnehin schon große Macht nochdeutlich auszuweiten. Zweifellos müssen die Funktionsträger in den Parteiennach demokratischen Regeln gewählt werden, wobei jede Stimme dasgleiche Gewicht hat, doch können die internen Führungszirkel im Regelfallentscheidenden Einfluss auf die Wahl der Funktionsträger ausüben. Ohnenähere Überprüfung, aber den Regeln der Machtverteilung in großen Organisationenfolgend, kann davon ausgegangen werden, dass wahrscheinlichkaum mehr als 200 Personen entscheidenden Einfluss auf die Zusammensetzungder Parlamente und die politischen Richtungen der Parteien haben.Bei dieser Zahl handelt es sich um gerade einmal 0,00032 Prozent derwahlberechtigten Bürger des Landes. Nach allen Regeln der Vernunft musshier von einer oligarchischen Herrschaftsausübung gesprochen werden.Nicht-parteiliche Organisationen, vor allem aber auch die Medien vermögendurchaus einen mäßigenden Einfluss auf die politischen Oligarchen auszuüben,doch kann ernsthaft nicht bestritten werden, dass »man sich kennt«und oft jahrzehntelang zusammenarbeitet.Nun wird gerade in jüngster Zeit vermehrt über die Politikverdrossenheitder Bevölkerung räsoniert, deren Ursachen sicherlich vielfältig, aber auchnicht zuletzt in der Verfilzung des politischen Betriebs zu suchen sind. Inder Vergangenheit gab es zahlreiche Versuche, der drohenden Bürokratisierungder repräsentativen Demokratie entgegenzuwirken, die jedoch allesamtim Sande verliefen. Diese Versuche sollen mit diesen Worten nicht einfachabgetan sein, doch würde deren Reflexion den Rahmen der vorliegendenAusführungen sprengen. Hier soll eine ebenso einfache wie Erfolg versprechendeLösung des Problems dargestellt werden, die zudem noch den Vorteilhat, direkt auf das Unbehagen vieler Bürger am politischen Betrieb zureagieren, der zunehmenden Vergesellschaftung entgegenzutreten undzugleich mehr für das politische Bewusstsein in der Bevölkerung zu tun, alsunzählige Versicherungen unseres politischen Betriebs.Bei Wahlen werden die Wahlberechtigten in zwei Gruppen eingeteilt.Zur ersten Gruppe, sie wird nachfolgend Gruppe A genannt, zählen dieje-14Die Zahl ist zusammengerechnet nach Angaben in: Deutscher Bundestag, Drucksache 16/12500 vom26.03.2009, S. 9 und S. 3615Die Zahl ist entnommen: www.bpb.de, Stichwort: Wahlberechtigte 2009546


nigen, die eine gültige Stimme für eine Partei abgegeben haben, die amEnde mehr als 5 Prozent der gültigen Stimmen auf sich vereinigen kann.Zur zweiten Gruppe, im Folgenden Gruppe B genannt, zählt der Rest, dersich aus Nicht-Wählern, ungültig Wählenden und all jenen zusammensetzt,die eine Partei mit einem Stimmenanteil von weniger als 5 Prozent gewählthaben. Die Stimmen bzw. potenziellen Stimmen der Gruppe B entfallenvollständig und werden auf die Parteien der Gruppe A verteilt, und zwar indem Verhältnis der Stimmenverteilung innerhalb der Gruppe A.Dieses mit der größten Selbstverständlichkeit seit Jahrzehnten praktizierteVerfahren erregt kaum öffentliche Aufmerksamkeit, obwohl es nichtnur die Meinungen von Minderheiten einfach ignoriert, sondern sogarumdeutet, und zwar offensichtlich in einem diesen entgegenstehenden Sinn.Die Wähler der »sonstigen Parteien« (das sind die Parteien, die deutlichweniger als 5 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen erhalten) drückeneinen Protest aus, der sich gerade gegen die bestimmenden Parteien richtet,und das sind die mit den meisten Stimmen. Durch die Umverteilung ihrerStimmen wird ihr Wollen gerade in sein Gegenteil verkehrt, denn ihreStimmen werden wie beschrieben jenen zugerechnet, gegen die sie geradeprotestiert haben. Bezieht man in die Betrachtung noch diejenigen Parteienein, die nahe der 5-Prozent-Klausel liegen, dann kann die gängige Praxissich sogar erheblich auf die Bildung der Regierung auswirken.Der Umgang mit den durch Wahlen ausgedrückten Meinungen bestätigtbis ins Einzelne die oben aufgestellten Behauptungen. In die Betrachtungwird nur ein bestimmtes Meinungsraster einbezogen. Die Wähler der»sonstigen« Parteien wollen eine besondere Form der Unzufriedenheit mitden vorherrschenden Parteien zum Ausdruck bringen. Deshalb werden sielandläufig mit dem Begriff »Protestwähler« versehen, ihre Stimmen werdenaber jenen Parteien zugerechnet, gegen die sie protestieren. Die Nicht-Wähler werden ebenfalls ignoriert, obwohl sie als Gruppe zahlenmäßigstärker sind als die Wähler jeder einzelnen Partei. Der Rat, die Nicht-Wählersollen doch wählen gehen, kann nur als Verhöhnung verstanden werden.Auch die Meinung, man könne es nicht jedem recht machen, verfehlt ihrZiel, weil sie noch nicht einmal den Gedanken aufkommen lässt, wie man esdenn besser machen könnte. Die folgende Tabelle zeigt die quantitativenZusammenhänge 16 :16Alle Daten zur Bundestagswahl 2009 sind entnommen und umgerechnet worden aushttp://www.bundeswahlleiter.de547


Bundestagswahl2009MioProzWahlberechtigte 62,2 100,0Gültige Wähler 40,8 65,6Ungültige Wähler 3,2 5,1Nicht-Wähler 18,2 29,3Tabelle 5.3.1Als gültige Wähler werden alle jene Wähler bezeichnet, die eine gültigeStimme für eine im Bundestag vertretene Partei abgegeben haben. Alsungültige Wähler alle jene, die entweder eine ungültige Stimme oder eineStimme für eine Partei, die nicht im Bundestag vertreten ist, abgegebenhaben. Fassen wir die »ungültigen Wähler« und die Nicht-Wähler zurGruppe der NBWB (= nicht berücksichtigte Wahlberechtigte) zusammenund betrachten das Wahlergebnis der Bundestagswahl 2009 unter demoffiziellen Aspekt sowie unter Einschluss der Gruppe NBWB als homogeneGruppe:Wahl 2009 A B C DCDU/CSU 33,8% 239 23,6% 147SPD 23,0% 146 16,1% 100FDP 14,6% 93 10,1% 63Grüne 10,7% 68 7,5% 47Linke 11,9% 76 8,3% 51NBWB 34,4% 214Tabelle 5.3.2Die Spalten A und B enthalten die offiziellen Prozentzahlen bzw. Sitze dereinzelnen im Bundestag vertretenen Parteien. Die Spalten C und D bezeichnendie analogen Werte, würde die Gruppe NBWB als Partei berücksichtigt.Etwa ein Drittel der Wahlberechtigten blieb bei der Bundestagswahl2009 unberücksichtigt (bei Regionalwahlen ist der Anteil oft noch erheblichhöher!), ohne dass dies besondere Aufmerksamkeit hervorgerufen hätte.Das ist eigentlich erstaunlich. Den Parteien entgehen durch eine geringereWahlbeteiligung gewisse Finanzmittel (für die ersten 4 Millionen Stimmenerhält eine Partei 85 Cent je Stimme, danach 70 Cent 17 ). Diese Verluste 1817Vgl. http://www.bpb.de548


stehen aber in keinem Verhältnis zur Einbuße an Macht, die die Parteienertragen müssten, wenn die Gruppe NBWB beim Wahlergebnis berücksichtigtwürde. Sicherlich würden die Mitglieder der Gruppe NBWB, soheterogen diese auch sein mag, kaum einfach das Ergebnis der anderenWähler repräsentieren. Deshalb gibt es keinen echten Anreiz für die Parteien,sich zum Beispiel um die Gruppe der Nicht-Wähler zu bemühen.Halten wir fest: Der Wille etwa jedes dritten der Wahlberechtigten − inZahlen ausgedrückt sind dies mehr als 20 Millionen Menschen! − wirdeinfach ignoriert, und es gibt auch keine erkennbaren Anstrengungen, andiesem Zustand etwas zu ändern.Bestünde die Gruppe NBWB einfach aus unpolitischen Menschen, diezu faul sind, den Weg zur Wahlurne zurückzulegen, dann gäbe es kaumvernünftige Möglichkeiten, den Zustand zu ändern. Dies ist jedoch nicht derFall. Jedes siebte Mitglied der Gruppe NBWB hat ja gewählt, allerdingseine Partei, deren Stimmen durch die 5-Prozent-Klausel verloren gegangensind. Bei diesen Mitgliedern müssen wir eher von politisch besonders interessiertenMenschen ausgehen. Die Zahl ist mit mehr als 3 Millionen Wahlberechtigtensicher um einiges höher als die Zahl derjenigen, die durch dieverschiedensten Aktionen immer wieder Aufmerksamkeit vonseiten derÖffentlichkeit erfahren und als vorbildliche Repräsentanten der modernenBürgergesellschaft gelten.Vermehrte Anstrengungen der Gruppe der Nicht-Wähler, Gehör zu finden,weisen eher auf mehr denn weniger politisches Engagement als bei derrestlichen Bevölkerung hin. 19 Seit 1990 gibt es in Deutschland einen Verein,der sich »Partei der Nichtwähler« nennt und sich aktuell darum bemüht, alsPartei zugelassen zu werden. In den Grundsätzen heißt es: »Die Partei derNichtwähler versteht sich nicht als Programmpartei, vielmehr ist uns darangelegen, gute und vernünftige Programminhalte − unabhängig von welcherPartei − im Sinne der Bürger umzusetzen.« 20 Zweifellos sind das hehreZiele, sie lösen sich jedoch sofort in Aporien auf. Man will kein Programm,sondern Programminhalte und übersieht, dass ein Programm unabhängigvom Wollen der Beteiligten gerade durch eine Zusammenfassung von Programminhaltenentsteht. Durch die Bezeichnung einer Eiche als Bucheentsteht noch lange keine Fichte. Hier herrscht mehr Ratlosigkeit als klarestrategische Ausrichtung. Dessen ungeachtet bleibt aber eine tiefe Unzufriedenheitmit dem bestehenden Politikbetrieb erkennbar, die insoferndurchaus politisch ist, als sie sich der herrschenden Ignoranz der Gruppe derNicht-Wähler gegenüber entschieden entgegenstellt.18Die möglichen Verluste bei der Bundestagswahl 2009 erreichen für alle Parteien zusammen eineHöhe von ca. 15 Millionen Euro.19Weiter oben wurde auf ein interessantes Buch zur Bundestagswahl 2009 hingewiesen, in dem dasNicht-Wählen als ernstzunehmende Alternative dargestellt worden ist. Vgl. Gabor Steingart, DieMachtfrage: Ansichten eines Nichtwählers, München 200920http://www.parteidernichtwaehler.de/programm.php549


Durch Parteibildungen gleich welcher Art kann man dem hinter derGruppe der Nicht-Wähler stehenden Problem nicht gerecht werden. DieseGruppe zeichnet sich vor allem durch ihre Heterogenität aus. Jeder Versuch,sie zu homogenisieren, führt zu einer Contradictio in adjecto und landetschließlich wieder genau bei jener Homogenisierung des Heterogenen, wiesie die etablierten Parteien schon seit Jahrzehnten betreiben. Wenn man ihrgerecht werden will, dann nur durch Abbildung ihrer Heterogenität. Dochwie könnte dies geschehen?Ohne den Anspruch auf ein sofort umsetzbares Konzept zu erheben,seien einige Gedankenspiele angestellt, die in die richtige Richtung zuführen scheinen, weil sie nicht nur das Problem der Gruppe der NBWBlösen, sondern darüber hinaus das Politische in unserem saturierten Wohlfahrtsstaatin einer Weise stärken könnten, die das Engagement aller in derÖffentlichkeit so hoch gelobten Bürgerbewegungen weit übertreffen würde.Man könnte die Stimmen der NBWB so werten, dass eine Stimm- undSitzverteilung wie in den Spalten C und D von Tabelle 5.3.2 zustande käme.Nun hätte man die Aufgabe zu lösen, wie sich die der NBWB zustehendenSitze mit realen Personen besetzen ließen. Doch auch dies ist denkbar einfach.Man brauchte die Sitze nur in der Bevölkerung zu verlosen, wobeiverschiedene Modelle vorstellbar sind, die man jeweils einer genauen Prüfungunterziehen könnte.Wenn wir den Begriff »Losentscheid« im Zusammenhang mit politischenWahlen vernehmen, dann schrecken wir zurück, weil wir den Wahlaktals dem Losentscheid entgegenstehend betrachten. Seiner Natur nachentspricht der Wahlakt einem aristokratischen (Aus-)Wahlverfahren, beidem die Besten gesucht werden. In einem streng verstandenen Sinn ist diesin einer Demokratie gerade nicht erwünscht, weil ja nicht die Besten, sonderndas Volk herrschen soll.Aristoteles hat dies in aller Schärfe erkannt, wenn er feststellt: »Es giltals demokratisch, die Ämter durch Los zu besetzen, dagegen als oligarchisch,die Inhaber zu wählen.« 21 Montesquieu beruft sich ausdrücklich aufdiese Stelle und stellt dazu fest: »Die Abstimmung durch das Los entsprichtdem Wesen der Demokratie, die durch Wahl dem der Aristokratie.« 22 Rousseauberuft sich schließlich auf das Zitat bei Montesquieu und stellt dazulapidar fest: »Damit stimme ich überein.« 23Es gibt also keinen prinzipiellen Grund, an der Vereinbarkeit vonDemokratie und Losentscheid bei Wahlen zu zweifeln. Der Zweifel wirdeher aus einer gegenteiligen Haltung heraus genährt, wenn nämlich diePlanbarkeit von Posten und Machtstellungen, also die Herrschaft von Oligarchengefährdet ist. Dies spricht jedoch eher für als gegen einen Losent-21Aristoteles, Politik, 1294b22Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Buch II, <strong>Kapitel</strong> 2, Hervorhebungen im Original23Jean-Jacques Rousseau, Gesellschaftsvertrag, Buch IV, <strong>Kapitel</strong> 3, Von den Wahlen550


scheid. Nachdenklich stimmen sollte dabei auch die Haltung der modernenBürgerbewegungen, die das Zepter der Demokratie gerne schwingen, aberwenig dazu beitragen, deren Bedeutung zu stärken. Fassen wir die Überlegungenzusammen:Die Berücksichtigung von Losverfahren bei politischen Wahlentscheidungenhätte eine Stärkung und keine Schwächung des demokratischenGedankens zur Folge, unvereinbar mit ihm ist sie keineswegs.Sehen wir uns im Folgenden einige Vor- und Nachteile des vorgeschlagenenVerfahrens genauer an. Zwei gravierende Vorteile springen unmittelbarins Auge. Zum Ersten würden Minderheitenmeinungen erheblichbesser berücksichtigt als bisher, schon allein dadurch, dass wir sie überhauptbeachten und nicht einfach ignorieren würden. Dies kann in seinerBedeutung schon deshalb kaum überschätzt werden, weil die Behandlungvon Minderheiten eine zentrale Fragestellung einer jeden Form von Demokratieund Freiheit darstellt.Zum Zweiten hätten wir der ungehemmt sich ausbreitenden Parteienherrschafteinen Riegel vorgeschoben, ohne die Parteien selbst dabei fundamentalinfrage zu stellen. Der Grundsatz: »Die Parteien wirken bei derpolitischen Willensbildung des Volkes mit« 24 , kann angesichts der inDeutschland geltenden realen Situation nur als Euphemismus verstandenwerden. Ende 2007 gehörten wie gesagt knapp 2,5 Prozent der Wahlberechtigteneiner der im Parlament vertretenen politischen Parteien an, 25wobei fast die Hälfte aller Mitglieder keinerlei Aktivitäten in ihrer Parteientfaltet. 26 Setzt man die Größe des Einflusses der Parteien ins Verhältnis zuihren aktiven Mitgliedern, dann entsteht ein so großes Missverhältnis, dassAbhilfe dringend angeraten ist.Unter dem Stichwort »Nomenklatura« findet sich in Wikipedia dasnachfolgende interessante Zitat: »Die Begriffe ›Nomenklatura‹ (alsGesamtheit der Funktionäre) bzw. ›Nomenklaturkader‹ entstammen demSED-Sprachgebrauch für Führungskräfte aller Art. Die Bezeichnung lässtdarauf schließen, dass Führungs- und Einflusspositionen nur mit Personenbesetzt wurden, die in der entsprechenden Nomenklatur als linientreu undparteiergeben gelistet waren.« 27 Wer würde die verblüffend ähnlich wirkendenMechanismen auch in den demokratischen Parteien westlichenZuschnitts bezweifeln?Da die innerparteilichen Abläufe von außen kaum verändert werdenkönnen, wäre es umso wichtiger, die Macht der Parteien wenigstens bei denWahlen zu begrenzen und mit der Gruppe der NBWB ein Gegengewicht zugeben. Weil von den etablierten Parteien keine Aktivitäten in dieser Rich-24Grundgesetz, Artikel 2125Die Zahlen sind entnommen und umgerechnet aus: http://www.bpb.de26Vgl. dazu: Fast die Hälfte sind Karteileichen, Welt-Online, 06.12.201027www.wikipedia.de, Stichwort: Nomenklatura, Hervorhebungen im Original551


tung zu erwarten sind − wer gibt schon gerne lieb gewordene Privilegienfreiwillig auf? −, wäre hier eine Möglichkeit, echten Bürgersinn zu zeigen.Die Auslosung der virtuellen Sitze der Gruppe der NBWB würde sicherlichnicht alle unsere politischen Probleme lösen, aber das politische Koordinatensystemin Richtung zu mehr Freiheit und Demokratie verschieben.Was aber wären die Nachteile des vorgeschlagenen Verfahrens? Würdeman einen Vertreter der Nomenklatura befragen, dann erhielte man sicherlichdie Antwort, dass dieses Verfahren die Handlungsfähigkeit der Regierungin unzulässiger Weise beeinträchtigen würde. Unabhängig von derFrage, ob das stimmt, weist das Argument auf ein seit Langem bekanntesProblem hin. Nach dem Grundgesetz gilt: »Die Abgeordneten des DeutschenBundestages […] sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge undWeisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.« 28 In denParlamenten wird jedoch bei den meisten Entscheidungen de facto einFraktionszwang ausgeübt, der das Regierungshandeln deutlich vereinfacht,aber eben auch im Widerspruch zum Grundgesetz steht.Der scheinbare Nachteil verkehrt sich schnell in sein Gegenteil, weileine größere Gewähr für Gesetzestreue unzweifelhaft ein Vorteil ist. DieSteine auf dem Weg des Regierungshandelns sind in Wahrheit wohlüberlegteSchwierigkeiten der demokratischen Struktur, deren Restaurierungdem Gemeinwesen nur gut tun kann. Politische Entscheidungen könntennicht mehr so einfach in Hinterzimmern zwischen den (wenigen) Führungskräftender Parteien ausgekungelt und von den Abgeordneten einfach abgenicktwerden, sondern müssten sich weit mehr dem Licht der Öffentlichkeitstellen. Die monolithischen Blöcke von Regierung und Opposition wärenaufgebrochen, es ginge nicht mehr in erster Linie um die Zustimmung zueiner bestimmten Politik. Im Gegenteil, die Regierung müsste sich ungleichstärker als bisher um die Zustimmung zu einzelnen Vorhaben bemühen− eine kaum zu überschätzende Verbesserung der politischen Kultur inunserem Lande. Wie leicht zu erkennen ist, würde auch der Einfluss derzahllosen Lobbyisten entscheidend zurückgedrängt werden. Denen würde esnicht mehr genügen, die »Meinungsführer« der einzelnen Parteien zu beeinflussen,sie müssten einen erheblich größeren Aufwand betreiben.Je mehr man sich mit der Frage auseinandersetzt, desto klarer zeigensich die Nachteile des vorgeschlagenen Verfahrens vor allem für den etabliertenpolitischen Betrieb, dessen Arbeit weit weniger störungsfrei ablaufenwürde, weil ohne besondere Verordnung, Kontrolle oder sonstige bürokratischeMaßnahme plötzlich die im Grundgesetz geforderte Unabhängigkeitder Abgeordneten in erheblich größerem Umfang gewährleistet wäre.Wer dennoch behauptet, durch das vorgeschlagene Verfahren würde dieArbeitsfähigkeit der Parlamente beeinträchtigt, der hat mit seiner Meinungden Boden unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung verlassen.28Grundgesetz, Artikel 38552


Stichpunktartig seien noch einige andere Vorteile des vorgeschlagenenVerfahrens erwähnt, die in ihrer Summe durchaus beachtenswerte Auswirkungenhätten. Ganz vorne steht die Notwendigkeit für die Parteien, sichum alle Bürger zu bemühen, weil sich die Zahl der zu der Gruppe NBWBzu zählenden Personen im Gegensatz zur bestehenden Regelung unmittelbarauf die Arbeit der Parteien auswirken würde. Damit würde das Führungspersonalvon der Basis der Parteien weit mehr in die Verantwortunggenommen werden, weil der Ausschlag des Wählerwillens eine größereAmplitude hätte. Die zweifellos deutlich gestärkte Öffentlichkeit kann inihren Auswirkungen kaum überschätzt werden. Die größere Schwierigkeitbei der Durchsetzung politischer Vorhaben würde sich insgesamt mäßigendauf die Flut von Verordnungen und Beschlüssen auswirken, was demGemeinwesen nur gut tun könnte. Die erschwerten Möglichkeiten zur Kungeleihätten ganz sicher eine Reduktion von »Klientelgesetzen« zur Folge,bei denen sich die regierenden (Koalitions-)Parteien nach dem Motto »EineHand wäscht die andere« gegenseitig besondere Wohltaten zukommenlassen. Die Besetzung von Abgeordnetenplätzen durch Losentscheid, derkein expliziter Wählerwille entspricht, würde sicherlich nicht alle Problemedes politischen Betriebs lösen, aber sie würde sich in kaum zu überschätzenderWeise auf das politische Klima im Land auswirken, obwohl derGedanke keinesfalls revolutionär, sondern bestenfalls mäßig reformerischist. Was immer man gegen den Vorschlag einwenden kann, der Mündigkeitder Bürger im Lande steht er nicht entgegen.Alleine die Tatsache, dass Vorschläge der vorliegenden Form in derÖffentlichkeit nicht oder bestenfalls kaum wahrnehmbar diskutiert werden,ist ein deutlicher Hinweis auf den Verlust von Freiheit, aber auch vonDemokratie. Zwar gab es gerade bei der letzten Wahl zum BundespräsidentenBestrebungen, ihn vom Volk statt von der Bundesversammlung, dieja weitgehend auch nur ein Abbild der Parteienrepräsentanz in den Parlamentendarstellt, wählen zu lassen. Doch ist auch dies weniger als der halbeWeg zu dem hier Gemeinten. In einem Wahlkampf könnte das höchste Amtim Staat, das aus gutem Grund prinzipiell kein Parteiamt ist, Schaden nehmen.Viel demokratischer und der eigentlich gewünschten Neutralität desAmtes angemessener wäre es auch hier, die Wahl durch vom Los bestimmtenBürgern des Landes vornehmen zu lassen. Der reinen Demokratie eignenin der Tat viele ernsthafte Mängel, wie hier an vielen Stellen nachgewiesenworden ist. Die Mängel einer ungehemmten oligarchischen Machtausübungdurch Parteien, noch dazu in einem ausufernden Interessenstaat,stellen für Freiheit und Demokratie jedoch eine weit größere Gefahr dar.553

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