Heimatfilm - Sissy
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Heimatfilm - Sissy
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dvd<br />
Sex und gewalt und die<br />
Sehnsucht nach liebe<br />
von Jan Gympel<br />
Eigentlich ist Peter Kern seit jahrzehnten eine feste Größe im deutschsprachigen Kino. Als Schauspieler,<br />
aber in mindestens dem gleichen Maße auch als Filmemacher. Doch wie viele seiner Werke sind wirklich<br />
präsent, zumal außerhalb seiner österreichischen Heimat? Sind seine Arbeiten zu quer und vielleicht auch<br />
zu queer, um in die Kinos zu kommen und im Fernsehen zu laufen? überprüfen kann man dies an Hand<br />
einiger von Peter Kerns Filmen, die immerhin auf DVD verfügbar sind.<br />
s Es gibt Regisseure, die drehen fleißig Filme, und dies nicht unter<br />
komfortablen Bedingungen, denn sie sind Außenseiter geblieben. Sie<br />
erhalten nicht leicht eine Förderung nach der anderen und einen Fernsehauftrag<br />
nach dem nächsten, haben keine Aufnahme gefunden in<br />
jene Branchenzirkel, wo man sich gern gegenseitig Preise verleiht –<br />
und dennoch bekommen sie nicht einmal als Exoten die ihnen gebührende<br />
Aufmerksamkeit.<br />
Einer dieser ebenso unermüdlichen wie unabhängigen Außenseiter<br />
ist Peter Kern. In den Siebzigern hinterließ der 1949 geborene<br />
Wiener schon dank seines leicht wiedererkennbaren Äußeren – (sehr)<br />
runde Körperformen, rundes Gesicht, Kulleraugen – in vielen Filmen<br />
einen bleibenden Eindruck, ob mit kurzen Auftritten wie als übertölpelter<br />
Blumenhändler in Fassbinders Schwulendrama Faustrecht<br />
der Freiheit oder mit Hauptrollen wie in Walter Bockmayers und Rolf<br />
Bührmanns Frühwerk Flammende Herzen, wo er 1977 an der Seite<br />
von Barbara Valentin – und einer echten Kuh – agierte. Für Letzteres<br />
und für seine Mitwirkung in Hans-Jürgen Syberbergs Hitler – Ein<br />
Film aus Deutschland erhielt Peter Kern den Bundesfilmpreis in Gold.<br />
1975 war er damit bereits als Mitglied des Ensembles von Wim Wenders’<br />
Goethe-Adaption Falsche Bewegung ausgezeichnet worden.<br />
In den Achtzigern begann Kern, der auch bei Hans W. Geißendörfer,<br />
Daniel Schmid oder Helmut Dietl spielte – sehr schön sein Part in<br />
der ersten und wohl besten Kir Royal-Folge als Wirt des einfallslosen<br />
Nouvelle-Cuisine-Restaurants, das von Baby Schimmerlos am Ende<br />
notgedrungen zum neuen In-Lokal hochgeschrieben wird –, selbst<br />
Filme zu drehen. Was bei ihm seither meist bedeutete: Er schrieb,<br />
produzierte und inszenierte sie.<br />
Eine Handvoll Vergnügen – Crazy Boys, 1987 im Berlinale-Panorama<br />
gezeigt, war seine erste Spielfilmregie. Nach eigenem Drehbuch schilderte<br />
Kern die Rettung der angeschlagenen Hamburger Szenebühne<br />
„Pulverfass“ durch eine damals noch relativ neuartige und originelle<br />
Idee: Beim Striptease mal die Rollen zu vertauschen und schmucke<br />
Männer sich zum Vergnügen von Frauen entblättern zu lassen.<br />
In diesem Streifen fanden sich bereits viele Elemente, die für Peter<br />
Kerns Filmschaffen typisch werden sollten. Etwa die Vermischung<br />
von Realität und Fiktion: Kerns Spielfilme spielen gern mit der Wirklichkeit<br />
(allen voran bei der Polit- und Medienfarce Haider lebt, die<br />
Jahre vor dem tatsächlichen Unfalltod des Titelhelden entstand) und<br />
beinhalten oft nahezu phantastische Elemente, die nicht zuletzt aus<br />
einer gewissen Stilisierung oder dem Unwillen zur naturalistischen<br />
Nachinszenierung von Geschichte oder Gegenwart entstehen – so die<br />
Szenen aus der NS-Zeit in Blutsfreundschaft oder die umfangreichen<br />
Sequenzen aus den Kinder- und Jugendjahren der einstigen Starhure<br />
und späteren Huren-Aktivistin Domenica Niehoff in Domenica, die<br />
Kern 1994 einfach im Ambiente der damaligen Gegenwart drehte.<br />
Zugleich inszeniert er bei seinen Dokumentationen auch manches –<br />
mal mehr, mal weniger deutlich. Eigentlich haben alle Regiearbeiten<br />
Peter Kerns etwas Essayistisches, sind souveräne Äußerungen eines<br />
„Blutsfreundschaft“ (2009)<br />
engagierten, da über die Zustände empörten Künstlers, der sich an<br />
Kino- wie andere Konventionen nicht halten mag.<br />
Für gewöhnlich wird in seinen Filmen eine Handlung denn auch<br />
nicht „ordentlich“ – also im gewohnten Ablauf – erzählt, und auch<br />
Portraits oder Biopics zeichnen kein vollständiges Bild der im Fokus<br />
stehenden Personen, ihres Charakters und Schicksals. Peter Kern hat<br />
den Mut zur Lücke, welche die Zuschauer durch ihr eigenes Denken<br />
und ihre eigene Phantasie füllen dürfen, seine Filme lassen Fragen<br />
offen. Die Schilderung eines bedeutenden Moments scheint ihm meist<br />
wichtiger als eine Geschichte detailliert darzustellen.<br />
Eine inhaltliche Konstante in Peter Kerns Filmschaffen ist sein<br />
Interesse für das, was gern – im weitesten Sinne – als „Rotlichtmilieu“<br />
bezeichnet wird: Immer wieder fungieren der Straßenstrich und<br />
gewisse „Etablissements“ als Schauplätze, spielen Stricher, Huren,<br />
Freier, Transvestiten und Transsexuelle wichtige Rollen.<br />
Aber darf man Transvestiten und Transsexuelle denn so einfach<br />
zum „Rotlichtmilieu“ zählen? Natürlich nicht. Doch für Kern sind<br />
diese wie andere Menschen, die sich eher freiwillig oder auch unfreiwillig<br />
im „Milieu“ aufhalten, nicht aus voyeuristischen Gründen von<br />
Interesse, sondern als Außenseiter, dramatischer ausgedrückt: Ausgestoßene<br />
der Gesellschaft. Dies gilt für die schon erwähnte Domenica<br />
Niehoff, die aus desolaten familiären Verhältnissen kam und aus<br />
blanker finanzieller Not ihre Tätigkeit als Sexarbeiterin begann. Es<br />
gilt für die alternden oder bereits alten Kölner Schwulen, die sich rund<br />
um das Szene-Original Mutter Colonia ein Biotop – oder genauer: eine<br />
Ersatzfamilie – geschaffen haben und in Knutschen, kuscheln, jubilieren<br />
portraitiert werden. Und es gilt für den halbwüchsigen Titelhelden<br />
von Gossenkind, der von seiner Mutter beschimpft und verstoßen,<br />
von seinem Stiefvater geschlagen, bestohlen und sogar vergewaltigt<br />
wird, und auf der Straße und dem Straßenstrich eine nicht gute, aber<br />
bessere Heimat gefunden zu haben scheint.<br />
Zwischen diesem Film, den Peter Kern 1991 in seiner damaligen<br />
Wahlheimat Düsseldorf drehte, und dem 2009 in Wien entstandenen<br />
Blutsfreundschaft gibt es einige bemerkenswerte Parallelen: In beiden<br />
Fällen heißt der jugendliche Protagonist Axel und findet Zuflucht<br />
bei einem biederen Mann – in einigen Szenen ähneln die Kleidung<br />
und der Habitus des von Winfried Glatzeder in Gossenkind gespielten<br />
Familienvaters mittleren Alters mit heimlicher Neigung zu Minderjährigen<br />
sogar der Erscheinung des von Helmut Berger verkörperten<br />
betagten Schwulen in Blutsfreundschaft. In beiden Fällen ist das<br />
Glück zwischen dem Jungen und dem Älteren brüchig und daher nur<br />
von kurzer Dauer, letzterer zeigt suizidale Tendenzen, und auch dem<br />
Heranwachsenden winkt kein Happy End.<br />
Den wesentlichsten Unterschied zwischen den beiden Filmen bildet<br />
die „Nazi-Komponente“: Während Rechtsradikale – trotz des Aufflammens<br />
fremdenfeindlicher Gewalt in den frühen Neunzigern und<br />
obwohl jenes Axels bester Freund farbig ist – in Gossenkind gar keine<br />
Rolle spielen, nehmen sie in Blutsfreundschaft eine zentrale Position<br />
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FILMGALErIE 451