KÜNSTLERARCHIVE ALS HERAUSFORDERUNG <strong>FÜR</strong> DIE KULTURWISSENSCHAFTENGertrude Cepl-KaufmannIm August 2008 ist die Stiftung öffentlichen Rechts »RheinischesArchiv für Künstlernachlässe« an die Presse gegangen, um ihrenSammlungsauftrag bekannt zu machen. Die große Resonanzzeigte, dass mit diesem Archiv offenbar ein Desiderat erfülltwurde: die in großer Zahl anfallenden Bestände der Künstler derNachkriegszeit, die es drängt, als Vor- oder Nachlass in die Obhuteines öffentlichen Archivs zu gelangen, wahrzunehmen und eineLösung für den rheinischen Raum zu finden. Doch damit ist nurein erster Schritt getan, denn die Bearbeitung dieser Nachlässemuss ebenfalls gewährleistet sein, damit die Schätze, die einemArchiv anvertraut werden, nicht im Dunkel der Magazine vor sichhin dämmern, sondern wieder ans Licht kommen. Sie müssenerschlossen werden, um der Forschung zur Verfügung stehen zukönnen. Das Kunsthistorische Institut der Friedrich-Wilhelms-UniversitätBonn und das Institut »Moderne im Rheinland« an derHeinrich-Heine-Universität Düsseldorf haben im Vorfeld gemeinsammit dem Initiator Daniel Schütz und dem Stadtarchiv Bonn,in dem das Archiv eine Heimat finden wird, an der Konzeptionierungdes »Rheinischen Archivs für Künstlernachlässe« mitgewirkt,um diese wissenschaftliche Nutzung des entstehendenArchivs von Anbeginn an mit in den Blick zu nehmen. Damitwird, so meinen die Initiatoren und ihre Mitstreiter, auch im Sinnezukünftiger Wissenschaftsentwicklung gearbeitet. Die nachfolgendenBetrachtungen versuchen für dieses zu etablierende Feldeinige Überlegungen anzustellen und in Vorbemerkungen zu vermitteln.Künstlerarchive im WissenschaftsdiskursMit der Realisierung der in unterschiedlichen Regionen zurzeit imAufbau befindlichen Sammlungen von Nachlässen der Künstlerder Region wächst auch der Wissenschaft ein Forschungsbereichvon besonderem quantitativem und qualitativem Format zu.Damit ergeben sich theoretische und methodische Fragen, diehier, im Gespräch mit vergleichbaren Aktivitäten im Saarland,ausgetauscht werden sollten. Meine Vorüberlegungen setzen anunser aller Erfahrung an, stehen aber im Kontext einer Sammlungsidee,die sich von der Initiative des »Instituts für aktuelleKunst« unterscheidet. Das in Bonn ansässige »Rheinische Archivfür Künstlernachlässe«, kurz »RAK« genannt, das der Initiatorund Leiter Daniel Schütz in einem eigenen Beitrag vorstellt, hates sich zur Aufgabe gemacht, die privaten Nachlässe als Pendantzum Werknachlass, der in einem anderen Archiv zu deponierenist, zu sammeln. Damit werden für die Bearbeitung und wissenschaftlicheAuswertung ganz andere Probleme virulent undFragen wichtig. Sie stehen aber zweifelsfrei im unmittelbarenZusammenhang mit den Werknachlässen. Im Folgenden wird esin erster Linie um die Bonner Sammlungsidee und ihre wissenschaftstheoretischenund –praktischen Implikationen gehen.Nicht von ungefähr sind Kassationen das Eingemachte für jedeArchivlehre und erst recht für die Praxis! Sie setzen, ebenso wiedie Bewahrung, einen Entscheidungsprozess voraus. Dies implizierteine theoretische Fundierung, die den Sammelauftrag legitimiert,ihm aber auch eine differenzierte Struktur verpasst. Diesenzu füllen, bedarf es der fachspezifischen Absicherung, in unseremFall einer kunstästhetischen und kunsthistorischen Reflexion.Die gilt besonders für die Werknachlässe. Für beide aber bedarfes darüber hinaus einer metadiskursiven Ebene, die wir in unserenZeiten nicht der Geschichte oder der Soziologie alleine überlassensollten, sondern für den in besonderer Weise eine theoretischeAbsicherung durch die Kulturwissenschaft sinnvoll ist. DerDiskurs um Fragen der Identität und Alterität, um GedächtnisundErinnerungstheorien, nicht zuletzt die Aktualität des Archivbegriffslässt sich in besonderer Weise zur Fundierung der Anlagevon Nachlasssammlungen nutzen. Zur Relevanz der Archivarbeitim Kontext der Gedächtnis- und Erinnerungstheorien lassen sichArgumente und Überlegungen zusammentragen. Nicht zuletzt istzu fragen, welche Ebenen der Öffentlichkeit mitbedacht werdenmüssen. Im Fall einer Kooperation mit Universitäten und Akademienist dies, so zeigt sich, im Besonderen die Lehre mit einergezielten Anleitung zur Nutzung der Archive durch Studierende.- 28 -
Zwölf Aspekte für eine wissenschaftlichangemessene Fundierung von Künstlerarchiven1.Der Begriff »Archiv« lässt sich heute nicht mehr positivistischgebrauchen. Der Begriff »Bewahren« etwa ist in diesem Kontextzwangsläufig obsolet, setzt er doch eine Sicherheit über dasBewahrenswerte und das, was es bedeutet, voraus, die wir garnicht mehr haben können. »Was ist Wahrheit« können wir mitPilatus fragen und wie er den impliziten Zweifel nähren und seineempiriokritizistische Grundhaltung wiederholen, dass uns dieSicherheit über die Kenntnis vom »Wahren« des »Bewahrten«nicht geboten ist und nicht gut ansteht. Im besten Falle müssenwir den Zweifel und die Skepsis zur Methode machen und immerwieder neu überprüfen und fragen, was wir denn da machen,wenn wir Entscheidungen treffen, etwas zu kassieren oder zubewahren.2.Pierre Nora hat uns klargemacht, dass das Verständnis vonGeschichte vom »Geschehenen« auf die Totalität des gesellschaftsgebundenen»Erinnerten« verlagert werden muss. Wirwissen, dass das, was wir in unseren Archiven gehortet habenoder horten wollen, uns zwar die Wahrheit der Geschichte nichtmehr sichert, aber wir wissen stattdessen, dass wir mit einersolchen Sammeltätigkeit eine vorweg gedeutete Geschichte weg -geschlossen haben. Wie der Konstruktcharakter für die Ent -stehung von Geschichte gilt, muss diese Vorstellung bei derretrospektiven Suche nach dem, was im Archiv lagert, ebensogelten. Mit Nora hat sich der Begriff von den »lieux de mémoire«durchgesetzt. Sie sagen uns, dass Geschichte in einer spezifischenWeise nicht nur konstruiert ist, sondern auch als Konstruktaufzufinden ist. Hagen Schulze und Étienne François haben 2001solche Erinnerungsorte gleich dreibändig für die Deutsche Identitätausgemacht und analysiert, was sich mit ihnen aufsuchen lässt.Archive sind in einem besonderen Maße Quellen einer solchen»mémoire«, weil sie ein höheres und differenzierteres Maß anEntdeckbarem aufweisen als die steinernen Monumente, auf diesich die lieux de mémoire-Forschung zunächst bezog. In diesemSinne erfüllt das Archiv selbst auf einer Metaebene alle Anforderungeneines Symbolkonstrukts: Es ist ein »lieu de mémoire«.Wir können ihn nutzen, müssen ihn aber auch immer hinter -fragen, welcher intendierte Ort in ihm begegnet.Auch für die Arbeit mit Künstlernachlässen können wir dieErkenntnisse der lieux de mémoire-Forschung fruchtbar machen,eo ipso für ihre intendierte Sicherung, nicht zuletzt aber für dieDeutung durch Forschung. Erst hiermit gilt die Aufwertung, diewir heute im Begriff »Archiv« mitdenken. Nur durch die aktualisierbarenSymbole der Vergangenheit lässt sich überhaupt etwasvom Ereignis Geschichte fixieren und etwas über ihr Zustandekommenaussagen.3.Daraus folgt: Künstlerarchive gelten uns als spezifisches Speichermedium.In ihnen legt sich das Erinnerte ab, aus ihm kann diesesErinnerbare abgerufen werden. Damit verlagern wir jede Frageder Wertung, strenger und rigider Kassationsgesetze, auf eineandere Ebene als die der qualitätswertenden Urteile, die über dieAufnahme oder Ablehnung eines Nachlasses bestimmen dürfen.Konkret: Gänzlich unabhängig von der Qualität eines Künstlerserlauben Briefe, Tagebücher, die in der Nachlassbibliothek zuerkundenden Lesefrüchte und Formen der Intertextualität,Erkenntnisse z.B. über produktionsästhetische Zusammenhänge.Sie sind wiederum, in statistisch sinnvoller Menge, z.B. Ausgangspunktzur Erforschung von Epochenwechseln, unabhängigvon der Kunst- und Kulturgeschichtsschreibung und, zumindestpartiell, unabhängig vom ästhetischen Urteil. Ja, hier kommt denArchiven eine herausragende Aufgabe zu: um mit Peter Sloterdijkzu sprechen: jedes Archiv bekundet Geschichte, zählt aber nichtnur die Siege, sondern grundsätzlich das Gesamt von Ereignissen,um »geistesgegenwärtig zu bezeugen, was ihm begegnet ist«.4.Archive leisten potentiellen Widerstand und bilden einen entscheidendenLatenzfaktor für die Umdeutungen von Geschichte. Inihnen wird im besten Falle auch das aufbewahrt, was nicht deraktuellen Mode und dem herrschenden System folgt, sondern das,was möglicherweise gegen die geltenden Normen gerichtet ist. AlsBeispiel ließe sich die konkrete Kunst nennen, die z.B. in der DDRin Zeiten des Sozialistischen Realismus einen schlechten Stand hatte.Dazu gehören im Bereich der Ideologien etwa auch anarchistischeStrömungen, deren Denkbilder und die sie tragenden Persönlichkeitenaußer Mode gekommen zu sein scheinen. Die Geschichteder Archive ist voller Wiederentdeckungen, die diese definitivePotenz bestätigen. Es ließe sich auch ein durchaus aktuelles Problemnennen: im Umgang mit Nazikünstlern haben wir uns anmoralische Urteile gewöhnt. Tatsächlich aber haben wir es in dergesamten Moderne der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wasdie Weltanschauungen der Künstler angeht, mit einem Spektrumvon antiaufklärerischen Tendenzen zwischen rechts und links zutun. In der Expressionismusforschung und ihren irrationalen Denkbildernsind wir noch nicht sehr weit gekommen und die Band -breite im Spannungsfeld von Avantgarde und völkischen Mustern,die sich zwischen dem Proletkult und der Massenästhetik der Nazisausmachen lässt, werden wir niemals differenzierter analysierenkönnen, wenn wir nach der Methode »Die Guten ins Töpfchenund die Schlechten ins Kröpfchen« verfahren.5.Künstler-Archive, die auch die privaten Nachlässe meinen, sind,anders als für die Literatur und ihre Wissenschaft, für die Kunstgeschichteunabdingbar, sichern sie doch auch die Politizität derKunst, die im Bild selbst nur bedingt aufbewahrt werden kann;z.B. kann der Diskurs um die Gegenständlichkeit in der unmittelbarenNachkriegszeit nur angemessen aufgearbeitet werden,wenn über die Werke hinaus andere Quellen zur Verfügungstehen. Hier ist aber grundsätzlich die gesamte kultursoziologischeForschung auf den Plan gerufen, ihre Interessen an einermöglichst weitläufigen Anlage solcher Archive einzuklagen.In diesem Sinne tragen Archive, die sich auch solche Beständein ihren Kompetenzbereich wünschen, zur Fundierung einerGegenwartsanalyse bei, die sich den Maximen der KritischenTheorie nicht verschließt. In diesem Sinne, und nur in diesem,haben Archive auch eine moralische Funktion.- 29 -