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Geleitwort – Persönliche Erfahrung und Geschichte

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<strong>Geleitwort</strong> <strong>–</strong> <strong>Persönliche</strong> <strong>Erfahrung</strong> <strong>und</strong> <strong>Geschichte</strong><br />

R. B. wurde als 16-Jähriger verurteilt: Er hatte Lenin einen Bart angemalt. Man<br />

übergab ihn der Sowjetischen Militäradministration <strong>und</strong> sperrte den Jugendlichen<br />

mit seinen Kameraden in eine Keller-Zelle. Zwei erhielten schließlich 25 Jahre, er<br />

<strong>und</strong> ein weiterer Junge zehn Jahre Haft. B. kam nach Bautzen in das Zuchthaus<br />

»Gelbes Elend« <strong>und</strong> wurde im Jugendsaal untergebracht. 200<strong>–</strong>300 Häftlinge waren<br />

in einem Raum zusammengepfercht <strong>und</strong> schliefen auf schmalen Pritschen <strong>–</strong> alle<br />

waren aufgr<strong>und</strong> von politischen Vergehen verurteilt worden. […].<br />

R. D. wollte als 17-Jährige mit ihrem Fre<strong>und</strong> in den Westen, Grenzsoldaten<br />

nahmen sie fest. Es folgten Verhöre <strong>und</strong> Verwahrung sowie zahlreiche Transporte<br />

auch im sog. »Grotewohl-Express«, dem Gefangenenzug, der teils tagelang<br />

in der DDR unterwegs war. Sie wurde in eine U-Haftanstalt der Staatssicherheit<br />

gebracht <strong>und</strong> nächtelang unter Scheinwerferlicht verhört. D. war völlig verängstigt,<br />

hatte Todesangst <strong>und</strong> erlitt schließlich einen Nervenzusammenbruch.<br />

[…] Nach Verurteilung folgte Einzelhaft unter schwierigsten Bedingungen, im<br />

Gefängnis auch sexuelle Misshandlung. Junge »Politische« waren schlecht angesehen.<br />

[…].<br />

H. S. wurde mit »Strafgefangene« angesprochen, immer wieder machte man<br />

ihr klar, dass sie nichts wert <strong>und</strong> kriminell sei. Bewachung wie auch Behandlung<br />

waren erniedrigend <strong>und</strong> lösten große Ängste <strong>und</strong> Unsicherheit aus. Sie betrachtete<br />

das, was ihr geschah, als eine Art Traum, als nicht real <strong>–</strong> »nicht ihr<br />

Körper«, »nicht ihr Leben«. […] Nach der Wende war sie erschrocken, als sie<br />

sah, dass es bei der Staatssicherheit eine Akte über sie gab, sie betrachtete sich<br />

selbst als »kleines Licht«, trotzdem stand sie unter Beobachtung. […].<br />

Dies sind nur wenige Schlaglichter auf anonymisierte Schicksale von Opfern<br />

in DDR-Haft. Am Anfang <strong>und</strong> im Zentrum des vorliegenden Bandes sollen die<br />

persönlichen Lebensgeschichten der Betroffenen stehen, die das Buch exemplarisch<br />

schildert, historisch kontextualisiert <strong>und</strong> wissenschaftlich analysiert.<br />

20 Jahre nach Vereinigung von B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland <strong>und</strong> Deutscher<br />

Demokratischer Republik bleiben zentrale Fragen von Schuld der Täter<br />

wie auch Rehabilitierung <strong>und</strong> »Entschädigung« der Opfer immer noch ungelöst.


10<br />

Andreas Frewer<br />

Zwar hatte bereits 1990 die Volkskammer der DDR ein Rehabilitierungsgesetz<br />

verabschiedet, das eine Anerkennung von strafrechtlich verfolgten politischen<br />

Opfern vorsah, Relevanz in der Praxis erhielt dieses Gesetz vor dem Beitritt der<br />

DDR zur BRD jedoch nicht mehr. Teile der Regelungen gingen in b<strong>und</strong>esdeutsche<br />

Gesetze ein, aber Komplexität <strong>und</strong> Unwägbarkeit der juristischen wie auch<br />

ökonomischen Konsequenzen erschwerten eine umfassende Regelung. Im Jahr<br />

1992 hat der Deutsche B<strong>und</strong>estag ein erstes SED-Unrechtsbereinigungsgesetz<br />

verabschiedet, das strafrechtliche Aspekte <strong>und</strong> Rehabilitierung beinhaltete.<br />

Seither sind diese Gesetze wiederholt modifiziert worden, erst 2007 wurden<br />

Vorschriften über Zuwendungen für Opfer einer mindestens halbjährlichen<br />

Haftphase integriert. Die zunächst nur bis Ende 1994 geplante Antragsfrist ist<br />

mittlerweile bis zum 31. Dezember 2011 verlängert worden.<br />

Politische Motive, Ursachen <strong>und</strong> Bedingungen der Haft in Anstalten der DDR<br />

waren häufig hochproblematisch, Folgen durch die Ungerechtigkeit von Verfahren<br />

<strong>und</strong> Verurteilungen wie auch durch das Verhalten der Behörden gravierend.<br />

Bis zu 300.000 Menschen sowie ihre Familien oder Fre<strong>und</strong>eskreise waren <strong>–</strong><br />

<strong>und</strong> sind <strong>–</strong> betroffen. Manche Opfer wurden während der Haft misshandelt,<br />

gefoltert oder sogar mit dem Tod bedroht. Medizin <strong>und</strong> ärztlich-psychologische<br />

Aspekte spielen zudem eine besondere Rolle, wenn bei Krankheiten <strong>und</strong><br />

schwierigen Bedingungen in der Haft adäquate Hilfe <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitliche Behandlung<br />

vorenthalten wurde. Beeinträchtigungen <strong>und</strong> Folgen der Haftzeit<br />

waren in der Regel so schwerwiegend, dass der weitere Lebensweg von Betroffenen<br />

außerordentlich belastet <strong>und</strong> unwiederbringlich geprägt wurde. Die im<br />

vorliegenden Band dargestellten Biographien spiegeln diese zerstörerische<br />

staatliche <strong>und</strong> ideologisch-politische Beeinflussung. Die zugr<strong>und</strong>e liegende<br />

Studie von Kornelia Beer, Gregor Weißflog, Matthias Pfüller <strong>und</strong> den beteiligten<br />

Kollegen nimmt sich des geschehenen Unrechts auf mehreren Ebenen an: Den<br />

Opfern zuhören, ihre <strong>Geschichte</strong> <strong>und</strong> das Leiden aufnehmen sowie auch in<br />

übergreifender Form weitergeben <strong>–</strong> dies sind wichtige Schritte für Betroffene,<br />

Gesellschaft <strong>und</strong> Wissenschaft. Gleichzeitig werden die historisch-politischen<br />

Rahmenbedingungen hinsichtlich des strafrechtlichen Systems in der DDR rekonstruiert,<br />

um den Kontext für die individuellen Lebensgeschichten <strong>und</strong><br />

schwierigen Hafterfahrungen zu zeigen.<br />

Die Identität der betroffenen Opfer wurde gr<strong>und</strong>legend <strong>und</strong> nachhaltig angegriffen;<br />

vielleicht kann das entstandene Leid <strong>und</strong> das Zerbrechen von Persönlichkeiten<br />

annähernd im Spiegel der Kunst dargestellt werden. Das expressionistische<br />

Titelbild des Bandes von Ernst Ludwig Kirchner (1880 <strong>–</strong>1938) bietet<br />

dafür einige Ansatzpunkte. Kirchner ist zudem ein besonderes Beispiel für die<br />

Verbindung des Künstlers zur Heilkunst: Seine dramatischen <strong>Erfahrung</strong>en <strong>und</strong><br />

nicht verarbeitete Erlebnisse aus dem Ersten Weltkrieg führten zu Lebenskrisen,<br />

Nervenzusammenbrüchen <strong>und</strong> wiederholten Klinikaufenthalten.


<strong>Geleitwort</strong> 11<br />

Kirchners graphisches Werk spiegelt diese seelische Zerrissenheit, so auch in<br />

der eindrucksvollen Darstellung des Peter Schlemihl aus der phantastischen<br />

Novelle von Adelbert von Chamisso (1781<strong>–</strong>1838). Kirchner ist selbst der w<strong>und</strong>ersame<br />

»Mann ohne Schatten«, der nach der Begegnung mit dem Teufel seine<br />

Identität verliert. Gerade die sensible »Nervenkunst« des Expressionismus kann<br />

die psychische Dissoziation des Ich <strong>–</strong> hier des Künstlers wie auch der traumatisierten<br />

Opfer allgemein <strong>–</strong> eindrücklich illustrieren. Die Interpretationen von<br />

Chamissos ebenso bemerkenswerter wie merkwürdiger <strong>Geschichte</strong> gehen in<br />

vielfältige Richtungen: Der nicht vorhandene Schatten kann menschlich-psychologisch<br />

als Verlust der »Standfestigkeit als Person« <strong>und</strong> auch als fehlende<br />

nationale Verankerung (bei Chamisso das Schwanken zwischen Frankreich <strong>und</strong><br />

Deutschland sowie seine zahlreichen Auslandsaufenthalte) interpretiert werden.<br />

Die Begegnung mit dem Teufel hat Peter Schlemihl in jedem Fall etwas Existenzielles<br />

genommen, das ihn nicht mehr als normalen Menschen in die Gesellschaft<br />

zurückkehren lässt. Der Künstler Kirchner zerbricht schließlich endgültig an der<br />

Diffamierung im Nationalsozialismus.<br />

In gewisser Weise trifft dies auch auf viele Biographien <strong>und</strong> Schicksale der<br />

Opfer politischer Haft in der DDR zu: Die ges<strong>und</strong>heitlichen Folgen des Erlebten<br />

waren <strong>–</strong> in körperlicher wie auch in seelischer Hinsicht <strong>–</strong> zu einschneidend, das<br />

Weiterleben wurde schwierig. Die Opfer sind in der Regel nicht nur hinsichtlich<br />

ihrer Freiheit <strong>und</strong> Menschenrechte durch den Staat »verletzt« <strong>und</strong> »gekränkt«<br />

worden, sondern im Kern in ihrer persönlichen Würde getroffen.<br />

20 Jahre nach Fall der Mauer ist dabei die Konstellation auch in anderer Weise<br />

mit den Metaphern des gleichermaßen unsichtbaren, aber langen »Schattens« zu<br />

umreißen: Die dunklen Seiten der DDR wirken unverändert nach, die Schattenseiten<br />

eines Staates <strong>und</strong> der begangenen Unrechtstaten reichen bis in die<br />

Gegenwart. Und doch ist die DDR auf merkwürdige Weise ebenso verschw<strong>und</strong>en<br />

wie viele verantwortliche Täterinnen <strong>und</strong> Täter, die weder benannt noch belangt<br />

worden sind. Diese besondere Situation <strong>und</strong> die schwierigen Gefühle der Opfer<br />

werden im vorliegenden Band ebenso eindrücklich beschrieben wie wissenschaftlich<br />

sorgfältig analysiert.<br />

Es freut mich daher sehr, dass diese gleichermaßen differenzierte wie wichtige<br />

Untersuchung in der Fachbuchreihe »Medizin <strong>und</strong> Menschenrechte« eine Brücke<br />

von <strong>Geschichte</strong> <strong>und</strong> Theorie hin zur Ethik schlägt. Die persönliche <strong>Erfahrung</strong> <strong>und</strong><br />

die ges<strong>und</strong>heitlichen Konsequenzen der staatlichen Willkür werden ein zentrales<br />

Thema der DDR-Forschung bleiben. Es ist zu wünschen, dass diese gr<strong>und</strong>legende<br />

Studie weitere Impulse für psychosoziale Bewältigung, gesellschaftliche »Aufarbeitung«<br />

wie auch künftige wissenschaftliche Analysen gibt.<br />

Erlangen-Nürnberg, Prof. Dr. Andreas Frewer, M.A.<br />

im Sommer 2010 Institut für <strong>Geschichte</strong> <strong>und</strong> Ethik in der Medizin


Vorwort<br />

Die vorliegende Studie über Folgen von politischer Verfolgung <strong>und</strong> Haft in der<br />

DDR ist der Versuch, drei Punkte eines Problem-Dreiecks miteinander in Bezug<br />

zu setzen: Die Verfolgungsopfer <strong>und</strong> ihre jetzige Lage, die unangemessen<br />

komfortable Lage der Täter <strong>und</strong> die unverändert unzulängliche, in vielen<br />

Punkten bereits gescheiterte »Aufarbeitung« dieser Seite des DDR-»Erbes«<br />

durch die Gesellschaft der »Berliner Republik« <strong>und</strong> ihre Öffentlichkeit. Mehr als<br />

zwanzig Jahre nach der immer wieder gefeierten friedlichen Revolution drängt<br />

sich der Eindruck auf, dass der fatale Satz gelten könnte: »Einmal Opfer, immer<br />

Opfer«, während die Täter fast alle juristisch, politisch <strong>und</strong> psychologisch<br />

»ungeschoren« davongekommen sind.<br />

Die Opfer der diktatorischen Herrschaft der SED <strong>und</strong> ihres Ministeriums für<br />

Staatssicherheit (MfS) sind in viele Gruppen aufgesplittert, die der Öffentlichkeit<br />

ein teilweise verwirrendes Bild bieten. Einerseits ist diese Aufsplitterung<br />

eine Folge der verschiedenen Arten des Umgangs mit den inneren »politischen<br />

Feinden« der DDR: In den ersten Jahrzehnten wurden sie nicht nur verfolgt <strong>und</strong><br />

ausgegrenzt, sondern in den Haftanstalten teilweise in extremer Weise körperlich<br />

misshandelt. In der Zeit nach der Unterzeichnung des Abkommens von<br />

Helsinki über die europäische Zusammenarbeit 1975 auch durch die DDR trat an<br />

die Stelle der physischen Misshandlungen die psychische Unterdrückung <strong>und</strong><br />

»Zersetzung«. Beide Verfolgungsarten wirkten sich ganz unterschiedlich aus; es<br />

ist müßig <strong>und</strong> sinnlos, unterscheiden zu wollen, was für die Opfer schmerzvoller<br />

<strong>und</strong> langfristig schädigender gewesen ist <strong>und</strong> bleibt.<br />

Die Täter dagegen profitierten <strong>und</strong> profitieren von den besonderen Schwierigkeiten<br />

eines demokratischen Rechtsstaats, mit dem staatlich gedeckten, abgesicherten<br />

Unrecht der politischen Verfolgung umzugehen <strong>–</strong> auch dann, wenn<br />

es f<strong>und</strong>amental gegen die im Gr<strong>und</strong>gesetz abgesicherten Menschenrechte verstößt.<br />

Aufgr<strong>und</strong> dieser Schwierigkeiten ist es nach 1989/90 kaum zu Verurteilungen<br />

der Täter gekommen. Ganz im Gegenteil sind die meisten von ihnen <strong>–</strong><br />

insbesondere die hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit,<br />

die Verantwortlichen in der SED <strong>und</strong> die Bediensteten des Strafvollzugs


14<br />

Matthias Pfüller<br />

in der DDR <strong>–</strong> heute zumeist gut gestellt, vor allem aufgr<strong>und</strong> der ihnen zugestandenen<br />

Versorgungs- <strong>und</strong> Rentenansprüche. Stellvertretend für alle sind lediglich<br />

die »Inoffiziellen Mitarbeiter« der Stasi der öffentlichen Anklage <strong>und</strong><br />

Missachtung verfallen <strong>–</strong> aber auch sie sind kaum je juristisch wirkungsvoll oder<br />

gar umfassend belangt worden. Im letzten Jahrzehnt hat sich gezeigt, dass sie alle<br />

mit mehr oder weniger Erfolg nicht nur ihre Versorgung erstritten haben,<br />

sondern auch darüber hinaus offensiv werden <strong>und</strong> ihre Opfer oft genug auch<br />

noch verunglimpfen <strong>und</strong> verhöhnen konnten.<br />

Der Gesetzgeber <strong>und</strong> die Öffentlichkeit haben sich zwar allgemein auf eine<br />

Verurteilung des Unrechts <strong>und</strong> auf eine Entschädigung für Haftzeiten einigen<br />

können <strong>–</strong> aber die Kritik daran hebt zu Recht hervor, dass diese Entschädigungen<br />

unzulänglich geblieben sind. Das liegt nicht nur daran, dass man solche<br />

physischen <strong>und</strong> psychischen Misshandlungen, wie die Opfer sie erlitten haben,<br />

nicht adäquat »entschädigen« kann. Das weiterhin bestehende Problem einer<br />

»Gerechtigkeitslücke« liegt vielmehr darin, dass man die Opfer zumeist eher in<br />

Sonntagsreden »würdigt«, aber ansonsten in der Regel sich selbst überlässt.<br />

Darüber hinaus sind sie der Zumutung ausgesetzt, die davongetragenen körperlichen<br />

Schäden <strong>und</strong> psychischen Verletzungen selbst penibel nachweisen zu<br />

müssen, was häufig schwer <strong>und</strong> oft genug nahezu unmöglich ist. Daher sind die<br />

Entschädigungen zumeist nicht etwa großzügig, sondern eher symbolisch ausgefallen.<br />

Das Schlimmste ist: Eine wirkliche Anerkennung der Leistung der<br />

Opfer <strong>und</strong> ihrer daraus folgenden Schädigung ist nicht eingetreten. Die Opfer<br />

stehen nicht als das da, was sie sind: Menschen, die unter großem Druck <strong>und</strong><br />

schwerer Gefährdung ihrer Ges<strong>und</strong>heit, teilweise sogar ihres Lebens <strong>–</strong> <strong>und</strong> in<br />

jedem Fall ihres beruflichen <strong>und</strong> menschlichen Schicksals <strong>–</strong> für Demokratie,<br />

Recht <strong>und</strong> Gerechtigkeit eingetreten sind. Wir müssen davon ausgehen, dass sie<br />

deswegen so schlecht dastehen, weil es ihnen gegenüber ein unerklärtes<br />

schlechtes Gewissen sowohl der ehemaligen westdeutschen Gesellschaft in der<br />

alten B<strong>und</strong>esrepublik wie auch der Mehrheitsgesellschaft der ehemaligen DDR<br />

gibt. Die »Aufarbeitung« des DDR- <strong>und</strong> SED-Unrechts ist also alles andere als<br />

eine »Vorzeigeleistung« der »Berliner Republik«.<br />

An diesem Problemdreieck setzte die Studie an. Ihr Ziel war, eine Selbstverständlichkeit<br />

herauszuarbeiten <strong>und</strong> möglichst auch zu belegen: Die Beweislast<br />

für erlittenes Unrecht kann <strong>und</strong> darf nicht bei den Opfern bleiben, wie es bis jetzt<br />

der Fall ist. Es muss vielmehr davon ausgegangen werden, dass die politische<br />

Verfolgung in der DDR in der Regel ges<strong>und</strong>heitliche <strong>und</strong> soziale Beeinträchtigungen<br />

bei den Betroffenen bewirkt hat, die bis heute spürbar sind <strong>und</strong> ihre<br />

Lebensläufe nachhaltig geprägt oder auch gebrochen haben. Dazu mussten zwei<br />

Wege gegangen werden: Einerseits war zu überprüfen <strong>und</strong> möglichst nachzuweisen,<br />

dass <strong>und</strong> inwieweit ges<strong>und</strong>heitliche <strong>und</strong> psychische Schäden eingetreten<br />

sind. Andererseits war darzustellen, was das für die Betroffenen damals <strong>und</strong> für


Vorwort 15<br />

ihr Weiterleben bis heute bedeutet hat bzw. bedeutet. Weiter war klarzustellen<br />

<strong>und</strong> nachzuweisen, dass aufgr<strong>und</strong> des politischen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Umgangs<br />

mit den Betroffenen zusätzlich erhebliche Belastungen nach der unmittelbaren<br />

Verfolgung <strong>und</strong> Haft sowohl in der anschließenden Zeit in der DDR als<br />

auch bis heute in der B<strong>und</strong>esrepublik entstanden sind.<br />

Dem Ansatz entsprechend wurde einerseits sozialmedizinisch-statistisch<br />

untersucht, was bisher an Material zur Verfügung steht. Die Anzahl der auf<br />

Fragebogenbeantwortungen beruhenden Fälle ist bemerkenswert hoch; eine<br />

Untersuchung mit vergleichsweise breiter Basis liegt bisher nicht vor. Eine uneingeschränkt<br />

repräsentative Studie ist bisher wohl aus Kostengründen <strong>und</strong><br />

wegen der methodischen Schwierigkeiten nicht angestellt worden <strong>–</strong> so gesehen<br />

liegt mit dieser Studie wohl das gegenwärtig Erreichbare vor.<br />

Andererseits verfolgt die Studie die Absicht, die subjektive Sicht der Betroffenen<br />

mit den verfügbaren Daten der Strafrechts- <strong>und</strong> Verfolgungsentwicklung<br />

in der DDR zusammenzubringen. Dadurch wird deutlich, dass es sich bei der<br />

Verfolgungsgeschichte nicht um eine Konfrontation Individuum kontra Staat<br />

handelt, sondern um ein wesentliches Merkmal der DDR. Die SED betrieb mit<br />

ihrem Instrument, dem MfS, zielbewusst eine Politik der Einschüchterung <strong>und</strong><br />

Verfolgung als Praxis der »Diktatur des Proletariats«, die zwar die Erscheinungsformen<br />

<strong>und</strong> Methoden wechselte, aber immer gegenwärtig war <strong>und</strong><br />

spürbar blieb.<br />

Jeder Ansatz für sich ist in der früheren Forschung bearbeitet <strong>und</strong> vorangetrieben<br />

worden; die Ansätze sind jedoch selten miteinander verknüpft worden.<br />

Erst die Gesamtsicht macht aber deutlich, wie über mehr als vier Jahrzehnte<br />

hinweg eine Klammer um die Gesellschaft bestand, die ungeachtet aller Kosten<br />

ihren Zusammenhalt sichern sollte. Die Kosten trugen die Betroffenen <strong>–</strong> die<br />

Täter sind bis heute dafür kaum in Regress genommen worden. Diese Tatsache<br />

macht einen Großteil der Last aus, die die Opfer bis heute tragen müssen, ohne<br />

dass ihnen die Gesellschaft dabei angemessen zu Hilfe käme.<br />

Die Studie selbst ist von der B<strong>und</strong>esstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur<br />

gefördert <strong>und</strong> vom Verein Politische Memoriale Mecklenburg-Vorpommern<br />

e. V. organisatorisch getragen worden. Die Umsetzung erfolgte im Bereich<br />

der sozialmedizinisch-statistischen Erarbeitung in der Universität Leipzig unter<br />

Verantwortung von Prof. Dr. Reinhold Schwarz wesentlich durch Gregor<br />

Weißflog. Ein Großteil des Fragebogenmaterials wurde von der Stiftung Sächsische<br />

Gedenkstätten in Dresden in vorbearbeiteter Form zur Verfügung gestellt.<br />

Die Interviews mit Betroffenen <strong>und</strong> ihre Auswertung wurden von Kornelia Beer<br />

an der Hochschule Mittweida-Roßwein konzipiert <strong>und</strong> verwirklicht. Sie war<br />

auch an der Erarbeitung des historisch-politisch-juristischen Kontexts beteiligt,<br />

der von Prof. Dr. Matthias Pfüller konzipiert wurde.<br />

Zuerst danke ich den TeilnehmerInnen der Studie für ihre Bereitschaft <strong>und</strong>


16<br />

Matthias Pfüller<br />

ihr Engagement, uns Auskunft zu geben über die oft traumatischen Erlebnisse<br />

im Zusammenhang mit ihrer politischen Inhaftierung in der DDR. Außer bei<br />

den genannten Institutionen <strong>und</strong> ihren Verantwortlichen <strong>und</strong> MitarbeiterInnen<br />

<strong>und</strong> natürlich Kornelia Beer <strong>und</strong> Gregor Weißflog als den Autoren habe ich mich<br />

weiter bei Frau Simone Labs zu bedanken, die in hohem Maß an der Zusammenfassung<br />

der Lebensgeschichten beteiligt war <strong>und</strong> bei Frau Prof. Dr. Heide<br />

Funk, die als Beraterin bei der Analyse der Interviewtexte zur Verfügung stand.<br />

Die intensive Kooperation <strong>und</strong> das Engagement sind es gewesen, die das vorliegende<br />

Ergebnis ermöglicht haben. Das gilt vor allem auch für Herrn Prof. Dr.<br />

Schwarz, der kurz vor Abschluss der Arbeiten völlig unerwartet verstorben ist;<br />

diese Studie ist auch seinem Gedächtnis gewidmet. Schließlich bedanke ich mich<br />

auch beim Verlag <strong>und</strong> dem Herausgeber, Prof. Dr. Frewer, der uns auf der letzten<br />

Wegstrecke sehr fre<strong>und</strong>lich betreut hat. Uns bleibt die Hoffnung, dass diese<br />

Studie ein Beitrag dafür ist, dass nicht nur das Leiden der Opfer, sondern vor<br />

allem auch ihre Leistung für Demokratie <strong>und</strong> Recht besser gewürdigt <strong>und</strong> anerkannt<br />

werden <strong>–</strong> <strong>und</strong> dass das Unrecht der Täter nicht unbeachtet bleibt <strong>und</strong><br />

weiter in Vergessenheit versinkt, auch wenn kaum zu erwarten ist, dass sie sich je<br />

in angemessener Form ihrer Verantwortung stellen.<br />

Schwerin/Roßwein, August 2010 Prof. Dr. Matthias Pfüller

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