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Ritter 200 Bände KSG

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<strong>200</strong> <strong>Bände</strong><br />

»Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft«<br />

Rückblick am 26. April 2011<br />

von Gerhard A. <strong>Ritter</strong><br />

Es ist mir eine Freude und eine Ehre, eine kleine Festrede zum<br />

Erscheinen des <strong>200</strong>. Bandes der »Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft«<br />

halten zu dürfen und dabei einen Rückblick<br />

auf die Reihe und ihre besonderen Kennzeichnen zu werfen.<br />

Es ist eine Freude, da ich mit Jürgen Kocka und Hans-<br />

Ulrich Wehler, die neben Helmut Berding und dem bald ausgeschiedenen<br />

Hans-Christoph Schröder die Reihe begründet haben<br />

und bis heute zu ihren Herausgebern zählen, eng befreundet bin<br />

und weil ich selbst mit der Veröffentlichung eines Aufsatzbandes<br />

über »Arbeiterbewegung, Parteien und Parlamentarismus, (Bd.<br />

23, 1976) gewissermaßen den <strong>Ritter</strong>schlag als Gesellschaftshistoriker<br />

erhalten habe. Es ist eine Ehre, weil ich glaube, dass<br />

diese Reihe zusammen mit der drei Jahre später gegründeten<br />

Zeitschrift »Geschichte und Gesellschaft« entscheidend zur<br />

methodischen Erneuerung und zur inhaltlichen Erweiterung der<br />

deutschen Geschichtswissenschaft beigetragen hat. Vor allem ist<br />

es ihr gelungen, die Sozialgeschichte fest in der deutschen Geschichtswissenschaft<br />

zu verankern. Die Gesellschaftsgeschichte<br />

oder historische Sozialwissenschaft 1 nimmt inzwischen nicht<br />

mehr nur eine Kammer sondern ein prächtiges großes Zimmer,<br />

gewissermaßen den Salon, im Hause Clios ein. Verbunden damit<br />

war eine Öffnung für Anregungen aus den sozialwissenschaftlichen<br />

Nachbardisziplinen und der Geschichtswissenschaft des<br />

—————<br />

1 Vgl. Zu deren Entstehung und Entwicklung Gerhard A. <strong>Ritter</strong>, The New Social<br />

History in the Federal Republic of Germany, Veröffentlichung des German Historical<br />

Institute London, London 1991.


6<br />

6<br />

Gerhard R. <strong>Ritter</strong><br />

westlichen Auslandes, vor allem der Vereinigten Staaten, Frankreichs<br />

und Großbritanniens.<br />

Wenn eine neue Reihe begründet wird, so fragt man zunächst<br />

nach dem Programm. Es gibt kein programmatisches Vorwort im<br />

ersten Band der neuen Reihe. Es ist aber nach intensiver Suche<br />

in den Akten des Verlages gelungen, das erste von Jürgen Kocka<br />

entworfene, mit den anderen Herausgebern abgesprochene, programmatische<br />

Prospekt der Reihe 2 , gewissermaßen die Regierungserklärung,<br />

wieder aufzufinden. Dabei handelte es sich um<br />

einen ausgesprochen politischen Text mit scharfer Abgrenzung<br />

von den damals dominierenden Traditionen der deutschen Geschichtswissenschaft.<br />

Zur Begründung des im Titel einer Buchreihe<br />

doch ungewöhnlichen Begriffs »Kritik« wurde zwar zunächst<br />

auf die seit Ranke und Niebuhr durchgesetzte Methode<br />

der Quellenkritik, die Einsicht in die Veränderbarkeit von Verhältnissen<br />

und die Relativität von Perspektiven verwiesen. Daneben<br />

wurde aber mit Nachdruck, die Aufgabe der Geschichte,<br />

durch kritische Durchleuchtung der Vergangenheit Voraussetzungen<br />

und Anstöße zur Verbesserung der Gegenwart zu schaffen,<br />

betont. Statt einer eher affirmativen und stabilisierenden<br />

Funktion für bestehende Herrschafts- und Gesellschaftssysteme<br />

sollte die Geschichtswissenschaft eine aufklärerische und emanzipatorische<br />

Aufgabe erfüllen. Man wollte also bewusst Lehren<br />

aus der Geschichte ziehen. Dazu müsse sie sich in großen Teilen<br />

von ihrer eigenen Tradition distanzieren: von der lange dominierenden<br />

ideologischen Staatsfrömmigkeit; von der einseitigen<br />

Konzentration auf die Geschichte des Staates und die politische<br />

Geschichte; von einer isolierten, ohne Bezug zu Sozialgeschichte<br />

und kollektive Mentalitäten und Ideologien betriebenen Ideengeschichte.<br />

Auch sollte der historisch geprägte Verstehensbegriff,<br />

der sich auf individuelle Haltungen und Handlungen konzentriert,<br />

durch die Analysen überindividueller gesellschaftlicher<br />

Strukturen und Prozesse ergänzt werden; es gehe um die Verknüpfung<br />

hermeneutischer und strukturgeschichtlicher Methoden.<br />

—————<br />

2 Prospekt »Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft«. Ordner Kritische<br />

Studien des Verlages Vandenhoeck & Ruprecht.


<strong>200</strong> <strong>Bände</strong> »Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft«<br />

Die Geschichte der Gesellschaft erscheint als primärer Gegenstand<br />

einer vor allem als historisch-kritische Sozialwissenschaft<br />

zu verstehenden Geschichtswissenschaft. Gleichzeitig wird die<br />

Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft stark unterstrichen<br />

und ihr eine vor allem analytische und nicht nur erzählende<br />

Funktion zugewiesen.<br />

Das Programm wurde drei Jahre später im Vorwort der neuen<br />

Zeitschrift »Geschichte und Gesellschaft«, die vor allem auch<br />

ein Diskussionsforum sein sollte, ergänzt und präzisiert. 3 Dabei<br />

wurde die enge Verbindung zur Soziologie, Politikwissenschaft<br />

und Ökonomie betont. Man vermisst dagegen im Programm der<br />

historischen Sozialwissenschaft den Verweis auf die Rechtswissenschaft.<br />

Angesichts der großen Bedeutung, die die Verrechtlichung<br />

vieler Bereiche gerade für die deutsche Geschichte hat,<br />

muss dies verwundern.<br />

Es würde hier zu weit führen zu analysieren, welche weiter zurückreichenden<br />

Wurzeln dieses Programm hat. Beschränken wir<br />

uns daher auf die unmittelbare Vorgeschichte. Jürgen Kocka hat<br />

darauf verwiesen, dass die Grundzüge des Programms bereits in<br />

der Einleitung von Wehler zu der von ihm 1965 unter dem provozierenden<br />

Titel »Der Primat der Innenpolitik« herausgegebenen<br />

Sammlung von Aufsätzen des enfant terrible der Weimarer<br />

Historiker, Eckart Kehr, vorliegen: »Die Kritik an der herkömmlichen<br />

Geschichtswissenschaft als politikgeschichtlich verengter<br />

oder geistesgeschichtlich verdünnter Ideologie eines »staatsfrommen«<br />

angepassten Bürgertums; die Kritik an der Verabsolutierung<br />

des hermeneutischen Verstehens; das Plädoyer für Sozialgeschichte<br />

in einem umfassenden Sinn, nämlich als historische<br />

Analyse des Zusammenhangs von Gesellschafts-, Wirtschafts-<br />

und Staatsverfassung; die Berufung auf Max Weber und Karl<br />

Marx; die Forderung nach »kritischer Theorie« und der Aufruf,<br />

Geschichtswissenschaft auch als historische Kritik der Gegenwart<br />

mit dem Interesse an einer besseren Zukunft zu betreiben.«<br />

Das sei für ihn wie für andere damalige Studenten ein »elektri-<br />

—————<br />

3 Geschichte und Gesellschaft, 1 Jg., 1975, Heft 1, Vorwort der Herausgeber,<br />

S. 5-7.<br />

7<br />

7


8<br />

8<br />

Gerhard R. <strong>Ritter</strong><br />

sierendes Signal« gewesen. 4 Mit der Publikation von Hans Rosenbergs<br />

»Große Depression und Bismarckzeit« zwei Jahre<br />

später wurde dann gleichsam der Beweis erbracht, dass zumindest<br />

wesentliche Aspekte dieses Programms auch in die konkrete<br />

historische Arbeit umgesetzt werden konnten.<br />

Der entscheidende Schritt zur Gründung der Reihe ging von<br />

Wehler aus, der allein damals schon eine gewisse nationale Prominenz<br />

besaß und zunächst seine Freunde und Kampfgefährten<br />

versammelte. Der Charakter der Reihe wurde dann entscheidend<br />

von den drei Gründungsvätern Hans-Ulrich Wehler, Jürgen<br />

Kocka und Helmut Berding – der vierte Hans-Christoph<br />

Schröder schied schon nach dem 25. Band aus – geprägt.<br />

Winfried Hellmann spielte als zuständiger Lektor des Verlages<br />

Vandenhoeck & Ruprecht ebenfalls eine wichtige Rolle. Der<br />

Anstoß zur Aufnahme eines Manuskripts in die Reihe ging im<br />

Allgemeinen von einem der Herausgeber aus, der den Text -<br />

meist handelte es ich um Qualifikationsschriften, zum Teil von<br />

Kollegen empfohlen, zum Teil von eigenen Schülern – genau<br />

durcharbeitete, mit Korrekturen und Verbesserungsvorschlägen<br />

versah und mit einer eingehenden Stellungnahme an die Mitherausgeber<br />

übersandte. Von diesen wurde das Manuskript dann<br />

ebenfalls geprüft, korrigiert und kommentiert. Das Ergebnis der<br />

gemeinsamen Entscheidung und die fast immer erfolgenden,<br />

umfangreichen Verbesserungsvorschläge wurden dann von Berding,<br />

der die Stellungnahmen sammelte, in liebenswürdigen,<br />

aber in der Sache eindeutigen Briefen dem Autor mitgeteilt. Die<br />

große Arbeitsleistung der Herausgeber muss stark betont werden.<br />

Wer jemals – wie ich – als Mitglied von wissenschaftlichen<br />

Institutionen oder ihrer Beiräte, beispielsweise für das Institut für<br />

Zeitgeschichte oder die Parlamentarismus-Kommission, an der<br />

Herausgabe von Reihen mitgewirkt hat, weiß, was es bedeutet,<br />

dass sich die Arbeit der Auswahl, Prüfung und Kritik der Manuskripte<br />

auf so wenige Wissenschaftler beschränkte. Anders als<br />

bei den erwähnten Institutionen, die den Druck angenommener<br />

Manuskripte aus ihrem Etat finanzieren können, musste zudem<br />

—————<br />

4 Jürgen Kocka, Historische Sozialwissenschaft zu Anfang des 21. Jahrhunderts,<br />

in: ders., Arbeiten an der Geschichte. Gesellschaftlicher Wandel im 19. und 20.<br />

Jahrhundert, Bd. <strong>200</strong>, 2011, S. 78-94, hier S. 8, Erstabdruck des Aufsatzes <strong>200</strong>0.


<strong>200</strong> <strong>Bände</strong> »Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft«<br />

jeweils durch in der Summe unzählige Bettelbriefe an Stiftungen<br />

und Einzelpersonen die Finanzierung der Drucklegung der meisten<br />

<strong>Bände</strong> – nur die Aufsatzbände bereits etablierter Autoren<br />

erschienen ohne Zuschuss - gesichert werden. Es ist so fast ein<br />

Wunder, dass man in knapp 40 Jahren <strong>200</strong> <strong>Bände</strong> veröffentlichte.<br />

Auch die Leistung des Verlages, der mit dem leuchtend farbigen<br />

Einbänden die Bücher in jeder Bibliothek leicht erkennbar<br />

machte, ist hoch zu veranschlagen.<br />

Es ist schwer für einen Außenstehenden den Anteil der ersten<br />

drei langjährigen Herausgeber der Reihe zu präzisieren. Offenbar<br />

hat Wehler praktisch jedes Manuskript genau gelesen und wesentlich<br />

zur Aufrechterhaltung des hohen Niveaus der Reihe<br />

beigetragen. Helmut Berding hat neben der arbeitsaufwendigen<br />

Koordinierung der Arbeit der Herausgeber ein besonderes Verdienst<br />

an der Gewinnung von Arbeiten zum späten 18. und frühen<br />

19. Jahrhundert und zur französischen Geschichte. Kocka<br />

hat offenbar besonders intensiv auf die spätere Erweiterung und<br />

Öffnung der Reihe zur Kulturgeschichte, zur Geschlechtergeschichte<br />

und zu ihrer Internationalisierung durch die Aufnahme<br />

von Arbeiten über Vergleiche verschiedener Länder, transnationale<br />

Verflechtungen und Fragen der Globalgeschichte beigetragen.<br />

Dabei blieb im gesamten Zeitraum von fast vier Jahrzehnten<br />

eine Kontinuität in der anhaltend starken Betonung des sozialgeschichtlichen<br />

Blickwinkels bestehen. Das ist auch durch die<br />

neuen Mitherausgeber – Hans-Peter Ullmann seit Band 102, Paul<br />

Nolte seit Band 159 und Dieter Gosewinkel seit Band 190 –<br />

nicht wesentlich verändert worden.<br />

Welche Erwartungen der Herausgeber bei der Gründung der<br />

Reihe haben sich erfüllt oder nicht erfüllt, welches sind die<br />

Schwerpunkte der Reihe und welche Wandlungen hat sie Reihe<br />

durchgemacht? Die große Bedeutung, die die man im Programm<br />

auf scharfe Begriffe und theoretische Überlegungen legte, ist in<br />

den meisten <strong>Bände</strong>n kaum zu spüren. Unmittelbar emanzipatorische<br />

und aufklärerische Wirkungen und Anstöße zur allgemeinen<br />

Verbesserung der Gegenwart sind, wenn überhaupt, nur von<br />

wenigen <strong>Bände</strong>n ausgegangen.<br />

9<br />

9


10<br />

10<br />

Gerhard R. <strong>Ritter</strong><br />

Dagegen hat die Reihe, wie auch »Geschichte und Gesellschaft«,<br />

eine zentrale Rolle in den Auseinandersetzungen über die Entwicklung<br />

der deutschen Geschichtswissenschaft gespielt. Die<br />

Sozial- oder weiter gefasst die Gesellschaftsgeschichte ist, wie<br />

schon gesagt, nunmehr fest etabliert. Die Wirtschaftsgeschichte<br />

allerdings blieb weitgehend eine blühende, eng mit einer zunehmend<br />

mathematisierten Nationalökonomie verbundene Teildisziplin<br />

und ist – im Unterschied zur alten deutschen Tradition der<br />

Lehrstühle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte – in Deutschland<br />

wie auch international leider weitgehend von der allgemeinen<br />

Geschichte zum beiderseitigen Nachteil isoliert. Die Fragestellungen<br />

der Politikwissenschaft und der Soziologie, später<br />

auch der Anthropologie und der Kultursoziologie, weniger der<br />

Wirtschaftswissenschaft und noch seltener der Rechtswissenschaft,<br />

sind nicht zuletzt als Konsequenz des Programms der<br />

historischen Sozialwissenschaft in die Geschichtswissenschaft<br />

aufgenommen worden. Leider kann man aber nicht sagen, dass<br />

es der Reihe und der Zeitschrift »Geschichte und Gesellschaft«<br />

gelungen ist, die historische Dimension in den anderen sozialwissenschaftlichen<br />

Disziplinen zu vertiefen.<br />

Die ältere Generation der Sozialwissenschaftler – nennen wir<br />

hier nur Max Weber, Lujo Brentano, Werner Sombart, Gustav<br />

Schmoller, Norbert Elias, Joseph Schumpeter – hatte ein tiefes<br />

Verständnis für historische Wandlungsprozesse und für die Prägung<br />

existierender Institutionen durch ihre Geschichte. Auch<br />

zentrale Vertreter der unmittelbaren Nachkriegsgeneration –<br />

denken wir an Ralf Dahrendorf, M, Rainer Lepsius, Reinhard<br />

Bendix, Hans Mayer und Ernst Fraenkel –, hatten eine umfassende<br />

historische Bildung. Führende Politikwissenschaftler wie<br />

Karl-Dietrich Bracher und Hans-Peter Schwarz haben in der<br />

Bundesrepublik politische Wissenschaft geradezu mit historischen<br />

Methoden betrieben und Wirtschaftshistoriker wie Wolfram<br />

Fischer, Richard Tilly oder Knut Borchardt besitzen umfassende<br />

Kenntnisse auch der allgemeinen Geschichte, in die sie die<br />

Wirtschaftsgeschichte einordnen. All das gilt – von wenigen<br />

Ausnahmen abgesehen – nicht für die Masse der heute arbeitenden<br />

Soziologen, Politikwissenschaftler und Nationalökonomen<br />

in Deutschland und – nicht ganz so ausgeprägt – auch im Ausland.


<strong>200</strong> <strong>Bände</strong> »Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft«<br />

Es ist leider nicht möglich, zumal in der beschränkten Zeit dieses<br />

Vortrages, den Wandel von Methoden und Themen der deutschen<br />

Geschichtswissenschaft am Beispiel der Kritischen Studien<br />

im Detail nachzuzeichnen. Ich muss mich darauf beschränken,<br />

einige, sehr subjektive Akzente zu setzen, wobei ich im<br />

Wesentlichen von den Titeln der <strong>Bände</strong> ausgehe.<br />

Bereits der erste Band der »Kritischen Studien«, eine Aufsatzsammlung<br />

des Wirtschaftshistorikers Wolfram Fischer 5 verband<br />

wirtschafts- und sozialhistorische Arbeiten, thematisierte die<br />

Industrialisierung und ihre sozialen Konsequenzen und forderte<br />

nach dem Vorbild vor allem der Geschichtswissenschaft Englands,<br />

Frankreichs und der Vereinigten Staaten die stärkere Berücksichtigung<br />

wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Analysen<br />

in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft. Dabei<br />

sollten die Traditionen überprüft und nach neuen Wegen und<br />

interdisziplinären Verknüpfungen gesucht werden. Als »kritisches<br />

Element« sollte die historische Forschung Fragestellungen,<br />

Methoden und Forschungsziele neu bedenken und ergänzen. Der<br />

Band entsprach also durchaus dem Programm der Reihe.<br />

Es ist eines ihrer Kennzeichen, dass immer wieder von diesem<br />

ersten Band bis zum <strong>200</strong>. Band mit Aufsätzen von Jürgen Kocka<br />

neben Monographien von Nachwuchswissenschaftlern auch<br />

Aufsatzsammlungen arrivierter Gelehrter – nach meiner Zählung<br />

24 – veröffentlicht wurden. Jeder dieser <strong>Bände</strong> war einem bestimmten<br />

Themenkomplex gewidmet und daher nicht nur eine<br />

beliebige Sammlung verstreuter Aufsätze. Ohne diese Aufsatzsammlungen<br />

wäre man wohl nicht auf Hans Rosenbergs frühe,<br />

noch tastende Versuche um 1930 zu einer »kollektiven Ideengeschichte«<br />

der Mittel- und Unterschichten im Vormärz kommen, 6<br />

wie auch auf seine späteren, im amerikanischen Exil geschriebenen<br />

Aufsätze über »Machteliten und Wirtschaftskonjunkturen«<br />

(Bd.31,1978) aufmerksam geworden, die ihn zu dem wohl wichtigsten<br />

Pionier und Mentor der neuen Schule der Sozialgeschichte<br />

machten. Auch die scharfsinnigen Aufsätze des 1933 zur<br />

—————<br />

5 Wolfram Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung.<br />

Aufsätze – Studien – Vorträge, Bd. 1, 1972.<br />

6 Hans Rosenberg, Politische Denkströmungen im Deutschen Vormärz,<br />

Bd.3,1972.<br />

11<br />

11


12<br />

12<br />

Gerhard R. <strong>Ritter</strong><br />

Emigration gezwungenen Sozialwissenschaftlers Emil Lederer<br />

zu sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Problemen Deutschlands<br />

7 wären ohne ihre Veröffentlichung in den »Kritischen<br />

Studien« wohl in Vergessenheit geraten. Andere grundlegende,<br />

die Spannweite der Reihe umreißende Sammelbände waren die<br />

von Wolfgang Köllmann zur Bevölkerungsgeschichte, 8 Rolf<br />

Engelsing zur »Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten«<br />

(Bd. 4,1978), Hartmut Kaelbles Untersuchungen zur<br />

sozialen Mobilität 9 oder die Arbeiten des großen amerikanischen<br />

Historikers Gerald G. Feldman über die deutsche Wirtschafts-<br />

und Sozialgeschichte von 1914 bis 1932. 10 Von den führenden<br />

Wirtschaftshistorikern sind Wolfram Fischer und Richard Tilly 11<br />

sowie Knut Borchardt mit seinem kontrovers diskutierten revisionistischen<br />

Thesen über die Zwangslagen und Handlungsspielräume<br />

der deutschen Politik in der Weltwirtschafskrise der frühen<br />

1930er Jahre 12 vertreten. Auch die wesentlichen Anstöße,<br />

die der Soziologe M. Rainer Lepsius der historischen Wissenschaft,<br />

unter anderem mit seiner These über die feste, eine Demokratisierung<br />

behindernde Verankerung der großen deutschen<br />

Parteien in sozialmoralischen Milieus, gegeben hat, sind im<br />

Jubiläumsband 100 der »Kritischen Studien« leicht greifbar. 13<br />

Mit Thomas Nipperdey, der bewusst ideen- und kulturgeschichtliche<br />

Entwicklungen in seine sozialgeschichtlichen Analysen<br />

—————<br />

7 Emil Lederer, Kapitalismus, Klassenstruktur und Probleme der Demokratie in<br />

Deutschland 1910–1940. Ausgewählte Aufsätze. Mit einem Beitrag von Hans<br />

Speier. Bibliographie von Bernd Uhlmannsiek. Hg. von Jürgen Kocka, Bd. 39, 1979.<br />

8 Wolfgang Köllman, Bevölkerung in der industriellen Revolution. Studien zur<br />

Bevölkerungsgeschichte Deutschlands, Bd. 12, 1979.<br />

9 Hartmut Kaeble, Soziale Mobilität und Chancengleichheit im 19. und 20. Jahrhundert.<br />

Deutschland im internationalen Vergleich, Bd. 55, 1983.<br />

10 Gerald D. Feldman, Vom Weltkrieg zur Weltwirtschaftskrise. Studien zur<br />

Deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1914–1932, Bd. 60, 1984.<br />

11 Richard Tilly, Kapital, Staat und sozialer Protest in der deutschen Industrialisierung.<br />

Gesammelte Aufsätze, Bd. 41, 1980.<br />

12 Knut Borchardt, Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik.<br />

Studien zur Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 50, 1982.<br />

13 M. Rainer Lepsius, Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische<br />

Konstellationsanalysen. Ausgewählte Aufsätze, Bd. 100, 1993. Darin: Parteiensystem<br />

und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft,<br />

S. 25–50.


<strong>200</strong> <strong>Bände</strong> »Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft«<br />

einbezog, 14 - im Band des führenden deutschen Globalisierungshistorikers<br />

Jürgen Osterhammel zur Beziehungsgeschichte und<br />

Zivilisationsvergleich 15 , den Studien über »Liberalismus und<br />

Antiliberalismus« von Heinrich A. Winkler (Bd. 38, 1979), in<br />

Aufsätzen von Hans Mommsen über die Auseinandersetzung der<br />

Arbeiterbewegung mit der Nationalen Frage (Bd. 34, 1979), vor<br />

allem in Deutschland und Österreich sowie den Arbeiten von<br />

Hans-Günter Hockerts, der mit dem gerade erschienenen Band<br />

über den deutschen Sozialstaat seit 1945 16 den inneren Zusammenhang<br />

seiner verschiedenen Studien zu einem zentralen Problem<br />

der neuesten deutschen Geschichte vor allem am Aufstieg<br />

und Niedergang der dynamischen Rente von den 1950er Jahren<br />

bis zu den Jahren nach <strong>200</strong>1 verdeutlicht, wird die Breite des<br />

Themenspektrums und der Auswahl der Autoren aus den verschiedensten<br />

Richtungen der Geschichtswissenschaft bei den<br />

Sammelbänden bekannter Wissenschaftler unterstrichen.<br />

Die Masse der <strong>Bände</strong> waren jedoch Monographien, besonders<br />

über Fragen der Sozialgeschichte, die in ihrer ganzen Vielfalt<br />

und Differenzierung vertreten ist. Dazu gehören Kollektivbiographien<br />

über soziale Gruppen wie über die Entstehung und den<br />

Wandel von Berufen und ihren Trägern. Es finden sich wesentliche<br />

Beiträge zu der von der deutschen Geschichtswissenschaft<br />

lange vernachlässigten Erforschung der Angestellten. Daneben<br />

wurden immer wieder einzelne Gruppen der Arbeiterschaft - die<br />

Bergarbeiter, die Hafenarbeiter, Lohnarbeiter, die Arbeiterfrauen<br />

im Ersten Weltkrieg, die Arbeiterschaft von Mailand, die Bremer<br />

Textilarbeiterinnen - aber auch die Beziehungen zwischen Arbeitern<br />

und Bürgern thematisiert. Eine Reihe von Studien befassten<br />

sich mit dem Bürgertum, das an der Universität Bielefeld Gegenstand<br />

eines sehr erfolgreichen Sonderforschungsbereiches war,<br />

dessen Ergebnisse allerdings weitgehend außerhalb der Reihe<br />

veröffentlicht wurden.<br />

—————<br />

14 Thomas Nipperdey, Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur<br />

neueren Geschichte, Bd. 18, 1976.<br />

15 , Jürgen Osterhammel, Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats.<br />

Studien zur Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Bd. 147, <strong>200</strong>3.<br />

16 Hans Günter Hockerts, Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung<br />

seit 1945, Bd. 119, 2011.<br />

13<br />

13


14<br />

14<br />

Gerhard R. <strong>Ritter</strong><br />

Die Studie von Heinz Reif über den westfälischen Adel 1770<br />

bis 1860 (Bd. 35, 1979) gab der von den professionellen Sozialhistorikern<br />

lange vernachlässigten Adelsforschung in Deutschland<br />

wesentliche Impulse.<br />

Entsprechende Gruppenbiographien befassten sich mit Bauern<br />

und ländlichen Unterschichten, katholische Priestern, Handwerkerchirurgen,<br />

Gruppen von Unternehmern, Bankiers, Ärzten,<br />

Journalisten, Beamten, Volksschullehrern, Richtern, Professoren,<br />

Nationalökonomen, Studenten, kalifornischen Goldgräbern und<br />

schließlich auch Soldaten.<br />

Daneben wurden soziale Proteste, der Wandel der Agrargesellschaft,<br />

die Geschichte der Familie zwischen Tradition und<br />

Moderne und das Heiratsverhalten thematisiert. Christoph Conrad<br />

hat in einer bahnbrechenden Studie den »Strukturwandel des<br />

Alters in Deutschland zwischen 1830 und 1930« (Bd. 104, 1994)<br />

untersucht. Der von Heinrich-August Winkler 1974 herausgegebene<br />

Band von Aufsätzen über »Voraussetzungen und Anfänge<br />

des organisierten Kapitalismus« (Bd. 9, 1974) hat zu einer lebhaften,<br />

die Forschung weiterführenden kontroversen Diskussion<br />

geführt. Wichtige wirtschaftshistorische Themen behandelte der<br />

Deutschland, Frankreich, England und die Vereinigten Staaten<br />

vergleichende Sammelband über »Recht und Entwicklung der<br />

Großunternehmen im 19. und frühen 20. Jahrhundert« (Bd. 40,<br />

1979). Doch auch die Untersuchung von Hannes Siegrist über<br />

den Übergang vom »Familienbetrieb zum Managerunternehmen«<br />

am Beispiel einer Schweizer Firma (Bd. 44, 1981) ist hier<br />

zu nennen. Die frühe Durchsetzung der Marktbeziehungen in<br />

England behandelte Christiane Eisenberg in einer bis auf die<br />

normannische Eroberung 1066 zurückgehenden Studie, 17<br />

Die politische Geschichte im engeren Sinne wurde nur in vergleichsweise<br />

wenigen Arbeiten behandelt, etwa in der Untersuchung<br />

der »Reformpolitik des preußischen Staatskanzlers<br />

Hardenberg« von Barbara Vogel (Bd. 57, 1983)oder die Studie<br />

von Hans-Werner Hahn über die hessischen Staaten und den<br />

Deutschen Zollverein (Bd. 52, 1982). Der Begriff »Parlamentarismus«<br />

kam in den Titeln und Untertiteln der <strong>200</strong> <strong>Bände</strong> nur in<br />

meinem Sammelband, der des Begriffes »Partei« oder der Name<br />

—————<br />

17 Christiane Eisenberg, Englands Weg in die Marktgesellschaft, Bd.187, <strong>200</strong>9.


<strong>200</strong> <strong>Bände</strong> »Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft«<br />

einer Partei kommt nur in diesem sowie in dem Band über<br />

»Großindustrie, Staat und NSDAP 1930–33)« von Reinhard<br />

Neebe (Bd. 45, 1981) oder der Studie von Sebastian Prüfer über<br />

»Die deutsche Sozialdemokratie vor der religiösen Frage 1863<br />

bis 1890« (Bd. 152, <strong>200</strong>2) vor. Die Arbeiterbewegung oder die<br />

Gewerkschaften wurden nur selten thematisiert, etwa in den<br />

bereits erwähnten <strong>Bände</strong>n von Mommsen und <strong>Ritter</strong> und in den<br />

Arbeiten von Rudolf Boch 18 und Christiane Eisenberg 19 und<br />

Wolfgang Renzsch 20 . Dagegen hatten Studien über Interessenverbände,<br />

wahrscheinlich angeregt durch die schon in der Mitte<br />

der 1960er Jahre veröffentlichten Berliner Dissertationen von<br />

Hans Jürgen Puhle über den Bund der Landwirte 21 , von Hartmut<br />

Kaeble über den Centralverband der Industriellen, 22 in den Kritischen<br />

Studien eine starke Beachtung in den insgesamt sechs<br />

Arbeiten, darunter denen von Siegfried Mielke über den Hansa-<br />

Bund (Bd. 17, 1976) und von Hans-Peter Ullmann über den<br />

Bund der Industriellen (Bd. 21, 1976) gefunden.<br />

Sehr wenig findet sich zur Wissenschaftsgeschichte, wenn wir<br />

von den insgesamt zehn Studien zur Geschichte der Geschichtswissenschaft<br />

und der Beschäftigung mit Max Weber in allein<br />

drei <strong>Bände</strong>n absehen. Zu den Arbeiten zur Geschichtswissenschaft<br />

zählt die viel beachtete Untersuchung von Willi Oberkro-<br />

—————<br />

18 Rudolf Boch, Handwerker-Sozialisten gegen Fabrikgesellschaft. Lokale Fachvereine,<br />

Massengewerkschaft und industrielle Rationalisierung in Solingen 1870-<br />

1914, Bd. 67, 1985.<br />

19 Christiane Eisenberg, Deutsche und englische Gewerkschaften. Entstehung<br />

und Entwicklung bis 1878 im Vergleich, Bd. 72, 1986.<br />

20 Wolfgang Renzsch, Handwerker und Lohnarbeiter in der frühen Arbeiterbewegung.<br />

Zur sozialen Basis von Gewerkschaften und Sozialdemokratie im Reichsgründungsjahrzehnt,<br />

Bd. 43, 1980.<br />

21 Hans-Jürgen Puhle, Agrarische Interessen, Politik und preußischer Konservativismus<br />

im wilhelminischen Reich (1893–1914). Ein Beitrag zur Analyse des<br />

Nationalismus in Deutschland am Beispiel des Bundes der Landwirte und der<br />

Deutsch-Konservativen Partei, Hannover 1966. Inzwischen in zweiter verbesserter<br />

Auflage Bonn-Bad Godesberg 1975.<br />

22 Hartmut Kaelble, Industrielle Interessenpolitik in der Wilhelminischen Gesellschaft.<br />

Centralverband Deutscher Industrieller 1895–1914, Berlin 1967.<br />

15<br />

15


16<br />

16<br />

Gerhard R. <strong>Ritter</strong><br />

me über Volksgeschichte 23 ; diese in der NZ-Zeit boomende<br />

Richtung war ein Vorläufer der modernen deutschen Sozialgeschichte,<br />

die allerdings auch ganz andere Wurzeln gehabt hat,<br />

beispielsweise in der historischen Nationalökonomie, bei Karl<br />

Lamprecht und dann etwa bei Hans Rosenberg und Eckart Kehr.<br />

Die in den letzten Jahrzehnten zum Teil in bewusster Entgegensetzung<br />

zur Sozialgeschichte mächtig aufgekommene Kulturgeschichte<br />

fand in den »Kritischen Studien« erst relativ spät<br />

und dann auch nur selten ihren Platz. Immerhin wurde aber die<br />

Pionierstudie von Andreas Gestrich über »Traditionelle Jugendkultur<br />

und Industrialisierung« (Bd. 69, 1986), in der Reihe veröffentlicht.<br />

Der in der Geschichtsschreibung seit den 1980er Jahren verstärkten<br />

Beachtung der Religionsgeschichte und der Frauen- und<br />

Geschlechtergeschichte wurde dagegen in den »Kritischen Studien«<br />

durchaus Rechnung getragen. So habe ich acht Studien zu<br />

Religion und Kirchen und elf Arbeiten, die man der Frauen- und<br />

Geschlechtergeschichte zurechnen kann, davon sechs zwischen<br />

1988 und 1992 erschienen, gezählt.<br />

Sehr bemerkenswert ist das große Interesse, das die Herausgeber<br />

von Vornherein für die außerdeutsche und besonders für<br />

die zwischen einzelnen Ländern vergleichende Geschichte, zu<br />

der 33 Studien veröffentlicht wurden. zeigten. Hier haben sie<br />

besonders anregend gewirkt. Bei den behandelten Ländern<br />

überwiegen mit jeweils 12 Studien klar Frankreich und England<br />

bzw. Großbritannien. Auch die Vereinigten Staaten und die<br />

Schweiz sind mit sechs bzw. vier Studien stark vertreten, während<br />

über Russland bzw. die Sowjetunion zwei, für Italien und<br />

Polen je eine Arbeit veröffentlicht wurden. In keinem der <strong>Bände</strong><br />

werden die sonstigen süd- und südosteuropäischen Länder oder<br />

die nordeuropäischen Staaten behandelt. Mit der Ausnahme<br />

eines Vergleichs zwischen der Geschichtsschreibung zwischen<br />

Westdeutschland und Japan zwischen 1945 und 1960 von Sebastian<br />

Conrad 24 und Studien von Jakob Zollman über die Kolonial-<br />

—————<br />

23 Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische<br />

Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft, 1918–1945, Bd. 101,<br />

1993.<br />

24 Sebastian Conrad, Auf der Suche nach der verlorenen Nation. Geschichtsschreibung<br />

in Westdeutschland und Japan 1945–1960. Bd. 34, 1999.


<strong>200</strong> <strong>Bände</strong> »Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft«<br />

polizei in Deutsch-Südwestafrika von 1894-1915 (Bd. 191,<br />

2010) und Gesine Krüger über Realität, Deutung und Verarbeitung<br />

des Deutschen Kolonialkrieges in Namibia (Bd. 133, 1999)<br />

finden sich keine Arbeiten über Afrika, Asien und den Nahen<br />

und Mittleren Osten oder Lateinamerika.<br />

Die Globalisierung wird in einem 1998 veröffentlichten Aufsatzband<br />

von Wolfram Fischer über »Expansion, Integration,<br />

Globalisierung«(Bd. 125, 1998) erstmals in einem Titel erwähnt<br />

und ist seitdem Gegenstand von mindestens vier weiteren Studien,<br />

u.a. in der bereits erwähnten Studie von Jürgen Osterhammel<br />

»Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats« (Bd.<br />

147, <strong>200</strong>3).<br />

Was wir kaum finden, sind Arbeiten zu einzelnen Personen.<br />

Wenn wir von den bereits erwähnten drei <strong>Bände</strong>n über Max<br />

Weber und einigen Namen in den Untertiteln weniger weiterer<br />

Bücher zu Sachfragen absehen, tauchen mit dem Protestler Dieter<br />

Kunzelmann 25 und dem Sozialhistoriker Werner Conze 26 erstmals<br />

<strong>200</strong>9 bzw. 2010 Personen als zentraler Gegenstand einer<br />

Studie auf.<br />

Wenn wir abschließend noch nach den in den Studien besonders<br />

stark beachteten bzw. eher vernachlässigten Zeitepochen<br />

fragen, so müssen wir zunächst darauf hinweisen, dass die Zuordnung<br />

einer Arbeit zu einer bestimmten Epoche der Geschichte<br />

sehr schwierig ist, da sich politische Zäsuren oft nicht in sozialhistorischen<br />

und wirtschaftshistorischen Wandlungsprozessen<br />

widerspiegeln und Arbeiten daher vielfach epochenübergreifend<br />

sind. Insgesamt 43 der Studien betreffen nach meiner Zählung<br />

mehrere Epochen. Das Schwergewicht liegt, wie bei der Zeitschrift<br />

»Geschichte und Gesellschaft«, eindeutig auf der Zeit seit<br />

dem späten 18. Jahrhundert. Immerhin behandeln aber fünf Arbeiten<br />

die davor liegende Zeit. Eindeutige Schwerpunkte liegen<br />

in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im Kaiserreich und in<br />

der Weimarer Republik. Relativ stark ist, beginnend mit Jürgen<br />

—————<br />

25 Aribert Reimann, Dieter Kunzelmann, Avantgardist, Protestler, Radikaler, Bd.<br />

178, <strong>200</strong>9.<br />

26 Jan Eike Dunkhase, Werner Conze. Ein deutscher Historiker im 20. Jahrhun-<br />

dert, Bd. 194, 2010.<br />

17<br />

17


18<br />

18<br />

Gerhard R. <strong>Ritter</strong><br />

Kockas Pionierstudie über »Klassengesellschaft im Krieg« von<br />

1973, (Bd. 8) der Erste Weltkrieg mit immerhin acht Studien<br />

vertreten.<br />

Die NS-Zeit wurde wohl auch aus Furcht mit sozialgeschichtlichen<br />

Fragestellungen den tiefen moralischen Problemen nicht<br />

gerecht zu werden, lange ausgeklammert. Inzwischen liegen<br />

dazu aber, beginnend mit dem vom polnischen Historiker<br />

Waclaw Dlugoborski herausgegebenen Sammelband über Sozialen<br />

Wandel im Zweiten Weltkrieg 27 12 <strong>Bände</strong>, davon 11 seit den<br />

späten 1980er Jahren, vor.<br />

Zur Geschichte Westdeutschlands bzw. der Bundesrepublik sind<br />

bisher 11 <strong>Bände</strong> veröffentlicht worden, davon 10 seit 1999. Die<br />

erste Studie zur Geschichte der SBZ/DDR, eine vergleichende<br />

Untersuchung über deutsche und polnische Vertriebene und ihre<br />

Politik 1945-1956 von Philipp Ther (Bd. 127), wurde 1998 veröffentlicht.<br />

Seitdem sind in relativ schneller Folge, vor allem<br />

zwischen 1999 und <strong>200</strong>4, sechs weitere Arbeiten, darunter die<br />

brillante Untersuchung von Ralph Jessen über »Die ostdeutsche<br />

Hochschullehrerschaft in der Ulbricht-Ära« (Bd. 135, 1999) und<br />

der wichtige Band von Gunilla Budde über »Akademikerinnen in<br />

der DDR 1945-1975« (Bd. 162, <strong>200</strong>3)erschienen.<br />

Insgesamt ist die Reihe der Kritischen Studien eine erstaunliche<br />

Erfolgsgeschichte, auch wenn es nur zehn <strong>Bände</strong> zu einer<br />

zweiten und einer zu einer dritten Auflage geschafft haben. Die<br />

Reihe hat entscheidend dazu beigetragen, die Sozialgeschichte in<br />

der deutschen Geschichtswissenschaft breit zu verankern. Sie hat<br />

mitbewirkt, dass die Auseinandersentwicklung von Wirtschaftsgeschichte<br />

und allgemeiner Geschichte nicht noch weiter gegangen<br />

ist, obwohl sie diese bedauernswerte, auch international zu<br />

beobachtende Entwicklung, nicht verhindern konnte. Sie hat<br />

viele weiße Flecke auf der Landkarte der Geschichte, insbesondere<br />

die der gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse, und<br />

sozialer Gruppen, erforscht und ins Bewusstsein der Zunft der<br />

Historiker gehoben. Sie hat viele fruchtbare Diskussionen ausgelöst.<br />

—————<br />

27 Waclaw Dlugoborski (Hg.), Zweiter Weltkrieg und sozialer Wandel. Achsenmächte<br />

und besetzte Länder. Achtzehn Beiträge, Bd. 47, 1981.


<strong>200</strong> <strong>Bände</strong> »Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft«<br />

Sie hat sich, wie am Beispiel der Kulturgeschichte, der Geschlechtergeschichte,<br />

der Religionsgeschichte und der Globalgeschichte<br />

gezeigt wurde - allerdings oft mit einiger Verzögerung -<br />

neuen Richtungen und Themenbereichen der Geschichtswissenschaft<br />

geöffnet und zunehmend die Analyse von Strukturen und<br />

Prozessen mit der der Handlungen und Wahrnehmungen von<br />

individuellen Menschen verknüpft. Die Auflösung von Geschichte<br />

in Geschichten und die Mode extremer Vertreter des<br />

»linguistic turn«, keine historische Wirklichkeit jenseits der<br />

Sprache anzuerkennen und die Geschichte auf Diskurse zu reduzieren,<br />

hat sie – meines Erachtens zu Recht – nicht mitgemacht.<br />

Der Band <strong>200</strong> stellt zweifellos eine Zäsur in der Entwicklung<br />

der »Kritischen Studien« dar. Zwei der Gründungsväter – Helmut<br />

Berding und Hans-Ulrich Wehler –, die die Reihe 40 Jahre<br />

entscheidend geprägt haben, scheiden aus. Allein Jürgen Kocka<br />

steht nun noch für die Kontinuität zur Gründungszeit der frühen<br />

1970er Jahre. Das Herausgeber-Team, dem neben ihm, Hans-<br />

Peter Ullmann, Paul Nolte und Dieter Gosewinkel angehören,<br />

wird nun durch Gunilla Budde und Alexander Nützenadel ergänzt.<br />

Einige Wünsche möchte ich an das neue Team richten.<br />

Halten Sie an der relativ weiten zeitlichen Ausdehnung der<br />

Reihe fest. Versuchen Sie, die Geschichte der NS-Zeit, der Bundesrepublik,<br />

der DDR und schließlich auch die Geschichte der<br />

Berliner Republik seit 1990 noch stärker zu berücksichtigen.<br />

Nehmen Sie die Globalisierung ernst. Versuchen Sie die transnationalen<br />

Verflechtungen zwischen Ländern und Kontinenten und<br />

auch die außereuropäische Geschichte neben der der Vereinigten<br />

Staaten stärker einzubeziehen. Lassen Sie sich trotz der damit<br />

verbundenen großen methodischen und sachlichen Probleme<br />

stärker auf die Wissenschaftsgeschichte und gerade auch die<br />

Geschichte der Naturwissenschaften ein, da diese zunehmend<br />

unser Leben bestimmen. Versuchen Sie, neben der Geschichte<br />

des Sozialstaats, auch die Geschichte des Rechts und rechtlicher<br />

Institutionen stärker in den Kreis der Kritischen Studien einzubeziehen.<br />

Halten Sie bei all dem aber an der Betonung der Analyse<br />

statt der Erzählung in der Methode und an der Gesellschaft<br />

im weitesten Sinne als zentralem Gegenstand der Studien fest,<br />

denn diese sind die unverzichtbaren Alleinstellungsmerkmale<br />

19<br />

19


20<br />

20<br />

Gerhard R. <strong>Ritter</strong><br />

dieser Reihe. Um diesen Wünschen gerecht zu werden, wünsche<br />

ich Ihnen Originalität, die Fähigkeit, weiter ältere Kollegen und<br />

jüngere Nachwuchswissenschaftler zur Mitarbeit zu gewinnen,<br />

und schließlich auch die grosse, gleichzeitig aber auch sehr effektive<br />

Arbeitskraft, die Ihre Vorgänger ausgezeichnet hat. Und<br />

natürlich hoffe ich auch, dass der Verlag an seinen beiden Flaggschiffen<br />

im Bereich der Geschichte – der Zeitschrift »Geschichte<br />

und Gesellschaft« und den »Kritischen Studien« – festhält und<br />

sie in Ihrer Arbeit weiter unterstützt.

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