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Behandlung des Tourette-Syndroms - Medizinische Hochschule ...

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<strong>Behandlung</strong><strong>des</strong> <strong>Tourette</strong>-<strong>Syndroms</strong>vonPD Dr. med. Kirsten R. Müller-VahlAbteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie<strong>Medizinische</strong> <strong>Hochschule</strong> Hannover


<strong>Tourette</strong>-Syndrom<strong>Behandlung</strong><strong>des</strong> <strong>Tourette</strong>-<strong>Syndroms</strong>vonPD Dr. med. Kirsten R. Müller-VahlAbteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie<strong>Medizinische</strong> <strong>Hochschule</strong> Hannover


Diese Broschüre wurde konzipiert, um Personen mit <strong>Tourette</strong>-Syndromund deren Angehörige über die derzeitigen<strong>Behandlung</strong>smöglichkeiten der Erkrankung zu informieren.Sie soll und kann die Diagnostik und Therapie durch einenArzt nicht ersetzen.Die Broschüre wurde verfasst von:PD Dr. med. Kirsten Müller-VahlAbteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie<strong>Medizinische</strong> <strong>Hochschule</strong> HannoverCarl-Neuberg-Str. 130625 HannoverTel.: 0511-5323167Fax: 0511-5323187e-mail: mueller-vahl.kirsten@mh-hannover.deHerausgeber:<strong>Tourette</strong>-Gesellschaft Deutschland e.V.Vorstand:Silvia Viertel, Greiz (1. Vorsitzende)Michaela Flecken, Monschau (2. Vorsitzende)Wolf Hartmann, Hamburg (Kassenwart)Geschäftsstelle: c/o Prof. Dr. A. RothenbergerKinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie der Universität GöttingenVon-Siebold-Straße 5D - 37075 GöttingenTel.: 05 51/39 67 27Fax: 05 51/39 81 20Internet: www.tourette-gesellschaft.dewww.tourette.deDanksagung:Herrn Prof. Dr. A. Rothenberger danke ich sehr herzlich fürdie kritische Durchsicht <strong>des</strong> Manuskriptes und die wichtigenErgänzungen zu speziellen Aspekten der <strong>Behandlung</strong>von Kindern und Jugendlichen mit <strong>Tourette</strong>-Syndrom.INHALTSVERZEICHNISEINLEITUNG 6BEHANDLUNG VON TICS 8Allgemeine Vorbemerkungen 8Dopaminantagonisten (Neuroleptika) 11Clonidin 15Weitere Medikamente und experimentelle Therapien 15GABAerge Substanzen 16Botulinumtoxin 16Dopaminagonisten 17Opiatantagonisten 17Nikotin 17Cannabis sativa 18Antibiotika und Immuntherapie 18Neurochirurgie 19Nichtmedikamentöse Therapien 20THERAPIE VON VERHALTENSSYMPTOMENIM RAHMEN DES TS 21Zwangsgedanken und –handlungen 21Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) 23Autoaggression 26Angst 27Depression 27PANDAS 28ZUSAMMENFASSUNG 30WEITERFÜHRENDE LITERATUR 314 5


EINLEITUNGAuch wenn in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte inder Erforschung <strong>des</strong> <strong>Tourette</strong>-<strong>Syndroms</strong> (TS) erzielt werdenkonnten, ist die Entstehung <strong>des</strong> TS nach wie vor nichtgeklärt. So gelang es bisher auch nicht, einen Gendefektzu finden, der dem TS zugrunde liegt. Eine ursächliche<strong>Behandlung</strong> oder gar Heilung ist <strong>des</strong>halb nicht möglich.Nach wie vor erfolgt die <strong>Behandlung</strong> <strong>des</strong> TS rein symptomatisch,das heißt entsprechend Art und Ausprägung derjeweiligen Symptome. Derzeit ist kein Medikamentbekannt, welches gleichzeitig alle Symptome <strong>des</strong> TS (wieTic, Zwang, hyperkinetische Störung) günstig beeinflusst.Für alle zur Verfügung stehenden Medikamente gilt, dasssie nicht bei allen Patienten wirksam sind und dass sienicht zu einer Symptomfreiheit, sondern „lediglich“ zueiner Abnahme der Beschwerden führen und darüber hinausleider nicht selten von Nebenwirkungen begleitet sind.Deshalb muß über eine <strong>Behandlung</strong> unter Beachtung derspeziellen Probleme <strong>des</strong> Einzelfalls entschieden werden.Hierbei richtet sich die Art der <strong>Behandlung</strong> nach derSymptomkonstellation und – schwere sowie nach der individuellenBeeinträchtigung durch das TS.Da die Symptome <strong>des</strong> TS – und in besonderem Maßemotorische und vokale Tics - Schwankungen unterliegen,ist nach Beginn einer medikamentösen Therapie eineVerlaufskontrolle notwendig. Bei Symptomzunahme mußggf. eine Dosiserhöhung erfolgen, bei Symptomabnahmekann eine Reduktion oder eventuell sogar eine Beendigungder medikamentösen Therapie angezeigt sein.wendung kommen, so ist dies im Rahmen eines sogenanntenindividuellen Heilversuches möglich, welcher <strong>des</strong> informiertenEinverständnisses der Eltern und einer schriftichenZustimmung bedarf. Selbstverständlich muß bei Kindern ingeeigneter Weise eine Begleitung, Aufklärung und psychosozialeBetreuung (durch Eltern, Lehrer und ggf. Therapeuten)in Hinblick auf das TS erfolgen.In dieser Übersicht werden die derzeit anerkannten <strong>Behandlung</strong>smöglichkeiten<strong>des</strong> <strong>Tourette</strong>-<strong>Syndroms</strong> dargestellt.Weiterhin werden neue Therapieansätze erwähnt, die sichmomentan noch in der Erprobung befinden. Diese Übersichtkann nicht als Anleitung zur „Selbstbehandlung“ verstandenwerden. Die Therapie sollte stets durch einen inder <strong>Behandlung</strong> <strong>des</strong> TS erfahrenen Arzt überwacht werden.Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass für viele (insbesondereerwachsene) Patienten bereits die korrekte Diagnosestellungeine deutliche Entlastung darstellt. Mehrheitlichwird eine umfassende Information über die Erkrankung alshilfreich empfunden. Auch die Aufklärung <strong>des</strong> unmittelbarensozialen Umfel<strong>des</strong> (etwa der Lehrer oder Berufskollegen)wirkt sich zumeist günstig aus. Schließlich stellt fürviele der Kontakt und Austausch mit anderen Personen mit<strong>Tourette</strong>-Syndrom, wie sie durch die <strong>Tourette</strong>-GesellschaftDeutschland e.V. (TGD) und deren Regionalgruppen sowiedas Internetangebot (www.tourette.de, www.tourette-gesellschaft.de)ermöglicht wird, eine wesentliche Hilfe dar.Auch wenn die <strong>Behandlung</strong> <strong>des</strong> TS unverändert als schwierigund als nicht wirklich befriedigend zu bezeichnen ist,können die derzeit verfügbaren Medikamente dennochbei vielen Patienten eine erhebliche Entlastung bewirken.Die Unzulänglichkeiten der aktuellen <strong>Behandlung</strong>smöglichkeitensollten jedoch Anlaß geben, nach neuen Therapiestrategienzu suchen.Für die medikamentöse <strong>Behandlung</strong> von Kindern ergebensich im Vergleich zur Therapie von Erwachsenen keinegrundlegenden Unterschiede. Einige der bei Erwachseneneingesetzten Medikamente sind jedoch für die <strong>Behandlung</strong>von Kindern nicht zugelassen. Sollen sie dennoch zur An-6 7


BEHANDLUNG VON TICSAllgemeine VorbemerkungenMotorische und vokale Tics stellen die Kernsymptome <strong>des</strong>TS dar. Eine medikamentöse Therapie sollte dann erfolgen,wenn Tics stark ausgeprägt sind, wenn einzelne Tics sehrstörend sind (z.B. erhebliche Koprolalie = Aussprechenobszöner Wörter), wenn Komplikationen drohen (beispielsweiseinfolge von Selbstverletzungen) und bei deutlichersubjektiver Belastung (z.B. mit beruflichen Nachteilen).Als Substanzen der 1. Wahl gelten verschiedene Neuroleptika(sogenannte Dopaminrezeptorblocker oder Dopaminantagonisten).Hier haben sich eine Vielzahl von Substanzenwie Tiaprid (Tiapridex ® ), Pimozid (Orap ® ), Risperion(Risperdal ® ), Sulpirid (Dogmatil ® ), Haloperidol (Haldol ® ),aber auch andere klassische (ältere) und atypische (neuere)Neuroleptika als wirksam erwiesen.Offiziell von den entsprechenden Behörden in Deutschlandzugelassen für die <strong>Behandlung</strong> <strong>des</strong> <strong>Tourette</strong>-Syndrom bzw.von Tics ist jedoch lediglich Haloperidol (Haldol ® ). Dieswar das erste Medikament, das vor etwa 40 Jahren erfolgreichin der Therapie von Tics eingesetzt wurde. Haloperidol(Haldol ® ) gilt seither als effektiv, ist jedoch mit relativvielen Nebenwirkungen verbunden und wird daher inDeutschland nur noch selten zur <strong>Behandlung</strong> von Tics eingesetzt.In den USA ist von den dortigen Behörden nebenHaloperidol (Haldol ® ) auch Pimozid (Orap ® ) für die Therapie<strong>des</strong> TS zugelassen.Eine Einschätzung, welches der verschiedenen Medikamenteam effektivsten bzw. nebenwirkungsärmsten ist, ist nichtohne weiteres möglich. Grund hierfür ist in erster Linie dieunzureichende Studienlage. Während für die älterenMedikamente (z.B. Haloperidol (Haldol ® ), Pimozid (Orap ® ))zahlreiche Studien zu Wirkung und Verträglichkeit durchgeführtwurden, liegen für fast alle neueren Medikamente (mitAusnahme von Risperidon (Risperdal ® ) lediglich Fallberichte(mit Beschreibungen einzelner Patienten) oder kleinere Studien(mit nur geringen Fallzahlen von 10-20 Patienten) vor.Nach eigener Einschätzung hat sich in den vergangenenJahren – mit der Markteinführung der neueren atypischenNeuroleptika – die Verschreibungspraxis in Deutschlanddeutlich gewandelt. Da diese neueren Medikamente in derRegel nebenwirkungsärmer sind als die sogenannten klassischen(älteren) Neuroleptika, werden die „Atypika“gegenwärtig oft verordnet – auch wenn die Wirkung beiTS bisher nicht ausreichend in Studien untersucht wurde.Anzumerken ist an dieser Stelle, dass Neuroleptika nichtetwa für die Therapie <strong>des</strong> TS, sondern für die <strong>Behandlung</strong>von psychotischen Erkrankungen wie beispielsweiseSchizophrenien entwickelt wurden.Nachdem sich das Neuroleptikum Haloperidol (Haldol ® )als wirksam in der Therapie von Tics erwiesen hatte, wurdenseither zahlreiche neuere Neuroleptika relativ raschnach Markeinführung auch bei Patienten mit TS – trotz fehlenderZulassung – eingesetzt, um Wirksamkeit undVerträglichkeit bei diesen Patienten zu prüfen.Wegen fehlender ökonomischer Interessen ist nicht zuerwarten, dass diese neueren Substanzen in den nächstenJahren in großen, von der Pharmaindustrie unterstütztenStudien bei Patienten mit TS untersucht werden. Darausfolgt, dass sich die <strong>Behandlung</strong> <strong>des</strong> TS gegenwärtig nichtnur auf wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern auch aufpersönliche Erfahrungen stützt. Dies spiegelt sich beispielsweisedarin wieder, dass führende TS-Experten sehr unterschiedlicheEmpfehlungen zur Therapie von Tics geben.Während der amerikanische Kinderneurologe H. Singerals Substanzen der 1. Wahl die in den USA zugelassenenklassischen Neuroleptika Haloperidol (Haldol ® ) undPimozid (Orap ® ) empfiehlt, favorisiert der amerikanischeNervenarzt J. Jankovic eine <strong>Behandlung</strong> mit dem klassischenNeuroleptikum Fluphenazin (Dapotum ® , Lyogen ® )und schlägt als Alternativen Tetrabenazin (Nitoman ® ) undverschiedene atypische Neuroleptika vor. Die englischePsychiaterin M. Robertson empfiehlt darüber hinausSulpirid (Dogmatil ® ) und Clonidin (Catapresan ® ), währendandere Ärzte auch Guanfacin (Estulic ® ), Clonazepam(Rivotril ® ) und Baclofen (Lioresal ® ) als Medikamente der 1.Wahl ansehen.Die Auswertung einer internationalen, in Kanada geführ-8 9


ten Datenbank anhand der Befunde von 3.500 <strong>Tourette</strong>-Patienten aus 22 Ländern im Jahre 2000 ergab, dassClonidin (Catapresan ® ) das weltweit am häufigsten verordneteMedikament zur <strong>Behandlung</strong> von Tics ist. In absteigenderHäufigkeit wurden darüber hinaus Haloperidol(Haldol ® ), Pimozid (Orap ® ) und Risperidon (Risperdal ® )verschrieben. Es ist anzunehmen, dass eine aktuelle Auswertungeine höhere Verschreibungsquote der neuerenNeuroleptika ergeben würde. Ferner ist zu beachten, dassin diese Auswertung zwar auch Patienten aus zweiZentren in Deutschland eingingen, dass mehrheitlich jedochPatienten aus Nordamerika aufgenommen wurden.Die Studie verdeutlichte, dass die Verschreibungspraxis inunterschiedlichen Ländern nicht nur hinsichtlich der Wahl<strong>des</strong> Medikamentes stark schwankt, sondern auch hinsichtlichder Verschreibungshäufigkeit: während im Mittel 60%aller in dieser Untersuchung erfassten Patienten jemals miteinem Medikament zur Verminderung der Tics behandeltworden waren, lag die Verschreibungsquote in den USAbei 74%, in Kanada dagegen nur bei 47%.In einer eigenen Studie aus dem Jahre 2004 bei 480Patienten mit <strong>Tourette</strong>-Syndrom, die sich zwischen 1995und 2004 in unserer Klinik ambulant vorstellten, fandenwir folgende Ergebnisse zur aktuellen Medikation: zumZeitpunkt der Erstvorstellung waren 180 der 480 Patienten(37,5%) medikamentös behandelt. Davon nahmen 81Patienten (16,9%) Tiaprid ein. Dies stellte das mit Abstandam häufigsten verordnete Medikament dar, gefolgt vonanderen typischen und atypischen Neuroleptika wie Orap(Pimozid ® ) (5,0%), Sulpirid (Dogmatil ® ) (1,3%), anderenklassischen (2,7%) und atypischen Neuroleptika (1,9%).Zu betonen ist, dass diese Zahlen nicht etwa die Verschreibungspraxisin der <strong>Tourette</strong>-Sprechstunde der <strong>Medizinische</strong>n<strong>Hochschule</strong> Hannover widerspiegeln, sondern dieMedikation zum Zeitpunkt der Erstvorstellung in unsererAmbulanz aufzeigen.Diesen Untersuchungen, aber auch unseren eigenenErfahrungen zufolge wurden in Deutschland in der vergangenenJahren am häufigsten Tiaprid (Tiapridex ® ), Pimozid(Orap ® ), Sulpirid (Dogmatil ® ) sowie die neueren atypischenNeuroleptika wie Risperidon (Risperdal ® ) verordnet.Während Tiaprid (Tiapridex ® ) in Deutschland bei Kindernunverändert als Substanz der 1. Wahl gilt, so hat sicheigener Einschätzung zu Folge die <strong>Behandlung</strong>spraxis beiErwachsenen gewandelt: Neben Sulpirid (Dogmatil ® ) werdenweniger die klassischen Neuroleptika wie Pimozid(Orap ® ) verordnet, sondern viel häufiger die neueren atypischenNeurolepika (zu Einzelheiten s. unten).Dopaminantagonisten (Neuroleptika)Neuroleptika gelten bis heute als Medikamente der 1.Wahl in der Therapie von Tics. Für nahezu alle, bisheruntersuchten Substanzen dieser Medikamentengruppekonnte eine Wirkung auf Tics gezeigt werden. Nur wenigeStudien untersuchten hingegen zwei Neuroleptika imVergleich hinsichtlich Effektivität und Verträglichkeit. Beider Entscheidung, welches Medikament eingesetzt werdensoll, spielt die Nebenwirkungsrate eine bedeutende Rolle,weil sich nach bisherigem Kenntnisstand viele Medikamenteweniger in der Wirksamkeit als in der Nebenwirkungsrateunterscheiden.Bei Kindern gilt Tiaprid (Tiapridex ® ) – zumin<strong>des</strong>t inDeutschland - als Medikament der 1. Wahl. Obwohl diesesMedikament nur in wenigen Studien untersucht wurde,und in anderen Ländern wie USA, Kanada und Englandgar nicht auf dem Markt ist, kann dieser „deutscheSonderweg“ wegen der langjährigen günstigen Erfahrungenin der Kinder- und Jugendpsychiatrie als gut begründetangesehen werden. Tiaprid (Tiapridex ® ) scheint imVergleich mit anderen Neuroleptika wie Pimozid (Orap ® )und Haloperidol (Haldol ® ) etwas schwächer wirksam zusein. Entsprechende Vergleichsuntersuchungen wurdenaber bisher nicht durchgeführt. Sollte daher die Wirkungvon Tiaprid (Tiapridex ® ) unzureichend sein, wird derWechsel auf ein anderes Neuroleptikum wie etwaRisperidon (Risperdal ® ) oder Sulpirid (Dogmatil ® ) empfohlen.Risperdal (Risperdal ® ) sollte der Verzug gegeben werden,wenn neben den Tics auch Verhaltensauffälligkeitenwie ein Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom(ADHS) oder eine Störung <strong>des</strong> Sozialverhaltens bestehen,da sich diese Substanz auch hierbei als wirksam erwiesenhat.1011


In der <strong>Behandlung</strong> von Erwachsenen empfehlen wir derzeitneben dem klassischen Neuroleptikum Sulpirid (Dogmatil® ) in erster Linie neuere atypische Neuroleptika wieRisperidon (Risperdal ® ), Olanzapin (Zyprexa ® ), Amisulprid(Solian ® ), Quetiapin (Seroquel ® ), Ziprasidon (Zeldox ® ) undseit wenigen Monaten auch Aripiprazol (Abilify ® ). Für allediese neueren Substanzen liegen entweder Einzelfallberichteoder kleinere Studien vor, die eine Wirksamkeitannehmen lassen. Größere Studien oder Vergleichsuntersuchungender Präparate untereinander fehlen jedoch. Ambesten wurde bisher Risperidon (Risperdal ® ) untersucht.Welchem der Medikamente im Einzelfall der Verzug zugeben ist, unterliegt nicht zuletzt persönlichen Erfahrungen.Nachdem wir über viele Jahre gute Erfahrungen mitSulpirid (Dogmatil ® ) gemacht hatten, haben wir in jüngsterZeit häufig das mit Sulpirid (Dogmatil ® ) chemisch verwandteAmisulprid (Solian ® ) eingesetzt. Unseren Erfahrungenzufolge scheint Amisulprid (Solian ® ) bei vergleichbarerWirkung eine etwas geringere Nebenwirkungsrate aufzuweisenals Sulpirid (Dogmatil ® ). Sulpirid (Dogmatil ® )scheint nicht nur zu einer Verminderung von Tics zu führen,sondern zudem günstig auf andere Symptome wie Zwang,Aggression und depressive Verstimmung zu wirken.Einzelfallberichte sprechen momentan für eine guteWirkung und Verträglichkeit von Aripiprazol (Abilify ® ).Studien fehlen jedoch auch für diese Substanz noch gänzlich.Olanzapin (Zyprexa ® ) wird – trotz wohl ebenfallsguter Tic-Verminderung – wegen der häufigen Nebenwirkungder Gewichtszunahme seltener eingesetzt. Das atypischeNeuroleptikum Clozapin (Leponex ® ) hingegen hatsich in der Therapie von Tics als unwirksam erwiesen;zudem kann es schwere Nebenwirkungen mit Blutbildveränderungenhervorrufen.Metoclopramid (Paspertin ® ), ein Dopaminrezeptorblocker,der überwiegend in der Therapie von Übelkeit und Erbrecheneingesetzt wird, scheint ebenfalls zu einer gewissenTic-Verminderung zu führen. Im klinischen Alltag wirddieses Medikament nur selten eingesetzt. Tetrabenazin(Nitoman ® ), das ebenfalls auf das Dopaminsystem <strong>des</strong>Gehirns einwirkt - jedoch nicht wie die Dopaminantagonistenpostsynaptisch die Rezeptoren (Bindungsstellen)blockiert, sondern zu einer Entleerung der präsynaptischgelegenen Dopaminspeicher führt - ist nach einigen Berichtenauch zur <strong>Behandlung</strong> von Tics geeignet, verursachtjedoch häufiger als andere Substanzen Depressionen.Bestehen ausgeprägte Tics, die nicht durch eine <strong>Behandlung</strong>mit o.g. Substanzen gebessert werden können, sosollte in jedem Fall auch heute noch ein Therapieversuchmit dem klassischen Neuroleptikum Pimozid (Orap ® ) erfolgen,dass vermutlich etwas nebenwirkungsreicher als dieneueren Neuroleptika ist, aber zumeist eine gute Tic-verminderndeWirkung aufweist. Haloperidol (Haldol ® ) hingegenwird zumin<strong>des</strong>t in Deutschland – trotz bestehenderZulassung – nur noch sehr selten zur <strong>Behandlung</strong> von Ticseingesetzt, da es häufig deutliche Nebenwirkungen hervorruft.Die klinische Erfahrung lehrt, dass Neuroleptika bei jedemeinzelnen Patienten unterschiedlich wirken und diessowohl hinsichtlich <strong>des</strong> positiven Effektes als auch derNebenwirkungen. Eine Vorhersage ist hierzu nicht möglich.Bei einer kleinen Zahl von Patienten führen Neuroleptikazu keiner Verminderung von Tics, in Einzelfällen wur<strong>des</strong>ogar eine Verschlechterung beobachtet. Bei fehlenderWirkung (oder Unverträglichkeit) eines der genanntenMedikamente kann es im klinischen Alltag sinnvoll sein,dieses durch ein zweites oder gar drittes Medikament zuersetzen. Alle Neuroleptika wirken zwar hemmend aufdas Dopaminsystem ein, sie unterscheiden sich aber zumTeil erheblich in ihrer jeweiligen Wirkung auf die verschiedenenDopaminrezeptoren im Gehirn.Zu Beginn der <strong>Behandlung</strong> sollte in der Regel nur einMedikament gegeben werden, um <strong>des</strong>sen Wirkung undVerträglichkeit genau beurteilen zu können. Die <strong>Behandlung</strong>sollte niedrig dosiert begonnen und die Dosisnach und nach langsam je nach Wirkung und Verträglichkeitgesteigert werden. Auf die Zahlenangabe vonDosierungen wird an dieser Stelle bewusst verzichtet, dadie Dosierung individuell je nach Verträglichkeit, Wirksamkeit,klinischer Symptomatik – aber auch unter Berücksichtigungvon Alter und Körpergewicht – erfolgenmuß. Als Beispiel sei genannt, dass einzelne Patienten1213


ereits bei einer Gabe von 2 mg Pimozid (Orap ® ) starkeNebenwirkungen verspüren, während andere Dosen bis12 mg vergleichsweise gut vertragen. Ferner muß beieiner <strong>Behandlung</strong> berücksichtigt werden, dass sich Tics imVerlauf oft wandeln. Dem muß durch Anpassung der DosisRechnung getragen werden. Dosisänderungen sollten jedochnicht abrupt und nur in größeren Zeitabständen erfolgen.Derzeit ist noch ungeklärt, ob eine Dauertherapie derVorzug vor einer intermittierenden <strong>Behandlung</strong> mitTherapiepausen zu geben ist. Eine Untersuchung mit demMedikament Pimozid (Orap ® ) ergab einen leichten Vorteilfür eine kontinuierliche <strong>Behandlung</strong>.Dopaminantagonisten verursachen häufig Nebenwirkungen.Zwar bestehen für die einzelnen Medikamente Unterschiedehinsichtlich Häufigkeit und Schwere dieserNebenwirkungen. Die Art der Nebenwirkungen ist abersehr ähnlich. Am häufigsten kommt es während der<strong>Behandlung</strong> zu Müdigkeit, Schwindel, Antriebsarmut, Konzentrationsminderung,Appetitsteigerung und Gewichtszunahme.Ferner können bei Männern Impotenz und beiFrauen eine Störung der Menstruationsblutung eintreten.Sehr selten kommt es bei Männern zu einer Vergrößerungder Brustdrüse und bei Frauen zu Milchfluß. Akutdyskinesien– dies sind verkrampfende Bewegungen besondersim Kopfbereich – treten selten und insbesondere beiraschen Dosisänderungen ein. Parkinsonähnliche Symptomemit Muskelsteifigkeit, Zittern und Bewegungsarmutkommen meist nur unter hohen Dosierungen vor.Ähnliches gilt für eine allgemeine Bewegungsunruhe(Akathisie). Spätdyskinesien – dies sind unwillkürlicheBewegungen, die auch lange nach Beendigung der<strong>Behandlung</strong> noch eintreten können – gelten bei <strong>Tourette</strong>-Patienten als Rarität und stellen daher nach allgemeinerEinschätzung kein Problem dar. Einzelne der Substanzenrufen selten eine Stimmungsverschlechterung, Ängste undaggressives Verhalten hervor. Pimozid (Orap ® ), aber auchandere Neuroleptika, können sehr selten EKG-Veränderungenverursachen, weshalb eine entsprechende Kontrolleempfohlen wird. Fast alle genannten Nebenwirkungensind dosisabhängig, das heißt, sie sind unter höhererDosis häufiger und stärker und bilden sich nach Dosisreduktionoder Therapieende zurück.Die Kombination verschiedener Dopaminblocker stellt nurin Ausnahmefällen eine sinnvolle <strong>Behandlung</strong> dar. Jedochkönnen Dopaminblocker mit anderen Medikamenten kombiniertwerden wie Serotonin-Wiederaufnahmehemmernoder Stimulanzien.ClonidinNeben Dopamin-antagonisten stehen einige wenige andereMedikamente zur <strong>Behandlung</strong> von Tics zur Verfügung.Ihr derzeitiger Stellenwert ist jedoch deutlich geringer.Clonidin (Catapresan ® ) und Guanfacin (Estulic ® ) (sogenannte-2-Adrenoagonisten) beeinflussen nicht das dopaminerge,sondern das adrenerge System <strong>des</strong> Gehirns.Beide Substanzen haben vermutlich eine positive Wirkungauf Tics, die jedoch deutlich geringer ist, als die Wirkungvon Dopaminblockern. Des weiteren scheinen sie Symptome<strong>des</strong> Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndroms(ADHS) zu bessern. Als unerwünschte Wirkungen sindneben einer Blutdrucksenkung Müdigkeit, Schwindel,Mundtrockenheit, Depression und Kopfschmerzen zu nennen.Guanfacin (Estulic ® ) gilt als etwas nebenwirkungsärmerals Clonidin (Catapresan ® ).Weitere Medikamenteund experimentelle TherapienAngesichts der nicht selten unbefriedigenden Ergebnisse inder <strong>Behandlung</strong> von Tics mit diesen etablierten Medikamentenwerden derzeit andere Substanzen erforscht.Die nachfolgend genannten Therapien müssen noch alsexperimentell bezeichnet werden. Zum Teil handelt es sichhierbei um Medikamente, die in der <strong>Behandlung</strong> andererErkrankungen etabliert sind, deren Stellenwert in der <strong>Behandlung</strong><strong>des</strong> TS jedoch noch nicht abschließend geklärtist. Einige andere Substanzen werden erst seit kurzer Zeitüberhaupt in der Medizin angewandt. Da meist nur kleinereStudien mit wenigen Patienten durchgeführt wurden undderen Ergebnisse zudem zum Teil widersprüchlich sind, isteine abschließende Beurteilung derzeit noch nicht möglich.1415


GABAerge SubstanzenGABA (Gamma-Amino-Buttersäure) ist der am stärkstenhemmend wirkende Botenstoff <strong>des</strong> Gehirns. GABAergwirksame Medikamente fördern daher dieses hemmendeSystem. Diazepam (Valium ® ) scheint zu einer Abnahmevon Tics und anderen Symptomen zu führen. Wegen <strong>des</strong>hohen Risikos einer Abhängigkeit kann dieses Medikamentjedoch nicht empfohlen werden. Clonazepam(Rivotril ® ), ein Medikament, das sowohl auf das GABAergeals auch auf das adrenerge System wirkt, verbessertkleineren Untersuchungen zufolge verschiedene Symptome<strong>des</strong> TS einschließlich Tics. Zudem kann es bei starkerSymptomausprägung (auch autoaggressivem Verhalten)sinnvoll mit Neuroleptika und Serotonin-Wiederaufnahmehemmernkombiniert werden. Als häufigste Nebenwirkungverursacht Clonazepam (Rivotril ® ) Müdigkeit und Schwindel.Auch Baclofen (Lioresal ® ) scheint nach einer jüngeren Untersuchungzu einer Symptomverminderung mit Verbesserung<strong>des</strong> Allgemeinbefindens zu führen.BotulinumtoxinBotulinumtoxin, ein von Bakterien gebildetes Gift, das eineMuskellähmung hervorruft, erwies sich in kleineren Untersuchungenals wirksam in der <strong>Behandlung</strong> von Tics. Da esin einzelne Muskeln injiziert werden muß, eignet es sichnur zur <strong>Behandlung</strong> umschriebener Tics und dies vor allemim Gesichts- und Kopfbereich. Einer größeren Untersuchungzufolge ist es besonders bei sogenannten „dystonenTics“ wirksam, d.h. bei Tics, die einen langsamen undverdrehenden Charakter haben (und nicht rasch undabrupt sind). Es liegen zudem Mitteilungen über eineerfolgreiche <strong>Behandlung</strong> vokaler Tics (einschließlich derKoprolalie) vor durch eine Botulinumtoxin-Injektion unmittelbarin die Stimmlippenmuskeln. Die Wirkung von Botulinumtoxinhält im Mittel 3-4 Monate an. Die Injektionenmüssen nach dieser Zeit wiederholt werden. Als Nebenwirkungensind in erster Linie eine unerwünscht starkeMuskellähmung mit vorübergehender Muskelschwäche –bei Anwendung im Bereich <strong>des</strong> Kehlkopfes mit Heiserkeitund Schluckstörungen – zu nennen.DopaminagonistenIn den letzten Jahren wurden einige Studien veröffentlicht,wonach überraschenderweise ein Dopaminagonist (Pergolid(Parkotil ® )) – also eine Substanz, die das Dopaminsystemfördert und nicht (wie Neuroleptika) hemmt und inder Therapie der Parkinson-Krankheit etabliert ist - ebenfallseffektiv in der Tic-<strong>Behandlung</strong> ist. Es wurde vermutet,dass die positive Wirkung auf eine Interaktion mitDopamin-Autorezeptoren zurückzuführen sei. Dies würdeerklären, warum es in niedriger Dosis zu einer Tic-Verminderung,in hoher Dosis aber zu einer Zunahme der Ticskommen kann. Auch wurde über einen positiven <strong>Behandlung</strong>seffektdurch L-Dopa – ein ebenfalls in der Parkinsontherapiegebräuchliches Medikament – berichtet. Demgegenüberzeigte ein weiterer Dopaminagonist (Talipexol)einer kleineren Studie zufolge keine positiven Effekte aufSymptome <strong>des</strong> TS.OpiatantagonistenOpiatantagonisten hemmen das Opioid-System <strong>des</strong> Gehirns.Kleineren Untersuchungen zufolge führen dieOpiatantagonisten Naloxon (Narcanti ® ), das jedoch nurüber die Vene verabreicht werden kann, und Naltrexon(Nemexin ® ) zu einer Verminderung von Tics und autoaggressivemVerhalten.NikotinFerner gibt es Hinweise, dass Nikotin (als Pflaster oder alsKaugummi angewandt) zu einer Tic-Reduktion führt. Auchwurde berichtet, dass bei einer <strong>Behandlung</strong> mitNeuroleptika durch die Zugabe von Nikotin die Dosis <strong>des</strong>Neuroleptikums vermindert werden kann. Jedoch tratenbei vielen Patienten nikotinbedingte Nebenwirkungen einwie bitterer Geschmack, Übelkeit oder gar Erbrechen.Eine Umfrage unter TS-Patienten ergab, dass nur wenigePatienten eine Tic-Reduktion während <strong>des</strong> Rauchens vonNikotinzigaretten empfanden.Zwar deuteten kleinere Untersuchungen darauf hin, dassauch der Nikotinantagonist Mecamylamin (also eine Substanzmit gegenteiligem Effekt zum Nikotin) zu einerAbnahme von Tics führt. Einer neueren, kontrollierten Stu-1617


die zufolge, konnte aber kein Effekt dieses Medikamentesauf das TS nachgewiesen werden.Cannabis sativaEs liegen anekdotische Mitteilungen vor, wonach bei einzelnenPatienten der Konsum von Cannabis (Marihuana,Haschisch) zu einer Abnahme von Tics und Verhaltensauffälligkeitenführt. In einer systematischen Befragung gabenetwa 80% derjenigen Patienten, die Erfahrungen mitCannabis hatten, an, dass der Konsum von Cannabis einengünstigen Effekt auf das TS habe. In zwei kleineren kontrolliertenStudien führte die <strong>Behandlung</strong> mit delta-9-Tetrahydrocannabinol(THC, Dronabinol), dem Hauptwirkstoffder Cannabispflanze, zu einer signifikanten Abnahme vonmotorischen und vokalen Tics. Als Nebenwirkungen tratengelegentlich Müdigkeit, Benommenheit und Schwindel, seltenAngst und Unruhe ein. Bei einzelnen Patienten führteeine Kombinationsbehandlung mit THC und einem Neuroleptikumzu einer befriedigenden Verminderung der Tics.Bei Erwachsenen kann THC daher als Alternative gesehenwerden, wenn zuvor <strong>Behandlung</strong>sversuche mit Neuroleptikanicht zu einer Verminderung der Tics oder starken Nebenwirkungenführten. Bei Kindern sollte THC nicht angewandtwerden, da es bei gesunden CannabiskonsumentenHinweise darauf gibt, dass ein sehr junges Alter zum Beginn<strong>des</strong> Konsums möglicherweise im Erwachsenenalter zuStörungen von Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Konzentrationführen könnte.Antibiotika und ImmuntherapieSeit wenigen Jahren wird diskutiert, ob bei einem Teil der<strong>Tourette</strong>-Patienten Infektionen mit Bakterien (in erster LinieStreptokokken) und Viren bzw. daraus resultierende Immunvorgängekrankheitsauslösend oder –unterhaltend sind.Aus dieser Vermutung resultieren Therapieansätze mit Antibiotikaund verschiedenen in das Immunsystem eingreifendenSubstanzen. Nach allgemeiner Überzeugung solltenderartige <strong>Behandlung</strong>en derzeit nur im Rahmen klinischerStudien erfolgen, um Risiken kalkulieren und den Therapieeffektgenau festlegen zu können (näheres siehe im AbschnittPANDAS).NeurochirurgieNur Einzelmitteilungen liegen über operative <strong>Behandlung</strong>en<strong>des</strong> TS vor. Im Rahmen derartiger Operationenwurden mehrheitlich eng umschriebene Areale in verschiedenenHirnstrukturen (Thalamus, Cingulum, Stirnhirn,Kleinhirn) zerstört, um schwerste, medikamentös nicht beeinflussbareTics und andere Symptome <strong>des</strong> TS (z.B.schwerste Zwänge oder Selbstverletzungen) zu vermindern.Weltweit gibt es in der wissenschaftlichen Literaturvon 1960 bis heute gut 20 Berichte über insgesamt 65Patienten, bei denen solche läsionellen („zerstörenden“)Hirnoperationen durchgeführt wurden. Auch wenn in einzelnendieser Berichte deutliche Symptomverbesserungenbeschrieben wurden, so führten einige dieser Eingriffe zuschweren, zum Teil bleibenden Nebenwirkungen oder siehatten keinerlei Effekt.Solche Operationen müssen derzeit als Ausnahmebehandlungbzw. als experimentelle Therapie betrachtet werden,zumal nicht einmal Klarheit über den Operationsortbesteht.Im Jahre 1999 wurde erstmals über eine erfolgreiche <strong>Behandlung</strong>eines einzelnen Patienten mit tiefer Hirnstimulation(„deep brain stimulation, DBS“) berichtet. Bei dieserMethode, die sich in der <strong>Behandlung</strong> anderer Bewegungsstörungen(wie etwa der Parkinson-Krankheit) bewährthat, werden Elektroden in das Gehirn gelegt, diedurch eine elektrische Stimulation zu einer Unterbrechungder Hirnfunktion an umschriebener Stelle führen. Die Zahlder veröffentlichten <strong>Behandlung</strong>en ist derzeit noch sehrgering, die Zahl der weltweit insgesamt durchgeführtenImplantationen bei TS kann auf etwa 20–30 geschätztwerden. Auch bei dieser Operationsmethode ist gegenwärtigunklar, welches der optimale Stimulationspunkt imGehirn ist. Bisher wurden Stimulationsbehandlungen imThalamus, im Globus pallidus und im Nucleus accumbensdurchgeführt. In den Niederlanden sind kontrollierte Studiengeplant, um die Wirksamkeit dieser <strong>Behandlung</strong>sformbei TS besser beurteilen zu können. Aktuell kann nur inausgewählten Einzelfällen bei sehr schwerem TS, dasdurch etablierte Therapien nicht gebessert werden kann,eine derartige Hirnstimulation in Betracht gezogen werden.1819


Nichtmedikamentöse TherapienNichtmedikamentöse <strong>Behandlung</strong>en spielen derzeit eineuntergeordnete Rolle in der Therapie von Tics. Die tiefenpsychologisch-orientiertePsychotherapie ebenso wie diePsychoanalyse müssen als ungeeignet in der Therapie vonTics eingestuft werden, da die Ursache von Tics organischund nicht psychogen ist.Verhaltenstherapeutische Ansätze werden hinsichtlich ihresEffektes kontrovers diskutiert. Inwieweit das „Habit reversaltraining“ (Gewohnheits-Umkehr-Training) – eine verhaltenstherapeutischeTechnik, bei der die Patienten versuchen,statt <strong>des</strong> Tics eine andere Bewegung zu vollführenbzw. Tics umzuleiten – effektiv in der <strong>Behandlung</strong> von Ticsist, muß mit Hilfe weiterer Studien überprüft werden. FürKinder ist dieses aufwendige Verfahren nicht geeignet.Entspannungsverfahren (wie Autogenes Training oderProgressive Muskelrelaxation) können allenfalls eine kurzanhaltendeSymptomreduktion erzielen, die vermutlichdurch eine unspezifische Verbesserung <strong>des</strong> allgemeinenWohlbefindens zu erklären ist.Für viele Menschen mit TS stellt sich die Frage, ob Ticsdurch Ernährungsgewohnheiten positiv oder negativbeeinflusst werden können. Bisher liegen keine Studienvor, die hierzu eine Antwort geben. Einer Umfrage zufolgescheint die überwiegende Mehrzahl der TS-Betroffenenkeinen Einfluß von bestimmten Lebensmitteln auf ihre Ticswahrzunehmen. Einzig Koffein (in Kaffee und Cola) wurdevon einer größeren Personengruppe als Tic-verschlechterndeingestuft. Dies ist vermutlich auf den im Gehirn stimulierendenEffekt zurückzuführen. Demgegenüber berichtenviele Patienten, dass der Konsum von Alkohol zu einerVerminderung der Tics führt.Abschließend sollte in diesem Zusammenhang nicht unerwähntbleiben, dass Tics nahezu immer stark situationsabhängigsind, so dass verschiedenste UmgebungsfaktorenEinfluß auf die Tic-Ausprägung nehmen können. Aus diesemGrund und wegen <strong>des</strong> stets fluktuierenden Verlaufs istes für das TS in besonderer Weise zu fordern, dass neueTherapieansätze in sogenannten kontrollierten Studienüberprüft werden, die nicht nur eine genügend großePatientenzahl einschließen, sondern auch eine Placebokontrolle– also den Vergleich mit einem Scheinmedikament– vorsehen.THERAPIE VON VERHALTENSSYMPTOMENIM RAHMEN DES TSFür die Diagnose <strong>des</strong> <strong>Tourette</strong>-<strong>Syndroms</strong> sind motorischeund vokale Tics, nicht aber das Bestehen von Verhaltensauffälligkeitennotwendig. Seit vielen Jahren ist jedochbekannt, dass bei <strong>Tourette</strong>-Patienten häufig gleichzeitigverschiedene Verhaltenssymptome bestehen. Oft sinddiese „Begleitsymptome“ nur schwach ausgeprägt undbedürfen keiner Therapie. Jedoch besteht bei manchenPatienten eine komplexe Symptomkonstellation mit vielerleiSymptomen in klinisch relevanter Ausprägung. Im Einzelfallkönnen derartige Verhaltensauffälligkeiten sogardas Hauptproblem darstellen, während die Tics dem gegenüberin den Hintergrund treten. Hinsichtlich der <strong>Behandlung</strong>derartiger Verhaltenssymptome gilt in gleicherWeise, dass eine Therapie nur bei deutlicher Symptomausprägungund sich daraus ergebenden Schwierigkeitenerfolgen sollte.Zwangsgedanken und –handlungenZwänge stellen vermutlich die häufigste Verhaltensauffälligkeitin Zusammenhang mit dem TS dar. Mehrheitlichhandelt es sich jedoch um nicht behandlungsbedürftigeZwangssymptome und nur selten um eine Zwangskrankheit.Die Therapie von Zwängen im Rahmen <strong>des</strong> TS erfolgtnach den gleichen Richtlinien wie die <strong>Behandlung</strong> derZwangserkrankung ohne TS. Es ist jedoch bekannt, dasssich die im Rahmen <strong>des</strong> TS bestehenden Zwänge in mancherHinsicht von jenen bei Personen mit einer Zwangskrankheitohne Tics unterscheiden.Für die <strong>Behandlung</strong> von Zwängen stehen zwei verschiedeneTherapieansätze zur Verfügung: sowohl die Verhaltenstherapieals auch die medikamentöse <strong>Behandlung</strong> habensich in zahlreichen Studien als effektiv erwiesen. Es gibtHinweise, dass die Kombination dieser beiden Verfahrendie günstigsten Ergebnisse liefert.2021


Die medikamentöse <strong>Behandlung</strong> erfolgt in erster Linie mitsogenannten Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SRI).Dies sind Substanzen, die im Gehirn die Wirkung <strong>des</strong>Botenstoffs Serotonin verstärken. Es wird angenommen,dass dieser Botenstoff an der Entstehung von Zwangssymptomenbeteiligt ist. Als wirksam haben sich zahlreicheSubstanzen wie Clomipramin (Anafranil ® ) – ein tricyclischesAntidepressivum – sowie verschiedene selektiveSerotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) wie Fluoxetin(Fluctin ® ), Fluvoxamin (Fevarin ® ), Sertralin (Zoloft ® ),Paroxetin (Seroxat ® ) und Citalopram (Cipramil ® ) erwiesen.Die Nebenwirkungsrate scheint unter Clomipramin(Anafranil ® ) - einem nicht selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer– höher zu sein als unter den anderengenannten Substanzen. Hinsichtlich <strong>des</strong> positiven Effektesbestehen vermutlich keine grundlegenden Unterschiede.Als häufigste Nebenwirkungen wurden Durchfall, Übelkeit,Kopfschmerzen, Müdigkeit und Benommenheit beobachtet.Clomipramin (Anafranil ® ) kann zudem zu Verstopfung,vermehrtem Schwitzen, Mundtrockenheit und Schwindelführen.Alle genannten Substanzen sind gleichzeitig auch zur<strong>Behandlung</strong> von Depressionen geeignet. Zudem könnensie Angstsymptome vermindern. Nach einzelnen Berichtenwirken manche dieser Medikamente auch günstig bei aufbrausendemVerhalten und wiederkehrenden Wutausbrüchen.Führt die alleinige Gabe eines Serotonin-Wiederaufnahmehemmersnicht zu einer Reduktion der Zwangssymptome,so kann versucht werden, die Wirksamkeit dieserMedikamente durch eine Kombination mit anderen Substanzen(etwa Neuroleptika, Buspiron (Bespar ® ),Clonazepam (Rivotril ® ) oder auch Lithium) zu steigern.Nach Einzelerfahrungen kann auch die alleinige <strong>Behandlung</strong>mit Buspiron (Bespar ® ) und Clonazepam(Rivotril ® ) zu einer Reduktion von Zwängen führen.Bestehen bei einem Patienten neben klinisch bedeutsamenZwängen auch andere Symptome (z. B. Tics, Autoaggression(Selbstverletzung) oder ADHS) in relevanter Ausprägung,so kann (oder muß) eine Kombinationsbe-handlung erfolgen. Beispielsweise ist dann die Kombinationeines Serotonin-Wiederaufnahmehemmers mit Neuroleptika,Clonazepam (Rivotril ® ) oder Stimulanzien(Methylphenidat (Ritalin ® , Medikinet ® , Equasym ® )) möglich.Die Kombination eines Neuroleptikums mit einemSerotonin-Wiederaufnahmehemmer kann sowohl zu einerverbesserten <strong>Behandlung</strong> der Tics als auch der Zwängeführen. Bei derartigen Kombinationsbehandlungen mußjedoch auch das erhöhte Risiko von Nebenwirkungenbedacht werden.In der <strong>Behandlung</strong> mit Serotonin-Wiederaufnahmehemmernist zu beachten, dass die Dosierung einschleichenderfolgen soll, um das Eintreten von Nebenwirkungenzu vermindern. Die positive Wirkung dieser Medikamenteauf Zwangssymptome tritt oft verzögert, dassheißt erst nach Wochen, ein. Daher sollte die Therapieausreichend lange (etwa 3 Monate) erfolgen, bevor einMedikament wegen fehlender Wirkung wieder abgesetztwird. Bei guter Verträglichkeit und fehlendem Effekt solltedie Dosis in Absprache mit dem behandelnden Arzt kontinuierlichgesteigert werden. Depressive Symptome sprechenhäufig auf niedrigere Dosierungen an als Zwangssymptome.In Einzelpublikationen wird über Ergebnisse einer operativenTherapie von Zwängen berichtet. Bisher wurden verschiedeneOperationsverfahren angewandt, bei denenjeweils in einem eng umschriebenen Hirnareal eine kleineLäsion gesetzt wurde. Alternativ kann – wie auch bei Tics– neuerdings eine tiefen Hirnstimulation in Betracht gezogenwerden. Eine derartige <strong>Behandlung</strong> sollte jedoch nurin extremen Ausnahmefällen mit stärksten therapieresistentenZwängen (beispielsweise mit lebensbedrohlichenSelbstverletzungen) erwogen werden. Eine abschließendeBeurteilung derartiger Eingriffe ist derzeit wegen ungenügenderStudien noch nicht möglich.Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS)Das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndroms (ADHS)(englisch „attention deficit hyperactive disorder“, ADHD)2223


stellt ebenfalls ein häufiges Begleitsymptom im Rahmen<strong>des</strong> TS dar. Auch hier gelten die gleichen Therapierichtlinienwie bei dieser Störung, die ohne TS auftritt. DasVollbild <strong>des</strong> ADHS umfasst die Symptome Hyperaktivität,Aufmerksamkeitsstörung und Impulskontrollstörung. Es giltals allgemein anerkannt, dass Stimulanzien wie Methylphenidat(Ritalin ® , Medikinet ® , Equasym ® ) und D-Amphetaminsowohl in der <strong>Behandlung</strong> der Hyperaktivität alsauch der Aufmerksamkeitsstörung und der Impulsivitätwirksam sind. Stimulanzien werden daher als Substanzender 1. Wahl in der <strong>Behandlung</strong> <strong>des</strong> ADHS angesehen. ImGehirn führen sie zu einer erhöhten Verfügbarkeit derBotenstoffe Dopamin und Noradrenalin.Seit kurzem ist Methylphenidat auch in Retardform (Concerta® ) (d.h. in einer lang wirkenden Zubereitung) erhältlich.Dieses Medikament stellt eine <strong>Behandlung</strong>salternativedar, wenn beispielsweise starke Nebenwirkungen durchden raschen Wirkbeginn bzw. das rasche Wirkende vonnicht retardiertem Methylphenidat auftreten. Auch eineKombination von Concerta ® mit nicht retardiertem Methylphenidatist möglich.Als Nebenwirkungen ruft Methylphenidat (Ritalin ® ,Medikinet ® , Equasym ® ) am häufigsten Einschlafstörungen,Appetitminderung, Beschwerden <strong>des</strong> Magen-Darm-Traktesund Stimmungsschwankungen hervor. Es ist von besondererRelevanz im Hinblick auf das TS, dass verschiedeneStudien Hinweise darauf erbrachten, dass Stimulanzien zueiner Provokation oder Verschlechterung vorbestehenderTics führen können. Nach neueren Untersuchungen scheintjedoch bei der Mehrzahl der mit Methylphenidat (Ritalin ® ,Medikinet ® , Equasym ® ) behandelten Kinder keine bedeutsameund länger dauernde Verschlechterung der Tics einzutreten.Tics werden daher heute nicht mehr alsHinderungsgrund für eine <strong>Behandlung</strong> mit Methylphenidat(Ritalin ® , Medikinet ® , Equasym ® ) angesehen.Stimulanzien sollten stets einschleichend dosiert werden.Es empfiehlt sich, mit einer morgendlichen Gabe zu beginnen.Aufgrund der relativ kurzen Wirkdauer ist im Verlaufhäufig eine zweite oder dritte Dosis am Vormittag oderMittag nötig. Eine Einnahme am späten Nachmittag oderAbend sollte vermieden werden, um Einschlafstörungen zuverhindern.Als Substanzen der zweiten Wahl in der <strong>Behandlung</strong> <strong>des</strong>Hyperkinetischen <strong>Syndroms</strong> gelten Clonidin (Catapresan ® )und Guanfacin (Estulic ® ) sowie tricyclische Antidepressivawie Desipramin (z.B. Pertofran ® ) und Imipramin (z.B.Tofranil ® ). Clonidin (Catapresan ® ) und Guanfacin (Estulic ® )wirken als -2-adrenerge Agonisten und hemmen dadurchdie Freisetzung <strong>des</strong> Botenstoffes Noradrenalin. BeideSubstanzen können zu einer Verminderung von Hyperaktivität,Aufmerksamkeitsstörung und Impulskontrollstörungführen. Die Wirkung ist jedoch geringer als diejenigeder Stimulanzien. Im Gegensatz zu diesen führen sie imgünstigen Fall jedoch auch zu einer Verminderung vonTics. Häufigste Nebenwirkungen sind Blutdrucksenkung,Müdigkeit, Schwindel, Mundtrockenheit, Depression undKopfschmerzen. Guanfacin (Estulic ® ) verursacht vermutlichseltener Müdigkeit und eine Blutdrucksenkung als Clonidin(Catapresan ® ). Es gibt Hinweise darauf, dass eine Kombinationsbehandlungmit Methylphenidat (Ritalin ® , Medikinet® , Equasym ® ) und Clonidin (Catapresan ® ) der jeweiligenEinzeltherapie überlegen ist. Neuere Studien lassenannehmen, dass das Neuroleptikum Risperidon (Risperdal)nicht nur zu einer Verminderung von Tics, sondern auch zueiner Verbesserung von Symptomen <strong>des</strong> ADHS führt.Seit dem Jahre 2005 ist mit Atomoxetin (Strattera ® ) einweiteres Medikament zur Therapie <strong>des</strong> ADHS sowohl beiKindern auch als bei Jugendlichen in Deutschland zugelassen.Atomoxetin (Strattera ® ) beeinflußt nicht – wieMethylphenidat (Ritalin ® Medikinet ® , Equasym ® ) - dasdopaminerge System <strong>des</strong> Gehirns, sondern wirkt ausschließlichauf das noradrenerge System (Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer). Die häufigsten Nebenwirkungenvon Atomoxetin (Strattera ® ) sind Bauchschmerzen, verminderterAppetit, Übelkeit und Erbrechen. Gelegentlichkönnen Herzstolpern, Kreislaufprobleme (niedriger Blutdruck)und Ohnmacht auftreten. Selten wurden Müdigkeit,Hautausschläge, Stimmungsschwankungen und Reizbarkeitbeobachtet.Den bisherigen Studien zufolge sind Wirkung und Verträg-2425


lichkeit von Methylphenidat (Ritalin ® , Medikinet ® , Equasym® ) und Atomeoxetin (Strattera ® ) bei ADHS vergleichbar.Bisher nicht untersucht wurde die <strong>Behandlung</strong> <strong>des</strong> ADHSmit Atomoxetin (Strattera ® ) bei Patienten mit gleichzeitigbestehendem TS. Im Gegensatz zu Methylphenidat (Ritalin® , Medikinet ® , Equasym ® ) - das gelegentlich zumin<strong>des</strong>tzu einer passageren Zunahme der Tics führen kann -scheint Atomoxetin (Strattera ® ) ersten Erfahrungen zu Folgekeinen ungünstigen Einfluß auf Tics zu haben. Es gibtVermutungen, dass Atomoxetin (Strattera ® ) eventuell sogarzu einer Abnahme von Tics führen könnte. Bei Patientenmit ADHS (ohne TS) stellt Atomoxetin (Strattera ® ) mittlerweileeine wichtige <strong>Behandlung</strong>salternative zu Methylphenidat(Ritalin ® , Medikinet ® , Equasym ® ) dar.Nach diesen ausführlichen Darlegungen zur medikamentösenTherapie <strong>des</strong> ADHS sollte abschließend betont werden,dass die Betreuung von Kindern mit ADHS selbstverständlichstets ein multimodales <strong>Behandlung</strong>sprogrammerfordert. So sollten neben der medikamentösen Therapieimmer auch psychoedukative, heilpädagogische undkognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze Berücksichtigungfinden.AutoaggressionAutoaggression (Selbstverletzung) stellt in relevanter Ausprägungnur ein seltenes Phänomen im Rahmen <strong>des</strong> TSdar. Bei stark ausgeprägter Autoaggression kann es (sehrselten) zu Verletzungen wie Knochenbrüchen, Verbrennungen,Verlust <strong>des</strong> Augenlichtes oder inneren Blutungen kommen.Starke autoaggressive Symptome stellen in der<strong>Behandlung</strong> ein großes Problem dar. Es gibt kein Medikament,das verläßlich zu einer Symptomreduktion führt.Zum Teil werden Kombinationsbehandlungen mit einemDopaminantagonisten plus einem Serotonin-Wiederaufnahmehemmerplus Clonazepam (Rivotril ® ) empfohlen. Inkleineren Studien zeigten auch Opiatantagonisten wieNaltrexon (Nemexin ® ) einen günstigen Effekt auf autoaggressivesVerhalten. Diese Substanzen blockieren die Wirkungkörpereigener Opiate. Bei starken autoaggressivenSymptomen muß deren <strong>Behandlung</strong> der Vorrang gegebenwerden, auch wenn sie zunächst mit starken Nebenwirkun-gen erkauft wird.Mitunter sind auch unkonventionelle Strategien zu ergreifen,wie das Tragen von Handschuhen, um Schläge anden Kopf oder auf die Augen abzumildern.Bei schwersten, medikamentös nicht behandelbarenSelbstverletzungen kann als letzter Ausweg eine neurochirurgische<strong>Behandlung</strong> in Betracht gezogen werden, die vergleichbareiner Operation bei schwersten Zwängenerfolgt.AngstAngstsymptome können im Rahmen <strong>des</strong> TS sowohl in Formeiner generalisierten Angststörung aber auch als sogenanntePhobien oder Panikattacken auftreten. Nur seltensind Angstsymptome bei <strong>Tourette</strong>-Patienten derart starkausgeprägt, dass eine spezielle Therapie notwendig wird.Im Einzelfall ist zu entscheiden, ob einer Psychotherapieoder einer medikamentösen <strong>Behandlung</strong> der Vorzug zugeben ist. Medikamentös werden Angstsymptome in ersterLinie mit Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (zu einzelnenSubstanzen siehe im Abschnitt Zwangsgedanken und-handlungen) behandelt. Als wirksam haben sich auch trizyclischeAntidepressiva (wie Clomipramil (Anafranil ® )und Imipramin (Tofranil ® )) und kombinierte NoradrenalinundSerotonin-Wiederaufnahmehemmer (wie Venlafaxin(Trevilor ® )) erwiesen. Kurzfristig können auch Benzodiazepine(wie Diazepam (Valium ® )) eingesetzt werden. DieseSubstanzen haben zwar eine gute angstlindernde Wirkung,können jedoch schnell zu einer Abhängigkeit führenund sind daher in ihrer Anwendung sehr begrenzt. Im klinischenAlltag ist es notwendig, „Angstsymptome“ vonZwangsgedanken zu differenzieren, die ebenfalls nicht seltenmit angstbesetzten Inhalten einhergehen.DepressionBekanntermaßen treten Depressionen bei Menschen mit<strong>Tourette</strong>-Syndrom häufiger ein als bei nicht <strong>Tourette</strong>-Erkrankten. Die Ursachen hierfür sind vermutlich vielfältig.Einerseits scheint eine genetisch bedingte Neigung zu2627


estehen, andererseits können äußere Faktoren wie eineungenügende Krankheitsbewältigung, Stigmatisierungenoder soziale Benachteiligungen sekundär eine depressiveEntwicklung verursachen.Die <strong>Behandlung</strong> einer Depression erfolgt abhängig vonder Ursache und der klinischen Symptomatik psychotherapeutischund/oder medikamentös. Prinzipiell können bei<strong>Tourette</strong>-Patienten alle verfügbaren Antidepressiva entsprechendden Empfehlungen zur <strong>Behandlung</strong> von depressivenStörungen unabhängig vom TS angewendet werden.Bestehen gleichzeitig auch Zwangssymptome, so ist einer<strong>Behandlung</strong> mit Serotonin-Wiederaufnahmehemmern derVorzug zu geben, da durch diese Substanzen günstigenfallsbeide Symptome gebessert werden.PANDASSeit einigen Jahren wird diskutiert, dass bei einer kleinenGruppe von Kindern ein bakterieller Infekt mit Streptokokken(Gruppe A beta-hämolysierende Streptokokken,GABHS) die Ursache für das Auftreten von Tics und/oderZwängen ist. Für diese Erkrankungsfälle wird derzeit derBegriff PANDAS verwandt (engl. „Pediatric AutoimmuneNeuropsychiatric Disorders Associated with Streptococcalinfections“ = immunologisch bedingte neurologisch-psychiatrischeErkrankungen <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong>alters in Zusammenhangmit einem Streptokokkeninfekt). Die derzeitige Definitionfordert für die Diagnose PANDAS folgende fünf Kriterien:Bestehen von Tics und/oder Zwangssymptomen, Beginnvor der Pubertät, episodischer Verlauf mit abruptem Beginnoder dramatischer Symptomverschlechterung, Symptombeginn/-zunahmein engem zeitlichen Zusammenhangmit einem Streptokokkeninfekt (innerhalb von 4 Wochen),neurologische Auffälligkeiten (beispielweise Hyperaktivität,choreatische Bewegungen).Es ist seit vielen Jahren unbestrittene Praxis in der Kinderheilkunde,dass nachgewiesene Streptokokkeninfekte(positiver Rachenabstrich, positive Antikörpertiter) mit Antibiotikabehandelt werden, um sogenannten Streptokokken-Folgeerkankungen (Rheumatisches Fieber, Herzschädenetc.) vorzubeugen. Selbstverständlich sollte daher auch beider Diagnose PANDAS mit nachgewiesenem akutenStreptokokkeninfekt eine antibiotische Therapie erfolgen.Umstritten ist zurzeit aber, ob darüber hinaus weiterreichendeTherapien wie eine längerfristige vorbeugendeAntibiotikagabe oder die Gabe von Substanzen, die dasImmunsystem beeinflussen, sinnvoll sind. In kleineren klinischenStudien fanden sich Hinweise, dass Immuntherapien(beispielsweise Plasmapherese, intravenöse Immunglobulingabe,Cortison-Präparate, Azathioprin (Imurek ® )) effektivsind. Nach allgemeiner Einschätzung sollten derartige<strong>Behandlung</strong>en aber nur im Rahmen kontrollierter Studienund bei klinisch eindeutiger Diagnose PANDAS eingesetztwerden. So zeigte sich beispielsweise bei einer 2004durchgeführten Studie bei 30 Patienten mit TS, dass überdie Vene applizierte Immunglobuline nicht zu einer anhaltendenVerbesserung von Tics und Zwängen führten.Keinesfalls ist eine generelle <strong>Behandlung</strong> von Kindern mitTics und/oder Zwangssymptomen mit diesen Medikamentensinnvoll. Einerseits ist bis heute nicht abschließend geklärt,ob die Diagnose PANDAS überhaupt als eigenständigesErkrankungsbild gerechtfertigt ist. Andererseits sindoben genannte Immuntherapien zum Teil mit erheblichenRisiken und Nebenwirkungen verbunden.Neue Untersuchungen mit dem Ziel, spezielle Antikörperim Gehirn von Patienten mit TS nachzuweisen bzw. durchdie Verabreichung solcher Antikörper dem TS ähnlicheErkrankungen bei Versuchstieren hervorzurufen, liefertenbisher keine überzeugenden Befunde für die Hypothese,dass das TS eine Autoimmunerkrankung ist.Ob auch andere bakterielle oder virale Infekte an derEntstehung <strong>des</strong> <strong>Tourette</strong>-<strong>Syndroms</strong> (als sogenannte nichtgenetischeFaktoren) beteiligt sind, ist nicht geklärt.Eine <strong>Behandlung</strong> mit immunmodulierenden Medikamentenkann daher bisher nicht empfohlen werden.Zusammenfassung2829


Die <strong>Behandlung</strong> <strong>des</strong> <strong>Tourette</strong>-<strong>Syndroms</strong> erfordert eine guteKenntnis <strong>des</strong> jeweiligen klinischen Bil<strong>des</strong>. Daher sind einegenaue Erhebung der individuellen Krankengeschichtesowie eine fachgerechte Untersuchung unerlässlicheVoraussetzungen. Nach eigenen Erfahrungen hat es sichbewährt, die derzeitigen therapeutischen Möglichkeiten(einschließlich der zu erwartenden Nebenwirkungen) ausführlichmit dem Patienten zu besprechen und diesem dieletzte Entscheidung über eine <strong>Behandlung</strong> zu überlassen.Diese wird nicht nur von der Art und Ausprägung derSymptome, sondern in besonderem Maße auch von derdadurch verursachten subjektiven Belastung abhängigsein. Nach heutigem Kenntnisstand sollte bei geringen undnicht belastenden Symptomen keine medikamentöse<strong>Behandlung</strong> erfolgen, da die derzeit verfügbaren Substanzenweder die Ursache noch den Verlauf <strong>des</strong> TS beeinflussen.Bestehen starke und subjektiv belastende Symptome,überwiegen meist die Vorteile einer medikamentösen<strong>Behandlung</strong> die möglichen Nebenwirkungen. Im Einzelfallkann mit Hilfe der Therapie eine bessere schulischeoder berufliche Leistung ermöglicht werden.Auch wenn das TS als chronisch verlaufende Erkrankungeinzuordnen ist, so ist die längerfristige Prognose günstig,da Tics mit zunehmendem Lebensalter spontan rückläufigsind. Nach eigenen Erfahrungen gelingt der überwiegendenMehrzahl von Menschen mit TS (mit oder ohne medikamentöse<strong>Behandlung</strong>) eine gute soziale Integration.1.) Freeman RD, Fast DK, Burd L, Kerbeshian J,Robertson MM, Sandor P (2000)An international perspective on <strong>Tourette</strong> syndrome:selected findings from 3,500 individuals in 22countries. Dev Med Child Neurol 42:436-4472.) Jankovic J (2001) <strong>Tourette</strong>’s syndrome.N Engl J Med 345:1184-11923.) Kossoff EH, Singer HS (2001) <strong>Tourette</strong> syndrome:clinical characteristics and current managementstrategies. Paediatr Drugs 3:355-3634.) Müller-Vahl KR (2002) The treatment of <strong>Tourette</strong>’ssyndrome: current opinions.Expert Opin Pharmacother 3:899-9145.) Peterson BS, Cohen DJ (1998)The treatment of <strong>Tourette</strong>'s syndrome:multimodal, developmental intervention.J Clin Psychiatry 59 Suppl 1:62-726.) Robertson MM (2000) <strong>Tourette</strong> syndrome,associated conditions and the complexities oftreatment. Brain 123 Pt 3:425-4627.) Silay YS, Jankovic J (2005) Emerging drugs in <strong>Tourette</strong>syndrome. Expert OpinEmerg Drugs 10:365-3808.) Singer HS (2000) Current issues in <strong>Tourette</strong> syndrome.Mov Disord 15:1051-1063Weiterführende Literatur3031


<strong>Tourette</strong>-Gesellschaft Deutschland e. V.TGD e.V.c/o Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie der Universität Göttingenvon-Siebold-Str. 537075 GöttingenTelefon: 0551 / 39 67 27Telefax: 0551 / 39 81 20www.tourette-gesellschaft.dewww.tourette.de

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