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Kurze Chronik dt Schule Tsingtau 1924-46

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<strong>Kurze</strong> <strong>Chronik</strong> der <strong>dt</strong>. <strong>Schule</strong> in <strong>Tsingtau</strong> - von Dr. Wilhelm Matzat -2001 - www.tsingtau.org - Creative Commons-Lizenz<br />

Im September 1943 war, wegen der zum Abitur zu führenden Klasse, aus Japan<br />

Studienrat Dr. Siegfried Wiemer gekommen als eine hauptamtliche „Reichslehrkraft“.<br />

Von seinem Studium her war er Altphilologe, gab aber neben Latein<br />

und Französisch auch Deutsch und Geographie. Er war in Hiroshima Lektor für<br />

Deutsch an der Kaiserl. japanischen Kadettenschule gewesen. Glück für ihn, daß<br />

er nach <strong>Tsingtau</strong> berufen wurde, denn hätte er den Atombombenabwurf auf Hiroshima<br />

im August 1945 überlebt? Für uns Schüler war dies nicht so glücklich,<br />

denn von allen Lehrern <strong>Tsingtau</strong>s war er sicherlich der unangenehmste. Während<br />

Frl. Grzywacz immer sehr milde urteilte, stellte Wiemer viel höhere Ansprüche.<br />

Hatte man bei Grzywacz in Deutsch und Latein die Noten „gut“ erhalten, gab es<br />

bei ihm in denselben Fächern nur noch „ausreichend“. Wenn er die Deutschaufsätze<br />

zurückbrachte, knallte er die Hefte auf sein Pult und knurrte: „Alles Mist. Geht<br />

zu den Bauern und verkauft dies als Dung.“ Sein Gemütszustand war Schwankungen<br />

unterworfen. Wenn wir bei ihm Stunde hatten, postierten wir vorher einen<br />

Späher in der Tür, der die Gesichtszüge des herannahenden Despoten zu taxieren<br />

hatte, ob sie schlechte oder bessere Laune signalisierten. Einmal sagte er (aus mir<br />

nicht mehr bekanntem Anlaß): „Das kriegt ihr nur, wenn ihr vorher zu Kreuze<br />

kriecht.“ Hans-Otto Schmitt hatte die gute Idee, vor Beginn der nächsten Stunde<br />

bei Wiemer mit Kreide ein großes Kreuz an die Tafel zu malen. In dem Augenblick,<br />

wo dieser den Raum betrat, warfen sich alle zu Boden und krochen auf das<br />

Kreuz an der Wand zu. Da mußte selbst Wiemer lachen.<br />

Die hinzugekommene 6. Klasse hatte mit zu einer Beeinträchtigung der räumlichen<br />

Gegebenheiten beigetragen. So mußten z.B. 1942/43 und 1943/44 die<br />

Oberschulklassen 1 und 2 sowie 3 und 4 jeweils gemeinsam in einem Zimmer<br />

unterrichtet werden. Wiemer, der erst seit September 1943 in <strong>Tsingtau</strong> war, hatte<br />

1943/44 die Klasse 3 und 4 als Klassenlehrer (ich war damals in der 4. Klasse).<br />

Er war sehr bald frustriert über die auftretenden Unzulänglichkeiten. Damit beide<br />

Klassen etwas gemeinsam machen konnten, ließ er uns hin und wieder Lieder<br />

singen. Ich kann mich nur noch an ein Lied entsinnen, das ich auf diese Weise<br />

lernte: „Hoch auf dem gelben Wagen“. Nach Abschluß seines ersten Schuljahres<br />

setzte er sich in den Sommerferien 1944 hin und legte in einem 5-seitigen Memorandum<br />

dar, daß bei gleichzeitigem Unterricht von 2 Klassen die vorgeschriebenen<br />

Lernziele gar nicht erreicht werden konnten. Auch lamentiert er dort über einige<br />

„mittelmäßige“ Schüler, die seiner Meinung nach gar nicht auf eine Oberschule<br />

gehörten. Offensichtlich verkannte er 1.) die Tatsache, daß eine so winzige Auslandsgemeinde<br />

nicht parallel verschiedene Schultypen anbieten kann (Hauptschule,<br />

Mittelschule, Gymnasium), und 2.) mißachtete er die einmalige historische Situation,<br />

daß durch die Kriegsereignisse alle Deutschen in <strong>Tsingtau</strong> an diesen einen<br />

Ort „festgenagelt“ waren, es eine Mobilität also nicht gab, auch keine Möglichkeiten<br />

für eine praktische Berufsausbildung. Wiemers Elaborat erreichte über das<br />

Konsulat auch die Deutsche Botschaft in Nanking. Diese schickte am 18.9.1944<br />

einen Erlaß an die „Reichsdeutsche Gemeinschaft <strong>Tsingtau</strong>“, der dortige Schulausschuß<br />

solle Vorschläge für eine „Verbesserung des Schulbetriebes“ erarbeiten.<br />

(Die erst 1937 eingeführte Bezeichnung „Deutsche Gemeinde“ hatte im Frühjahr<br />

1943 durch einen Ukas aus Berlin in „Reichsdeutsche Gemeinschaft“ abgeändert<br />

werden müssen.) Der Ausschuß hat in den nächsten Wochen mehrmals getagt und<br />

überreichte am 31. Okt. 1944 dem Deutschen Konsulat eine Stellungnahme, die<br />

dann nach Nanking gesan<strong>dt</strong> wurde. Da 6 Monate später das Deutsche Reich nicht<br />

mehr existierte, haben die Ausführungen keine Wirkung mehr gezeitigt, so daß<br />

hier auf eine Darstellung verzichtet werden kann. Immerhin wurden im Schuljahr<br />

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