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Werner Wiater - Hueber

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<strong>Werner</strong> <strong>Wiater</strong>Einsteigen, umsteigen, aufsteigen, absteigen, aussteigenTransitionen im deutschen BildungssystemDer Titel des Beitrags weckt unwillkürlich Assoziationen an die Deutsche Bahn AG oder an eineBergtour in den Alpen. Man denkt spontan an Reisen, Mobilität, Erlebnis, - bei etwas Nachdenken– je nach den Erfahrungen – möglicherweise auch an Unannehmlichkeiten, Stress, Anstrengungoder Gefährlichkeit. Solche Assoziationen und Empfindungen sind keineswegs unpassendund leiten durchaus in das Thema hinein, mit dem sich der Beitrag befasst, nämlich mit Fragenund Problemen der Transition im deutschen Bildungssystem.Das Thema ist lange bekannt und steht seit mehr als vierzig Jahren auf der Agenda der deutschenBildungspolitik, spätestens seit die Hauptakteure der großen Bildungsreformphase zwischen1965 und 1975 die Chancengleichheit aller Kinder und Jugendlichen im deutschen Schulsystemund mit ihr die Durchlässigkeit dieses Systems einforderten. Gemeint waren damit nicht eigentlichgleiche Startchancen für alle, sondern es sollten Bildungsbenachteiligungen durch die Schuleaufgefangen und ausgeglichen werden. Als Prototyp für die Notwendigkeit solcher Abhilfewurde damals das katholische Bauernmädchen aus den Allgäuer Bergen präsentiert.Die Diskussionslage hat sich indes im letzten Jahrzehnt verändert. Anlass dafür waren die internationalenVergleichsstudien TIMMS, PISA u. a., die, im Auftrag der OECD durchgeführt, demdeutschen Schulsystem schlechte Noten gaben und zu einer fieberhaften Suche nach deren Ursachenführten. Im Blick auf die PISA-Siegerländer fanden Repräsentanten des deutschen Konsortiumsdie zentralen Gründe im System. An die Stelle des gegliederten, früh selektierenden deutschenSchulsystems müsste ein wenig bis undifferenziertes System treten, das durch individuelleFörderung für jeden Schüler möglichst alle Bildungsziele erreichbar machen könnte. Überlegungenzur Umgestaltung der deutsche Schule in eine Gesamtschule mit individueller Förderungverbanden sich dann argumentativ mit den Ergebnissen von Detailanalysen zu den PISA-Daten,die belegten, was bislang gewusst wurde, dass nämlich die Zugehörigkeit zu bestimmten Sozialschichtenfür den Besuch bestimmter Schulformen im Kindes- und Jugendalter entscheidend ist.An die Stelle des benachteiligten Allgäu-Mädchens trat das muslimische Mädchen aus einer türkischen,nicht Deutsch sprechenden Migrantenfamilie. Die beachtliche Zahl von Kindern mitMigrationshintergrund in den Förderschulen und den Hauptschulen, die beachtliche Zahl derSchüler ohne Schulabschluss, die hohe Zahl der Sitzenbleiber und Klassenwiederholer und Zurückgestuften,die vielen Schulwechsler und die – im Vergleich zu anderen PISA-Ländern - geringeZahl an Abiturienten wurden zusammengenommen und zu einem kraftvollen Gegenargumentzum bestehenden Schulsystem gebündelt. Hinzugefügt wird in der Regel noch die Kritik anschichtspezifisch beeinflussten Übertrittsempfehlungen beim Wechsel auf die weiterführendenSchulen. Solche Reflexionen trafen zeitgleich mit Bemühungen zusammen, die Institution Kindergartenzu einer Bildungseinrichtung umzugestalten, die am Lernbedürfnis der Kinder ansetztund dieses zu deren eigenen Nutzen entfalten hilft.Aus dieser bildungspolitischen und medial fokussierten Gemengelage entstand das Thema„Transition“ im deutschen Bildungssystem neu, das seinerseits bereits seit zwei Jahrzehnten dieinternationale Forschung beschäftigte, das Sitzenbleiberproblem übrigens noch länger.1. Auf den Begriff kommt an: Übergang oder TransitionÜbergänge und Übertritte gibt es in der Schullaufbahn eines Kindes in großer Zahl und Vielfalt.Die wichtigsten sind: der Übergang vom Kindergarten bzw. von der Familienbetreuung in dieGrundschule, nach 4 Jahren der Wechsel von der Grundschule in die weiterführende Schule(Hauptschule, Realschule, Gymnasium), der Übertritt in die Berufsausbildung nach der 9. bzw.10. Jahrgangsstufe oder in eine andere weiterführende Schule, schließlich nach Abschluss der


2Schullaufbahn der Eintritt in die Universität/Fachhochschule/Akademie, eine Berufsausbildungoder eine berufliche Tätigkeit. Für viele Schülerinnen und Schüler gibt es zusätzliche Übergänge,verursacht durch Sitzenbleiben und Wiederholen der Jahrgangsstufe, durch eine „Abwärtsmobilität",wenn jemand den Leistungsanforderungen der Schulform, auf der er sich befindet,nicht genügen kann oder will (von der Grundschule in die Förderschule, von der Hauptschule indie Förderschule, von der Realschule in die Hauptschule, vom Gymnasium in die Realschule und- je nach Zeitpunkt des Wechsels - in die Hauptschule) oder durch eine „Aufstiegsmobilität" vonder Hauptschule in die Realschule und von der Realschule in das Gymnasium oder durch einengewollten Schulwechsel (z. B. bei Wohnortwechsel der Eltern, bei Unzufriedenheit mit der besuchtenSchule oder bei Übertritt in eine andere Schule derselben Schulart wie z. B. Privatschule,Ganztagsschule oder Internat) oder einen ungewollten Schulwechsel z. B. auf Grund von schulischenOrdnungs- und Erziehungsmaßnahmen. In einem weitgefassten Begriffsverständnis wäreauch von einem Übergang zu sprechen, wenn Schulklassen in einer Schulform zusammengelegtwerden, wenn Intensivierungsstunden am Gymnasium klassenübergreifend organisiert werdenoder wenn Kurse und Wahlpflicht- und Wahlbereiche in Schulen zusammengestellt werden.Begriffe wie Übergang, Wechsel und Übertritt verharmlosen allerdings die Komplexität undpersönliche Bedeutsamkeit solcher Situationen für die Betroffenen und Beteiligten, nicht nur fürden Schüler/die Schülerin, sondern auch für die Eltern, für die Mitschüler/innen und für die Lehrer/innen.Außerdem implizieren sie die Vorstellung eines geradlinig verlaufenden Lebensweges,was in der plural verfassten, vielfach risikobehafteten dynamischen, globalen Gesellschaft derGegenwart mit ihren zahlreichen biografischen, soziokulturellen und sozioökonomischen Brüchennicht zutreffend ist. Hinzukommt, dass Aktionen und Reaktionen der einzelnen Kinder oderJugendlichen nach heutigen entwicklungspsychologischen Kenntnissen nicht isoliert ihnen alleinattribuiert werden dürfen, sondern systemisch und konstruktivistisch begründet sind. Die Systeme,in denen das Kind heranwächst und Erfahrungen mit sich, mit anderen und mit Natur- undSachzusammenhängen macht, aus denen es seine Bedeutungen konstruiert, sind als Folie zurErklärung von dessen Verhalten einzubeziehen. Alles Tun und Lassen der Kinder und Jugendlichenerklärt sich aus einem komplizierten Zusammenspiel von individuellen, interaktionellenund kontextuellen Faktoren; denn Kind und Jugendlicher sind Ko-Konstrukteure ihrer eigenenEntwicklung. Sie verarbeiten als Subjekte die sie umgebende Realität von Personen, Dingen undSituationen in Form einer relativen Autonomie, zugleich aber formen sie durch ihre Bedeutungskonstruktionen,Willensakte und Lebensplanungen diese sie umgebende Realität selbst mit; ihrEinfluss auf die Überzeugungen, Einstellungen und Verhaltensweisen der Personen ihres nahenUmfeldes (Eltern, Geschwister, Verwandte, Lehrer usw.) ist nicht unbeträchtlich.Psychologische, soziologische und pädagogische Theorieansätze, die die systemischkonstrukivistischeSicht der menschlichen Entwicklung stützen (Bronfenbrenner 1989, Elias1987, Hurrelmann/Ulich 1995, Montada 1995, Klewes 1983, Hagestad 1986 u.a.), lassen es angeratenerscheinen, Begriffe wie Übergang oder Übertritt durch den psychologisch und soziologischetablierten Begriff „Transition“ zu ersetzen. Der Transitionsbegriff drückt aus,, dass Übergängesoziale Prozesse sind, an denen mehr Subjekte beteiligt sind und die sich in veränderndenKontexten abspielen (vgl. Griebel/Niesel 2004 b)Bei Transitionen in der Schule ist das Kind/der Jugendliche daher nicht als selbstbezogenes Individuumzu sehen, sondern als Objekt und Subjekt des ihn betreffenden Wandels zu verstehen,der nicht nur die Lernorte, an denen es/er sich aufhält, verändert und auch nicht (z. B. bei Schulwechselwegen Leistungsversagen) linear und kausal auf sein persönliches Verhältnis zur InstitutionSchule reduzierbar ist. Es gibt immer mehrere Akteure im Transitionsprozess, und die beider Transition erfolgenden Wandlungsprozesse sind komplex, ineinander übergehend und engmit Lebenszusammenhängen verbunden. „Charakteristisch dabei ist, dass das Individuum dabeiPhasen beschleunigter Veränderungen und eine besonders lernintensive Zeit durchmacht (vgl.Welzer 1993, S. 37). Innerhalb dieser Phasen kommt es zu einer Anhäufung unterschiedlicherBelastungsfaktoren, da Anpassung und Veränderungen auf der individuellen, der interaktionalen


5Als Fazit lässt sich formulieren:Die Übertrittsreglungen und Übertrittsquoten der einzelnen Bundesländer sind nicht vergleichbarund damit auch nicht für eine Systemkritik verwendbar.3. Die unerfüllten Erwartungen der Bildungspolitik:Je empirischer die Bildungsforschung, desto schwieriger ihre praktische UmsetzungZur Erhellung des Problems und zur Schärfung des Problembewusstseins richtet sich heute derBlick immer mehr auf die empirische Bildungsforschung und die Wissenschaft. Wissenschaftheißt Wissen schaffen mit Hilfe anerkannter Forschungsmethoden und auf der Basis einer vorgängigenTheorie, die den Referenzrahmen für die Geltung einzelner Forschungsergebnisse darstellt;eine Vielzahl einzelner Erkenntnisse ist noch nicht Wissenschaft, alle Einzelerkenntnissemüssensich integrieren lassen in einen theoretischen Begründungszusammenhang.Die Übergänge vom Kindergarten in die Schule und diejenigen, die innerhalb der Schule erfolgen,bilden ein komplexes Phänomen aus institutionell-kontextuellen, interaktionalen und individuellenFaktoren. Infolgedessen ist damit zu rechnen, dass beim Thema „Transition“ mehrereund verschiedene, elaborierte Referenztheorien vorliegen. Als heute meistdiskutierte lassen sichausmachen:1.) der ökopsychologische/ökosystemische Ansatz von U. Bronfenbrenner, bei dem der Wechseleines Kindes an die Schule immer im Zusammenhang mit dem Mikrosystem (Elternhaus)und dem Mesosystem (Verwandtschaft, Freundeskreis, Gleichaltrigengruppe), dem Exosystem(Arbeitswelt) und dem Makrosystem (Gesellschaft/Familienpolitik, Gesetzgebung,gesellschaftliche Normen) sowie mit deren jeweiligen Elementen (Elternhaus: z. B. Beziehungder Eltern untereinander, zum Kind, zu den Geschwistern usw.) gesehen werden muss,in denen das Kind heranwächst. Der Übertritt eines Kindes an die Schule führt zu einer Umstrukturierungdes Systems, die Veränderungen innerhalb des Systems mit sich bringt. Sotritt neben das Elternhaus nun das Mikrosystem Schule mit seinen Normen, Anforderungenund Interaktionsformen, an das sich das Kind anpassen muss.2.) das kompetenzorientierte Systemmodell: Erweitert wird das Theoriemodell Bronfenbrennersdurch Aspekte der allgemeinen Systemtheorie, der Theorie kindlicher Kompetenzen und derTheorie zur Entwicklung von Kompetenzen in der Zeit (vgl. von R. C. Pianta, M. J. Cox, D.J. Walsh und andere). Diese Theoriemodelle fokussiert auf die Qualität der Beziehungen, diezwischen den Institutionen Kindergarten, Schule, Elternhaus und den Personen Lehrer, Kind,Mitschüler etabliert werden, deren wechselseitige Einflüsse auf die Kompetenzentwicklungdes Kindes wichtig sind und bei denen Kontinuität als bedeutsam erachtet wird.Nachgewiesenermaßen reagieren Bezugspersonen (z. B. Mutter, Vater, Geschwister, Verwandte)mit negativen Emotionen wenn der Schulwechsel des Kindes nicht ihren Erwartun-


6gen entspricht (vgl. Stöckli 1992), wie überhaupt der Schulerfolg Auswirkungen auf Art undAusmaß der elterlichen Zuwendungen und Betroffenheit hat.3.) die Stresstheorie (Lazarus 1995, Sirsch 2000, Lohaus u.a. 200; 2007), die zunächst noch dieArt des Übergang differenziert (hohe Bedeutsamkeit, lange Zeit andauernd, vom Betroffenensubjektiv, positiv oder negativ bewertet) und dann die Bewältigungsressourcen als wichtistenFaktor dafür herausstellt, ob die Transition als Bedrohung oder als Herausforderung empfundenwird.4.) die Theorie kritischer Lebensereignisse (Filipp 1995, Chung u.a. 1998, Elben u.a. 2003,Sirsch 1996, 2000) der zufolge die Bewältigung von krisenhaften Lebensereignissen und vonRisiken zur Förderung von Kompetenzen und zu Entwicklungsimpulsen führt, wenn diesenicht die Ressourcen der Betroffenen übersteigen. Infolgedessen kann die Transition für denEinzelnen auch unter dem Gesichtspunkt der Entwicklungsaufgabe und als Stimulans zurpersönlichen Weiterentwicklung betrachtet werden. So läst sich bei gelungenen Übertritteneine Steigerung des Selbstkonzeptes, des Selbstwertgefühls, der Kompetenzüberzeugungen,der psychischen Gesundheit) der Schüler/Schülerinnen feststellen, bei nicht gelungenen Ü-bertritten das Gegenteil davon.5.) die Ressourcentheorie (Aristi Born) in Verbindung mit der Resilienztheorie (Wustmann, Corinna).Sie unterscheidet verschiedene Ressourcen: personale Ressourcen, Umweltressourcen,institutionelle Ressourcen und soziale Ressourcen, die sich auf das Coping-Verhaltenauswirken und infolgedessen auch auf den Übertritt. Bedeutsam sind dabei die psychischeWiderstandfähigkeit und die Befähigung zur Abwehr belastender Faktoren (vgl. Zimmermann2000) sowie die Erhaltung der psychischen Gesundheit trotz erhöhter Entwicklungsrisiken.Insgesamt geht es darum, eine Bewältigungskompetenz belastender, neuer und verunsichernderLebenssituationen zu entwickeln.Das folgende Schaubild veranschaulicht die Komplexität der bei der Transition in Frage kommender,zu fördernder Ressourcen:


7Die Hoffnung der Praktiker richtet sich auf empirische Detailforschungen, die differenzierteTeilaspekte des Transitionsproblems thematisieren:(1) Forschungen zu den beteiligten Personen• die Akteure, die wechseln und die Transition bewältigen müssen: Mädchen und Jungenim Lebenslauf• die Akteure, die den Wechsel entscheiden: Eltern, Verwandte, Peers, die Kinder/Jugendlichenselbst, die abgebenden und aufnehmenden Lehrer (als gate-keeperund/oder als Ressource)(2) Forschungen zu den beteiligten Institutionen• die Organisationsform der Institutionen (Bildungssystem – Schulform – Einzelschule –Klasse)• die formalisierten Zugangsbedingungen der einzelnen Institutionen


8• die Funktionen, Strukturen und Regelungen der Institutionen• Qualifikationsniveau, Schulklima, Schulleben, Schulentwicklung an der Einzelschule• das Bild vom lernenden Kind/Jugendlichen in der Institution(3) Forschungen zur Strukturierungswirkung der Institutionen für individuelle Lebensverläufe z.B. durch die Selbstfunktion, Platzierung und Allokation durch die Schule(4) Forschungen zur Bedeutsamkeit mittelbarer und unmittelbarer Vorgaben auf die Entscheidungenzum Bildungsverlauf (vgl. rationale Wahl zum Statuserhalt oder als Bildungsrendite,soziokulturelle Nähe im Sinne milieuspezifischer Leistungsvorstellungen, Gelegenheitsorientierung,Nachahmungsverhalten usw.)Die empirische Forschung zur Transition weist in Spezialuntersuchungen auf Korrelationen hin,die zwischen ausgewählten Faktoren und bestimmte Effekten bestehen. Ihre Ergebnisse sind inder Regel nicht ohne weiteres auf andere, als die im Forschungsdesign festgelegten Samplingsübertragbar. Sie schaffen ein Bewusstsein für größere, bildungspolitisch zu beachtende Zusammenhänge,erlauben aber keine sicheren Aussagen über die Veränderung und Steuerung des Bildungssystemsals Ganze. Sie bestätigen die n ur multifaktoriell, systemisch und konstruktivistischerklärbaren Effekte von Unterricht und Schule auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindernund Jugendlichen und erlauben Empfehlungen, dazu. Wegen der Komplexität und Kompliziertheitder Persönlichkeitsbildung des Menschen sind konkretere Anweisungen nicht möglich.Daraus lässt sich folgern: Die Bildungspolitik muss unter Würdigung der empirischen Bildungsforschungauf der Basis einer Bildungsphilosophie und Bildungsvision entscheiden. In den pädagogischenInstitutionen der demokratischen Gesellschaft muss sie die Rahmenbedingungen füreine gesunde und an der Mündigkeit orientierte Persönlichkeitsentwicklung schaffen, bei derjedes Kind/jeder Jugendliche seine Potenziale bestmöglich entfalten kann. Und dem ist, wie dasTransitionsthema zeigt, nicht schon mit ein paar Korrekturen am System Genüge getan, und esist auch nicht ein Problem der Bildungspolitik allein; vielmehr müssen hierzu Bildungspolitik,Sozialpolitik und Wissenschaftspolitik kooperieren.4. Eine erfolgversprechende Lösung:Von der Strukturperspektive zur Kind-/Jugendlichen-PerspektiveTransitionen sind für das einzelne Kind und den einzelnen Jugendlichen polare Situationen: Eskönnen Situationen der Kontinuität und der Diskontinuität, der Chancen und der Risiken, derBewältigung und der Nichtbewältigung, des Entwicklungsfortschritts und des Entwicklungsrückschrittssein. Welche Auswirkungen sie auf das Kind/den Jugendlichen haben, entscheidet sichan ihm selbst, an seinen Beziehungen zu anderen und an den neuen Strukturen, Personen undAnforderungen, mit denen es/er sich konfrontiert sieht. Selbstverständlich sind strukturellorganisatorischeVerbesserungen wie das frühe Kennenlernen der neuen Strukturen, Personenund Anforderungen, wie gemeinsame Fortbildungen und gegenseitige Hospitationen zwischendem Personal der beteiligten Institutionen, wie curriculare Abstimmungen zwischen den bishererworbenen Kompetenzen und den Kompetenzanforderungen nach dem Übertritt, wie ein frühzeitigerInformationsaustausch über die Entwicklungsbesonderheiten der übertretenden Kinder/Jugendlichenusw. wichtig; strukturell-organisatorische Maßnahmen wären auch die Veränderungdes Systems wie z.B. die Integration des letzten Kindergartenjahrs in die Grundschule,die Ausdehnung der Grundschule auf fünf oder sechs Jahre bzw. die Ausdehnung der gemeinsamenBeschulung auf acht, neun oder zehn Jahre. Alle solche Maßnahmen mögen im Einzelfallauch positive Effekte bei den Transierenden zeitigen, sie lösen aber nicht das grundsätzlicheProblem, da sie der institutionsspezifischen Perspektive verhaftet bleiben.


9Erfolgversprechender scheint eine andere Sichtweise des Problems „Transition", nämlich derPerspektivenwechsel zum Kind, das auf dem Weg zu einer mündigen Persönlichkeit ist. DieserWeg der Persönlichkeitsbildung sollte als Kontinuität mit unterschiedlichen Wegführungen konzipiertwerden, deren Ziel die bestmögliche Potenzialentwicklung des jungen Menschen ist. DieSchularten oder Schulformen sollten dabei als Wegangebote, als spezifische Lernorte betrachtetwerden, die den Weg des Kindes/Jugendlichen dort fortsetzen, wo er zu einem bestimmten Zeitpunktseinen gezeigten Möglichkeiten und Intentionen entsprechend vorankommen kann. Esmuss Anschlussfähigkeit zwischen allen Lernorten bestehen. Grundsätzlich sollten alle Wegführungenzu den gleichen Zielen führen.Die Metapher vom Bildungsweg des Kindes/Jugendlichen bedarf der Konkretisierung auf derSystemebene, der Ebene der Einzelinstitutionen und der Ebene der interpersonalen Interaktionenin den Institutionen.1. Konsequenzen auf der SystemebeneDieser skizzierte Bildungsweg lässt sich ohne große Veränderungen des (bayerischen) Bildungssystemsrealisieren. Die vorhandenen Kindertagesstätten, die vier- bzw. fünfjährige (bei Ausweitungdes Lernstoffs der Klassen 1 und 2 auf 3 Grundschuljahre) Grundschule, die Profilierungder Schulangebote im Sekundar-I-Bereich (Hauptschule, Realschule, Gymnasium, Wirtschaftsschule),die unterschiedlichen Schulangebote im Sekundar-II-Bereich (gymnasiale Oberstufe,FOS, BOS, Berufsschulen, Berufsfachschulen) sowie die Förderschulen und Sozial- und SonderpädagogischenDienste müssen dafür nicht anderen Organisationsformen weichen. Im nationalenund internationalen Vergleich hat sich das Bildungssystem Bayerns auf bestimmten Feldern alserfolgreich herausgestellt, jedenfalls erfolgreicher als andere. Bildungsorganisationssysteme andererBundesländer. Darüber hinaus hat das gegliederte System seine Vorteile nicht nur in derProfilierung von Bildungsangeboten und Kompetenzzielen, die auf bestimmte Lernweisen vonKindern und Jugendlichen zugeschnitten sind und zugleich zu beruflichen Anschlussmöglichkeitenführen; es hat in den letzten Jahrzehnten auch seine hohe Flexibilität und Reformfähigkeitangesichts veränderter gesellschaftlicher Arbeits- und privater Lebensbedingungen bewiesen.2. Konsequenzen auf der Ebene der EinzelinstitutionenWird die Reform des Bildungssystems von einem entwicklungs- und bildungsbiographischenAnsatz anvisiert, dann hat das Folgen für die einzelne Bildungsinstitution. Wenn der erfolgreicheBildungsweg des einzelnen Kindes/Jugendlichen zentrales Qualitätskriterium sein soll, dannmüssen alle Schulformen sich gemeinsam dem Ziel verpflichten, den Bildungsweg des Kindesund Jugendlichen von der Kindertagesstätte bis zum Ende seiner Schulpflicht und unter Einbezugvon dessen Familie und außerschulischen Kontaktpersonen/-gruppen so zu moderieren, dassdieser Weg möglichst bruchlos und erfolgreich verläuft und einer gelingenden Persönlichkeitsbildungdient. Dazu müssen alle „Bildungsanbieter" -von den Kindertagesstätten über die Förderschulenbis hin zum Gymnasium - vor Ort kooperieren. Es braucht dafür regionale Verbündezwischen den pädagogischen Institutionen und ausgebildete „Bildungsweg-Berater", die für diepädagogischen Einrichtungen einerseits und für betroffene Kinder und Jugendliche andererseitsden passenden Bildungsweg herausfinden. Dabei sind die Angebote aller Bildungseinrichtungenfür Kinder und Jugendliche zu öffnen, soweit sie sie für ihre gelingende Bildungsbiographie alsUnterstützung/Ressource oder als Herausforderung benötigen. In einem solchenkind/schülerbezogenen Förderkonzept schwinden die Grenzen und Abgrenzungen der einzelnenInstitutionen: Der Wechsel von allen Institutionen in andere wird erleichtert, eine zeitweiligeTeilnahme an Unterrichtsangeboten anderer Institutionen ist bei Bedarf möglich. Man könntesich Einiges vorstellen: z.B. Kindergartenkinder, die schon lesen und schreiben können, nehmenzeitweise schon am Grundschulunterricht teil, Grundschüler höherer Klassen können bei Lernproblemenfür eine Zeitlang in unteren Klassen noch einmal mitlernen, ohne sitzenzubleiben,Realschüler oder Hauptschüler mit Exzellenz in einem bestimmten Unterrichtsfach nehmen am


10Unterricht des nahegelegenen Gymnasiums teil, Grundschüler mit besonderem Förderbedarfnutzen vorübergehend den Förderschulunterricht, Hauptschüler erhalten zusammen mit RealoderGymnasialschülern schulischen Nachhilfeunterricht in einem Schulfach, in dem sie Schwierigkeitenhaben, usw.. Vorstellen könnte man sich auch die Zusammenarbeit z. B. von Schulendesselben Schultyps, wenn Grundförderung, herausfordernde Lernsituationen oder speziellerFörderbedarf für einzelne Kinder oder Jugendliche benötigt wird. Ebenso denkbar wäre es, dassLeistungsgruppen in spezifischen Lernfeldern über die Institutionengrenzen hinweg zusammengestelltwürden, oder dass Gymnasiallehrer beispielsweise in hochleistenden Gruppen von Realschülernunterrichten, um sie auf die FOS und deren Ansprüche besser vorzubereiten. Hier sindenge Absprachen zwischen den Institutionen nötig. Allerdings ist eine solche, institutionenübergreifendegemeinsame Planung von Bildungswegen und Lernbiographien zwischen allen pädagogischenInstitutionen am Ort oder in räumlicher Nähe auch eine Möglichkeit, bei zurückgehendenSchülerzahlen und kleiner werdenden Institutionen nicht nur eine wohnortnahe Versorgungsicherzustellen, sondern auch gleichzeitig ein vielfältiges Bildungsangebot vorzuhalten.3. Konsequenzen auf der Ebene der InteraktionenGroße Veränderungen bringt diese Neukonzeption für das Rollen- und Selbstverständnis derbeteiligten Personen mit sich. Denn das Gelingen eines solchen Transitions-Projekts hängt imWesentlichen von der Bereitschaft und der Fähigkeit des pädagogischen Personals in den Kindertagesstättenund Schulen sowie von den Eltern und den außerschulischen Personengruppenab, aus dem Institutionendenken herauszutreten und sich als Diagnostiker, Berater, Planer undBegleiter von Bildungswegen zu verstehen, die auf die spezifischen Belange des sich entwickelndenund lernenden Kindes/Jugendlichen abgestellt sind. Sich Gedanken zu machen, wieund durch welche Lernangebote das Kind/der Jugendliche zur Entfaltung seiner Personalität undBildung kommt, ist zweifellos eine große Herausforderung für das pädagogische Personal inKindertagesstätten ebenso wie in Schulen.SchlussZurückkommend auf den Anfang des Beitrags ist zu sagen: Würde man die pädagogischen Institutionenso weiterentwickeln, dass sie Kinder bzw. Jugendliche auf unterschiedlichen Bahnen ihrZiel der Persönlichkeitsbildung optimal erreichen helfen, dann wäre nur noch ein Einsteigen undAussteigen erforderlich.LiteraturBonfenbrenner, U. (1989): Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Frankfurt/M:Belsky, J./MacKinnon,/C. (1994). Transition to School: Developmental Trajectories andSchool. Experiences. Early Education and Development, 5, S. 106-119.Chung, H./ Elias, M./ Schneider, K. (1998): Patterns of individual adjustment changes duringmiddle school transition. Journal of School Psychology, 36, S. 38-101Cowan, P. (1991): Individual and family life transitions: A proposal for a new definition. In:P. Cowan/ W.M. Hetherington (eds.) Family transitions: Advances in family research (pp. 3-30) Hillsdale New Jersey.Dunlop, A.-W./ Fabian, H. (2002): Transitions in the early years. Debating continuity andprogression for children in early education. London.Elben, C.E./ Lohaus, A./ Ball, J./ Klein-Heßling, J. (2003): Der Wechsel von der Grundschulezur weiterführenden Schule: Differentielle Effekte auf die psychische Anpassung. Psychologiein Erziehung und Unterricht, 50, 4, S. 331-341Elias, N. (1987): Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt/M.Filipp, H.-S. (1995): Ein allgemeines Modell für die Analyse krit. Lebensereignisse. In: H.S.Filipp (Hrsg.): Kritische Lebensereignisse. Weinheim (3. Aufl.), S. 3-52Fthenakis, W. E. (2005): Auf den Anfang kommt es an - Perspektiven für eine Neuorientie-


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