Seismographen für gesellschaftliche Schieflagen…und sehr verschiedenDer amerikanische Sozialwissenschaftler George Lodgeschrieb vor einigen Jahren: „NGOs do much more than attackcorporations; they are also watchdogs, monitors, andcollaborators.“ So unterschiedlich die Anliegen unterschiedlicherGruppierungen und Zusammenschlüsse sein können,so unterschiedlich sind auch ihr Erscheinungsbild und ihreAktivitäten. Nichtregierungsorganisationen sind – nebenihrem Selbstverständnis und ihren Rollen. Als Seismographenfür gesellschaftliche Schieflagen können sie gleichzeitig Treiberfür einen Wandel in Politik und Gesellschaft sein. Hierbeiagieren sie als Anwalt für gesellschaftlich Benachteiligteund Ausgeschlossene: und zwar gegenüber Regierungen im<strong>Nord</strong>en und <strong>Süd</strong>en. Neben der Beschaffung und dem Einsatzprivater und öffentlicher Mittel für und in Entwicklungsprojektenüben sie auch die klassische „Wachhund-Funktion“Zivilgesellschaft mit nicht nur einer Stimme!Foto: Jörg Farys/ Die Projektoren, DEINE STIMME GEGEN ARMUTGewerkschaften, sozialen Bewegungen und wenig formalisiertenNetzwerken – Teil der Zivilgesellschaft und spiegelndie Pluralität unserer Gesellschaft wider: Bei den Mitgliedernunseres Dachverbandes (VENRO) treffen wir auf große undkleine, hochprofessionell arbeitende und solche, die sich ausschließlichauf ehrenamtliches Engagement stützen. Es gibtkirchliche und säkulare, Spezialisten für schnelle Nothilfe-Einsätzeund für langfristige Vorhaben mit einheimischen Partnern.Einige Organisationen wiederum konzentrieren sichausschließlich auf politische Lobby- oder Bildungsarbeit inDeutschland, andere führen Projekte in Entwicklungsländerndurch. Es gibt solche, die das „System“ (Entwicklungshilfeoder Kapitalismus) abschaffen wollen, andere wollen es verbessernund wieder andere leisten praktische Unterstützungin Projektländern, ohne sich um den Rahmen zu scheren.Was sie verbindet: Es handelt sich immer um freiwillige Zusammenschlüssevon Bürgerinnen und Bürgern, die hauptoderehrenamtlich auf lokaler, regionaler, nationaler oderinternationaler Ebene tätig sind. Sie sind unabhängig vomStaat und agieren nicht gewinnorientiert.Entwicklungspolitische Nichtregierungsorganisationen sindnicht Teil einer homogenen Masse. Sie unterscheiden sich inaus: indem sie dafür sorgen, dass zentrale entwicklungspolitischeThemen auf der Agenda bleiben, und sich beispielsweisedie Bundesregierung nicht einfach aus der Verantwortungfür gemachte Versprechen stehlen kann (siehe 0,7%-Ziel);oder, dass sich politische Rahmenbedingungen verändern.Schmaler Grat zwischen sozialerDienstleistung und Entlastung des StaatesDies gilt ebenfalls mit Blick auf Regierungen von Entwicklungsländern,allerdings ist dort auch die Unterstützungder Bevölkerung beim Aufbau eigener Basisstrukturen vongroßer Bedeutung. Denn funktionsfähige Organisationenbilden das Fundament für eine ernst zu nehmende Zivilgesellschaft,die es Bürgern ermöglicht, eigene Interessen gegenüberhäufig autoritären Regierungen zu artikulieren –und gelegentlich auch durchzusetzen. Das ist ein zentralesAnliegen entwicklungspolitischer Bemühungen. Besondersin Staaten mit schlechter Regierungsführung müssen Nichtregierungsorganisationenauch immer wieder in die Breschespringen und soziale Dienstleistungen im Gesundheits- oderBildungsbereich übernehmen, die eigentlich Aufgabe desStaates wären. Selbst wenn zivilgesellschaftliche Organisati-32
Seismographen für gesellschaftliche Schieflagenonen – gerade in sogenannten fragilen und von Krisen undKonflikten betroffenen Staaten – erfolgreich dabei sind, inNot geratene oder an den Rand gedrängte Menschen zuunterstützen, sollte ihr „Ersatzhandeln“ nicht zum Dauerzustandwerden. Weil sich die Arbeit privater Hilfsorganisationenim Ausland häufig nur auf klar definierte benachteiligteGruppen, beispielsweise Kleinbauern, Frauen oder Kinder,konzentriert, muss der Staat mit in die Verantwortung genommenwerden: Nur dann kann sichergestellt werden, dassalle Bürger eines Landes ihren Rechtsanspruch auf bestimmteLeistungen wie Bildung oder Gesundheit dauerhaft wahrnehmenkönnen und dafür die entsprechende Infrastrukturaufgebaut wird.Zivilgesellschaft übernimmt mitunter auch Funktionen, dievom Staat nicht übernommen werden können oder zu denenStaaten aufgrund ihrer instabilen Strukturen nicht in der Lagesind. Allerdings gilt es, komparative Vorteile zu nutzen unddie eigene Rolle diesbezüglich immer wieder zu justieren.Nichtregierungsorganisationen können gerade dort agieren,wo staatliche Entwicklungszusammenarbeit an diplomatischeRichtlinien gebunden ist. Sie sind nicht auf außenpolitischeoder außenwirtschaftliche Vorgaben verpflichtet undgenießen Ansehen und Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung.In der Regel sind ihre Partner in den Entwicklungsländerngemeinwohlorientierter als die Regierungen. Zudem ist dieWahrscheinlichkeit höher, dass Unterstützung tatsächlicharme und benachteiligte Menschen erreicht. NRO sind meistbesser als der Staat in der Lage, die Eigeninitiative und dieInteressenvertretungsmacht armer oder unterprivilegierterBevölkerungsgruppen zu stärken. Außerdem sind sie in derLage, freiwilliges und ehrenamtliches Engagement zu generierenund soziale Bewegungen zu mobilisieren. Sie könnenan das Werteempfinden und Empörungspotenzial von Menschenappellieren.Verhältnis zum Staat kritisch reflektierenIn der Entwicklungspolitik vieler Geberländer – so auch inDeutschland – spielen zivilgesellschaftliche Organisationeneine wichtige Rolle. Allerdings müssen sie aufpassen, dasssie sich nicht zu stark oder ausschließlich in der Rolle einessozialen Dienstleisters und damit Umsetzers staatlicher Mittelwiederfinden. Dies gilt umso mehr, als das Bundesministeriumfür wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklungmit der Reform der staatlichen Vorfeldorganisationen eineStrukturveränderung vollzogen und durch eine Reihe andererMaßnahmen die Entwicklungszusammenarbeit weiterverstaatlicht hat. Dazu zählt auch die vollständig staatlicheTrägerschaft bei Engagement Global.Akteure der Zivilgesellschaft müssen auch in Zukunft grundsätzlichdie Möglichkeit haben, eigene Themen und Maßnahmenohne politische Auflagen zu bestimmen und umzusetzen,auch wenn sie hierfür staatliche Mittel erhalten. Im Laufder Jahre sind sie Kooperationen und damit auch Verpflichtungengegenüber Partnern im <strong>Süd</strong>en eingegangen, habeneigene Schwerpunkte gesetzt und oft spezifische Methodenentwickelt. Wird dies in Frage gestellt, leidet ihre Unabhängigkeitdarunter – und damit ein auch in den Augen der Bevölkerungbesonders hohes Gut.Es ist zweifellos für uns als Teil der Zivilgesellschaft wichtig,unser Verhältnis zum Staat, zu unserer eigenen Regierungkritisch zu reflektieren und bei Bedarf aufzuschreien oderuns an die eigene Nase zu fassen und ggfs. das Verhältnisneu zu justieren. Mindestens ebenso wichtig aber ist es, aufunsere Kernaufgaben zu schauen und uns selbstkritisch zufragen: Machen wir den Job, für den wir, für den unsere jeweiligeOrganisation mandatiert ist, machen wir diesen Jobgut? Schaffen wir es, im „magischen Dreieck“ der Entwicklungszusammenarbeit– Solidarität, Selbsterhaltungstriebund Eigenverantwortung – der Übernahme der Eigenverantwortungdurch unsere Programm- oder Projektpartner eineklare Priorität einzuräumen? Oder macht uns unsere eigeneRegierung den Job unnötig schwer?Zivilgesellschaft kann und darf nicht von „oben“ geführtwerden, weder in die Mitte der Gesellschaft noch in die Nähezu Auslandseinsätzen der Bundeswehr oder wo auch immerhin. Wer das versucht, demonstriert ein wenig freiheitlichesDemokratieverständnis. Und das unabhängig davon, ob ernun Schlabberpullis, Designer-Sakkos oder Fallschirmjägermützenträgt.Ulrich Postist Vorstandsvorsitzender von VENRO und leitet den ArbeitsbereichPolitik und Außenbeziehungen bei der Welthungerhilfe in Bonn.Nach dem Studium der Politischen Wissenschaften und Volkswirtschaftslehrearbeitete er lange Zeit im entwicklungspolitischen Journalismus,u.a. auch als Leiter der Kommunikationsabteilung desChristenrats von Lesotho für „Dienste in Übersee“ sowie als Geschäftsführervon Germanwatch in Bonn.33