Gemeinwesenarbeit
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Prof. Dr. Susanne Elsen<br />
Mai 2004<br />
Machen Sie sich ein Bild von der Lebenssituation im Gemeinwesen<br />
Sozialer Raum und Soziale Arbeit<br />
In der Neuorganisation sozialer Dienste, der Jugendhilfeplanung und sozialen<br />
Stadterneuerung, gewinnen Orientierungen am sozialen Raum zunehmend an Bedeutung<br />
(vergl. Beitrag zum Thema Sozialraumorientierung). Allgemein zeichnet sich ab, dass in den<br />
jeweiligen Handlungskontexten Gemeinde, Stadt oder Stadtteile nicht mehr so sehr als<br />
administrative Einheiten, sondern als Lebensräume mit komplexen Strukturen und<br />
funktionalen Verflechtungen wahrgenommen werden.<br />
Im interdisziplinären Zusammenspiel von Sozialer Arbeit, Architektur,<br />
Wirtschaftswissenschaft, Geografie, Pädagogik, Städtebau und Stadtsoziologie in der Praxis<br />
sozialer Regionalentwicklung und Stadterneuerung sowie der Planung und Entwicklung im<br />
Sozial-, Jugend und Gesundheitsbereich, wird der Begriff „Sozialraum“ sehr umfassend<br />
verstanden. Es geht um baulich-räumliche Qualitäten als Kontext ortsbezogener<br />
Verhaltensweisen, Bewältigungsmuster und Nutzungsroutinen.<br />
Lokale Gemeinwesen sind Lebensräume, auf die sich die meisten Menschen trotz<br />
Globalisierung und Internet primär beziehen. Hier arbeiten sie, gründen Familien, habe ihre<br />
Freundeskreise, engagieren sich in Initiativen, Vereinen und Organisationen. Lokale<br />
Gemeinwesen sind Orte der Sozialisation, der kulturellen Orientierung, der Regeneration, der<br />
sozialen Integration und der ökonomischen Existenzsicherung. Insofern sind sie zentrale Orte<br />
der Lebensbewältigung.<br />
Sie spiegeln aber auch gesellschaftliche Entwicklungen, politische und wirtschaftliche<br />
Entscheidungen und Versäumnisse. Arbeitslosigkeit, Perspektivenlosigkeit und die<br />
Abwanderung der jungen und qualifizierten Menschen, soziale Spaltung, ethnische Konflikte,<br />
Umweltprobleme oder Haushaltslöcher wirken sich auf die Lebenssituation und die<br />
Voraussetzungen der Lebensbewältigung im lokalen Raum aus.<br />
Der erste Schritt<br />
zur Annäherung an einen Sozialraum besteht darin, eine Idee über die Lebenssituation, die<br />
Bedürfnisse und Probleme der in ihm lebenden Menschen zu bekommen.<br />
Zu einer solchen Annäherung kommen Sie nicht nur durch harte Daten (Sekundäranalysen der<br />
Daten von Ämtern für Stadtentwicklung und Statistik, Sozial- und Jugendverwaltungen,<br />
Wahlämtern, Schulbehörden, Zeitungsberichten etc.), sondern durch qualitative Verfahren um<br />
Befindlichkeiten, Meinungen, spezifische Lebensweisen und Bewältigungsformen von<br />
Menschen vor Ort zu erahnen und zu begreifen. Erst diese nämlich geben Auskunft über die<br />
Situationswahrnehmung der jeweiligen lokalen Bevölkerung, ihre Belange und die<br />
spezifischen Formen diese zu organisieren.<br />
Während im Rahmen einer späteren aktivierenden Befragung Meinungen systematisch<br />
erhoben werden können, geht es in der ersten Phase darum, zu Hypothesen darüber zu<br />
gelangen, was in einem Gemeinwesen belastend und problematisch ist und so empfunden<br />
wird und über welche Entwicklungs- und Problemlösungspotenziale das Gemeinwesen und<br />
seine BewohnerInnen möglicherweise verfügen.
Schauen, hören, sprechen und präsent sein<br />
Neben dem Zusammentragen schriftlicher Informationen und Gesprächen mit VertreterInnen<br />
aus Schule, Behörden, Kirchen, Politik etc. ist es sinnvoll, mit vielen unterschiedlichen<br />
Personen im Gemeinwesen zu sprechen. Es bietet sich an, „Spaziergänge“ durch das<br />
Gemeinwesen zu machen, zu schauen, zu hören, anzusprechen und sich ansprechen zu lassen.<br />
Besonders ergiebig sind informelle Schlüsselpersonen z.B. Friseur, Ladenbesitzer,<br />
Kneipeninhaber, Mütter auf Spielplätzen, ältere Leute vor den Häusern etc.<br />
Erste Kontaktpersonen sind meist die Kinder, die neugierig auf die Unbekannten sind und<br />
dann auch Brücken zu den Erwachsenen schlagen.<br />
Bedenken Sie, dass es in verschiedenen Gemeinwesen/gegenüber bestimmten Gruppen<br />
problematisch sein kann, als Vertreterin einer Behörde oder eines Tendenzbetriebes (religiöse<br />
oder weltanschauliche Orientierung) aufzutreten.<br />
Umgang mit Informationen<br />
Die besondere Fachlichkeit und Ethik von Professionellen in der <strong>Gemeinwesenarbeit</strong> verlangt<br />
von ihnen, dass sie sich ihrer Rolle, der Widersprüchlichkeit ihrer Mandate und der möglichen<br />
Folgen ihres Handelns sehr bewusst sind.<br />
Sie müssen sich vor Ihrer Annäherung an ein Gemeinwesen überlegen, welches Mandat Sie<br />
haben und wie Sie Ihr Interesse transparent machen.<br />
Der Respekt vor dem Eigensinn und Eigenwert von Individuen und ihren Formen des<br />
Zusammenlebens im Gemeinwesen steht als Wert und fachliche Orientierung über äußeren<br />
Normierungen und schließt Mandate der Kontrolle aus.<br />
Mit sensiblen Informationen, die Sie, je länger Sie in einem Gemeinwesen agieren desto mehr<br />
bekommen, ist sehr sorgfältig und transparent umzugehen.<br />
Aufgabe<br />
Bitte bilden Sie Gruppen von bis zu vier Studentinnen und Studenten.<br />
Einigen Sie sich auf ein ländliches oder städtisches Gemeinwesen (Dorf, Stadtteil), welches<br />
Sie sich gemeinsam anschauen möchten.<br />
Neben Beobachtungen und Dokumentenauswertungen sollten Sie durchaus auch Gespräche<br />
führen, um zu Informationen zu kommen oder diese zu überprüfen.<br />
Tragen Sie die Informationen zusammen und bereiten Sie diese für eine visuelle, und<br />
mündliche Präsentation im Rahmen der Lehrveranstaltung vor.<br />
Erarbeiten Sie eine kurze schriftliche Grundlage als handout.<br />
Einigen Sie sich darauf, ob Sie Ihr Gemeinwesen allgemein oder spezifisch - aus der<br />
Perspektive bestimmter Gruppen (Kinder und Jugendliche, alte Menschen, Behinderte,<br />
Frauen, MigrantInnen oder andere Gruppen) - anschauen und beschreiben möchten.<br />
Sie müssen sollen umfassenden Datenfriedhof anlegen, sondern eine Idee vom Leben im<br />
Gemeinwesen bekommen.<br />
Folgende Informationen können, müssen Sie aber nicht Ihrer<br />
Gemeinwesenbeschreibung zugrunde legen:<br />
Informationen über die Bevölkerung<br />
• Sozialdemographische Daten (Altersstruktur, Haushaltsgrößen, Einelternfamilien,<br />
Ethnien etc.)<br />
• Sozialökonomische Daten (Erwerbsstruktur, Erwerbslose, Sozialhilfeberechtigte,<br />
überwiegende Einkommens- und Vermögensverhältnisse etc.)<br />
• Sozialkulturelle Daten (Volksgruppen, Ethnien, Bildung, Wissen, besondere<br />
Fähigkeiten, Status im Beruf, Gesellungsformen, Traditionen, Freizeitverhalten etc.)
Allgemeine Informationen zum Gemeinwesen<br />
• Sozialtopographische Aspekte (Lage im Kontext des weiteren Umfeldes,<br />
Erreichbarkeit, qualitative Informationen)<br />
• Sozialräumliche Aspekte (Wohn- und Wohnumfeldqualität, Wohndichte, optische<br />
Anmutung etc.)<br />
• Sozialökologische Aspekte (Verkehr, Lärm und andere Belastungsfaktoren,<br />
öffentliches, halböffentliches oder privates Grün etc.)<br />
• Infrastrukturelle Aspekte (Versorgungs-, Bildungs-, Spiel-, Kommunikations-,<br />
Gesellungs- und Tätigkeitsmöglichkeiten etc.)<br />
Meinungen, Stimmungen, Einschätzungen der BewohnerInnen des Gemeinwesens (Ihre<br />
Annahmen) zum Beispiel:<br />
• Worüber freuen sie sich<br />
• Worauf sind sie stolz<br />
• Was gefällt ihnen<br />
• Was können sie gut<br />
• Was ist ihnen wichtig<br />
• Wovor haben sie Angst<br />
• Was belastet sie<br />
• Welche Vorlieben und Abneigungen haben sie<br />
• Wofür schämen sie sich<br />
• Welche Ideale und Vorbilder haben sie<br />
• Welche Feindbilder haben sie<br />
• Welche „Rituale“ haben sie<br />
• Welche Tabus gibt es<br />
• Wie und mit wem verbringen sie ihre Freizeit<br />
• Warum leben sie da, wo sie leben<br />
• Wer und was sind „fremd“<br />
• Wie geht man mit „Fremdem“ um?<br />
Ihre ersten Hypothesen: Welches sind mögliche Bedarfe, Potentiale,<br />
Entwicklungsmöglichkeiten und Belastungsfaktoren des Gemeinwesens?<br />
Wer ist besonders betroffen?<br />
Wo und mit wem sind Entwicklungsprozesse in Gang zu setzen?<br />
Was sind die Voraussetzungen?
Prof. Dr. Susanne Elsen<br />
<strong>Gemeinwesenarbeit</strong>:<br />
Begriffsverwirrung - oder alle glauben zu wissen was es ist<br />
Ziele der <strong>Gemeinwesenarbeit</strong>:<br />
GWA fokussiert nicht die individuellen Problemlagen<br />
und Behandlungsbedürftigkeiten von Menschen, sondern<br />
ihr Ziel ist die nachhaltige Gestaltung und Erhaltung der<br />
sozialen, ökologischen, politischen und ökonomischen<br />
Lebensbedingungen mit den betroffenen Menschen in<br />
einem Gemeinwesen.<br />
Essentials:<br />
GWA schafft Handlungsmöglichkeiten (Optionen), stiftet<br />
Beziehungen (Ligaturen), fördert die<br />
Handlungsfähigkeiten und wirkt Isolation und<br />
Machtlosigkeit (erlernter Hilflosigkeit) entgegen<br />
(Empowerment)<br />
Sozialraumorientierung/Lebensweltbezug<br />
Ressourcenorientierung/Orientierung an den Stärken der<br />
Menschen und den Voraussetzungen ihrer Entfaltung<br />
Bedürfnisorientierung<br />
Demokratisierungsperspektive<br />
Orientierung an den Selbstorganisationskräften<br />
Orientierung am Recht auf Teilhabe am materiellen und<br />
nicht materiellen historischen Reichtum
Arbeitsprinzipien:<br />
• Zielguppenübergreifende Arbeit<br />
• Methodenintegrative Arbeit<br />
• Interdisziplinäre Arbeit<br />
• Sektorübergreifende Arbeit (Prinzip der Einmischung in<br />
Ursachenzusammenhänge)<br />
• Schaffung von Optionen zur Teilhabe, Teilnahme und Teilgabe für und<br />
mit insbesondere benachteiligten Menschen<br />
• Befähigung zur Teilhabe<br />
• Empowerment der Betroffenen und Beeinflussung der Machtträger<br />
• Bewußtseinsbildung, Förderung von Alltagssolidarität, Förderung<br />
expressiver Fähigkeiten insbesondere artikulationsschwacher<br />
Gesellschaftsmitglieder<br />
Methoden der <strong>Gemeinwesenarbeit</strong>:<br />
Vernetzung (vertikal und horizontal)<br />
Ressourcenmobilisierung(materielle und nicht<br />
materielle, intern und extern)<br />
Aktivierende Sozialforschung<br />
Vermittlung und Moderation im intermediären Bereich<br />
Zugänge/Traditionen der GWA<br />
Funktionale GWA<br />
Kategoriale GWA<br />
Territoriale GWA
Historische Wurzeln der GWA:<br />
Settlement-Bewegung: (Jane Addams: 1860-1935):<br />
Umfassender sozialreformerischer Ansatz. Settlements entstanden Ende des<br />
19. Jahrhunderts als unabhängige Gemeinwesenzentren in den<br />
amerikanischen Großstädten und waren Impulsgeber sozialer<br />
Stadtentwicklung, Sozialer Arbeit, Sozialberichterstattung, lokaler und<br />
nationaler Sozialreform, sozialkultureller Aktivitäten und<br />
gemeinwesenökonomischer Lösungen.<br />
Community Organizing, Community Action (Saul Alinsky: 1909-<br />
1972):<br />
Aufbau von Gegenmacht und tragfähigen Organisationen der Machtlosen<br />
in einem lokalen Gemeinwesen durch seine BewohnerInnen sowie ihre<br />
Befähigung zur Vertretung eigener Interessen in einem meist<br />
großstädtischen Kraftfeld, in dem die Belange der Machtlosen keine<br />
Berücksichtigung finden und Problemdimensionen in den Quartieren der<br />
Armen kumulieren. (Konfliktansatz)<br />
Community Development:<br />
(Wieder-) Aufbau tragfähiger (politischer, ökonomischer, sozialer und<br />
kultureller) Lebenszusammenhänge in einem Gemeinwesen. Community<br />
Development wurde als Strategie landwirtschaftlicher Hochschulen für die<br />
neu erschlossenen ländlichen Räume konzipiert und zielte auf die<br />
Befähigung der verstreut agierenden Neubauern zur Schaffung<br />
funktionierender Gemeinwesen in den Gebieten in denen Basisstrukturen<br />
fehlten.<br />
Community Education, Lernen im Leben (John Dewey 1859-1952) und<br />
(Pauo Freire 1921-1997):<br />
Demokratisches Bildungskonzept mit dem Ziel der Schaffung einer<br />
Basisdemokratie, in der Bürger befähigt werden, politische<br />
Entscheidungsprozesse so mitzubestimmen, das sie zu einer Verbesserung<br />
der bestehenden Verhältnisse und zur Beseitigung sozialer, ökonomischer<br />
und kultureller Defizite in der Community beitragen. 1<br />
Paulo Freire geht von einer Analyse und Entlarvung des Wirkungsgefüges<br />
struktureller Macht aus. Starke gesellschaftliche Machtentfaltung<br />
(religiöse, ökonomische, politische) erzeugt eine Kultur des Schweigens.<br />
“Die Macht der einen braucht die Dummheit der anderen.” Erziehung der<br />
Selbstbefreiung zielt auf die Einheit von Denken und Handeln im Lernen in<br />
und an den konkreten Lebenssituationen.<br />
1 Buhren, Claus, G. Community Education als innere Schulreform, Dortmund 1994 S. 33
Alle Ansätze wurden in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts als Reaktionen<br />
auf die sozialen Missstände der Industrialiserung und infolge der<br />
Bürgerrechtsbewegung entwickelt. 2 Ihr polarisierendes, und gegenüber der<br />
Adaption als Anwendungsbereich Sozialer Arbeit unabhängigeres<br />
Handlungsverständnis erklärt sich auch aus dem spezifischen<br />
amerikanischen Kapitalismus, der kaum sozialpolitisch flankiert war und<br />
ist und Selbsthilfe stets zur Notwendigkeit machte, einer der Gründe,<br />
weshalb Community-Work an Bedeutung gewinnt.<br />
Positionen:<br />
• Sozialintegrative oder harmonische Position (Murray Ross)<br />
• Sozialreformerische Position (Jane Addams, Harry Specht)<br />
• Basisdemokratische Position (Saul Alinsky)<br />
Diskussionsstränge/Entwicklungen im deutschsprachigen Raum:<br />
• <strong>Gemeinwesenarbeit</strong> als “dritte Methode” (70er)<br />
• <strong>Gemeinwesenarbeit</strong> als “Arbeitsprinzip” Sozialer Arbeit (80er ff)<br />
• <strong>Gemeinwesenarbeit</strong> als intermediäre Instanz (80er ff)<br />
• <strong>Gemeinwesenarbeit</strong> als Quartiersmanagement (90er ff)<br />
• <strong>Gemeinwesenarbeit</strong> und Lokale Ökonomie - Gemeinwesenökonomie (ff)<br />
• <strong>Gemeinwesenarbeit</strong> als zivilgesellschaftliche Entwicklungsstrategie (ff)<br />
2 Vergleiche: Müller, C. Wolfgang: Wie Helfen zum Beruf wurde, Band 2, Weinheim/Basel 1988.
Prof. Dr. Susanne Elsen<br />
Kooperation und Vernetzung der Fachbasis in der gemeinwesenorientierten Arbeit<br />
Bitte überlegen Sie, wie die Praxisorganisation in der Sie arbeiten/gearbeitet haben in<br />
kooperative Strukturen eingebunden ist.<br />
Denken Sie dabei an folgende Organisationen und ihre AkteurInnen:<br />
• Soziale Dienste, Einrichtungen und Institutionen die mit gleichen oder ähnlichen<br />
Zielgruppen arbeiten<br />
• Soziale Dienste, die andere Zielgruppen und /oder Thematiken erreichen:<br />
Schulen, Kindergärten, Altenheime, Behinderteneinrichtungen etc.<br />
• Behörden, Politik und Verwaltungen auf kommunaler oder Provinzebene<br />
• Verbände, Vereine und Initiativen und Selbsthilfegruppen<br />
• Kirchen, Gewerkschaften, Kammern<br />
• Unternehmen im Gemeinwesen<br />
• Presse und Rundfunk<br />
Bitte versuchen sie einzuschätzen, inwiefern es sich um eine konzeptionelle (dauerhafte<br />
und gezielte) Kooperation oder um eine praktische Zusammenarbeit (kurzfristig und<br />
situativ) handelt.<br />
Wo sehen Sie Konkurrenzen, Gegnerschaften und Konflikte?