Wege ins Unsichtbare
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Wege ins Unsichtbare
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1<br />
munda
Das Buch<br />
Die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ist gekennzeichnet<br />
durch Industrialisierung, Kolonialismus, den Ausbau der Eisenbahn,<br />
die Einführung der Telegraphie, welche den Informationsfluss beschleunigt,<br />
aber auch durch eine rasche Entwicklung der Medizin.<br />
Die Städte wachsen über ihre alten Befestigungsanlagen hinaus, ihre<br />
Bevölkerung nimmt zu, und damit die Notwendigkeit hygienischer<br />
Einrichtungen.<br />
Jean Sigg widmet sich als Landarzt im Zürcher Weinland der medizinischen<br />
Versorgung der Bevölkerung. Er folgt damit seinem<br />
Vater Johann Sigg, dessen Wirken die Autorin in „Jahre der Befreiung”<br />
aufzeichnete. Im Gegensatz zum Vater kann Jean sich an den<br />
Universitäten von Wien und Berlin weiterbilden. Anders als viele<br />
Kollegen ist er aufgeschlossen gegenüber neuen Entwicklungen, an<br />
denen er seine Kranken teilhaben lassen will. Auch dem vorliegenden<br />
Buch liegt ein sorgfältiges Quellenstudium zugrunde, und die<br />
Autorin versteht es, das Material verschiedenster Quellen zu einer<br />
lebensnah erzählten Geschichte zu verweben.<br />
Die Autorin<br />
Beatrice Schaerli-Corradini, geboren 1952 in Zürich, ist promovierte<br />
Psychologin und Psychotherapeutin. Sie hat verschiedene Fachbücher<br />
zur Jugendpsychologie verfasst, so „Bedrohter Morgen. Kind,<br />
Umwelt und Kultur“ (1991) und „Bilder des Schreckens – Schreckliche<br />
Bilder“ (1994). Bei munda erschien von ihr der historische<br />
Roman „Jahre der Befreiung” (2011). Die Autorin lebt in Bonnieux,<br />
Frankreich.<br />
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Beatrice Schaerli-Corradini<br />
<strong>Wege</strong> <strong>ins</strong> <strong>Unsichtbare</strong><br />
Roman<br />
munda<br />
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Vorderes Umschlagbild: Mikroskop 19. Jahrhundert<br />
Quelle: Can Stock Photo<br />
Hinteres Umschlagbild: Das Arzthaus in Kleinandelfingen<br />
Quelle: Archiv Andelfingen<br />
Veröffentlichung durch den<br />
munda Verlag, 5200 Brugg, Schweiz<br />
(www.munda.ch)<br />
Herstellung durch<br />
Sowa Druk GmbH, 01-209 Warszawa, Polen<br />
(www.sowadruk.pl)<br />
© munda Verlag, 2012<br />
ISBN 978-3-905993-06-6<br />
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Vorwort<br />
In seinen autobiographischen Notizen vermittelt der Arzt Jean<br />
Sigg (1831-1912) ein bewegendes Bild seines Lebens und Wirkens.<br />
Sie liegen diesem Roman, dem Folgeband von ‚Jahre der Befreiung’,<br />
zugrunde.<br />
Mitte des 19. Jahrhunderts wandert Jean nach Wien, Leipzig und<br />
Berlin, um seine Ausbildung als Arzt zu vervollkommnen. Wandert,<br />
denn das Zeitalter der Eisenbahn hat eben erst begonnen, und mit<br />
ihm beginnt sich der technische Fortschritt Bahn zu brechen, dem<br />
auch die Medizin viele Impulse und technische Mittel verdankt.<br />
Zurück in der Schweiz, die ihm klein und rückständig erscheint,<br />
möchte sich der junge Arzt für den wissenschaftlichen Fortschritt<br />
e<strong>ins</strong>etzen und stösst, wie schon sein Vater, auf politisches Desinteresse<br />
und, wie er es nennt, ‚ärztlichen Schlenderian’.<br />
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ist eine Zeit der kalten,<br />
schneereichen Winter, die das Leben unseres Protagonisten ebenso<br />
zeichnen wie die wiederkehrenden grossen Seuchen: Cholera, Masern,<br />
Typhus, Tuberkulose. Ihnen gilt Jeans unermüdlicher Kampf,<br />
der ihn in die Welt der Mikroorganismen führt, aber auch in das<br />
Elend städtischer Verwahrlosung, die Folgeerscheinung der Industrialisierung<br />
und der Landflucht: Armut, Verelendung, desolate<br />
hygienische Bedingungen.<br />
Die Entdeckung der Bakterien und Viren und ihr Einfluss auf<br />
den Organismus sind Forschungsgegenstand auch im Stübchen<br />
unseres Landarztes, und mit der Evolutionstheorie Darw<strong>ins</strong> verliert<br />
die Theologie im ärztlichen Alltag endgültig an Einfluss.<br />
Der Tod, dieser ‚grausame Würger der Menschheit’, wie Georg<br />
Büchner ihn um 1850 nannte, begleitet unseren Protagonisten im<br />
persönlichen Leben und im beruflichen Alltag. Jean ist genötigt,<br />
mit ihm zu leben. Doch der Verlust an religiöser Verankerung, die<br />
seine Zeit kennzeichnet, lässt ihn den Tod als das noch zu erlegende<br />
Raubtier wahrnehmen. Noch ist der Arzt nicht ein Gott in Weiss,<br />
aber der Wunsch, dank Naturwissenschaft auch ‚dieses Problem’<br />
dere<strong>ins</strong>t lösen zu können, ist ihm nicht fremd.<br />
War damals der Traum vom grenzenlosen Fortschritt Männersache?<br />
Wo standen die Frauen? Neben, sehr oft hinter ihnen. Als<br />
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Ehefrauen, Mägde, Töchter spielten sie ihre Rolle. Ihr Schicksal bildet<br />
die Begleitmelodie in einem Geschehen, dessen Unheimlichkeit<br />
wir heute, hundert Jahre später, besser verstehen.<br />
‚La Belle Epoque’! In ihrem Schatten wird der Zwang zur Norm<br />
tonangebend. Nicht nur der Intelligenzquotient wird definiert, auch<br />
die Klassifizierung des psychisch Abnormen, die Aussonderung<br />
‚asozialer, kranker Elemente’ und der Rassismus nehmen ihren Lauf.<br />
Die Welt wird grösser, aber auch enger, und die neu gegründeten<br />
psychiatrischen Kliniken sind dem Ansturm der Patienten schnell<br />
nicht mehr gewachsen.<br />
Seite an Seite mit dem Aufkommen der Mechanisierung in der Industrie,<br />
entwickeln Medizin und Psychologie das Bild des Menschen<br />
als Maschine. Die Seele wird zunehmend vom Körper abgespalten,<br />
der Körper selbst fragmentiert, das emotionale Beziehungsfeld des<br />
Menschen zerschnitten.<br />
Jean Sigg gehörte noch einer Ärztegeneration an, die das Spezialistentum<br />
nicht kannte. Er war als Landarzt auch Psychiater,<br />
Chirurg, Frauenarzt, Kinderarzt und engagierter Forscher im Feld<br />
der Hygiene. Damit war es ihm möglich, den ganzen Menschen zu<br />
sehen, als zu Beginn des 20. Jahrhunderts rings um ihn dieser Blick<br />
schon verloren ging und sich ein Denken durchsetzte, das unter anderem<br />
die Tragödien zweier Weltkriege ermöglichte und bis heute<br />
auch in der Medizin und Psychologie fortwirkt.<br />
Aber noch sind wir nicht so weit, wir schreiben das Jahr 1855.<br />
Jean, vierundzwanzigjährig, frisch promovierter Arzt, schläft auf<br />
den Kisten bayerischer Tuchhändler auf einem Lastkahn, der die<br />
Donau hinunter treibt ...<br />
8
1855<br />
Wien, im Juni<br />
Draussen wird es heller. Genug Tageslicht, um den Weg zu<br />
finden.<br />
Vor dem Lavoir schlüpft sie aus dem Nachthemd. Sie betrachtet<br />
im Spiegel ihren Körper. Die Brüste sind noch praller geworden. Sie<br />
legt beide Hände über den Bauch, sie ist aufgewühlt.<br />
Nun darf sie keine Zeit verlieren. Resle, die Köchin, hat ihr ein<br />
Kleid geliehen. Man wird sie auf der Gasse nicht erkennen. Leinen<br />
ist sie nicht gewohnt. Das Tuch ist rau und schmiegt sich nicht an<br />
den Körper. Wie fremd sie darin ausschaut!<br />
Sie steckt sich die Haare hoch und bindet ein Kopftuch darüber.<br />
Dann nimmt sie die Maske.<br />
Auf dem Hohen Markt werden die ersten Stände hergerichtet.<br />
Jeder ist mit sich selbst beschäftigt. Marktweiber, Gassenjungen<br />
und Händler, auch der Wassermann ist unterwegs. Noch nie war<br />
sie um diese Zeit in der Stadt. Das ziemt sich nicht für ein Mädchen<br />
von Rang und Namen. Aber heute wird man sie nicht erkennen.<br />
Sie schlüpft aus dem Hauseingang.<br />
Sie überquert den Platz. Beinahe wäre sie von einem Karren<br />
angefahren worden, im letzten Moment rettet sie sich mit einem<br />
Sprung zur Seite. Ein wilder Schmerz fährt ihr durch den Rücken,<br />
sie schnappt nach Luft und krümmt sich.<br />
Niemand hat es bemerkt. Oder doch? Sie nestelt an ihrem Rock<br />
und zieht sich die Maske über. Hinter dem Karton fühlt sie sich<br />
sicher.<br />
Die Welt ringsum entgleitet ihr. Sie konzentriert sich auf den<br />
Schmerz, der stärker wird. Er kommt in Wellen. Sie darf nicht stehen<br />
bleiben. Sie hat den Weg gut in Erinnerung. Noch eine Häuserzeile.<br />
Die Türe ist verriegelt. Panik steigt in ihr hoch, aber dann sieht sie<br />
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die Klingel. Als man ihr öffnet, wird es ihr schwarz vor den Augen.<br />
„Du hast den Zettel?“<br />
Einen Moment muss sie sich fassen. Dann nestelt sie an ihrem<br />
Brusttuch und findet ihn. „Da.“<br />
Das Gesicht der Wärterin zeigt keine Regung. „Ist er versiegelt?“<br />
fragt sie forsch.<br />
„Ja, ich habe alles notiert.“<br />
„Dann komm.“<br />
Sie folgt der Wärterin.<br />
Was für riesige, schwere Schuhe!<br />
Sie muss ihr vertrauen dürfen, sie hat keine Wahl. Sie möchte<br />
sich endlich fallen lassen.<br />
Mit einem Ruck fährt Jean aus dem Halbschlaf. Hat man ihn<br />
gerufen? Oder hat er geträumt? Im Aufsitzen hat er den Kopf an der<br />
Kajütendecke angeschlagen und reibt sich nun die Stirn. Sie sind<br />
immer noch nicht angekommen. Der Kahn schwankt bedenklich.<br />
Das werden die Stromschnellen sein. Vor zwei Stunden hat sich<br />
ein Lotse zu ihnen gesellt. Er selbst hat gesehen, wie der Kapitän<br />
missmutig den Platz auf dem vorderen Deck freigab. Die Ruderer<br />
sind schweigsam geworden, man hört nur die Befehle des Lotsen.<br />
Manchmal drohen die Fässer, auf denen er sich zum Schlafen<br />
eingerichtet hat, zu kippen. Stoffballensind davon gerollt, und aus<br />
dem Korb der Linzerin sind die Hühner geflohen. Das hat ihn geweckt,<br />
dieser gackernde Aufruhr, das wird es sein.<br />
„Magst ein Bier?“<br />
Sein bayerischer Reisegefährte ist bester Laune. Nicht mehr lange,<br />
und sie haben das Ziel ihrer Reise erreicht. Wien. Die Stadt an der<br />
Donau, der lehmfarbenen, eintönigen Donau mit ihren Lastkähnen.<br />
Jean ist froh diese Flussreise zu beenden. In Zukunft wird er sich<br />
einen Dampfer leisten. Das Bier ist flau, aber es stillt den Durst. Wieder<br />
schlägt der Kahn gegen einen Felsen. Rumpelnd fallen Kisten<br />
voneinander. Zwei verärgerte Händler bedrohen sich mit Fluchen<br />
und Fäusten. Das reicht. Jean rutscht von seinem Schlafplatz, greift<br />
nach Reisetasche und Geige und bahnt sich einen Weg raus aus der<br />
Kajüte an die frische Luft.<br />
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Das Wetter hat sich nicht gebessert. Die Wolken hängen so tief,<br />
dass man den Horizont nicht sieht. Und die Donau ist lehmfarben.<br />
Wie heisst es doch in dem Lied von der schönen Donau? Blau? Vielleicht<br />
könnte die Landschaft drüben am Ufer schön sein. Vielleicht.<br />
Zwölf Stunden nun schon. Er reibt sich das Kreuz.<br />
Jemand zupft ihn am Ärmel. Ein Knabe, barfüssig, die mageren<br />
Beine in abgetragenen, zu kurzen Lederhosen. Die Mütze hält er in der<br />
einen, eine hölzerne Statue der Jungfrau Maria in der anderen Hand.<br />
„Die Jungfrau hat Sie vor dem Ertrinken in den Strudeln bewahrt,<br />
gnädiger Herr.“<br />
Jean muss lachen. „Ich bin nicht katholisch, weisst du, aber einen<br />
Gulden will ich dir trotzdem schenken.“<br />
Der Bub ist schon entwischt, als ein Bettelmönch sich vor ihn<br />
drängt mit dem Bild eines Flussheiligen. Das Geld seiner Büchse<br />
sei für das Krankenhaus bestimmt, will er ihm glaubhaft machen.<br />
„Wie heissen denn die Herren Doktoren des Krankenhauses?“<br />
erkundigt sich Jean.<br />
Der andere ist verunsichert, stammelt etwas Unverständliches.<br />
„Wenn Ihr keinen Doktor habt in Eurem Krankenhaus, dann<br />
werde ich meinen Segen nicht geben. Lieber werde ich selbst dort<br />
Hand anlegen.“<br />
Nun hat er seine Ruhe. Er hält sich am hölzernen Geländer fest<br />
und versucht, in der Ferne Wien ausfindig zu machen. Seit wie vielen<br />
Wochen ist er nun schon unterwegs? Er hat viel erlebt auf seiner<br />
Wanderung. Herrliches, Lustiges, Bedenkliches. Niemals hätte er<br />
sich gedacht, dass die Fremde ihn so zu begeistern vermochte. Gerne<br />
wäre er da oder dort länger geblieben, wo er andere Schweizer<br />
auf Wanderschaft traf. Aber Wien war immer sein Ziel. Wien, das<br />
Mekka der Medizin. Mit seinem Doktortitel in der Tasche wird er<br />
dort seine Laufbahn beginnen. Er wird alles daran setzen, ein grosser<br />
Arzt zu werden. Er will bestens gerüstet nach Zürich zurückkehren,<br />
um dort eine leitende Stellung übernehmen zu können. Später ein<br />
Haus am Zürichsee, eine Familie gründen, Dienstboten, eine kleine<br />
Equipage. Schöne Träume sind das!<br />
Neben ihm nun wieder ein Aufruhr. „Wir sind da!“<br />
Tatsächlich! Da vorne ist der Landesteg in Sicht. Nussdorf, ein<br />
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Vorort von Wien. Der Kapitän versucht, die Passagiere zurückzuhalten,<br />
aber alle haben es eilig, über den glitschigen Steg zu kommen.<br />
Jean lässt sich Zeit. Auch drüben, an Land. Doch da sind die Fiaker<br />
schon weg, und ihm bleibt nur die Ladebühne eines Händlers, um<br />
die Wegstunde in die Stadt zu verbringen.<br />
Und dann steht er endlich vor den Stadtmauern Wiens. Jetzt!<br />
Jetzt ist die Zeit des Studierens und Wanderns zu Ende!<br />
Fünf, nein sogar sechs Stockwerke zählt er. Gewaltig! Gepflasterte,<br />
breite Gassen, weite Plätze, sogar die Brunnen sind riesig. Wie<br />
soll er das seinen Eltern im nächsten Brief beschreiben? Das muss<br />
man gesehen haben! Das ist grossartig! Nachdenklich schlendert er<br />
durch die Gassen. Man hat hier viel Platz, muss sich nicht seinen<br />
Weg bahnen, wie zu Hause, in Zürich.<br />
Jean überlässt sich dem Strom der Fussgänger und Strassenhändler,<br />
wendet sich dahin und dorthin, fasziniert, neugierig.<br />
Plötzlich verlässt ihn der Mut. Er ist irritiert. Die Situation ist<br />
eigenartig. Als hätte er alles schon einmal erlebt. Winzig fühlt er<br />
sich, fremd und ungeborgen. Mit einem Mal ist der jugendliche<br />
Übermut der Angst gewichen. Er kennt diese Angst, sie ist seit<br />
Kindheit seine Begleiterin, heimtückisch kommt sie daher, wirkt<br />
lähmend und verschlingend. Jean zieht sich in einen Hauseingang<br />
zurück. Ihm ist übel. Das Herz jagt. Er muss sich jetzt auf seinen<br />
Atem konzentrieren. Sein Vater, ein Zürcher Landarzt, hat ihn das<br />
gelehrt. Jean versucht, sich zu fassen, klar zu denken. Es ist Abend,<br />
er muss sich nach einem Zimmer umsehen. Das Krankenhaus. Er<br />
muss sich nach dem Krankenhaus erkundigen.<br />
Die Stickelbergerin, verwitwete Fleischhauersfrau in der Schlösselgasse,<br />
wird wenig später dem Wanderburschen eine Kammer<br />
zuweisen, die nach hinten, in den Hof geht. Bassena und Toilette<br />
befinden sich im unteren Flur. Der fremdländisch sprechende junge<br />
Mann macht einen müden Eindruck und scheint etwas verloren<br />
zu sein. Seine schwarzen, zu wilden Locken und der Bart sollten<br />
korrekt geschnitten werden, damit das hübsche Gesicht besser zur<br />
Geltung kommt. Ach, die Schweizer! Ja, sie wird auf alle Fälle ein<br />
zweites Kopfkissen in ihr Bett nehmen.<br />
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Dass er anderntags sogleich Arbeit findet in der Frauenklinik,<br />
hätte er nicht zu hoffen gewagt.<br />
„Der Vollmond, lieber Kollege, meint es gut mit den Weibern!“<br />
erklärt ihm Professor Hirtl, ein kleingewachsener, kahlköpfiger<br />
Mann in offenem schwarzem Frack. „Sie werden viel zu tun haben<br />
in diesen Tagen.“<br />
Er hat ihm auf der Schautafel das Wiener Krankenhaus vorgestellt,<br />
einen riesigen Gebäudekomplex, hufeisenförmig um einen<br />
Innenhof gruppiert, der als Parkanlage mit symmetrisch in Reihen<br />
gepflanzten Bäumen die neue Philosophie der Wissenschaften<br />
symbolisiere. Jetzt öffnet er ihm die Türe zum Krankensaal und<br />
lädt ihn mit einer eleganten Bewegung zum Eintreten ein. Die<br />
Patientinnen in ihren blauweiss gestreiften Nachthemden drehen<br />
ihnen die Köpfe zu.<br />
„Das hier wäre denn also ihr Reich. Aber keine Angst, Sie werden<br />
sehen, mit dem Vollmond kommen die Kinder leichter zur Welt.“<br />
Jean steht und schaut. Dass hier jede Patientin ein eigenes Bett<br />
hat! Das ist unglaublich!<br />
„Ist das nicht ein bedenklicher Luxus?“ wagt er flüsternd zu fragen.<br />
Aber Hirtl erklärt ihm, dass das hitzige Faulungsfieber seltener<br />
auftrete, wenn nicht drei bis vier Personen beieinanderlägen. Die<br />
Krankheit wandere unsichtbar durch die Luft und erreiche stets<br />
den am nächsten Liegenden. „Miasmen, lieber Kollege, das sind die<br />
Miasmen. Ist die erste Patientin tot, stirbt die zweite bald.“<br />
„Miasmen?“ wundert sich Jean.<br />
„<strong>Unsichtbare</strong> Elemente, die in der Luft zirkulieren. Sie tragen<br />
die Krankheit von einem zum andern.“<br />
„Sind das Lebewesen?“<br />
Der Kollege lacht. „Wie soll ich das wissen, ich habe keines von<br />
ihnen je persönlich kennengelernt.“<br />
„Wenn man genau h<strong>ins</strong>chaut ...“<br />
„Ja, geh! Das kann nicht sein, man sieht sie nicht“, fällt ihm der<br />
andere lachend <strong>ins</strong> Wort.<br />
Jean schweigt. Was würde Papa dazu sagen? Man muss noch<br />
genauer h<strong>ins</strong>ehen. Man muss lernen, noch genauer zu sein. Er<br />
schmunzelt.<br />
Der Kollege mustert ihn von der Seite und nimmt das Gespräch<br />
wieder auf. „Sind denn die Eidgenossen von Seuchen verschont?“<br />
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Jean lacht. „Oh, nein. Doch in der Schweiz zweifelt man heute<br />
daran, dass Seuchen eine kollektive Sühne sein könnten. Mein Vater<br />
jedenfalls, er ist auch Arzt. Aber es muss tatsächlich etwas geben,<br />
was die Krankheit befördert, wenn man Gott aus dem Spiel lässt.<br />
Wirklich, der Gedanke überzeugt mich.“<br />
„Ach, kommen Sie! Saubere Luft ist das Wichtigste. Und Abstand<br />
halten.“<br />
Und Stille, denkt Jean. Wir müssen in Zürich lernen, die Welt des<br />
Kranken von der Welt des Gesunden zu trennen. Das Krankenhaus<br />
hier ist eine Stadt für sich, abgetrennt von der Welt der Gesunden.<br />
Da kommt kein Besucher mit einem Ferkel daher, und das Zutragen<br />
von Speisen erübrigt sich. Die Wärterinnen kochen recht gut, sagte<br />
man ihm. Alles scheint geregelt. Unglaublich!<br />
Schon nach wenigen Tagen fühlt er sich heimisch in der Frauenklinik.<br />
Aber das Mädchen, das schon seit Stunden in den Wehen<br />
liegt, macht ihm Sorgen. Sie ist noch sehr jung, keine sechzehn<br />
Jahre alt, schätzt er. Ihre dunklen Augen sind glanzlos, das gefällt<br />
ihm nicht.<br />
Er hat gefragt, wie sie heisse, aber sie gab ihm keine Antwort.<br />
Hat ihn nur angeschaut mit ihrem verlorenen Blick und nichts geantwortet.<br />
Auch vom Vater des Kindes und ihren Eltern wollte sie<br />
ihm nichts erzählen. Warum dieses Schweigen?<br />
Sie wird diese Geburt nicht überleben. Der Gedanke trifft ihn<br />
wie ein spitzer Pfeil. Was ist los mit mir? fragt er sich, das ist doch<br />
eigentlich ganz natürlich.<br />
Jean verlässt den Krankensaal, er ist aufgewühlt. Wieder einmal<br />
verspürt er Fassungslosigkeit gegenüber dem Schicksal einer Kranken.<br />
Das Mädchen ist jünger als er selbst. Seine 24 Jahre sind doch<br />
auch erst der Anfang des Lebens! Warum sie? Und fern ihrer Eltern,<br />
der liebevollen Fürsorge der Familie, ganz alleine, namenlos dem<br />
Schicksal preisgegeben. Nein. Daheim, in der Obhut seines Vaters,<br />
würde man jetzt zumindest beten. Alle würden sich um die Kleine<br />
scharen und ihr Trost spenden. Und beten, ja. Er muss in der Nacht<br />
noch einmal bei ihr vorbeischauen.<br />
Am Abend trifft er im gewöhnlichen Speisehaus ‚Zum Kindhof’<br />
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andere Schweizer Ärzte zum geme<strong>ins</strong>amen Essen. Kyburz von Solothurn,<br />
den er vom Studium in Zürich her kennt, Cartier von Basel<br />
und Lorenz von Aarau, der Musensohn, der damals seine Kollegienhefte<br />
in lateinischer Sprache verfasste. Es wird viel gelacht, geneckt,<br />
gesungen und diskutiert. Jean versucht, seine Sorgen loszuwerden.<br />
Aber heute fühlt er sich elend.<br />
Lorenz, der ihm ein Weilchen zugehört hat, meint: „Ich habe<br />
selber einige Wochen in der Frauenklinik gearbeitet, ich muss gestehen,<br />
ich teile deinen Kummer. So viele liebliche Mädchen sterben<br />
zu sehen, bekommt keinem Mann, schon gar nicht einem jungen.<br />
Bist du in sie verliebt?“<br />
Jean zuckt zusammen. Mit dieser Frage hat er nicht gerechnet.<br />
Verliebt? Die Frage irritiert ihn. Und verdirbt seine Laune endgültig.<br />
Er bezahlt seine Zeche und verabschiedet sich früher als üblich.<br />
Auf dem Weg zurück in die Klinik wird er von einem Gewitter<br />
überrascht. Im Innenhof des Krankenhauses reisst der Sturm Äste<br />
von den Bäumen. Durchnässt und immer noch aufgewühlt betritt<br />
er das Gebäude.<br />
Etwas lässt ihn innehalten.<br />
Das riesige Gebäude bedrückt ihn. Ihm ist nicht wohl. Er zögert,<br />
bleibt stehen und horcht. Ein Donner. Schritte, jetzt. Er wartet. Eine<br />
Türe geht und eine vermummte Gestalt erscheint vor ihm, das<br />
Gesicht hinter einer Maske. Jean erschrickt. Es ist eine Frau. Eine<br />
Patientin?<br />
Sie huscht an ihm vorüber, bevor er sie ansprechen kann. Seltsam,<br />
denkt er, was geht hier vor?<br />
Eilig läuft er auf die Station. Das junge Mädchen scheint endlich<br />
gebären zu können. Gott sei Dank. Jean setzt sich neben sie<br />
und wischt ihr Gesicht und Hände mit einem feuchten Lappen ab.<br />
Wieder dieser kindlich verlorene Blick. Er spricht beruhigend auf<br />
sie ein, erzählt ihr von Flaach, dem Dorf in der Schweiz wo er aufwuchs,<br />
von den Weinbergen, dem Wald, den Mühlen, von seinen<br />
kleinen Schwestern, Lisette und Anna. Das Mädchen schaut ihn<br />
unentwegt an. Er streicht ihr eine Haarsträhne aus der Stirn, richtet<br />
ihr die Kissen im Rücken und fühlt eine ungekannte Zärtlichkeit in<br />
sich aufsteigen. Was ist los mit ihm?<br />
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Abrupt steht er auf. Das darf nicht sein. Er muss sich beherrschen,<br />
er ist schliesslich Arzt. Am Fenster steht er und beobachtet<br />
den nächtlichen Himmel. Blitze entladen sich.<br />
Dem Himmel geht es wie mir, denkt er. Aber der Regen ist seine<br />
Erlösung. Und meine?<br />
Die Zeit vergeht. Jean hat sich zu seiner Patientin gesetzt und<br />
versucht, seine Gefühle zu zügeln. Er muss bei dieser Geburt assistieren,<br />
das ist alles. Er ist Helfer, nur das: Helfer.<br />
Neben ihm wird das Mädchen immer schwächer. Er nimmt es<br />
wahr. Aber was soll er tun? Die Natur nimmt ihren Lauf. Als Arzt<br />
sind ihm wenig Mittel gegeben. Aderlass, Einläufe, stärkender Tee,<br />
alles hat er schon eingesetzt, der Rest ist das Werk Gottes. Ja, Gottes.<br />
Auch wenn sein Papa daran zweifelt, hier sieht man es, das Werk<br />
Gottes. Wieder diese Ohnmacht, diese kränkende Ohnmacht des<br />
Arztes. Jetzt versteht er endlich seinen Vater. Verliebt muss man sein!<br />
Nach Mitternacht lässt er Hirtl rufen. Der Professor kommt direkt<br />
aus der Anatomie. Er ist trotz der vorgerückten Stunde guter Laune.<br />
Das hier ist für ihn Routine. Er wischt seine Hände am Leintuch ab<br />
und untersucht die junge Frau.<br />
„Zu jung zum Kinderkriegen! Aber das haben wir gleich.“<br />
Jean staunt, mit welcher Sicherheit der ältere Kollege in die Frau<br />
greift und den Säugling entbinden hilft.<br />
Und das Kind lebt! Die Mutter ist erschöpft aber glücklich. Du<br />
meine Güte! Jean wendet sich ab. Er ist jetzt nur noch müde. Ohne<br />
sich zu verabschieden, geht er. Hinaus in die Nässe, durch den Hof<br />
<strong>ins</strong> Freie, durch die Gassen, der Schlösselgasse entgegen. Schlafen,<br />
endlich schlafen.<br />
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Flaach, im Sommer<br />
Das Heu ist eingetan, der Weizen steht in Garben. Johann kann<br />
sich endlich Ruhe gönnen. Er setzt sich im Garten in den Schatten<br />
des Birnbaumes mit der ‚Neuen Zürcher Zeitung’ und vertieft sich<br />
in die Lektüre. Es gefällt ihm, Neues aus dem Kanton und der Stadt<br />
zu vernehmen, das Leben in der Abgeschiedenheit des Weinlands<br />
war nie nach seinem Geschmack. Landarzt. Hier in Flaach, einem<br />
kleinen Weinbauerndorf, hinter Hügeln versteckt.<br />
Er hatte keine Wahl. Als mittelloser Mediz<strong>ins</strong>tudent war er<br />
auf die finanzielle Unterstützung seines Paten, eines Zürcher<br />
Adeligen, angewiesen. Und nach dessen Pfeife wurde dann<br />
auch getanzt. Früher hat ihn dies verärgert und gekränkt, aber<br />
mit den Jahren ist der Widerstand einer gewissen Zufriedenheit<br />
gewichen. Und heute? Jean, der Älteste, ist in Wien, ach ja. Der<br />
Sohn kann sich im Ausland weiterbilden. Dies und anderes sind<br />
ganz in seinem Sinn.<br />
Er hat wahrgenommen, dass Christine, die Magd, zweimal an<br />
ihm vorbeikam mit Wäschezeinen. Drüben, bei Hürzelers, veranstalten<br />
die Gänse ein Riesengeschrei. Der Bub hat wohl vergessen,<br />
das Gatter zu schliessen.<br />
Flaach, Zürich, Wien. Seltsam, dass gleichzeitig in so ganz<br />
verschiedenen Welten Dinge passieren. Seitdem sie die Poststelle<br />
eröffnen konnten, ist der Blick auf die Welt offener geworden. Alles<br />
ändert sich, neue <strong>Wege</strong> sind eröffnet, die Ferne ist näher gerückt,<br />
aber damit auch das Fremde. Seltsam, vielleicht liegt darin ein<br />
Grund für die Zunahme geistiger Verwirrung?<br />
Eine Bachstelze hat sich auf dem Brunnenrand niedergelassen.<br />
Hinter dem Obstgarten verf<strong>ins</strong>tert sich der Himmel. Johann klemmt<br />
sich wieder die Brille auf den Nasenrücken.<br />
Jetzt bleibt er an einem Artikel über die Eisenbahn hängen. Tatsächlich!<br />
Die Linie Zürich-Schaffhausen wird nun doch noch fertig.<br />
Ob es ihm gelingt, mit der Familie an der Eröffnung teilzunehmen?<br />
Eine Fahrt mit der Eisenbahn. Die Kinder werden begeistert sein,<br />
aber die Frauen? Sie bleiben wohl zäh bei ihren Bedenken! Aber man<br />
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kann sich dem Fortschritt nicht ewig verschliessen! Er wird nach<br />
dem Abendessen mit ihnen sprechen. Sie zu überzeugen versuchen.<br />
Das Eröffnungsfest ist ein Riesenerfolg. Alle sind nach Henggart<br />
gekommen: Die Bauern der umliegenden Höfe, die Handwerker,<br />
ein Grüppchen junger Mädchen, eine lärmende Kinderschar. Sehen<br />
oder fahren, einerlei, allein der Anblick der Lokomotive mit ihren<br />
glänzenden Messingarmaturen, der Glocke und dem Kamin! Das<br />
ist ein Gedränge und Gerufe.<br />
Johann hat sich noch rechtzeitig um Fahrkarten gekümmert, jetzt<br />
ist er froh, wenn er für die Seinen noch ein freies Abteil ergattern<br />
kann. Wie seine Lisebeth und die Gotte ihm im Wagen gegenübersitzen,<br />
fein herausgeputzt, aber mit bleichen, angespannten Gesichtern,<br />
den Picknickkorb ängstlich zwischen sich geklemmt, dauern<br />
sie ihn trotzdem. Sie sind wirklich auffallend still.<br />
„Macht euch doch keine Sorgen. Ihr werdet sehen, das ist alles<br />
kaum gefährlicher als eine Reise mit der Postkutsche. Ein wenig<br />
schneller vielleicht“, versucht er sie zu beruhigen, aber er stösst<br />
auf taube Ohren.<br />
„Du warst es, der davon sprach, dass es dem Körper schade,<br />
sich so schnell fortzubewegen, dass nicht sicher sei, ob die Organe<br />
... wegen der Geschwindigkeit Schaden nehmen ...“, reklamiert die<br />
Gotte, und Lisebeth setzt hinzu: „Das Gehirn könnte platzen! Das<br />
hast du selbst gesagt, daran erinnere ich mich auch!“<br />
„Das hat sich als Unfug erwiesen. Man hat ja mit der Spanischbrötlibahn<br />
Erfahrungen sammeln können. Aber als Arzt musste ich<br />
Bedenken haben. Die hohe Geschwindigkeit ist wider die Natur.“<br />
Nachträglich muss er selber lachen ob dieser Bedenken. Sein<br />
Schwager, der begeisterte Industrielle, kennt keine Zweifel in<br />
dieser Sache und hat sich wiederholt über die Befürchtungen der<br />
Ärztegilde lustig gemacht. Zweifellos beginnt eine neue Zeit mit<br />
der Eisenbahn. Speditionen, Transport von Reisenden. Das Land<br />
wird industriell nutzbar, wir werden nie wieder eine Hungersnot<br />
erleben. Goldige Aussichten, allerdings! Und doch. Seine Zweifel<br />
vermochte der Andere nicht zu verscheuchen. Es geht doch auch<br />
um den Menschen, nicht nur um den wirtschaftlichen Vorteil. Alles<br />
20
geht nun so schnell. Zu viele Veränderungen in kurzer Zeit, das sind<br />
wir nicht gewohnt. Wie ertragen wir diese Veränderungen, was<br />
bürden wir uns auf? Mit dem alten Leben haben wir Erfahrungen<br />
sammeln können, das neue liegt vor uns als geschlossenes Buch, und<br />
die Alten können den Jungen nicht mehr mit Rat zur Seite stehn.<br />
Nun ist alles unsicher geworden.<br />
Vor den Fenstern zieht die Landschaft vorüber. Bald werden<br />
sie in Zürich sein. Wie viele Male hat er selbst diese Reise zu Fuss<br />
unternommen, als Schüler, später als Student, als Arzt? Ganz selbstverständlich<br />
hat man sich auf seine eigenen Füsse verlassen. Ist<br />
aufgebrochen oder stehen geblieben, wann es einen gut dünkte. Nun<br />
wird alles nach den Fahrplänen geregelt, in der Westentasche wird<br />
die Uhr immer griffbereit sein müssen. Tatsächlich, eine neue Zeit!<br />
Gottfried, der Dreizehnjährige, ist aufgestanden und neben ihn<br />
getreten. „Papa, können wir in Zürich noch ein wenig bei den Lokomotiven<br />
bleiben?“<br />
„Ich weiss nicht, Kind. Die schönen Kleider und dann der Rauch,<br />
das kommt nicht gut. Wir werden sehen.“<br />
„Essen wir das Picknick denn nicht im Bahnhof?“<br />
„Nein, Gottfried, auf dem Platzspitz unter den Bäumen, da kann<br />
man sich in die Wiese setzen, da ist es schön.“<br />
„Sieht man von dort die Züge?“<br />
Jetzt betrachtet Johann seinen jüngsten Sohn aufmerksamer. Der<br />
wird auch ein Techniker! Noch einer! denkt er und schmunzelt.<br />
„Weisst du, Gottfried, du solltest einmal mit Onkel Salomon auf den<br />
Bahnhof fahren, ganz allein. Er kann dir besser als ich alles erklären.“<br />
Gottfried strahlt und schaut versonnen aus dem Fenster. Ihn<br />
dünkt, die Reise dürfte nicht enden. Immer weiter und weiter in die<br />
Welt hinaus fahren, das lockt ihn, das wird er später unternehmen,<br />
eine Reise rund um die Welt mit der Eisenbahn.<br />
21
Wien, im Sommer<br />
„Jessasmariaundjosef, wie schaun S’ denn aus!“<br />
Die Stickelbergerin kreuzt schon wieder seinen Weg, man entkommt<br />
ihr nicht. Jean blickt an sich hinunter und fühlt, dass er rot<br />
wird.<br />
„Nun ja, gnädige Frau, ich hab mich halt ein wenig herausgeputzt,<br />
schliesslich ist morgen Sonntag.“<br />
„Morgen Sonntag! Mein lieber Herr Doktor! Das wird mir was<br />
geben mit Ihnen!“<br />
„Mit Verlaub, gnädige Frau, das Frühstück werde ich im Prater<br />
einnehmen.“<br />
„Mögen S’ meine Pogatscherln nicht, was?“<br />
„Nein, ich meine, ja, ich hab halt eine Verabredung.“ Jetzt ist es<br />
heraus. Jetzt schmollt sie. Das sah er kommen. Die nicht mehr ganz<br />
junge Witwe bedrängt ihn zu sehr, jetzt hat sie das Nachsehen. Er<br />
schliesst hinter sich die Zimmertür. Meine Güte! Das Bild der jungen<br />
Patientin geht ihm nicht aus dem Sinn, wie soll er da diese Dame,<br />
nein, mein Gott, bitte!<br />
Es stört ihn, dass er täglich ihr Schlafzimmer durchqueren muss,<br />
um zu seiner Kammer zu gelangen. Jedes Mal fühlt er ihren Blick.<br />
Sie lauert mir auf, denkt er.<br />
Er betrachtet sich im Spiegel. Der Barbier hat sein Geld wohl<br />
verdient. Haare und Bart sind tüchtig in Form geschnitten! Und<br />
der neue Anzug, echt wienerisch. Er gefällt sich.<br />
Schmunzelnd lässt sich Jean aufs Bett sinken. Ach, die Wiener.<br />
Was für eine schillernde Welt. Heute hat er mit Lorenz das Römische<br />
Bad aufgesucht. Du meine Güte, davon wird er in Flaach<br />
nichts verlauten lassen. Das war ein sündiges Unterfangen. Aber<br />
für die Wiener alltäglich. Die haben eine ganz besondere Lebensphilosophie,<br />
die mit dem Christentum nicht so recht in Einklang<br />
zu bringen ist. Ein ungeheurer, naiver Leichtsinn. Ja, das ist es. Sie<br />
geniessen hemmungslos.<br />
Das Römische Bad! Säle wie Kirchenräume! Mit vergoldeten<br />
Säulen und schweren Damastvorhängen.<br />
Von Spiegelwänden umgeben hat er sich entkleidet und die weis-<br />
22
se Badeschürze umgebunden. Dann hat er durch zwei schwingende<br />
Flügeltüren den Saal mit dem Schwimmbassin betreten. Wie ein Gott<br />
hat er sich gefühlt! Wie ein junger Gott! In Fichtennadeldämpfe gehüllt<br />
hat er sich <strong>ins</strong> Wasser gleiten lassen. Dort schwamm er, auf dem<br />
Rücken liegend und sein Blick wanderte von den Marmorstatuen<br />
zu den rotsamtenen Möbeln und hinauf in die turmhohe goldene<br />
Kuppel. Was für Erinnerungen! Am Ende haben weiss gekleidete<br />
Männer ihn abgetrocknet, man hat ihm die Zehennägel geschnitten,<br />
Haare und Bart. Sünde. Das ist Sünde. Aber schön. Zürich ist ein<br />
erbärmliches Nest.<br />
Jean gibt sich einen Ruck. Wienerleichtsinn! Wieviel Geld bleibt<br />
ihm nach diesem Vergnügen? Der Augenoperationskurs bei Professor<br />
Jäger wird ihn viel Geld kosten. Er muss zurück <strong>ins</strong> Krankenhaus<br />
zur Krankenvisite. Vernunft annehmen.<br />
So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Die Geburt war entsetzlich,<br />
so wie Resle das Ereignis beschrieb: Leben und Tod ringen<br />
miteinander. Aber als sie die Stimme ihres Kindes hörte, empfand<br />
sie plötzlich Zärtlichkeit für den Balg.<br />
Sie will es doch nicht, sie kann es nicht behalten.<br />
Sie wird es im Findelhaus in die Schublade legen. Das ist alles.<br />
Warum nun plötzlich diese Gefühle für ein Wesen, das niemals<br />
Platz haben wird in ihrem Leben?<br />
Sie wollte sich nur etwas ausruhen und dann gehen. Das Kind<br />
nehmen und gehen. Das Fieber überkam sie ohne Vorwarnung. Der<br />
Schmerz im Unterleib raubte ihr die Besinnung. Sie wollte aufstehen,<br />
das Kind nehmen und gehen.<br />
Jetzt nimmt sie nur noch verschwommen wahr, dass die Wärterin<br />
ihr die Stirn wäscht. Sie hat Durst. Jemand legt ihr die Hand auf<br />
die Stirn. Der junge Doktor. Er zwingt sie, eine bittere Flüssigkeit<br />
zu trinken. Er macht ihr wieder einen Aderlass. Sie spürt, dass er<br />
an ihrem Bett sitzt. Die Schmerzen haben etwas nachgelassen. Sie<br />
ist nur noch müde, unendlich müde.<br />
23
Jean steht auf den Basteien und blickt über die Dächer Wiens.<br />
Seltsam die Idee, aus einer Umfriedung eine öffentliche Promenade<br />
zu machen. Alles ist gross in Wien. Selbst der Graben konnte zur<br />
Parkanlage genutzt werden. Und dabei ist die Vorstadt um vieles<br />
grösser als die innere Stadt. Eine einzigartige Anordnung, wunderschön,<br />
grossartig.<br />
Er blickt hinunter auf die vorbeiziehenden Kutschen. Wie fröhlich<br />
der Federputz der Kutscher wirkt! Sie fahren jetzt alle in die<br />
‚Sommerfrische’ mit ihren voll bepackten Equipagen. Aufs Land,<br />
wo sie den Sommer verbringen.<br />
Plötzlich verspürt er Heimweh. Er sieht in der Erinnerung den<br />
Vater am Krankenlager der Patienten. Die dunklen Stuben mit den<br />
niederen Zimmerdecken, das Gemurmel der Betenden. Er hört das<br />
Gackern und Muhen zwischen den Häusern seines Dorfes, Flaach.<br />
Seltsam. Warum ist er enttäuscht?<br />
Hier in Wien behandeln sie die Kranken wie Waren. Das ist es.<br />
Wie tote Waren. Seine Patientinnen sind namenlos. Es werden keine<br />
Krankenberichte geschrieben, und als er erwähnte, dass er gewohnt<br />
sei, Tagebuch zu schreiben, hat man ihn gebeten, dies zu unterlassen.<br />
Die Krankengeschichten sollen keine Spuren hinterlassen. Sein<br />
Kollege, ein gebürtiger Wiener, hat in dieser Sache seine Stimme<br />
erhoben. Keine Spuren!<br />
Wohin sind sie gekommen, die Patientinnen der letzten Zeit?<br />
Wie viele haben die Geburt überlebt? Wie viele sind gestorben?<br />
Seine kleine Liebe ist auch verschwunden, und als er nach ihr fragte,<br />
wurde er ziemlich barsch angefahren. Sie hat das Kindbettfieber<br />
nicht überlebt, da ist er sich sicher. Aber er wird keine Fragen mehr<br />
stellen. Was er erlebte und sah, kann er nicht verstehen. Es geschehen<br />
Dinge, die ihm ungeheuer sind. Verbrechen? Kann das sein?<br />
Jean nimmt seinen Hut und macht sich auf den Weg in den<br />
Prater. Er hat sich dort mit einem Wiener Kollegen verabredet. Die<br />
vielen Kaffeehäuser und Schenken in dem grossen Park laden zum<br />
Diskutieren ein. Und das braucht er heute.<br />
Unter riesigen alten Bäumen äst Rotwild. Manche Tiere sind<br />
zahm und lassen sich von den Spaziergängern streicheln. Kinder<br />
mit ihren Gouvernanten, Hunde und junge Paare ringsum, Jean<br />
24
leibt stehen und geniesst das Schauspiel. Da dringt Musik zu ihm<br />
hinüber. Das wird die Schenke sein, von der Kollege Frankenhäuser<br />
sprach.<br />
„Du solltest dir die Geschehnisse in der Frauenklinik nicht allzu<br />
sehr zu Herzen nehmen“, wird dieser ihm über das runde Tischchen<br />
hin erklären, aber sein Blick nach links und rechts verrät seine<br />
eigene Verunsicherung. „Es hat alles seine Geschichte, und die ist<br />
betrüblich.“<br />
Jean schweigt. Das Bier will ihm nicht schmecken. Und dann<br />
<strong>ins</strong>istiert er doch: „Wie gross ist die Todesrate bei den gebärenden<br />
Frauen?“<br />
Frankenhäuser sieht ihn erschrocken an. Zurücklehnend meint<br />
er: „Mein lieber Freund! Das fragt man nicht!“<br />
„Wie wollen wir unseren ärztlichen Dienst verbessern, wenn wir<br />
dessen Erfolg nicht überprüfen, offen und ehrlich?“<br />
„Sigg, genau das will man nicht in Wien!“ Frankenhäuser wirkt<br />
verärgert, aber dann fährt er leiser fort. „Schau, da gab es einen sehr<br />
angesehenen Kollegen, der sich kürzlich das Leben nahm, weil er<br />
den Gedanken nicht ertrug, am Tod seiner Patientinnen schuld zu<br />
sein. Um weitere solche Vorkommnisse ...“<br />
„Warum schuld? Was hat er getan?“<br />
„Das ist es ja! Nichts! Gar nichts anderes, als das, was wir alle<br />
tun, täglich! Aber ein Kollege, Semmelweis, wollte herausgefunden<br />
haben, dass das Kindbettfieber durch uns Ärzte verursacht werde.<br />
Du weisst, die Sache mit der Pathologie ... wenn wir vom Leicheneröffnen<br />
zu den Geburten wechseln, da, meint er, dass wir das<br />
Fieber von der Leiche auf die Patientin übertragen.“<br />
„Das ist allerdings eine üble Unterstellung, eine Zumutung! Wie<br />
kann er nur!“<br />
„Siehst du, eben. Wir wollen nicht mehr darüber sprechen, es<br />
ist entwürdigend.“<br />
Jean <strong>ins</strong>istiert trotzdem: „Wie kam er auf diese Idee?“<br />
„Er hat keine Beweise, unmöglich. Er stützt sich auf seine Beobachtungen,<br />
auf Tagebucheintragungen und auf einen rechnerischen<br />
Vergleich. Er verglich den Prozentsatz der am Kindbettfieber Verblichenen,<br />
die ohne ärztliche Intervention gebärten, mit der Zahl<br />
derjenigen, die unserer Hilfe bedurften ...“<br />
25
„Und?“<br />
Frankenhäuser seufzt. „Lieber Freund! Es waren leider beträchtlich<br />
viele dabei, die durch unsere Hände gingen. Drei Prozent bei<br />
den Patientinnen der Hebamme, fünfzig Prozent bei denen, die<br />
ärztliche Hilfe erfuhren.“<br />
„Zahlen! Aber dennoch, das gibt zu denken. Was empfiehlt<br />
Semmelweis?“<br />
„Lach’ nicht: Hände waschen!“<br />
„Nein!“ Jetzt muss Jean lachen. „Der re<strong>ins</strong>te Aberglaube! Will<br />
er den Teufel austreiben? Müssen wir uns biblisch reinwaschen?“<br />
„Dazu kommt es nicht, so ein Unsinn wird sich nicht einbürgern,<br />
das wäre Zeitverschwendung. Man hat Semmelweis denn auch<br />
mit Schimpf und Schande von Wien vertrieben. Es soll nicht mehr<br />
darüber gesprochen werden.“<br />
Ein Weilchen schauen die Freunde dem Treiben ringsum zu. Familien<br />
haben sich eingefunden, und am Nachbartisch wird eben ein<br />
mitgebrachtes Brathähnchen verteilt. Jean möchte bald aufbrechen,<br />
aber ein paar Dinge beschäftigen ihn doch noch.<br />
„Sag mir, könnte es sein, dass Miasmen an der Sache schuld<br />
sind? Die Wien scheint mir ein ordentlich verschmutztes Gewässer<br />
zu sein. Ich bin mich an einiges an Gestank gewöhnt aus meiner<br />
Heimat, aber diese Brühe flösst mir Furcht ein.“<br />
„Da hast du recht. Die Ausdünstungen der Wien sind schädlich.<br />
Sie verseuchen die Erde, und die Miasmen steigen in den Mauern<br />
der Häuser hoch, auch in unserem Krankenhaus wird das eine<br />
Rolle spielen.“<br />
„Dann müssten Patientinnen, die der Wand am nächsten liegen, ...“<br />
„Ja geh, lass das. Das sind Spekulationen. Fang nicht auch noch<br />
an mit dem Zählen!“<br />
Jean lehnt sich nun über den Tisch und fragt leise: „Etwas anderes:<br />
Warum haben unsere Patientinnen keine Namen, und warum<br />
das Theater mit den Masken?“<br />
Jetzt lacht Frankenhäuser herzhaft. „Eidgenossen! Euch muss<br />
man alles erklären! Überleg mal: Was macht eine Frau, die eine<br />
Schwangerschaft verheimlichen will, aber nicht im stillen Kämmerchen<br />
gebären kann?“<br />
26
Jean fühlt, wie er errötet.<br />
Frankenhäuser schmunzelt. „Ihr habt doch sicher auch solche<br />
Fälle?“<br />
„Bei uns in Zürich wird streng kirchlich geahndet, wenn jemand<br />
gegen die Sittlichkeit verstösst, aber ich kann dir wirklich nicht sagen,<br />
wie so ein Mädchen den Kopf im Geheimen aus der Schlinge<br />
ziehen könnte, nein wirklich, ich habe mir das noch nie überlegt ...<br />
man spricht auch in Kreisen der Medizin nicht darüber, das wäre<br />
zu anstössig.“<br />
„Das ist es! Ich empfehle euch unsere Lösung, wirklich! Die<br />
Patientin kommt anonym in die Klinik und hinterlässt keine Spur.<br />
Wenn sie stirbt, wird eine Meldung gemacht an eine Adresse, die<br />
die Betroffene beim Eintritt in die Klinik in einem versiegelten Brief<br />
abzugeben hat. So ist rechtlich alles in Ordnung.“<br />
„Und das Kind?“<br />
„Kommt <strong>ins</strong> Findelhaus und danach zu einer Amme, falls es die<br />
ersten Wochen überlebt.“<br />
Jean geht. Er ist sich seiner Gefühle nicht sicher. Er möchte<br />
vergessen. Alles. Was er sah, was er hörte. Heute Abend wird er<br />
im vertrauten Kreise der Schweizer essen und danach musizieren.<br />
Endlich kann er wieder seine Geige spielen und singen. Ein Stück<br />
Heimat. Heute braucht er das.<br />
Gegen Mitternacht erst kehrt er heim. Seine Zimmerwirtin liegt<br />
schon im Bett, als er durch ihr Zimmer huscht. Mit einer lässigen<br />
Geste wirft sie das Leintuch von sich und entblösst ihre Brust.<br />
Eigentlich ist Jean müde. Aber Lachen, Albern und Wein haben<br />
ihn aufgeweicht. In seiner Kammer schlüpft er aus den Kleidern.<br />
Dann geht er zu ihr.<br />
27
1856<br />
Berlin, im Januar<br />
Die Reisenden im Zug von Leipzig nach Berlin schlottern. Ein<br />
eisiger Wind zieht durch den Wagen, die Fensterscheiben klappern.<br />
Jean hat sich tief in seinen Mantel verkrochen, die Mütze in die Stirn,<br />
die Hände in die Mantelärmel gezogen. Die Winterlandschaft vor<br />
den Fenstern ist wenig ansprechend. Eigentlich ist sie nur langweilig.<br />
Eine Ebene ohne Akzente. Ein Mitreisender nannte sie eben<br />
noch ‚monumental’! Schon wieder einer, der keine Ahnung von<br />
den Schweizer Bergen hat! Jean schmunzelt schläfrig in sich hinein.<br />
Der Reiseproviant, den ihm ein Bündner in Leipzig zugesteckt<br />
hat, ist gegessen. Jetzt, im Winter, ist er froh, dass er mit der Eisenbahn<br />
reisen kann. Früher musste man sich die Füsse wund laufen.<br />
So hat er Zeit seinen Gedanken nachzuhängen. Die Eindrücke der<br />
letzten Monate häufen sich. Wie kann man nur so viel erleben! Der<br />
Abschied von Wien Ende November, danach Prag, Dresden, Leipzig.<br />
Nicht nur Wissenschaftliches wurde geerntet, auch Theater,<br />
Kunstsammlungen und Feste aller Art konnte er besuchen. Überall<br />
hat er Berufskollegen aus der Schweiz kennengelernt, auch sie auf<br />
Studienreise. Jean ist tief befriedigt.<br />
In Berlin will er nun die Augenklinik von Professor Graefe besuchen,<br />
ein Empfehlungsschreiben von Zürich hat er bei sich. Graefe<br />
soll graziöse Staroperationen durchführen, man hat ihm einiges<br />
vorgeschwärmt. Auch die chirurgische Klinik von Langenbeck und<br />
Jüngken will er sich nicht entgehen lassen. Wie sie wohl die Narkose<br />
handhaben? Jean hofft, seinem Vater diesbezüglich Neuigkeiten<br />
nach Hause bringen zu können. So wild wie bei den väterlichen<br />
Operationen im heimatlichen Weinland scheint es in den deutschen<br />
Kliniken nicht zu und her zu gehen. Das stimmt ihn zuversichtlich.<br />
Aber warum?<br />
28
Quietschend und rumpelnd ist der Zug zum Stillstand gekommen,<br />
und das Reisegepäck fliegt ihm auf den Kopf. Schon wieder<br />
ist ein Wagen entgleist! Der Schaffner brummt etwas in seinen üppigen<br />
Bart, und wie auf Kommando machen sich die Passagiere auf<br />
den Weg nach draussen. Man kennt das! Während sich die Frauen<br />
und Kinder in Grüppchen scharen, müssen die Männer zupacken,<br />
um den Wagen anzuheben und zurück auf die Spur zu schieben.<br />
Wenigstens ist diese Dampflokomotive so tüchtig, dass man hoffen<br />
kann, nicht noch im Schnee steckenzubleiben. Die primitive Eisenbahn<br />
vor Linz mit ihren abgenutzten Holzschienen und der müden<br />
Lokomotive, der man zeitweise noch Pferde vorspannen musste,<br />
sind ihm nur zu gut in Erinnerung. Die Reisegesellschaft ist ob der<br />
Unterbrechung munter geworden, sogar das krumme Mütterchen<br />
hat rote Wangen und stöhnt beim E<strong>ins</strong>teigen. Jeder findet zu seinem<br />
Gepäck, klopft den Schnee aus den Kleidern, Kinder werden gebändigt,<br />
und von Neuem steigt Tabakqualm auf. Jean denkt an Flaach.<br />
29
Flaach, im Januar<br />
Während Jean sich in Berlin umsieht, wird sein Elternhaus in<br />
Flaach eingeschneit. Und dies schon seit vielen Tagen. Wieder so<br />
ein Winter, der einen das Fürchten lehrt, denkt Lisebeth. Was zuerst<br />
noch Freude bereitete, wurde zur Qual und nun zur Bedrohung. Der<br />
Schnee steht so hoch, dass das Räumen der Strassen für Fuhrwerke<br />
unmöglich ist. Sie sind von der Welt abgeschnitten. Wer sich nicht zu<br />
Fuss durch den Schnee getraut, muss auf der Ofenbank ausharren.<br />
Aber Christine hat den Weg zum Brunnen doch noch freibekommen,<br />
bevor die Temperatur fiel. Johann klopft an das Thermometer. Nicht<br />
doch! Minus 18 Grad. Am Morgen ist das Wasser in den Kesseln in<br />
der Küche gefroren, und der Ofen muss dreimal eingeheizt werden.<br />
Und dann kommt die Seuche. Sie bricht in Volken aus, wandert<br />
über Buch, Berg nach Flaach. Johann stapft ihr nach, von Haus zu<br />
Haus. In ihren kalten Kammern liegen die Patienten zu zweit und zu<br />
dritt im Bett, klagen über Schluckbeschwerden und Kopfschmerzen.<br />
Dann kommt das Fieber, die Lungenentzündung und der Tod. Die<br />
Kinder sterben, zuerst die jüngsten, dann die Schulkinder. Johann<br />
kämpft sich durch Schnee und Kälte an ihre Krankenlager. Überall<br />
derselbe Schmerz, dieselbe Verzweiflung.<br />
„Die Menschen brauchen Trost und Zuspruch, erzähl ihnen vom<br />
Frühling, vom Licht“, sagt er zum jungen Pfarrer, der ihn auf Krankenvisite<br />
begleitet, „das Jammertal kennen sie.“ Prüfend wendet er<br />
sich zu Freitag um. Er hat ein gutes Gesicht, der junge Geistliche,<br />
denkt er, und Gott sei Dank eine liberale Gesinnung.<br />
Wo immer die Zeit es erlaubt, seziert Johann die Toten. Die<br />
meisten lässt er sich in sein Haus bringen, wo er in der Werkstatt<br />
den Tisch frei geräumt hat. Er entnimmt ihnen Organe, die er im<br />
Licht einer Öllampe untersucht. Was ist passiert? Woher kommt<br />
die Krankheit?<br />
Wieder diese bedrohliche Beklemmung. Er versteht nichts. Früher<br />
verstand er, meinte zu verstehen. Sah Gottes Wirken, vertraute<br />
auf einen göttlichen Sinn. Heute versteht er nichts mehr. Er versucht,<br />
seine schwarzen Gedanken zu verscheuchen, die Traurigkeit, die<br />
Angst und das nagende Schuldgefühl ob seinem ärztlichen Unvermögen.<br />
Das ist es. Seit Jean ihm von den Entdeckungen des Kolle-<br />
30
gen Semmelweis erzählt hat, quält ihn die Frage nach der eigenen<br />
Verantwortung. Er, nicht Gott muss helfen können. Er darf sich<br />
seine Unsicherheit nicht anmerken lassen. Ruhe bewahren! Dennoch<br />
zittert ihm auch heute wieder die Hand mit dem Skalpell. Das tote<br />
Kind da vor ihm hat eben noch in seinem Haus gespielt. Brenners<br />
Ueli. Sein Schwesterchen geht mit Anna in die dritte Klasse. Sie<br />
haben den Buben in weisses Leinen gekleidet, wächsern liegt er da,<br />
wie ein Engel. Auf dem Kopf eine Strickmütze! Seltsam. Als könnte<br />
er immer noch frieren. Johann entkleidet ihn. Unglaublich. Er wird<br />
sich nie daran gewöhnen. Die Flaacher Kinder sind abgemagert!<br />
Unter der Mütze ist das Haar des Kindes schütter. Sie verkaufen<br />
Rahm und Butter, und ihre Kinder leiden Mangel, denkt er bitter.<br />
Keine Eier, kein Käse. Auch der Ueli ist so ein lebensschwaches Vögelchen.<br />
Wenn das so weitergeht, werden wir die Schule schliessen<br />
müssen. Johann rechnet. Mit Uelis Tod verbleiben noch elf Kinder<br />
in der dritten Klasse, elf von ehemals einunddreissig.<br />
Am Mittagstisch ist die Stimmung gedrückt. Johann sieht es<br />
Lisebeth an, dass sie geweint hat. Er weiss, woran sie denkt. Keine<br />
Nachricht von aussen. Die Post wird nicht mehr zugestellt. Keine<br />
Zeitung, keine Briefe. Die drei grossen Kinder, Jean, Albert und<br />
Lisette sind irgendwo da draussen in der Welt. Was geschieht dort?<br />
Werden wir sie je wiedersehen? Und mit Elias, dem Berufskollegen<br />
und Freund, kein Wortwechsel seit Wochen. Was lauert hinter<br />
dieser Stille?<br />
Christine jammert, der Kohl sei ihr erfroren, die Rüben vielleicht<br />
auch. Sie hat doch alles gut eingeschlagen in Sand und Laub, und<br />
nun das! Was soll sie denn jetzt in den Ochsensud geben? Wie lange<br />
wird das dauern? Wochen vielleicht! Und die Mäuse und Ratten<br />
dringen überall ein, zernagen alles, ihr Gestank ... „Bitte, Christine!<br />
Wir können es nicht ändern!“<br />
„Wir sollten beten“, hört sich Johann sagen.<br />
Das Unheimliche betend verbannen. Alles in Gottes Hand legen.<br />
Vertrauen stiften. Rings um den Tisch werden Hände gefaltet. Johann<br />
beginnt das Vaterunser, die Familie stimmt mit ein: „Denn dein<br />
ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit, Amen.“<br />
Dann schweigen sie, jeder horcht in sich hinein, die Frauen<br />
schnäuzen die Nasen.<br />
31
Jetzt steht Johann auf und schiebt seinen Stuhl unter den Tisch.<br />
„Ich gehe nun wieder, haltet mir für den Abend etwas Warmes<br />
bereit.“<br />
Flüchtig berührt er die Schulter Lisebeths, dann verlässt er die<br />
Stube. Ich ertrage jetzt keine Tränen, denkt er.<br />
Auf dem Weg hinauf nach Berg kommt ihm die Geschichte mit<br />
Semmelweis wieder in den Sinn. Jean hat ihm ausführlich davon<br />
geschrieben. Und wenn es tatsächlich so ist, dass wir Menschen die<br />
Krankheit bewirken, nicht Gott?<br />
Er bleibt stehen. Der Gedanke ist unheimlich. Fremd. Die Krankheit<br />
wandert. Tatsächlich, sie wandert, wie ich. Aber wenn sie kein<br />
Geist oder Tier ist, muss es ein Gefährt geben, das sie befördert.<br />
Vielleicht hat Semmelweis etwas Richtiges erkannt? Aber all das ist<br />
unsichtbar! Warum sehen wir nicht, was da sein muss? Warum hat<br />
Gott uns keine Augen gegeben, die fähig sind, das Übel zu sehen?<br />
Kann das die Weltordnung sein? Und wenn ja, was will er damit<br />
bezwecken?<br />
Nein. Es ist sinnlos. Es kann nicht sein. Es hat wirklich keinen<br />
Sinn.<br />
Und doch: wenn ich selbst das Gefährt bin, das die Krankheit<br />
befördert? Ich, als Arzt?<br />
Jetzt wird ihm heiss. Wenn Semmelweis recht hat ... er lockert den<br />
Schal. Beissend kalt greift die Luft nach seinem Hals. Die Hände!<br />
Wenn meine Hände die Krankheit befördern, wider meinen Willen?<br />
Er muss handeln. Er fasst einen Entschluss. Man wird ihn einmal<br />
mehr als Narren bemitleiden in allen We<strong>ins</strong>tuben des Tales!<br />
Aber jetzt fühlt er sich besser. Sein Schritt wird kraftvoll, geradezu<br />
grimmig. Gleich erreicht er die Riegelhäuser von Berg. Bei den<br />
Wirtsleuten wird er als Erstes vorbeischauen. Er wird nach jedem<br />
Krankenbesuch seine Hände waschen. Wie Semmelweis empfahl.<br />
Wenn er auch über keinen Chlorkalk verfügt, so sollen es Wasser<br />
und Seife sein. Familie Kuhn wird ihn belustigt anschauen. Seife<br />
und Wasser? Wenn es nur hilft!<br />
Am andern Tag muss die ganze Hausgeme<strong>ins</strong>chaft einzeln im<br />
Studierzimmer sich untersuchen lassen. Zuerst die Familie: auch<br />
Christine muss die Haube abnehmen und sich den Kopf betasten<br />
lassen. Nein, es tut nicht weh. Dann die sieben Hauspatienten.<br />
Gruber, der Manische, droht gewalttätig zu werden, sie müssen ihn<br />
32
festhalten. Die melancholische Pfarrfrau aus Uster hingegen starrt<br />
<strong>ins</strong> Leere und gibt keine Antwort. Johann klopft auf nackte Rücken,<br />
horcht den Atem ab, fühlt den Puls. Sorgfältig notiert er den Befund<br />
unter den Namen des Hausgenossen auf einen sauberen Papierbogen<br />
und trocknet bedächtig die Tinte mit dem Löschblatt ab. Keiner<br />
wagt eine Frage zu stellen, doch dann kann die Jungfer Locher ihr<br />
hysterisches Kichern nicht verkneifen. Johann lächelt ihr zu.<br />
„Weisst du, Maria, das heisst Krankenjournal.“<br />
Danach muss jeder seine Hände waschen. Den Einwand, dass<br />
Seife teuer sei, lässt er nicht gelten. Lisette und die Gotte schauen<br />
sich ratlos an. Am Wochenende, nach dem Kirchgang, sollen alle<br />
zur Ader gelassen werden. „Ja, Christine, auch du. Und das Blut<br />
schüttest du unter die Beerenstauden.“<br />
Mitte Februar beginnt es zu tauen. Den Tag über tropft es vom<br />
vorspringenden Dach, der Weg wird glitschig. Schwarz stehen die<br />
Tannen im Schnee vor dem bleiernen Himmel. Christine verteilt<br />
Küchenabfälle im Garten, und unzählige Vögel finden sich ein.<br />
Johann wischt die Fensterscheibe trocken und kontrolliert die Temperatur.<br />
Plus fünf Grad. Wenn der Boden aufgetaut ist, wird man<br />
endlich die Toten beerdigen können. Es ist höchste Zeit. Er wird im<br />
Pfarrhaus vorbeigehen.<br />
In der Nacht auf den 21. Februar erwacht Lisebeth aus einem<br />
quälenden Traum. Noch bevor sie die Augen öffnet, fühlt sie, dass<br />
etwas Unheimliches geschieht. Eine panische Angst beschleicht sie.<br />
Sie will nach dem Mann neben sich greifen. Johann ist nicht im Bett.<br />
Mit einem Schlag ist sie hellwach. Ein rötlicher Schein dringt durch<br />
die Fensterläden. Im Halbdunkel erkennt sie die Gestalt Johanns<br />
am Fenster.<br />
„Johann, was ist?“<br />
„Es brennt. Es brennt höllisch, komm schau dir das an.“<br />
Sie tastet sich zu ihm, er hat bereits das Fenster geöffnet und den<br />
Laden hochgeschoben. Rauch liegt in der Luft und das Geräusch<br />
krachender Balken.<br />
„Das muss neben dem Schloss sein, oder dahinter“, flüstert Johann<br />
und drückt sie an sich.<br />
„Wir sollten ...“<br />
„Wir sind zu alt, Lisebeth. Lass andere das machen. Es wird<br />
33
sowieso zu spät sein. Ich geh nach unten und lege Verbandszeug<br />
und Salben bereit, vielleicht braucht man mich noch.“<br />
Lisebeth bleibt alleine zurück. Sie zittert. Sie erträgt diese Aufregungen<br />
nicht mehr. „Jean, komm zurück, wir brauchen dich!“<br />
betet sie innerlich.<br />
Er kommt. Am anderen Tag. Unangemeldet. Kommt während<br />
des Mittagessens einfach herein spaziert und erntet einen fröhlichen<br />
Aufruhr.<br />
Nach dem Essen nimmt Lisebeth ihre Stricknadeln zur Hand.<br />
Wenn Mann und Sohn miteinander Berufliches austauschen, will<br />
sie dabei sein. Sie ahnt, dass wichtige Entscheidungen anstehen,<br />
und ist besorgt.<br />
Die Männer sitzen sich gegenüber. Der Vater, ein kräftiger, aber<br />
eher gedrungener Mann, dessen wilder Haarschopf längst einer<br />
Glatze gewichen ist, sein Pfeifchen steckt im graumelierten Bart,<br />
und er nimmt es nur aus dem Mundwinkel, wenn er unbedingt verstanden<br />
werden will. Der Sohn, um einiges grösser und mit seinen<br />
modischen Kleidern in der elterlichen Stube fast ein Fremdkörper,<br />
betrachtet den Älteren mit einer noch nie in dieser Art gefühlten<br />
Zärtlichkeit. Er hat seinem Vater ein kleines Paket bereitgelegt, das<br />
er ihm jetzt über den Tisch hinweg zuschiebt.<br />
„Ich habe dir etwas Besonderes mitgebracht, Papa.“ Jean beobachtet<br />
das Gesicht seines Vaters. Ein alter Mann. Mit einem Mal<br />
begreift er, dass sein Plan, sich für eine Weile in Basel niederzulassen,<br />
dem Vater missfallen wird. Er ist alt, er bräuchte Unterstützung.<br />
Unterdessen hat Johann sein Geschenk bedächtig ausgepackt<br />
und das Etui geöffnet. Schreibzeug hatte er erwartet, aber was ist<br />
denn das?<br />
„Da staunst du, nicht? Das ist ein neues Messgerät, das in Leipzig<br />
erfunden wurde von Professor Wunderlich. Er ist der Begründer<br />
der Kranken-Thermometrie. Das ist ein Fieberthermometer! Sie<br />
erstellen in Leipzig Fieberkurven, du wirst sehen, wie wichtig es<br />
ist, in einem Krankenjournal den Verlauf des Fiebers zu verfolgen.“<br />
Johann schaut seinen Sohn fassungslos an. „Man misst das Fieber<br />
der Kranken? Wie die Raumtemperatur?“<br />
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„Und interpretiert die Ergebnisse, das Interpretieren ist entscheidend.“<br />
„Was man heute nicht alles erfindet! Das ist die Ernte der industriellen<br />
Bemühungen. Die Technik bringt die Medizin voran.<br />
Unglaublich, wirklich, ich freue mich.“<br />
„Das Führen der Fieberkurven und der Krankenjournale will ich<br />
in Basel im Spital üben, Papa. Professor Jung hat mir eine Assistenzstelle<br />
angeboten. Dort habe ich Gelegenheit, reiche Erfahrungen zu<br />
sammeln.“<br />
Jetzt nimmt der Vater die Pfeife aus dem Mund, er ist fassungslos.<br />
„Das kannst du auch in Flaach!“, fährt er den Sohn an, „ich brauche<br />
dich hier, Schangi.“<br />
„Papa, versteh doch, Flaach kann mir nicht viel bieten, was mich<br />
weiterbringt. In Basel werde ich täglich über 60 Patienten sehen,<br />
stell dir das vor, du, hier auf dem Land, siehst deren drei oder vier<br />
im Tag.“<br />
„Eine Landarztpraxis! Was erwartest du anderes!“<br />
„Du verlierst zu viel Zeit mit deinen Fussmärschen!“<br />
Jetzt schauen sie sich an. Johann ist verärgert. Was hat der junge<br />
Bursche ihm Zeitverschwendung vorzuwerfen? Was versteht er von<br />
der Mühsal seines Arztlebens? Hatte er denn je die Wahl, anders<br />
zu leben?<br />
Jean spürt den vorwurfsvollen Blick der Mutter auf sich gerichtet.<br />
„Entschuldige, Papa, ich weiss, du hast keine Wahl. Aber auf lange<br />
Sicht kann ich dir besser helfen, wenn ich dazulerne.“<br />
Jetzt hat er gelogen. Er weiss, dass er nie, niemals, sich in Flaach<br />
als Arzt niederlassen will. Er hat die weite Welt kennengelernt, die<br />
grössten Städte Deutschlands und Österreichs. Er will nach Zürich,<br />
auch wenn Zürich ein bescheidenes Städtchen ist, aber er will an<br />
die Universität, Professor werden.<br />
Johann kann es nicht fassen. Sein Sohn will nach Basel. Eine<br />
Tagesreise weit weg. Er wird ihn nur noch selten zu sehen bekommen.<br />
Basel! Er selbst ist nie bis nach Basel gereist, das lag ausserhalb<br />
seiner Möglichkeiten.<br />
„Wo willst du denn in Basel wohnen?“<br />
Jean hat alles vorbereitet, auch Wohnung und gute Verköstigung.<br />
„Du kennst doch etliche Baslerfamilien. Wir hatten wiederholt Patienten<br />
aus Basel bei uns.“<br />
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Johann klopft mit der Pfeife auf den Tischrand. Zutiefst weiss<br />
er, dass Jean die richtige Entscheidung getroffen hat. „Ja, ja. Die<br />
Familie Merian hat mich schon gebeten, sie zu besuchen, auch die<br />
Gersbach.“ Und nach einer kurzen Pause fügt er hinzu. „Vielleicht<br />
komme ich im Sommer einmal zu dir, dann werden wir uns Basel<br />
ansehen ...“<br />
„ ... und einen Abstecher nach Heidelberg machen!“<br />
Johann lacht. „Ja, eine Studienreise für einen alten Arzt, warum<br />
nicht.“<br />
Es wird Sommer 1857 werden, bis Johann seine Reise nach Basel<br />
unternehmen kann. Jean wird ihn durch die Stadt führen und ihn<br />
mit den Ärzten des Spitals bekannt machen. Stundenlang werden<br />
sie über Berufliches debattieren. Dass der E<strong>ins</strong>atz von Quecksilber<br />
bei Typhuspatienten bedenklich ist, weiss Johann aus eigener Erfahrung.<br />
Die Nebenwirkungen des Medikamentes haben auch ihn<br />
etliche Zähne gekostet, von den Schmerzen ganz zu schweigen.<br />
Die Wurzel des Sassafras bei Durchfall? Das re<strong>ins</strong>te Gift! Spätestens<br />
an den Folgen dieser Behandlung muss der Patient sterben.<br />
Gerstenschleim als Krankenkost? Um Himmelswillen, ihr lasst die<br />
Patienten ja verhungern!<br />
„Professor Jung will von deutschen Juden nichts annehmen,<br />
auch die Epidemiologie von Pettenkofer dürfen wir unter ihm nicht<br />
e<strong>ins</strong>etzen, obschon in Basel der Typhus sehr verbreitet ist, wir sogar<br />
meinen, es gebe Typhusherde in gewissen Quartieren. Will man<br />
ihm mit Semmelweis kommen, so gibt er vor, der Reinlichkeit zu<br />
dienen, seitdem man ihn lehrte, in den Unterhosen zu operieren.<br />
Was jede weitere fachliche Diskussion erstickt. Auch die Gesundheit<br />
der Fabrikkinder müsste untersucht werden. Viele leiden unter<br />
der Schwindsucht, vor allem die Arbeiter aus der Seidenfabrikation.<br />
Selten wird einer der Buben älter als zwanzig Jahre. Aber die<br />
hiesigen Ärzte wollen nicht forschen und zeigen kein Interesse an<br />
Weiterbildung. Treiben Allotria, sobald zwei, drei sich zusammenfinden.<br />
Es ist eine Schande.“<br />
„Dann komm doch jetzt heim nach Flaach!“<br />
Jean stutzt. Nein, das ist es nicht, was er sucht. Er ist enttäuscht<br />
von Basel, aber Flaach, nein. Er weiss, dass drüben im Ausland be-<br />
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eits mit dem Mikroskop das menschliche Gewebe untersucht wird.<br />
Ein noch sehr junger Mediziner behauptet, dass Organe aus Zellen<br />
und nicht aus dem Urschleim entstehen. Jede Zelle entsteht aus einer<br />
Zelle. Diese Entwicklung müsste man verstehen, dann könnte man<br />
beginnen, das wahre Wesen der Krankheit zu verstehen. Dem lieben<br />
Gott über die Schulter schauen? Vielleicht. Er weiss bereits zu viel,<br />
um zurück in die Verantwortungslosigkeit schlüpfen zu können.<br />
Er hat erkannt, dass sich in der Medizin eine grosse Wende anzeigt.<br />
Dahin zieht es ihn.<br />
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