Wege ins Unsichtbare
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Flaach, im Januar<br />
Während Jean sich in Berlin umsieht, wird sein Elternhaus in<br />
Flaach eingeschneit. Und dies schon seit vielen Tagen. Wieder so<br />
ein Winter, der einen das Fürchten lehrt, denkt Lisebeth. Was zuerst<br />
noch Freude bereitete, wurde zur Qual und nun zur Bedrohung. Der<br />
Schnee steht so hoch, dass das Räumen der Strassen für Fuhrwerke<br />
unmöglich ist. Sie sind von der Welt abgeschnitten. Wer sich nicht zu<br />
Fuss durch den Schnee getraut, muss auf der Ofenbank ausharren.<br />
Aber Christine hat den Weg zum Brunnen doch noch freibekommen,<br />
bevor die Temperatur fiel. Johann klopft an das Thermometer. Nicht<br />
doch! Minus 18 Grad. Am Morgen ist das Wasser in den Kesseln in<br />
der Küche gefroren, und der Ofen muss dreimal eingeheizt werden.<br />
Und dann kommt die Seuche. Sie bricht in Volken aus, wandert<br />
über Buch, Berg nach Flaach. Johann stapft ihr nach, von Haus zu<br />
Haus. In ihren kalten Kammern liegen die Patienten zu zweit und zu<br />
dritt im Bett, klagen über Schluckbeschwerden und Kopfschmerzen.<br />
Dann kommt das Fieber, die Lungenentzündung und der Tod. Die<br />
Kinder sterben, zuerst die jüngsten, dann die Schulkinder. Johann<br />
kämpft sich durch Schnee und Kälte an ihre Krankenlager. Überall<br />
derselbe Schmerz, dieselbe Verzweiflung.<br />
„Die Menschen brauchen Trost und Zuspruch, erzähl ihnen vom<br />
Frühling, vom Licht“, sagt er zum jungen Pfarrer, der ihn auf Krankenvisite<br />
begleitet, „das Jammertal kennen sie.“ Prüfend wendet er<br />
sich zu Freitag um. Er hat ein gutes Gesicht, der junge Geistliche,<br />
denkt er, und Gott sei Dank eine liberale Gesinnung.<br />
Wo immer die Zeit es erlaubt, seziert Johann die Toten. Die<br />
meisten lässt er sich in sein Haus bringen, wo er in der Werkstatt<br />
den Tisch frei geräumt hat. Er entnimmt ihnen Organe, die er im<br />
Licht einer Öllampe untersucht. Was ist passiert? Woher kommt<br />
die Krankheit?<br />
Wieder diese bedrohliche Beklemmung. Er versteht nichts. Früher<br />
verstand er, meinte zu verstehen. Sah Gottes Wirken, vertraute<br />
auf einen göttlichen Sinn. Heute versteht er nichts mehr. Er versucht,<br />
seine schwarzen Gedanken zu verscheuchen, die Traurigkeit, die<br />
Angst und das nagende Schuldgefühl ob seinem ärztlichen Unvermögen.<br />
Das ist es. Seit Jean ihm von den Entdeckungen des Kolle-<br />
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