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Wege ins Unsichtbare

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Dass er anderntags sogleich Arbeit findet in der Frauenklinik,<br />

hätte er nicht zu hoffen gewagt.<br />

„Der Vollmond, lieber Kollege, meint es gut mit den Weibern!“<br />

erklärt ihm Professor Hirtl, ein kleingewachsener, kahlköpfiger<br />

Mann in offenem schwarzem Frack. „Sie werden viel zu tun haben<br />

in diesen Tagen.“<br />

Er hat ihm auf der Schautafel das Wiener Krankenhaus vorgestellt,<br />

einen riesigen Gebäudekomplex, hufeisenförmig um einen<br />

Innenhof gruppiert, der als Parkanlage mit symmetrisch in Reihen<br />

gepflanzten Bäumen die neue Philosophie der Wissenschaften<br />

symbolisiere. Jetzt öffnet er ihm die Türe zum Krankensaal und<br />

lädt ihn mit einer eleganten Bewegung zum Eintreten ein. Die<br />

Patientinnen in ihren blauweiss gestreiften Nachthemden drehen<br />

ihnen die Köpfe zu.<br />

„Das hier wäre denn also ihr Reich. Aber keine Angst, Sie werden<br />

sehen, mit dem Vollmond kommen die Kinder leichter zur Welt.“<br />

Jean steht und schaut. Dass hier jede Patientin ein eigenes Bett<br />

hat! Das ist unglaublich!<br />

„Ist das nicht ein bedenklicher Luxus?“ wagt er flüsternd zu fragen.<br />

Aber Hirtl erklärt ihm, dass das hitzige Faulungsfieber seltener<br />

auftrete, wenn nicht drei bis vier Personen beieinanderlägen. Die<br />

Krankheit wandere unsichtbar durch die Luft und erreiche stets<br />

den am nächsten Liegenden. „Miasmen, lieber Kollege, das sind die<br />

Miasmen. Ist die erste Patientin tot, stirbt die zweite bald.“<br />

„Miasmen?“ wundert sich Jean.<br />

„<strong>Unsichtbare</strong> Elemente, die in der Luft zirkulieren. Sie tragen<br />

die Krankheit von einem zum andern.“<br />

„Sind das Lebewesen?“<br />

Der Kollege lacht. „Wie soll ich das wissen, ich habe keines von<br />

ihnen je persönlich kennengelernt.“<br />

„Wenn man genau h<strong>ins</strong>chaut ...“<br />

„Ja, geh! Das kann nicht sein, man sieht sie nicht“, fällt ihm der<br />

andere lachend <strong>ins</strong> Wort.<br />

Jean schweigt. Was würde Papa dazu sagen? Man muss noch<br />

genauer h<strong>ins</strong>ehen. Man muss lernen, noch genauer zu sein. Er<br />

schmunzelt.<br />

Der Kollege mustert ihn von der Seite und nimmt das Gespräch<br />

wieder auf. „Sind denn die Eidgenossen von Seuchen verschont?“<br />

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