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Wege ins Unsichtbare

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Das Wetter hat sich nicht gebessert. Die Wolken hängen so tief,<br />

dass man den Horizont nicht sieht. Und die Donau ist lehmfarben.<br />

Wie heisst es doch in dem Lied von der schönen Donau? Blau? Vielleicht<br />

könnte die Landschaft drüben am Ufer schön sein. Vielleicht.<br />

Zwölf Stunden nun schon. Er reibt sich das Kreuz.<br />

Jemand zupft ihn am Ärmel. Ein Knabe, barfüssig, die mageren<br />

Beine in abgetragenen, zu kurzen Lederhosen. Die Mütze hält er in der<br />

einen, eine hölzerne Statue der Jungfrau Maria in der anderen Hand.<br />

„Die Jungfrau hat Sie vor dem Ertrinken in den Strudeln bewahrt,<br />

gnädiger Herr.“<br />

Jean muss lachen. „Ich bin nicht katholisch, weisst du, aber einen<br />

Gulden will ich dir trotzdem schenken.“<br />

Der Bub ist schon entwischt, als ein Bettelmönch sich vor ihn<br />

drängt mit dem Bild eines Flussheiligen. Das Geld seiner Büchse<br />

sei für das Krankenhaus bestimmt, will er ihm glaubhaft machen.<br />

„Wie heissen denn die Herren Doktoren des Krankenhauses?“<br />

erkundigt sich Jean.<br />

Der andere ist verunsichert, stammelt etwas Unverständliches.<br />

„Wenn Ihr keinen Doktor habt in Eurem Krankenhaus, dann<br />

werde ich meinen Segen nicht geben. Lieber werde ich selbst dort<br />

Hand anlegen.“<br />

Nun hat er seine Ruhe. Er hält sich am hölzernen Geländer fest<br />

und versucht, in der Ferne Wien ausfindig zu machen. Seit wie vielen<br />

Wochen ist er nun schon unterwegs? Er hat viel erlebt auf seiner<br />

Wanderung. Herrliches, Lustiges, Bedenkliches. Niemals hätte er<br />

sich gedacht, dass die Fremde ihn so zu begeistern vermochte. Gerne<br />

wäre er da oder dort länger geblieben, wo er andere Schweizer<br />

auf Wanderschaft traf. Aber Wien war immer sein Ziel. Wien, das<br />

Mekka der Medizin. Mit seinem Doktortitel in der Tasche wird er<br />

dort seine Laufbahn beginnen. Er wird alles daran setzen, ein grosser<br />

Arzt zu werden. Er will bestens gerüstet nach Zürich zurückkehren,<br />

um dort eine leitende Stellung übernehmen zu können. Später ein<br />

Haus am Zürichsee, eine Familie gründen, Dienstboten, eine kleine<br />

Equipage. Schöne Träume sind das!<br />

Neben ihm nun wieder ein Aufruhr. „Wir sind da!“<br />

Tatsächlich! Da vorne ist der Landesteg in Sicht. Nussdorf, ein<br />

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