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Wege ins Unsichtbare

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1855<br />

Wien, im Juni<br />

Draussen wird es heller. Genug Tageslicht, um den Weg zu<br />

finden.<br />

Vor dem Lavoir schlüpft sie aus dem Nachthemd. Sie betrachtet<br />

im Spiegel ihren Körper. Die Brüste sind noch praller geworden. Sie<br />

legt beide Hände über den Bauch, sie ist aufgewühlt.<br />

Nun darf sie keine Zeit verlieren. Resle, die Köchin, hat ihr ein<br />

Kleid geliehen. Man wird sie auf der Gasse nicht erkennen. Leinen<br />

ist sie nicht gewohnt. Das Tuch ist rau und schmiegt sich nicht an<br />

den Körper. Wie fremd sie darin ausschaut!<br />

Sie steckt sich die Haare hoch und bindet ein Kopftuch darüber.<br />

Dann nimmt sie die Maske.<br />

Auf dem Hohen Markt werden die ersten Stände hergerichtet.<br />

Jeder ist mit sich selbst beschäftigt. Marktweiber, Gassenjungen<br />

und Händler, auch der Wassermann ist unterwegs. Noch nie war<br />

sie um diese Zeit in der Stadt. Das ziemt sich nicht für ein Mädchen<br />

von Rang und Namen. Aber heute wird man sie nicht erkennen.<br />

Sie schlüpft aus dem Hauseingang.<br />

Sie überquert den Platz. Beinahe wäre sie von einem Karren<br />

angefahren worden, im letzten Moment rettet sie sich mit einem<br />

Sprung zur Seite. Ein wilder Schmerz fährt ihr durch den Rücken,<br />

sie schnappt nach Luft und krümmt sich.<br />

Niemand hat es bemerkt. Oder doch? Sie nestelt an ihrem Rock<br />

und zieht sich die Maske über. Hinter dem Karton fühlt sie sich<br />

sicher.<br />

Die Welt ringsum entgleitet ihr. Sie konzentriert sich auf den<br />

Schmerz, der stärker wird. Er kommt in Wellen. Sie darf nicht stehen<br />

bleiben. Sie hat den Weg gut in Erinnerung. Noch eine Häuserzeile.<br />

Die Türe ist verriegelt. Panik steigt in ihr hoch, aber dann sieht sie<br />

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