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Wege ins Unsichtbare

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Jean lacht. „Oh, nein. Doch in der Schweiz zweifelt man heute<br />

daran, dass Seuchen eine kollektive Sühne sein könnten. Mein Vater<br />

jedenfalls, er ist auch Arzt. Aber es muss tatsächlich etwas geben,<br />

was die Krankheit befördert, wenn man Gott aus dem Spiel lässt.<br />

Wirklich, der Gedanke überzeugt mich.“<br />

„Ach, kommen Sie! Saubere Luft ist das Wichtigste. Und Abstand<br />

halten.“<br />

Und Stille, denkt Jean. Wir müssen in Zürich lernen, die Welt des<br />

Kranken von der Welt des Gesunden zu trennen. Das Krankenhaus<br />

hier ist eine Stadt für sich, abgetrennt von der Welt der Gesunden.<br />

Da kommt kein Besucher mit einem Ferkel daher, und das Zutragen<br />

von Speisen erübrigt sich. Die Wärterinnen kochen recht gut, sagte<br />

man ihm. Alles scheint geregelt. Unglaublich!<br />

Schon nach wenigen Tagen fühlt er sich heimisch in der Frauenklinik.<br />

Aber das Mädchen, das schon seit Stunden in den Wehen<br />

liegt, macht ihm Sorgen. Sie ist noch sehr jung, keine sechzehn<br />

Jahre alt, schätzt er. Ihre dunklen Augen sind glanzlos, das gefällt<br />

ihm nicht.<br />

Er hat gefragt, wie sie heisse, aber sie gab ihm keine Antwort.<br />

Hat ihn nur angeschaut mit ihrem verlorenen Blick und nichts geantwortet.<br />

Auch vom Vater des Kindes und ihren Eltern wollte sie<br />

ihm nichts erzählen. Warum dieses Schweigen?<br />

Sie wird diese Geburt nicht überleben. Der Gedanke trifft ihn<br />

wie ein spitzer Pfeil. Was ist los mit mir? fragt er sich, das ist doch<br />

eigentlich ganz natürlich.<br />

Jean verlässt den Krankensaal, er ist aufgewühlt. Wieder einmal<br />

verspürt er Fassungslosigkeit gegenüber dem Schicksal einer Kranken.<br />

Das Mädchen ist jünger als er selbst. Seine 24 Jahre sind doch<br />

auch erst der Anfang des Lebens! Warum sie? Und fern ihrer Eltern,<br />

der liebevollen Fürsorge der Familie, ganz alleine, namenlos dem<br />

Schicksal preisgegeben. Nein. Daheim, in der Obhut seines Vaters,<br />

würde man jetzt zumindest beten. Alle würden sich um die Kleine<br />

scharen und ihr Trost spenden. Und beten, ja. Er muss in der Nacht<br />

noch einmal bei ihr vorbeischauen.<br />

Am Abend trifft er im gewöhnlichen Speisehaus ‚Zum Kindhof’<br />

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