Wege ins Unsichtbare
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Wege ins Unsichtbare
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gen Semmelweis erzählt hat, quält ihn die Frage nach der eigenen<br />
Verantwortung. Er, nicht Gott muss helfen können. Er darf sich<br />
seine Unsicherheit nicht anmerken lassen. Ruhe bewahren! Dennoch<br />
zittert ihm auch heute wieder die Hand mit dem Skalpell. Das tote<br />
Kind da vor ihm hat eben noch in seinem Haus gespielt. Brenners<br />
Ueli. Sein Schwesterchen geht mit Anna in die dritte Klasse. Sie<br />
haben den Buben in weisses Leinen gekleidet, wächsern liegt er da,<br />
wie ein Engel. Auf dem Kopf eine Strickmütze! Seltsam. Als könnte<br />
er immer noch frieren. Johann entkleidet ihn. Unglaublich. Er wird<br />
sich nie daran gewöhnen. Die Flaacher Kinder sind abgemagert!<br />
Unter der Mütze ist das Haar des Kindes schütter. Sie verkaufen<br />
Rahm und Butter, und ihre Kinder leiden Mangel, denkt er bitter.<br />
Keine Eier, kein Käse. Auch der Ueli ist so ein lebensschwaches Vögelchen.<br />
Wenn das so weitergeht, werden wir die Schule schliessen<br />
müssen. Johann rechnet. Mit Uelis Tod verbleiben noch elf Kinder<br />
in der dritten Klasse, elf von ehemals einunddreissig.<br />
Am Mittagstisch ist die Stimmung gedrückt. Johann sieht es<br />
Lisebeth an, dass sie geweint hat. Er weiss, woran sie denkt. Keine<br />
Nachricht von aussen. Die Post wird nicht mehr zugestellt. Keine<br />
Zeitung, keine Briefe. Die drei grossen Kinder, Jean, Albert und<br />
Lisette sind irgendwo da draussen in der Welt. Was geschieht dort?<br />
Werden wir sie je wiedersehen? Und mit Elias, dem Berufskollegen<br />
und Freund, kein Wortwechsel seit Wochen. Was lauert hinter<br />
dieser Stille?<br />
Christine jammert, der Kohl sei ihr erfroren, die Rüben vielleicht<br />
auch. Sie hat doch alles gut eingeschlagen in Sand und Laub, und<br />
nun das! Was soll sie denn jetzt in den Ochsensud geben? Wie lange<br />
wird das dauern? Wochen vielleicht! Und die Mäuse und Ratten<br />
dringen überall ein, zernagen alles, ihr Gestank ... „Bitte, Christine!<br />
Wir können es nicht ändern!“<br />
„Wir sollten beten“, hört sich Johann sagen.<br />
Das Unheimliche betend verbannen. Alles in Gottes Hand legen.<br />
Vertrauen stiften. Rings um den Tisch werden Hände gefaltet. Johann<br />
beginnt das Vaterunser, die Familie stimmt mit ein: „Denn dein<br />
ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit, Amen.“<br />
Dann schweigen sie, jeder horcht in sich hinein, die Frauen<br />
schnäuzen die Nasen.<br />
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